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New Reign

Wie Game of Thrones, nur mit Digimon. [Video-Opening online]
von

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üDer Würfel fällt


 

Tag 128

 

Sie stellte fest, dass es gar nicht so schlimm war, allein zu sein. Immerhin hatte sie noch Gatomon, und T.K.s Schmerz, den er so offensichtlich wegen ihr empfand, war schwer auszuhalten gewesen. Und Klecks war ein angenehmer Begleiter auf den nächtlichen Straßen; sie spürte seine Anwesenheit kaum. Er hatte alles mitangesehen und –gehört; was T.K. über die Divermon gesagt hatte, was er ihr vorgeschlagen hatte, und dass er sie geküsst hatte. Mit keinem Wort hatte sich das Divermon beschwert. Nur von Karis Seite weichen wollte es nicht mehr, also ließ sie es hinter sich her trotten.

Es musste nach Mitternacht sein. Der Regen hatte aufgehört, eine warme Brise war dabei, Karis Klamotten zu trocknen. Mittlerweile kannte sie die Stadt auswendig. Vermutlich war sie jede Gasse und jede Treppe abgekommen, mit Ausnahme der großen, die auf den Berg hinter der Stadt führt. T.K. hatte sie nicht wieder gesehen.

Um ihrer Sache willen verfluchte sie seine Gereiztheit. Digitamamon hatte davon gesprochen, dass Tai ein Kandidat für den Königsthron war. Die bevorstehende Kür in Santa Caria war in aller Munde gewesen. Matt und Davis hatten ebenfalls davon geredet, aber Kari war nicht dazu gekommen, nachzufragen. War Tai überhaupt in der Stadt?

Sie blieb vor dem größten Gebäude am Hauptplatz stehen. Es musste wichtig sein, vermutlich war es sogar das Rathaus. Die oberen Etagen zählten auffallend viele Fenster. Irgendetwas zog ihren Blick magisch dorthin. Würde sie dort drin wohl Antworten auf ihre Fragen finden? Sie wusste, dass sie hier nur zu Gast war. Aber Gäste konnten zu wenig bewegen.

„Klecks, ich brauche deine Hilfe“, sagte sie.

Eine Digitation wäre zu auffällig in der Nacht. Sie überließ es ihrem Gemahl, seine Harpune mit aller Kraft in die Höhe zu schleudern, sodass sie sich knapp über einem Fenster im dritten Stockwerk ins Mauerwerk bohrte. Von seiner Kraft her unterschied Klecks sich nicht von einem gewöhnlichen Divermon.

Kari erklärte Gatomon, was sie vorhatte, und ihr Digimonpartner bot an, die Vorhut zu bilden. Mit dem langen Schwanz die Balance haltend, kletterte es geschmeidig das Seil hinauf, das die Harpune mit Klecks‘ Hand verband, und verschwand in der dunklen Fensteröffnung. Kari beobachtete unruhig die Umgebung. Was, wenn man sie dabei erwischte, wie sie ins Rathaus einbrechen wollte? Sie war sich nicht sicher, ob sie in der Stadt jemanden hatte, der sich als ihren Freund sah, T.K. vielleicht ausgenommen. Sie vertrieb sich die Zeit damit, über den Kuss nachzudenken. Er war grob, unerwartet und impulsiv gewesen, aber hatte er gerade deshalb etwas zu bedeuten?

Gatomons Kopf erschien im Fenster. Behutsam, aber flink kletterte es wieder herunter. „Das Fenster führt in ein Stiegenhaus“, berichtete es. „Dort sind viele Türen. Mehrere Zimmer, fast wie in einem Hotel. Aus dem Erdgeschoss habe ich etwas gehört.“

„Dann bleiben wir so weit oben wie möglich.“ Kari sah zu Klecks zurück. „Ich werde hinaufklettern. Würdest du hier die Stellung halten und mich und Gatomon wieder herauslassen, wenn wir fertig sind? Ich laufe nicht weg, vertrau mir.“

Klecks fragte nicht nach, was sie dort drin zu finden hoffte, und sie war dankbar dafür. Das Divermon nickte nur, packte das Seil mit beiden Händen und spannte es möglichst hoch, um ihr den Aufstieg zu erleichtern. Dennoch hätte Kari ihn fast nicht bewältigt. Sie war immer noch viel zu erschöpft für sportliche Höchstleistungen, und im Seilklettern war sie immer nur dann gut gewesen, wenn sie in der DigiWelt und in Gefahr gewesen war. Als sie sich drei Stockwerke höher durch die gähnende Fensteröffnung zog, lief ihr der Schweiß in Strömen über ihr Gesicht, ihre Kleidung klebte an ihrem Körper und ihr war speiübel. Ein paar Minuten saß sie nur da und keuchte, dann gab sie Klecks draußen ein Zeichen. Mit einem Ruck riss er die Harpune aus der Steinmauer und fing sie lautlos wieder auf.

„Einbruch geglückt“, flüsterte Kari Gatomon zu.

Ihr Digimonpartner erwiderte nichts, zuckte nur mit den Ohren. „Die Geräusche von unten sind verstummt.“

„Wollen wir hoffen, dass das so bleibt.“

Auf Zehenspitzen und leisen Pfoten schlichen sie die Treppe hinauf. Kari hoffte, irgendetwas zur aktuellen Lage in der DigiWelt zu finden, Aufzeichnungen über den Krieg vielleicht, oder einen Hinweis auf Tais Aufenthaltsort. Aber ob sie hier in diesen Hotel-Etagen auf etwas Brauchbares stoßen würden?

Die Treppe wand sich um das ganze Gebäude herum. Ein Stockwerk höher, knapp unter dem flachen Dach, zuckte sie zurück, als sie um die Ecke biegen wollte. Am Ende des Flurs, vor einem einzelnen, breiten Fenster, das nach Osten wies, stand jemand und sah nach draußen. Karis Augen hatten sich an die Düsternis in dem alten Gemäuer gewöhnt, trotzdem erkannte sie das feuerrote Haar erst auf den zweiten Blick, als die Gestalt sich, von ihren Schritten aufgeschreckt, umdrehte.

Kari wusste, dass Sora in den letzten Jahren immer weiblicher geworden war. Dennoch schien dieses bodenlange, edle grauschwarze Kleid nicht zu ihr zu passen. Es war zerschlissen und schmutzig, und dazu trug sie abgewetzte Stiefel, die noch weniger passten. Erschrocken musterte Sora sie, und Kari rettete sich in ein Lächeln.

„Ich wollte dich nicht stören“, flüsterte sie, weil ihr nichts Besseres einfiel.

Sora musterte sie eingehend. Wie Kari befürchtet hatte: Kein Funken von Erkennen glitzerte in ihren Augen, die ungewöhnlich grau und schwermütig wirkten. „Schon in Ordnung“, murmelte ihre Freundin. „Wohnst du auch hier?“

Es wohnten also tatsächlich Leute im Rathaus, und Sora war eine von ihnen. „Hast du mich noch nie vorher gesehen?“

Sora schüttelte den Kopf. „Ich bin erst seit gestern hier. Mein Name ist Sora.“

„Kari.“ Sie trat an Soras Seite und blickte an ihr vorbei aus dem Fenster. „Wonach hältst du Ausschau?“

„Nach nichts Bestimmtem“, murmelte Sora. „Nach dem Morgengrauen.“

„Morgengrauen?“ Kari runzelte die Stirn. „Es ist noch mitten in der Nacht.“

„In ein paar Stunden wird es hell.“

„Willst du denn nicht lieber schlafen gehen?“ Kari beschloss, einfach mitzuspielen. Sie glaubte nicht, dass Sora es böse meinte. Ihre Freundin hatte tatsächlich vergessen, wer sie war, genauso wie Davis und Matt, Digitamamon und womöglich alle anderen.

Sora erschauerte. „Lieber nicht.“ Warum, sagte sie nicht.

Eine Weile stand Kari nur neben ihr. Gatomon hockte sich auf den Fenstersims und sah ebenfalls nach draußen. Kühle Luft wehte Kari ins Gesicht. Sie streckte die Hand aus und strich durch das Fell ihres Digimons. „Hast du keinen Digimonpartner?“, fragte sie, um wieder etwas aus Sora herauszubekommen.

„Doch.“ Nun lächelte sie leicht. „Piyomon. Es ist krank, aber morgen kann ich es abholen.“

„Verstehe.“ Kari räusperte sich. „Möchtest du ein wenig Gesellschaft? Ich will heute Nacht auch nicht schlafen. Wir könnten in dein Zimmer gehen, hier ist es kalt.“ Eigentlich war sie todmüde.

Sora brauchte so lange mit ihrer Antwort, dass Kari schon glaubte, sie hätte sie nicht gehört, und die Antwort bestand nur aus einem Nicken. Mit rauschenden Röcken wandte Sora sich um und führte Kari und Gatomon zu einer Tür eine Etage tiefer. Sie schloss auf und schob die rohen Holzbalken auf, zögerte dann aber, als wüsste sie nicht, ob sie Kari vertrauen konnte. Diese schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln.

„Weißt du, wer ich bin?“, fragte Sora plötzlich.

Ich weiß es, aber weißt du es selbst? „Gute Frage. Ein wenig kommst du mir bekannt vor.“

Sora nickte. „Du mir auch ... Ich kenne dich nicht, aber vielleicht habe ich jemanden wie dich schon einmal in einem Traum gesehen.“

„Das ist gut möglich“, meinte Kari ernst.

Sora führte sie in eine kleine Kammer, die jedoch schick eingerichtet war. Ein weiches Bett, ein Schrank aus kostbarem Holz, ein Tisch und ein Stuhl, beides reich verziert. Sora bot Kari Letzteres an und ließ sich selbst auf dem Bett nieder.

„Würdest du mir etwas von dir erzählen? Aus deiner Vergangenheit?“, fragte Kari.

Sora wich ihrem Blick aus. „Da gibt es nicht viel Erzählenswertes“, murmelte sie, so leise, dass sie kaum zu verstehen war. Kari fragte sich, warum sie so verschüchtert war. „Erzähl doch du von dir. Woher stammst du?“

Kari atmete tief durch. „Von einem fernen, finsteren Ort“, sagte sie ausweichend. „Man nennt ihn das Meer der Dunkelheit.“

Sora ließ den Kopf hängen. „Ich glaube, dort war ich auch.“

War so etwas möglich? Nein – Sora wusste nicht, was sie sagte. „Ich habe dich dort aber nicht gesehen.“

Karis Freundin schnaubte belustigt. „Nein, ich meinte, ich war auch lange an einem sehr dunklen Ort. Meer der Dunkelheit fand ich einen guten Vergleich.“

„Und woher kommst du nun wirklich? Wenn du die Nacht hinter dich bringen willst, ohne zu schlafen, sollten wir reden.“

Sora ließ sich Zeit. „Ich bin in Masla aufgewachsen.“

„Masla?“

„Eine Sklavenstadt, weit im Süden. Das heißt – ich bin nicht sicher, ob es jetzt noch eine Sklavenstadt ist. Piyomon und ich sind von dort fortgegangen. Eine Zeitlang haben wir ... in den Nadelbergen gewohnt, bis uns ein Ritter des DigimonKaisers gefangen hat. Er hat uns und Sir Taichi wieder nach Süden bringen wollen.“

Sir Taichi?“

„Der Einhornkönig hat uns aber befreit.“

„Wer ist der Einhornkönig?“

Sora zuckte mit den Schultern. „Na, der König aus der Wüste, mit dem Unimon auf seinem Wappen. Takashi ... Ich glaube, so hieß er.“

Der Name kam Kari vage bekannt vor. Sie musste ein wenig in ihren Erinnerungen suchen, um ihn auszugraben. „Takashi? Hatte er wirres, braunes Haar?“

„Ja.“

Zufall? Oder ist das eins der Kinder, denen Oikawa die Saat der Finsternis eingepflanzt hat? „Und er ist ein König?“

Sora seufzte schwer und knetete die Hände. „Es braucht nicht viel in dieser Welt, um ein König zu sein“, meinte sie bedrückt.

„Weiter im Text. Was ist dann passiert?“

„Der Einhornkönig hat sich mit dem Nördlichen Königreich gegen den DigimonKaiser verbündet, deswegen hat er Sir Taichi und mich hierher nach Santa Caria bringen lassen.“

„Und wie lange ist das her? Wann seid ihr aus Masla fortgegangen?“

Sora überlegte. „Ich weiß nicht genau. Sicherlich mehrere Monate.“

„Und davor? Wo wart ihr, bevor ihr nach Masla gekommen seid?“ Wollte sie Kari weismachen, dass sie keine Erinnerungen mehr an die Reale Welt hatte?

Sora wirkte verwirrt. „Was meinst du? Wir sind in Masla geboren und aufgewachsen.“

„Das heiß, ihr wart etwa zwanzig Jahre dort?“

Sora zuckte mit den Schultern. „Was willst du mit der Fragerei eigentlich bezwecken? Glaubst du mir nicht?“

„Sekunde noch. Was ist mit deinen Eltern? Erinnerst du dich an deine Eltern?“

Sora wurde das Verhör sichtlich unangenehm. „Sklaven haben keine Eltern“, sagte sie schließlich.

„Du warst eine Sklavin?“ Kari war entsetzt.

„Das ist normal, wenn man eine Waise ist.“

Du bist keine Waise, wollte Kari schon sagen. Das ergab doch keinen Sinn! Sora glaubte, ihr ganzes Leben in der DigiWelt verbracht zu haben? Kari stand auf und tigerte im Raum hin und her. „Sag mal, weißt du, was DigiRitter sind?“

„Nein.“

„Erinnerst du dich an die Meister der Dunkelheit?“

Sora lächelte bitter. „Ich glaube, ich war selbst eine Meisterin der Dunkelheit.“

Kari lief es kalt den Rücken hinunter. „Ich möchte dich gerne noch etwas zu ein paar Namen fragen. Namen von Menschen, die in der DigiWelt sind.“

„Warum sollte ich diese Menschen kennen?“, fragte Sora.

„Es gibt doch nur wenige Menschen in der DigiWelt. Nach meinen Erfahrungen kennen sich die meisten gegenseitig.“

„Ich nicht“, murmelte sie.

„Lassen wir es auf einen Versuch ankommen. Tai kennst du. Was ist mit Yamato Ishida?“

„Yamato Ishida ...“ Sora überlegte. „Noch nie gehört.“

„Er ist auch in der Stadt. Manche nennen ihn auch Matt.“

Nun wurde Sora hellhörig. „Matt. Der Eherne Wolf.“

„Der Eherne Wolf?“

Sie nickte. „Ich weiß nicht viel über ihn, aber er ist heute Morgen in die Ratssitzung geplatzt. Er hat ein Sonderstimmrecht bekommen, weil er der rechtmäßige Shogun von Little Edo ist.“

„Matt ist was?“

„Jetzt will er Davis zum neuen König machen. Die beiden sind Tai und mir in den Rücken gefallen“, berichtete Sora düster.

Das ist ja interessant. Kari hatte nach wie vor keine Ahnung, was in der DigiWelt geschehen war, aber ihre Freunde hatten offenbar jeder eine eigene Rolle, die sie erst aufdröseln musste. „Was ist mit Izzy? Koshiro Izumi?“

„Nie gehört“, meinte Sora kleinlaut.

„Mimi Tachikawa?“

Sie presste nachdenklich die Lippen aufeinander „Tachikawa sagt mir nichts, aber eine Mimi hat Tai mal erwähnt. Sie war die Prinzessin von Little Edo, glaube ich.“

War?“ Karis Herz machte einen erschrockenen Sprung.

„Der DigimonKaiser hat Little Edo überrollt, als gerade ihre Hochzeit mit Matt stattfand.“

„Matt hat Mimi geheiratet?“, ächzte Kari. Sie hatte das Gefühl, der Raum drehte sich um sie. Sie torkelte zum Fenster, um frische Luft zu bekommen. Es half nichts. Es waren ihre Gedanken, die rotierten.

„Was ist mit Joe?“, fragte Gatomon. Sora schüttelte den Kopf. „Ken?“ Wieder ein Kopfschütteln. „Davis kennst du ja. Was weißt du über ihn?“

„Nicht viel. Wir haben kaum miteinander gesprochen.“

„Und Yolei und Cody?“

„Tut mir leid.“ Sora sah betreten die Wand an. „Ich war lange vom Rest der Welt abgeschnitten, wisst ihr?“

„Was kannst du mir über Tai sagen?“ Kari hatte sich herumgedrehte. Sie konnte nicht fassen, dass sie Sora zu ihrem eigenen Bruder befragte.

Nun lächelte Sora. Offenbar war Tai ein angenehmer Gedanke in ihrer geglaubten dunklen Vergangenheit. „Er ist der Drachenritter des Nördlichen Königreichs. Ich habe mal jemanden sagen hören, er ist der Stoff, aus dem man Legenden macht.“ Plötzlich wurde ihr Gesichtsausdruck wieder bitter. „Er hat mir verziehen, dass ich ihn ... dass ich ...“ Ihre Stimme klang erstickt. Sie vergrub ihr Gesicht in den Händen und verstummte.

Kari setzte sich zu ihr aufs Bett und strich ihr beruhigend übers Haar. Sie hätte sie gerne getröstet, ihr gesagt, dass nichts, was sie erlebt zu haben glaubte, real war, aber für Sora war es das. Sie mussten unbedingt einen Weg finden, die Wirklichkeit wieder geradezubiegen! „Weißt du, wo ich ihn finden kann?“, fragte sie sanft.

Es dauert eine Weile, ehe Sora antwortete. Ihre Augen waren gerötet, aber sie hatte still geweint. „Er ist hier. Im größten Zimmer, gleich über dem Ratssaal.“

 

Kari wollte unbedingt alleine mit ihrem Bruder reden, aber Sora überzeugte sie, sie wenigstens bis zur Tür zu begleiten. Immerhin kannte er Sora, und es war mitten in der Nacht und er schlief wahrscheinlich. Kari hoffte fast, ihn bis auf den Gang heraus schnarchen zu hören, wie früher, aber es blieb still vor der eisernen Tür. Eisen, kein Holz. Er war hier jemand Wichtiges.

Entschlossen pochte Kari mit dem eisernen Klöppel. Hoffentlich hörte sie nicht jemand anderes, ein Nachtwächter vielleicht, der sich wunderte, was sie hier verloren hatte. Vielleicht war es ganz gut, dass Sora bei ihr war.

Es dauerte, dann wurde ihnen tatsächlich geöffnet. Das Erste, was sie unter Tais struwweligem Haar ausmachen konnte, versetzte ihr einen Schlag ins Gesicht. Wieder schwindelte sie. „Tai“, hauchte sie entsetzt. Sein rechtes Auge war nur ein gähnendes Loch.

Kari wandte sich nach Sora um, doch ihre Freundin war plötzlich verschwunden. Himmel, was ist mit ihm geschehen? Plötzlich stiegen ihr Tränen in die Augen.

„Was ist denn?“, brummte er verschlafen. Er war in Unterwäsche, um die Schultern hatte er sich einen schwarzen Umhang gewickelt wie einen improvisierten Morgenmantel.

„Ich, ähm ...“ Plötzlich wusste sie nicht, was sie sagen sollte. Vermutlich sollte sie sich freuen, dass er überhaupt noch lebte, aber ... „Darf ich reinkommen?“ Er warf einen unsicheren Blick zu Gatomon. „Es wird hier warten“, versprach Kari.

Schließlich nickte er und hielt ihr die Tür auf.

Tais Kammer war viel luxuriöser als Soras, wie erwartet. Der Boden war gefliest und mit hübschen Mustern geschmückt. Ein Schachbrett stand in einer Ecke, doch niemand hatte darauf gespielt. Das Bett war groß, mit einem Baldachin ausgestattet, und ein schwerer, roter, runder Teppich war davor ausgebreitet. Auf einer Kommode stand eine Karaffe mit Wein. Tai schenkte schweres Rot in zwei Kristallgläser und bedeutete Kari, sich auf einen der kostbaren, mit Samt überzogenen Stühle zu setzen. Fenster hatte dieser Raum keine, das war das Einzige, das ihn trostlos erscheinen ließ.

„Also, was willst du?“ Tai sah sie forschend an, als überlegte er, ob er sie kannte. Ein schwacher Hoffnungsschimmer flackerte in Kari auf. Sie wusste, dass er töricht war.

„Es scheint so einiges aus dem Ruder gelaufen zu sein“, sagte sie schließlich, nachdem sie doch von dem Wein gekostet hatte. Süß, sodass man den Alkohol nicht schmeckte. Vielleicht sollte sie sich einfach betrinken und ebenso wie ihre Freunde alles vergessen. „Ich habe schon mit Sora gesprochen und mit Matt und Davis.“ Es spielte wohl keine Rolle, was sie ihm erzählte. So oder so würde er sie für verrückt halten. Aber die Worte brachen einfach aus ihr hervor. Er war ihre Familie, auch wenn er es nicht wusste. „Sie haben mich alle nicht erkannt. Weder mich, noch T.K. Und jetzt frage ich mich, ob … ob auch ein großer Bruder seine kleine Schwester vergessen kann.“

Der Blick aus Tais Auge senkte sich nachdenklich auf das Kristallglas. Der rote Wein schien von innen heraus zu leuchten, ein Trugbild, das die Kerzen auf dem Nachttisch erschufen. „Schwester?“, fragte er heiser.

„Du weißt es vielleicht nicht. Oder vielleicht weißt du es nur tief in deinem Inneren“, sagte Kari und wich seinem Blick aus; zu weh tat es, ihn direkt anzusehen. „Aber wir sind Geschwister. Ich bin Kari, deine kleine Schwester, und ich habe dich so lange gesucht ... und jetzt endlich gefunden.“

Er schieg lange, schwenkte das Glas und grübelte. „Meine Schwester“, murmelte er. „Kari.“

„Erinnerst du dich?“, fragte sie. „Sag mir, dass du dich erinnerst.“

Tai stand auf und lächelte. „Es ist viel passiert“, sagte er und trat auf sie zu.

„Tai.“ Am liebsten wäre sie ihm einfach um den Hals gefallen, doch das erschien ihr falsch.

„Meine kleine Schwester, die ich lange nicht gesehen habe.“ Plötzlich zog er sie hoch und in eine innige Umarmung. „Wie könnte ich dich vergessen?“

Kari konnte es zuerst nicht glauben. Er erinnerte sich? Er erinnerte sich tatsächlich? Mit einer Woge der Glückseligkeit, die durch ihre Adern rauschte, erwiderte sie die Umarmung. Nun fanden die Tränen ihren Weg über ihre Wangen. „Tai … Ich hab dich so vermisst ...“

„Es ist seltsam“, murmelte er. „Ich weiß, dass du meine Schwester bist, aber ich ... Ich kann mich an nichts erinnern, was wir zusammen erlebt haben. Irgendetwas ... etwas in meinem Kopf stellt sich quer.“

„Das wird schon wieder“, flüsterte sie, überglücklich, ihn zurück zu haben. „Das wird wieder, Tai. Es ist noch nicht alles verloren. Ich bin hier, deine kleine Schwester ist mit einem Heer aus Divermon gekommen, um dir zu helfen.“

„Kari“, murmelte er.

 

 

Davis hatte eigentlich mehr trinken wollen. Er spürte die nahende Verantwortung, die er als König würde schultern müssen, aber noch mehr spürte er die Verantwortung, erst mal König zu werden. Matt hatte ihm schließlich den dritten Krug Bier verboten, und sie hatten Schlachtpläne für den zweiten Tag der Kür geschmiedet. Es war anstrengend gewesen, und außerdem waren Davis die beiden Neuankömmlinge nicht aus dem Kopf gegangen. Vor allem dieser T.K. hatte ihn zum Grübeln gebracht. Was hatte er nur für ein Problem? Sie schienen wirklich einiges durchgemacht zu haben, und er hatte wohl auch jedes Recht, gereizt zu sein, aber seine Anschuldigungen konnte er einfach nicht verstehen. Warum taten sie, als würden Matt und er sie kennen? Er hatte den Ehernen Wolf doch selbst erst gestern kennengelernt!

Lange nach Mitternacht stieg Davis die Treppen im Rathaus hoch, um zu seinem Zimmer zu gelangen. Veemon hatte Davis‘ Zurückhaltung wettgemacht: Es war sturzbetrunken und taumelte, stieß immer wieder gegen die Wände des Stiegenhauses. „Ach Veemon, reiß dich zusammen“, zische Davis, fand es aber irgendwie lustig.

„Lass mich doch“, lallte Veemon. „Nur weil ich bald ein Königsdigimon sein bin, muss ich ja nicht plötzlich auf einmal brav und anständig werden. Sein.“ Als Veemon nach dieser Ansage auch noch Schluckauf bekam, musste Davis sich beherrschen, nicht in lautes Gelächter auszubrechen.

In dem Moment öffnete sich vor ihnen eine Tür – die Tür zu Tais Gemach. Davis prallte zurück und zog Veemon, das heftig protestiert, um die Ecke – doch nicht sein Rivale auf den Thron verließ das Zimmer, sondern das Mädchen von heute Abend. Kari. Was hatte sie dort drin zu suchen gehabt?

Sie eilte beschwingten Schrittes die Treppen hoch. Ihr Gatomon und Sora erwarteten sie nach der nächsten Biegung. Das Digimon entdeckte Davis, der ihnen hatte nachschleichen wollen, und starrte ihn an. Schließlich bemerkten ihn auch die anderen. Ohne eine Erklärung abzugeben, maß Kari ihn nur mit traurigem Blick und die drei gingen schweigend weiter.

„Was machst du hier?“, rief Davis Kari hinterher. „Du hast hier nichts verloren!“

„Sie schläft bei mir“, sagte Sora und maß ihn mit einem finsteren Blick. „Hast du etwas dagegen?“

„Dagegen hab ich nichts“, knurrte er. „Aber warum war sie in Tais Gemach?“

„Frag ihn das doch selbst“, zischte Sora. Wunderbar, sie war immer noch sauer und schien sich eine neue Verbündete gesucht zu haben. Kari schwieg weiterhin, als wollte sie ihren glücklichen Moment nicht zerstören – glücklich, wieso? War sie etwa Tais Geliebte oder so etwas? Davis kniff die Lippen zusammen. Soras Kammertür krachte wütend ins Schloss.

„Was is’n los, Davis?“, murmelte Veemon. „War das nicht das Mädchen von heute gesehen? Wir, haben.“

„Ja, das war sie“, brummte Davis. „Verdammt, hoffentlich ist die Kür bald entschieden.“ Er hatte plötzlich ein ganz mieses Gefühl.

 

 
 

Tag 129

 

„Verehrte Ratsmitglieder, Ritter und Fürsten unseres Reiches, werte Königskandidaten“, eröffnete Wizardmon den zweiten Tag der Kür. „Bevor wir mit der Diskussion beginnen, sollt Ihr die beunruhigenden Nachrichten hören, die wir heute Morgen aus Süden und Westen gehört haben.“ Es räusperte sich. „Die Geisterhorde aus den Nadelbergen hat gestern unsere Linien durchbrochen. Momentan ist ein Heer auf dem Weg ins Herz unseres Reiches.“

Erschrockenes Gemurmel wurde laut. Sora knetete die Hände. Centarumon war an die Front zurückgekehrt, aber anscheinend hatte MetallPhantomon seine kurze Abwesenheit nutzen können.

„Weiters erreichte uns die Nachricht, dass die Truppen des DigimonKaisers wieder mobil machen. Momentan verbreiten sie sich in bedenklicher Zahl auf der Großen Ebene“, fuhr Wizardmon fort.

„Verdammt nochmal!“ Meramon schlug mit der Faust auf den Tisch. „Wo nimmt er die nur alle her? Langsam müsste ihm die Digimon ausgehen, bei den Kriegen, die er dauernd führt.“

„Ich möchte Euch alle bitten, diese Informationen im Hinterkopf zu behalten, wenn Ihr Eure Stimmen abgebt. Wir sollten die Kür nicht länger als nötig hinauszögern“, schloss Wizardmon und die Versammelten setzten ernste Gesichter auf. „Centarumon hat seine Stimme Sir Taichi gegeben. Ich möchte die Kandidaten bitten, noch einmal ihre Vorzüge und Versprechen zu betonen, ehe wir mit der Abstimmung fortfahren.“

Die Ritter, die gestern gefehlt hatten, zwei KaiserLeomon, hörten aufmerksam zu. Sora sah unsicher zu Tai, dann zu Kari und ihrem Gemahl Klecks, die an seiner anderen Seite saßen. Das Divermon hatte die ganze Nacht über treu auf Kari gewartet, und am Morgen hatte sie es herein beten lassen. Nun saßen sie auf Tais und Soras Wort hin auch am Ratstisch.

Über Nacht hatten sich einige Stimmen geändert. Tai und Davis waren immer noch die klaren Favoriten. Letzterer saß neben Matt und hatte eine grimmige Miene aufgesetzt. Die Ritter, die selbst kandidierten, gaben nun erstmals auch den Favoriten ihre Stimmen, damit die Kür beendet wurde. Nur Coelamon wollte sichtlich seinen eigenen Fürsten an die Macht bringen, weswegen es Agunimon seine Stimme gab.

„Ich bin für Sir Taichi“, sagte Agunimon. „Soll er König werden. Das ist besser, als wenn uns das Blutende Herz oder der DigimonKaiser überrollen.“

Wizardmon nickte. „Meine Stimme gehört Davis“, erklärte es. „Ich denke, er ist würdig.“

„Seid Ihr hierbei nicht befangen, Fürst Wizardmon?“ fragte Sir Angemon. „Er hat Eure Stadt gerettet, stimmt Ihr deswegen für ihn?“

„Dadurch hat er beweisen, was er zu tun vermag. Ich brauche mich nicht zu rechtfertigen“, erklärte Wizardmon.

Auch die anderen stimmten ab, manche Meinungen schwenkten sogar wieder um. Sora hielt es vor Anspannung kaum aus, still zu sitzen. Tai und Matt waren die Ruhe selbst, Kari ließ sich nichts anmerken, Klecks sowieso nicht, Davis war ebenfalls nervös.

„Somit erzielen wir ein Unentschieden“, fasste Wizardmon zusammen, als jeder, der durfte, seine Stimme abgegeben hatte. Coelamon war das Einzige, das nicht Davis oder Tai bevorzugt hatte. Aller Augen richteten sich auf es. „Bleibt Ihr Eurer Stimme treu, Coelamon?“

„Ihr habt die Macht, unseren König zu bestimmen, wenn Ihr Eure Meinung jetzt ändert“, betonte Angemon.

Coelamon schien verunsichert. „Ich ... Darüber müsste ich mit meinem Fürsten sprechen ...“

„Wir werden garantiert nicht warten, bis du deinen schleimigen Hintern zur Küste und wieder zurück schaffst“, polterte Meramon.

„Mäßigt Euch, ich bitte Euch“, sagte Wizardmon. „Was sagt Ihr, Coelamon? Die Entscheidung liegt bei Euch.“

Coelamon zögerte. Schließlich begann es stammelnd: „Fürst Ebidramon hätte sicher ... Also, es ist ja selbst ein junger Fürst, der von König Leomon die Adelswürde zugesprochen bekommen hat. Darum glaube ich, dass es mit einem König einverstanden wäre, der sich in kurzer Zeit nach oben gearbeitet hat.“ Noch bevor es aussprach, zog sich etwas in Sora zusammen. „Ich stimme vertretend im Namen von Ebidramon, Fürst des Net Ocean-Strandes im Osten, für Davis, den Held der Blütenstadt.“

Gemurmel erhob sich wieder, sogar manche Verwünschungen wurden laut. Davis lächelte zufrieden, Matt nickte hm zu.

„Somit führt Davis um eine Stimme“, sagte Wizardmon und nickte. „Allerdings haben wir jemanden in unserer Runde, der sich noch nicht geäußert hat.“ Es wandte sich direkt an Kari. und Klecks. „Seid Ihr hier, um jemand anderes zu nominieren, oder wollt Ihr Eure Meinung kundtun? Noch ist nichts in Stein gemeißelt. Wohlgewählte Worte können noch die ganze Abstimmung kippen.“

Kari nickte und stand auf. Nacheinander sah sie allen Versammelten in die Augen, dann blickte sie zu Tai, wie um Kraft zu tanken. „Ich bin hier, um mein Stimmrecht als Gastkönigin einzufordern“, erklärte sie schließlich.

„Königin?“, lachte Meramon. „Von einem Haufen Divermon? Denkst du, das reicht aus, um dich Königin nennen zu dürfen?“

„Ja, ich bin Kari, Königin der Divermon. Ich habe gehört, dass Ihr sogar einem mittellosen Shogun eines verlorenen Reiches eine Stimme gewährt habt“, sagte Kari mit einem bezeichnenden Blick auf Matt.

„Ich habe einen Vertrag unterzeichnet“, sagte Matt tonlos, „wonach Little Edo in das Nördliche Königreich eingegliedert wird, sobald wir es zurückerobert haben.“

„Und wann wird das sein? Ich biete Euch achtzig Divermon auf dem Ultra-Level, die treu und bis in den Tod für Euch kämpfen werden, vielleicht, um gerade Euer Shogunat zu befreien.“

„Mädchen, du weißt nicht, was du da redest“, brummte Meramon abfällig. „Es mischen mir hier eindeutig zu viele Fremde bei unseren Regierungsangelegenheiten mit.“

„Aber was sie sagt, stimmt“, meldete sich Frigimon freundlich zu Wort. „Außerdem ist fast unsere gesamte Flotte vor der File-Insel zerstört worden. Die Divermon könnten wir gebrauchen, um die Küsten zu schützen.“

„Das stimmt“, sagte Coelamon.

Nun stand auch Tai auf. Er nickte Kari zu. „Kari und ihr Gemahl regieren über ein weit entferntes Meer. Ihnen ist die beschwerliche Reise hierher gelungen, und ihr einziges Ziel ist es, uns im Kampf gegen den DigimonKaiser zu unterstützen. Uns drohen von jeder Seite Gefahren – wir brauchen dringend jedes Digimon.“

Wizardmon nickte. „Wenn uns dieses ferne Königreich jede auch noch so kleine Hilfe zuteilwerden lässt, ist es recht und billig, dass wir der Königin eine Stimme gewähren. Wem würdet Ihr Euer Heer zur Verfügung stellen?“

„Sir Taichi dem Drachenritter“, sagte Kari entschlossen und setzte sich wieder.

Meramon grunzte. „Wie klug von dir, Mädchen. Jetzt haben wir wieder ein Unentschieden. Willst du uns in den Untergang laufen lassen?“

„Wir werden doch wohl auch so eine Lösung finden“, fuhr Tai ihm über den Mund.

Davis wirkte zerknirscht. Wahrscheinlich hatte er diese Entwicklung erwartet. Aber selbst wenn man Kari die Stimme wieder entzog, müsste das auch für Matt gelten, der Davis gewählt hatte.

Wizardmon hüstelte. „Ich gehe davon aus, dass niemand der Versammelten seine Stimme jetzt noch zurücknehmen wird?“ Keiner antwortete. „Ich bleibe der meinen ebenfalls treu“, erklärte es. „Somit haben wir keine Wahl, als die Kür um einen weiteren Tag zu verlängern.“

„Wartet.“ Ehe sie wusste, was sie tat, war Sora aufgesprungen. Sie schwitzte plötzlich unglaublich in ihrem Kleid. Denk an Piyomon, sagte sie sich. Sobald das hier vorbei ist, kannst du es abholen. „Ich verlange ebenfalls ein Stimmrecht als Gastkönigin.“

Davis und Tai sahen sie schockiert an, Meramon lachte.

„Und wovon willst du nun plötzlich Königin sein?“, fragte Agunimon lauernd.

Sie beschloss, ihre Karten auf den Tisch zu legen. Für Tai. „Ich bin Sora, die rechtmäßige Königin der Nadelberge und des Düsterschlosses, mit dem Wappen der Liebe.“

Das Gemurmel schwoll wieder an, doch nun klang es zorniger. „Was soll das heißen?“, knurrte Meramon. „Nadelberge? Düsterschloss? Sprecht Ihr vom Blutenden Herzen?“

„Sora hat mit dem Blutenden Herzen nichts zu tun“, sagte Tai. „Ich fand sie als Gefangene vor, als ich zum Düsterschloss flog. MetallPhantomon hat sie überlistet. Es hat in Wahrheit die Kontrolle über die Geisterarmee und die Briganten.“

„Widersprecht mir, wenn ich mich irre, Drachenritter“, sagte Sir Angemon, „aber die Briganten, die wir fingen, sowie die Digimon im Kriegsgebiet sprachen von einer Schwarzen Königin. Ich glaube nicht, dass sie damit MetallPhantomon meinten.“

„Nein. Meinten sie nicht“, sagte Sora. Ihre Stimme zitterte, ihr Herz schlug wie verrückt, aber sie wollte nicht länger vor ihrer Vergangenheit davonlaufen. „Keine Ausflüchte mehr. Ich danke Euch, Sir Taichi, aber ich werde die Wahrheit sagen.“ Sie holte tief Luft. „Ich bin es, die Ihr Schwarze Königin nennt.“

Die Eröffnung, gleichauf mit dem DigimonKaiser ihr schlimmster Feind zu sein, ließ die Versammelten aufspringen. In Meramons Hand züngelte eine Flamme. Agunimons Handgelenkwaffen fauchten. „Keiner rührt sie an!“, schrie Tai. „Jeden, der es wagt, sie anzugreifen, lasse ich ein Duell auf Leben und Tod mit WarGreymon ausfechten!“

Die Attacken flauten ab, aber die Digimon waren nur umso ungehaltener. Eine Welle der Feindseligkeit schwappte Sora entgegen und schnürte ihr schier den Hals zu. „Ich war lange Zeit unter einem finsteren Zauber“, sagte sie, „aber ich bin deswegen nicht unschuldig daran, was ich getan habe und was in meinem Namen getan wurde. Ich habe Krieg gegen Euch geführt, Eure Digimon getötet und bedroht, und ich war es, die Sir Taichi das rechte Auge genommen hat.“ Eines der KaiserLeomon knurrte, ein hohles, durchdringendes Geräusch. Die Halle hielt den Atem an. „Alles, was ich tun kann, ist ihn jetzt zu unterstützen. MetallPhantomon hat die Macht an sich gerissen, weil ich schwach war. Ich weiß, seine – meine – Armee hält auf Eure Tore zu, und deswegen will ich etwas unternehmen. Ich will mich nicht länger als Randfigur fühlen. Ich kann nicht erwarten, dass andere den Schmutz aufwischen, den ich hinterlassen habe!“

Kari nickte ihr aufmunternd zu, doch Meramon unterbrach sie. „Selbst wenn du Königin bist, du bist eine verlogene, hinterhältige Schlange. Ein Stimmrecht willst du? Sollen wir denn dem DigimonKaiser auch eins einräumen?“

„Mäßigt Euren Tonfall, Meramon“, sagte Tai eiskalt.

Sie konnte die Höhle nicht ins Gespräch bringen. Sie wollte keine Ausreden mehr, und außerdem wäre Davis der Einzige, der davon wusste, und dieser wirkte, als könnte er jeden Moment aus der Haut fahren.

„Als ich MetallPhantomon zu meinem General gemacht habe, ist mein wahres Volk geflohen“, fuhr Sora fort. „Es wird zurückkommen, wenn MetallPhantomon besiegt ist. Da ich eine schlechte Königin war, möchte ich, dass auch die Nadelberge ins Nördliche Königreich eingegliedert werden. Das ist das Beste für mein Volk.“

„Und den König bestimmst somit du?“, fragte Davis wütend. „Du kennst Tai kaum! Du weißt nicht, wie er regieren würde!“

„Auf jeden Fall besser als ich. Meine Entscheidung steht fest.“ Sora nickte Kari zu.

„Ich würde ihr das Stimmrecht gewähren“, meinte Angemon. „Es wird Zeit, dass eine Entscheidung gefällt wird. Besser wir wählen den Drachenritter, als dass wir noch länger warten, bis uns unsere Feinde überrennen. Sie ist von königlichem Geblüt, auch wenn sie finstere Taten begangen hat.“

„Und damit sollen wir uns abspeisen lassen?“ Meramon streckte seinen flammenden Finger nach ihr aus. „Ich weiß, was wir machen. Du willst deine Schuld begleichen? Auge um Auge, sage ich. Gib uns eines von dir, und wir erkennen dein Stimmrecht an.“

Sora wich ängstlich zurück.

„Danke, dass Ihr so um mein Recht besorgt seid, Meramon“, spottete Tai. „Wir sprechen darüber, wenn ich König bin. In jedem Fall werdet Ihr dann nur das tun, was ich Euch befehle.“

Wizardmon nickte. „Ich finde auch, dass das Stimmrecht unter diesen Umständen recht und billig ist. Sir Taichi scheint der Schwarzen Königin zu vertrauen.“

„Weil sie auf seiner Seite ist“, warf Matt ein. „Wer würde sie da zurückweisen? Übereilt etwas so Wichtiges zu beschließen, ist dumm.“

„Willst du etwa sagen, dass wir nochmal Centarumon und Ebidramon antanzen lassen sollen, um was an den Stimmen zu rütteln?“ Es war schwer zu sagen, auf wessen Seite Meramon eigentlich war.

„Gestehen wir ihr ihre Stimme zu, und die Sache ist erledigt“, sagte Agunimon.

„Euch ist es ja egal, wer gewählt wird, weil Ihr es selbst nicht seid!“, behauptete ein KaiserLeomon.

Da bekannt war, wen Sora wählen würde, sprachen sich vor allem Tais Anhänger dafür aus, ihr das Stimmrecht zu gewähren. Letztendlich räusperte sich Wizardmon. „Nun gut, wir haben nun alle Argumente gehört, denke ich. Königin Sora, ich bitte Euch, denselben Vertrag zu unterzeichnen, den auch Shogun Matt unterschrieben hat.“ Es gab einem Gazimon einen Wink.

„Einspruch!“, rief Davis. „Kann sie denn beweisen, dass sie die echte Königin ist?“

„Ich bin ihr Zeuge“, sagte Tai.

„Das zählt nicht!“

„Vertraut Ihr alle meinem Wort als Ritter nicht mehr?“, knurrte Tai. „Oder soll ich jetzt auch bezweifeln, dass Matt der entthronte Eherne Wolf ist?“

Sora wurde ein Pergamentblatt gereicht, in dem sie sich verpflichtete, auf ihren Thron zu verzichten und als Vasallin des Nördlichen Königreiches die Nadelberge und die angrenzenden Gebiete zu verwalten. „Das kann ich nicht unterschreiben“, sagte sie.

„Da habt Ihr’s“, rief Davis.

Sie schüttelte den Kopf. „Ich bin es nicht wert, eine Fürstin zu werden. Der neue König darf meine Gebiete unter seinen Vasallen aufteilen, wie er es für richtig hält.“

Davis brummte irgendetwas. Die entsprechenden Passagen wurden geändert und Sora setzte ihren Namen darunter.

„Dann sagt, wen Ihr wählt, Königin Sora vom Blutenden Herz“, sagte Wizardmon.

Sie schluckte. „Ich wähle Sir Taichi den Drachenritter zum neuen König des Nordreiches, von Little Edo und den Nadelbergen!“

Kari seufzte erleichtert auf, Davis wurde bleich. Die Fürsten und Ritter brummten zufrieden, die meisten jedenfalls. „Einspruch!“, rief Davis heiser.

„Es wurde gewählt.“

„Ich schlage einen anderen König vor! Wer schließt sich meiner Meinung an, dass wir Sir Agunimon wählen sollten?“

„Dir scheint es egal zu sein, wer König wird, solange ich es nicht bin“, knurrte Tai. „Jetzt zeigst du dein wahres Gesicht. Du gönnst es mir nur nicht. Und so jemand wie du wäre fast gewählt worden!“

„Die Kür ist beendet“, verkündete Wizardmon. „Heute Nachmittag wird Sir Taichi der Drachenritter zum König gekrönt. Teilt es dem Volk mit und bereitet alles vor.“

Davis sprang auf und stürmte aus dem Raum. Während die anderen Versammelten sich erhoben, sah Sora, wie Kari unter dem Tisch Tais Hand drückte. Sie selbst fühlte sich plötzlich so schwach, dass sie in ihren Sessel zurücksank. Dennoch gestattete sie sich ein Lächeln.

Sie hatten es geschafft.

 
 

I know I was destined to rule alone

All for myself I have claimed the throne

Born to rule

My time is now

(Sabaton – Carolus Rex)
 



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  Juju
2017-06-25T15:44:56+00:00 25.06.2017 17:44
Hmmmm irgendwie lässt das Kapitel mich zweifelnd zurück, wenn ich ehrlich bin.
Das mit Tai ging überraschend einfach. Kari taucht auf, erzählt ihm, dass sie seine Schwester ist und zack, umarmt er sie und kann sich sogar irgendwie dunkel an sie erinnern. Bei Matt und T.K. schien ja da gar keine Glocke geläutet zu haben beim Thema Brüder. Entweder hattest du keine Lust auf noch mehr Drama und wolltest deinen Charakteren mal einen glücklichen Moment gönnen, oder da steckt noch irgendwas anderes dahinter. :D
Sora hat Kari auch überraschend gut aufgenommen, das mag ich. Wer weiß, vielleicht gibt es da ja doch noch ein paar versteckte Erinnerungen oder vielleicht seitens der Charaktere ein Gefühl der Vertrautheit?
In der Kür ging es ja mal wieder ab, hin und her, Davis oder Tai. :D Und wie sich über die ganzen Gastkönige und -königinnen aufgeregt wird. :D Irgendwie zurecht. Ich glaube, ich hätte mich auch langsam verarscht gefühlt. Erst Matt, dann Kari und dann auch noch Sora als Schwarze Königin. Und nun ist Tai also der neue König. Mal sehen, was seine erste Amtshandlung wird.
Und ich lese gerade, Kari hat geträumt, dass Davis Tai umbringt? O_O Irgendwie ist das in meinem Gedächtnis schon wieder verloren gegangen. Aber das würde erklären, warum Davis Tai gegenüber auf einmal so anti ist. Ist das echt alles nur Neid? Schon seltsam. Man sollte ihn jetzt wohl genau im Auge behalten. <_< Wenn Tai jetzt stirbt... nicht ausdzudenken. D:
Von:  EL-CK
2017-03-26T10:23:26+00:00 26.03.2017 12:23
Na ob das eine gute Idee war... schauen wir mal
Antwort von:  UrrSharrador
03.04.2017 15:08
ja, schauen wir mal xD
Von:  Maloich
2017-03-25T23:24:06+00:00 26.03.2017 00:24
Mir gefiel dieses Kapitel sehr gut auch wenn ich finde, dass die Kür etwas sehr hin und her ging. Zudem freue ich mich, dass Tai Kari zum Teil wiedererkennt.
Ich warne dich, wehe du lässt Davis jetzt Tai töten, so wie es Kari einst träumte. *suspicious observing*
Antwort von:  UrrSharrador
03.04.2017 15:09
Danke für deinen Kommi! Äh *hust* ich doch nicht, so was traust du mir zu? :,D


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