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Mirrors World - Dornenfluch

Winterwichteln 2012/13
von

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Verlorene Träume

Er trat auf eine Bierflasche, als er die Tür öffnete. Seufzend kickte er sie weg und beobachtete, wie die Flasche den Flur entlangkullerte. Der Boden war schief gelegt worden, doch was erwartete man im schmutzigsten Viertel von Weither? Keiner hatte sich hier Mühe beim Bau gegeben, Hauptsache es war fertig und jemand konnte hier einziehen.

Und der Vermieter verdiente sein Geld.

Dabei hatten sie schon seit längerem die Mietrechnung nicht mehr bezahlt. Er hatte den Vermieter vertröstet, hatte ihn hingehalten und ihm versprochen, dass sein Vater die Rechnungen schon bezahlen würde. Im Moment ging es ihm nicht allzu gut, das ganze Geld würde für Medikamente draufgehen, aber nächsten Monat da hätten sie wieder etwas Kohle übrig, um die Miete zu bezahlen.

Er wusste lange Zeit würde er diese Ausreden nicht mehr benutzen können. Irgendwann würde der Vermieter seinen Versprechen keinen Glauben mehr schenken und dann würde man ihn und seinen Vater aus der Wohnung schmeißen.

Es war Zeit, sich nach noch einem Job umzusehen. Als Aushilfe im kleinen Stadtcafé verdiente er eindeutig zu wenig. Doch wenigstens verdiente er dort etwas Geld, ganz im Gegensatz zu seinem Vater.

„Sieht man dich auch mal wieder?“, drang eine laute, barsche Stimme aus einer der angelehnten Türen. „Beweg dich her, aber zack!“

Er verdrehte die Augen und stellte seine Tasche auf dem Boden ab, bevor er langsam seinen Schal auszog und dann seine Jacke. Bis zehn zählend öffnete er die Knöpfe und ignorierte dabei die Rufe seines Vaters. Was hatte er ihm denn schon zu sagen? Als Alkoholiker, der seinen Job verloren hatte und nun von Hartz IV lebte? Und sein ganzes Geld war Alkohol ausgab, die Tatsache dass er einen Sohn hatte, dabei vergessend? Nein, dieser Typ hatte ihm rein gar nichts zu sagen. Die Zeiten, in denen er sich von diesem Nichtsnutz hatte einschüchtern lassen, waren endgültig vorbei.

Als er seine Jacke dann endlich ausgezogen und aufgehängt hatte, begab er sich endlich ins Wohnzimmer. Die Stimme eines Sportreporters drang aus dem Raum und er wusste genau, wie er seinen Vater auffinden würde. Im Sessel sitzend vor dem Fernseher, auf dem gerade das unbedeutendste Fußballspiel aller Zeiten lief und das seinen Vater doch mehr interessierte als alles andere, abgesehen von der Bierflasche in seiner linken Hand.

„Was willst du?“, fragte er und richtete seinen Blick auf einen Bierfleck hinter seinem Vater an der Wand, der dort hingekommen war, als dieser in einem Wutausbruch eine Flasche dort hingeworfen hatte.

Sein Vater saß in dem aschgrauen Sessel, der von Zigarettenabdrücken übersät war, hielt wie üblich das Bier in der linken Hand. In der rechten Hand hielt er jedoch einen Umschlag, der geöffnet worden war.

„Erik, kannst du mir das erklären?“ Er wedelte mit dem Brief in seiner Hand. Erik konnte den Briefstempel erkennen und schluckte heftig. Ein blaues Wappen mit einem silbernen, verschnörkelten W in der Mitte.
 

Das Abzeichen der Winchester-Universität, eine der angesehensten Universitäten im ganzen Lande. Jeder, der etwas erreichen wollte, der bewarb sich, unter anderem bei dieser Uni. Die Winchester Uni hatte unter anderem berühmte Politiker und Ärzte hervorgebracht, ihr Sportteam gewann in allen Spielen und selbst auf den künstlerischen Gebieten waren sie kaum zu schlagen. Es war eine Schule für die Besten der Besten.

Und für die Reichsten der Reichsten.

Das Studiengeld schwebte in Summen, von denen so normale Menschen wie Erik nicht einmal träumen konnten. Ohne ein Stipendium würde er die Universität immer nur aus der Ferne beobachten können, denn er selbst könnte sich das Geld niemals leisten.

Und so hatte er eine Bewerbung abgeschickt mit der Bitte ihn bei der diesjährigen Stipendienprüfung aufzunehmen. Die Hoffnung aufgenommen zu werden, war gering. Wieso sollten sie auch ihn, einen Niemand, zur Prüfung vorladen?

„Das ist ein Brief!“, entgegnete er auf die Frage. Mein Brief, fügte er in Gedanken hinzu, war jedoch klug genug diesen nicht laut auszusprechen, hätte er doch sonst nur wieder einen Streit vom Zaun gebrochen.

„Ich weiß, dass das ein Brief ist. Ich wollte eigentlich wissen, was dich dazu bringt, so einen Brief zu erhalten? Denkst du wirklich, wir könnten uns das leisten?“ Während sein Vater redete, flogen Spucketropfen durch die Luft und trafen den jungen Schüler im Gesicht, die er sich mit dem Ärmel wieder wegwischte.

Wenn du dein Geld nicht ständig für Bier ausgeben würdest und dir einen anständigen Job suchst, dann Ja, dachte er zornig, entgegnete jedoch etwas anderes. „Deswegen habe ich mich ja um ein Stipendium beworben!“, erklärte er ruhig.

„Ein Stipendium?“ Sein Vater lachte laut auf. „Als ob du jemals ein Stipendium bekommen könntest. Für so etwas musst du ein Genie sein, selbst die Klügsten der Klügsten können da durchfallen und du, du hast doch eh keine Chance. Denkst du wirklich, die wollen da so einen wie dich? Was willst du denn bei diesen ganzen Schicki-micki-Typen? Du passt da doch niemals rein. Bleib lieber zuhause!“

„Damit ich so ende wie du?“ Die Worte kamen, bevor Erik sie aufhalten konnte. Für einen Moment blickte er erschrocken auf und es war, als würde sich ein Schalter umlegen. Es machte klick und…

„Damit ich vor dem Fernseher ende und meine einzigen Freunde die Bierflasche und der Sessel sind? Nein, niemals. Bloß weil ich etwas erreichen will, musst du dich mir nicht in den Weg stellen. Ich will meine eigenen Träume verwirklichen, sieh endlich ein, dass ich nicht so bin wie du. Ich hasse dieses Leben hier und ich will etwas anderes haben. Ich will mehr. Und ich werde das kriegen, denn ich bin im Gegensatz zu dir nicht so dumm und faul. Seit Mutter tot ist, lässt du dich total gehen. Jahrelang habe ich mir das mitangesehen und dich dafür gehasst.“ Er drehte auf dem Absatz um und stürmte aus dem Raum. Er hielt das nicht mehr aus. Wenn er jetzt nicht verschwand, würde er nicht wissen, was er tun würde. Er hörte, wie sein Vater etwas rief, doch es war ihm egal. Hinter sich knallte er die Tür zu und stürzte die Stufen hinunter. Er musste hier weg. Unbedingt.

Draußen angekommen schlug er Richtung Stadtpark ein. Hier ging er immer hin, wenn er Ruhe wollte. Und wenn er seine Ruhe wollte, ging er joggen. Und zum Joggen ging er in den Stadtpark.

Zum Glück lag der Stadtpark ganz in seiner Nähe. Nachdem er durch das Tor gelaufen war, rannte er Richtung Westen. Im Sportunterricht gab er sich nie wirklich Mühe, denn er sah keinen Sinn darin, einfach grundlos zu rennen. Sein Sportlehrer hatte ihm zwar des Öfteren angeboten, in die Leichtathletik-Gruppe einzutreten, doch Erik hatte einfach kein Interesse daran. Er joggte nur, wenn ihm danach war.

So wie jetzt.

Wenn er schlecht gelaunt war. Wenn ihn etwas aufregte. So wie jetzt.
 

„Der Schuh ist mir zu klein.“

Sie seufzte und legte den gläsernen Pantoffel beiseite. Ein Glasschuh, was für eine lächerliche Idee. Und der Prinz wollte die zur Frau nehmen, der der Glasschuh passte.
 

Nun, sie war es eindeutig nicht. Aber, so winzig wie dieser Schuh war, wer hatte schon den passenden Fuß dafür? Außer einem Kleinkind natürlich. Niemand, den sie kannte.

„Dann hack dir die Zehen ab!“, drang die kalte Stimme ihrer Mutter zu ihr herüber und sie drückte ihr ein silbernes Messer in die Hand. „Tu es, Drisella.“

Drisella wich erschrocken zurück. Ihre Zehen abhacken? Nein, so etwas konnte sie nicht tun. Sie mochte ihre Füße. Auch wenn sie nicht so winzig waren, wie die vom Glasschuh, so waren sie doch schlank und weich. Vor allem ihre Zehen mochte sie aus irgendeinem Grunde sehr gerne. Manchmal malte sie sich heimlich ihre Zehennägel an, nur um diese noch weiter zur Geltung zu bringen. Und jetzt sollte sie so ein Opfer bringen?

Für was eigentlich?

Doch einzig und alleine nur für den Prinzen, damit er sie heiratete. Doch, war es das wirklich wert? Sie würde in einem Schloss wohnen, würde im Luxus ertrinken und der Prinz würde ihr jeden Wunsch von den Augen lesen und sie wie eine Prinzessin behandeln. Sie würde eine Prinzessin sein. Das, was sie schon immer wollte. Dann würde sie nicht mehr im Schatten von Anastasia stehen, sondern selbst jemand sein. Eine Prinzessin.

Und wie erklärte sie dem Prinzen dann ihre „Behinderung“? Was sollte sie ihm sagen, wenn er sie in der Hochzeitsnacht nach ihren fehlenden Zehen fragte? Ein Unfall, der ihr das angetan hatte, doch ob er ihr das auch glauben würde, das bezweifelte Drisella doch sehr. Denn, war es nicht großer Zufall, dass ausgerechnet der behinderte Fuß der Fuß war, welcher in den Glasschuh passte?

„Drisella, worauf wartest du noch?“ Es gab Momente, in denen Drisella Angst vor ihrer eigenen Mutter hatte. Sie war eine kalte, erbarmungslose Frau, die sich an dem Leid anderer erfreute. Eigentlich wollte sie nur das Beste für ihre beiden Töchter, doch dass sie dafür selbst ihnen Schmerzen und Leid aufbürden wollte… Drisella hatte zwar keine Ahnung von Kindererziehung und war sich auch noch nicht sicher, ob sie jemals Kinder haben würde … jedoch war sie klug genug, um zu wissen, dass so etwas einfach falsch war.

Und außerdem, was hatte der Prinz gleich nochmal gesagt?

„Keine andere soll meine Gemahlin werden als die, an deren Fuß dieser goldene Schuh passt!“

Was aber, wenn die Frau nun aber ein entstelltes Gesicht hatte? Oder gar ein Junge war? Drisella biss sich auf die Unterlippe um sich ein Lachen zu verkneifen, konnte aber nicht verhindern, dass ein kaum hörbares Glucksen nach außen drang. Und den scharfen Ohren ihrer Mutter entging dieser Ton natürlich nicht.

„Was lachst du so vor dich hin, Drisella?“ fragte sie erzürnt und ihre Augen wurden noch kälter, ihre Lippen noch dünner, falls das überhaupt noch möglich war. „Nun, schlag sie dir schon ab, deine Zehen. Wenn du erst einmal Königin bist, wirst du nicht mehr zu Fuß gehen müssen!“ Die Härte ihrer Worte und der Blick ihrer Augen verriet, dass sie keine Widerrede gelten ließ. Nichts und niemand konnten sich ihr in den Weg stellen. Sie war grausamer als der Teufel höchstpersönlich.

Mit zitternden Händen nahm Drisella den juwelenbesetzten Dolch entgegen. Sie hatte Tränen in den Augen und wischte sie heimlich weg, denn sie wollte nicht, dass ihre Mutter dieses Zeichen der Schwäche mitbekam.

Als kleines Mädchen hatte sie heimlich immer mit dem Dolch gespielt. Früher hatte sie davon geträumt, einmal als Ritter zu kämpfen. Diese Wünsche waren lächerlich, Frauen wurden keine Ritter. Sie wurden Prinzessinnen und blieben zuhause. Drisella wusste, dass sie niemanden von diesem Wunsch erzählen durfte, wenn sie nicht ausgestoßen werden wollte. Und so hatte sie hübsch das kleine süße Mädchen gespielt, dass unbedingt einmal Prinzessin sein wollte. Nur nachts hatte sie sich rausgeschlichen und heimlich mit dem Dolch gespielt, wenn niemand sie sah.

Und nun sollte ausgerechnet dieser Dolch, der mehr Geheimnisse von ihr wusste, als ihre eigene Mutter, ihr so etwas antun? Drisellas Hände zitterten noch stärker, während sie langsam den Dolch an ihre Zehen führte und die Spitze über den Fuß gleiten ließ.

„Nun tu es endlich!“, rief ihre Mutter barsch. „Der Prinz wird nicht ewig warten!“

Drisella atmete tief ein und verabschiedete sich in Gedanken von all den Dingen, die sie nun nie wieder tun würde. Nie wieder tanzen, nie wieder laufen ohne bei jedem Schritt an diesen Schmerz erinnert zu werden.

Mit einem einzigen, entschlossenen Schnitt schlug sie sich die Zehen ab. In hohem Bogen flogen diese durch die Luft und landeten auf dem teuren Perserteppich. Drisella wagte es kaum, die Augen zu öffnen. Teils vor Abscheu, teils vor Schmerz. Ihre Mutter trat hervor und wickelte ein Stück Stoff um ihren verletzten Fuß.

„Nun geh, Kindchen!“ Sie hielt ihr den gläsernen Schuh entgegen. „Geh und werde eine Königin!“ Kein Wort des Trostes, kein liebevolles Wort einer besorgten Mutter. Nur der kalte Blick in ihren Augen.

Drisella schluckte und schlüpfte vorsichtig in den Schuh rein. Ihr Fuß tat so weh. Vorsichtig stand sie auf und hinkte zur Tür hin. Und auch diesmal machte ihre Mutter keine Anstalten ihr zu helfen, sondern rief ihr noch hinterher, sie solle normal laufen, sonst würde der Prinz Verdacht schöpfen.

An der Tür lehnte ihre ältere Schwester Anastasia. Tränen standen ihr in den Augen, doch sie wischte sie hastig weg, als ihre Mutter aus dem Raum trat. Anastasia hatte es nicht geschafft, der Prinz hatte den Betrug bemerkt und war zurückgekommen. Für einen Moment loderte Hass in Drisella auf. Wenn Anastasia sich nicht so dumm angestellt hätte, wäre Drisella dieses Schicksal erspart geblieben. Doch dann blickte sie in das schmerzverzogene Gesicht ihrer Schwester, zu der sie immer aufgeblickt hatte und bereute diesen Gedanken. Es war nicht ihre Schuld.

„Du bist eine Schande für mich!“ Ihre Mutter ließ kein gutes Wort an ihr aus. Drisella ballte die Hände zusammen. Die Einzige, die Schuld hatte war ihre Mutter. Diese grauenvolle, erbarmungslose Frau.

„Es tut mir Leid, Mutter!“ Anastasia wischte sich die Tränen aus den Augen und senkte ihren Kopf. Sie wusste, sie würde ihre Strafe kriegen. Schläge mit der Gerstenpeitsche. So wie immer wenn sie etwas Unartiges getan hatten.

„Ich kümmere mich später um dich!“ Ihre Mutter umfasste Drisellas Oberarm und ihre spitzen Fingernägel kniffen in ihr Fleisch und entlockten der jüngeren Tochter einen kleinen Schmerzensschrei, während sie zum Wohnzimmer, wo der Prinz wartete, gezerrt wurde. „Warte hier auf mich, damit du deine gerechte Strafe bekommen kannst!“

„Jawohl, Mutter!“, war alles was Anastasia entgegnete. „Wie Ihr wünscht, Mutter!“ Drisella senkte den Kopf vor Zweifeln. Wie konnte ihre Schwester bloß noch so reagieren, nachdem was Mutter ihnen angetan hatte? Sie hatte sie verkrüppelt, sie zu Invaliden gemacht. Doch Anastasia war ihrer Mutter noch immer blind ergeben. Sie blickte in die Augen ihrer Schwester und sah in denen zwar den Schmerz, jedoch keinerlei Vorwürfe gegenüber ihrer Mutter. Enttäuscht sah Drisella eilig weg. Dieser Blick ihrer Schwester schmerzte viel mehr als ihr verkrüppelter Fuß.

Endlich erreichten sie das Wohnzimmer. Drisella verachtete diesen Ort, denn er war immer kalt, trotz des steinernen Kamins am Ende des Raums. Der Prinz hatte auf einem mit samtbezogenen Sessel Platz genommen und sprang nun auf, als Mutter und Tochter hereintraten. Sofort fiel sein Blick auf ihren Fuß und als er dort den gläsernen Schuh sah, nahm er ihre Hand und küsste sie sanft.

„Meine Gemahlin!“, sprach er dabei zärtlich. „Endlich habe ich dich wiedergefunden. Nun komm, lass uns in mein Schloss zurückkehren!“ Und mit diesen Worten hob er sie auf und trug sie nach draußen. Dort hob er sie dann auf sein Pferd, einen gefleckten Apfelschimmel und schwang sich hinter ihr auf den Rücken des Tieres. Er nickte ihrer Mutter zu und versprach, dass er jemanden vorbeischicken würde, der sich um die ganzen Formalitäten kümmern würde. Drisella hielt er dabei fest im Arm, doch sie konnte seine Nähe nicht genießen, schmerzte ihr Fuß doch noch zu sehr.

Ihre Mutter ließ ein kaltes Lächeln zeigen, doch Drisella erwiderte es nicht. Hoffentlich würde der Prinz diesen Betrug nicht auch noch merken.

Und dann ritt er los. Langsam näherten sie sich dem Grab von Aschenputtels Mutter. Auf dem Haselnussstrauch, der dort wuchs, saßen zwei Tauben. Drisella blickte nervös auf die beiden Vögel. Mit einem Male lief eine Gänsehaut über ihren Rücken. Sie wollte nicht dort lang reiten. Es würde alles zerstören, wenn sie da langritten.

„Rucke Di Guck, Rucke Die Guck

Blut ist im Schuck

Der Schuck ist zu klein

Die rechte Braut sitzt noch daheim!“,

zwitscherten die Vögel leise. Der Prinz hielt sofort an, als er dies hörte und sprang vom Pferd. Mit einem einzigen Ruck riss er ihr den Schuh vom Fuß. Und dabei löste sich auch der Stoff und entblößte ihre Wunde. Wütend zerrte er sie vom Pferd und stieß sie zu Boden.

„Wie dreist kann man eigentlich sein und diesen Trick zweimal anwenden?“ Er griff nach dem Glasschuh und betrachtete das blutige Schuhwerk eingehend. „Gut, dann halt nicht!“ Und mit einer raschen Bewegung schlug er den Pantoffel auf den Boden, wo dieser in tausend Stücke brach. Und ohne ein weiteres Wort schwang er sich auf sein Pferd und ritt davon.

Drisella blickte auf die Scherben des Glasschuhs. Nun hatte sie alles verloren. Was sollte sie jetzt machen? Weinend brach sie zusammen. Alles war verloren.
 


 

Erschöpft blieb Erik stehen und sein Blick glitt über den See, der rund um den Park angelegt war. Neben ihm watschelten einige Enten vorbei und er atmete schwer ein und aus. Er war die ganze Zeit gerannt, jetzt brauchte er erst einmal eine Pause. Zielstrebig steuerte der Junge eine Bank an, die ganz in der Nähe des Wassers stand. Nur eine alte Frau saß dort, die Enten fütternd.
 

Er ließ sich am anderen Ende der Bank neben ihr nieder und beobachtete die Enten, die um die Frau herumwatschelten und nach den Brotkrumen schnappten, die sie ihnen entgegenwarf, während sie sanft mit ihnen redete. Das alte Brot holte sie aus einer Tasche hervor und brach es immer in kleine Stücke mit ihren faltigen, von Altersflecken übersäten Händen. Sie trug eine viel zu große, grüne Jacke, deren Ärmel sie sich mehrmals nach oben gekrempelt hatte und eine graue Samthose. Er beobachtete sie eine Weile lang und dachte nach.

Was sollte er jetzt tun? Zurück wollte er auf keine Fälle, er würde es nicht länger dort aushalten. Es waren nur noch wenige Monate bis er endlich volljährig wurde und dann würde er endlich aus diesem Haus verschwinden. Doch bis dahin brauchte er Geld und da er zusammen mit seinem besten Freund Victor zusammenziehen wollte, musste er solange warten. Seine Eltern erlaubten ihm erst, von Zuhause auszuziehen, sobald er volljährig war. Und das war glücklicherweise einen Tag vor Eriks eigenem Geburtstag.

Doch bis dahin waren es noch zwei Monate. Zwei Monate, in denen er jeden Tag nach Hause kommen sollte, seinen Vater betrunken vorfinden würde und sich ständig anschreien lassen würde. So wollte er nicht weitermachen. Am liebsten würde er gar nicht mehr nach Hause kommen.

Es war nicht so, dass Erik Angst vor seinem Vater hatte. Er schlug ihn nie, jedoch kümmerte er sich nicht um seinen Sohn. Seit Eriks Mutter vor zehn Jahren bei einem Unfall gestorben war, hatte sein Vater sich gehen lassen. Er hatte seinen Job verloren, nachdem er betrunken zur Arbeit erschienen war. Und mit dem Trinken hatte er angefangen, nachdem seine Frau verstorben war. Erik hatte früh lernen müssen, auf eigenen Beinen zu stehen. Er fälschte die Unterschrift seines Vaters und ließ sich Ausreden einfallen, weshalb dieser nicht zu den Elternsprechtagen kommen konnte. Zu viel Arbeit. Zu viele Termine. Ja, beim nächsten Mal würde er bestimmt kommen.

Erik lernte zu lügen. Zu sich nach Hause lud er niemals Freunde ein, sein Vater wolle bei seiner Arbeit nicht gestört werden. Niemand bemerkte das Lügengebilde, das Erik sich aufbaute. Es war ein Wunder, dass es so lange hielt. Schon öfters drohte es einzustürzen, doch er riss es immer wieder rum. Dabei hatte er oft genug darüber nachgedacht, sich endlich Hilfe zu holen. Selbst zum Jugendamt zu gehen, doch was sollten sie schon machen? Bei denen würde der Papierkram monatelang dauern, bis irgendjemand mal in die Gänge kam. Darauf konnte Erik wirklich verzichten.

Und außerdem, bald hatte er es ja endlich überstanden. Nur noch ein paar Monate. Und dann würde er diesem Menschen den Rücken zukehren. Für immer.

Das laute Husten der alten Dame neben ihn weckte ihn aus seinen Gedanken. Wie lange saß er schon hier? Die Frau jedenfalls packte ihre leere Tüte zusammen und schob sie in eine ihrer Jackentaschen.

„Nun geht schon, ich habe nichts mehr!“, rief sie den Enten zu und tatsächlich watschelten sie davon, so als hätten sie die alte Frau verstanden.

Aber das konnte ja nicht sein, dachte Erik amüsiert. Enten konnten Menschen nicht verstehen. Er stand auf und streckte sich, während er überlegte, was er nun tun sollte.

„Du solltest vorsichtig sein mit dem was du dir wünschst. Es könnte sonst in Erfüllung gehen!“ Die Frau blickte auf. Sie war alt, uralt. Ihr Gesicht war von Falten durchzogen und ihre Augen so blass, das Erik sich fragte, ob sie nicht blind war. Schlohweißes Haar blickte unter ihrem Hut hervor und als sie sprach, entblößte sie vereinzelt fehlende Zähne.

Erik blickte sie erstarrt an. Wie konnte die Frau nur wissen, was er sich gedacht hatte? Ach, wahrscheinlich hatte sie bloß geraten.

„Manchmal ist es besser, wenn man redet. Und zwar die Wahrheit sagen!“, fügte die Frau hinzu. „Denn mancher Wunsch ist gefährlich…“ Und dann kramte sie in ihrer Tasche herum, bis sie eine Kette hervorholte, an der ein Amulett hing. Verschnörkelungen umrahmten das silberne Schmuckstück, in dessen Mitte ein blauer Edelstein eingefasst war.

Sie drückte ihm die Kette in die Hand. „Du musst für dein Happy End kämpfen, mein Junge!“, flüsterte sie dabei und sah ihn mit festem Blick an, sodass Erik nicht wegsehen konnte. „Denn manchmal ist der richtige Weg nicht immer der Helle!“

Der Fremde im Wald

Frauen…

Wie oft war er eigentlich schon von ihnen verarscht worden? Da war dieses Mädchen, das sich als eingebildete Schönheitstusse rausstellte trotz ihrer winzigen Brüste und ihrer Angst vor Äpfeln. Er hatte sie schnell abgeschossen, nachdem sie sich im Bett als schlecht herausgestellt hatte. Und dann diese Streberin, die zwar einen Riesenbusen vorzuweisen hatte, ansonsten jedoch genauso schlecht im Bett war.

Allzu großes Interesse an Frauen hatte er sowieso nicht.

Für sie waren sie einzig und allein für eins da. Gefühle spielten bei so etwas keine Rolle, er suchte bloß den Spaß an der Sache. Sich binden war ihm viel zu anstrengend.

Das einzige Problem waren seine Eltern.

Der König und die Königin des Landes Elzhabaér. Er war ihr einziger Sohn und sollte seit mehreren Monaten, genauer gesagt seitdem er 19 geworden war, endlich eine Frau finden. "Wir sind auch nicht mehr die Jüngsten und bevor uns das Zeitliche segnet, wollen wir noch das Getrappel keiner Kinderschuhe hören und dich glücklich wissen!", pflegte seine Mutter immer zu sagen.

"Aber, ich bin glücklich!", hatte er dann stets entgegnet. "Wieso muss ich mir eine Frau suchen?"

„Und wie willst du dann für einen Erben sorgen?“, entgegnete sein Vater, König Oslar dann immer. „Du weißt, dafür brauchst du schon eine Frau!“

„Darum kümmere ich mich schon noch früh genug. Aber jetzt will ich einfach keine Frau. Was soll ich denn schon mit denen anfangen?“ Der Prinz verstand es nicht. Er hatte kein Interesse an Frauen, abgesehen von Bettgeschichten. Und trotzdem veranstalteten seine Eltern zu jeder passenden und unpassenden Gelegenheit einen Ball ihm zu Ehren zu dem sie die heiratsfähigsten Frauen aus allen fernen Ländern einluden. Manche hübsch, andere weniger. Meistens verschwand er schon nach kurzem mit einer und tauchte erst zum Ende des Balls wieder auf, ab und zu auch früher, wenn ihm der Spaß nicht reichte.

So war es auch bei dem gestrigen Ball gewesen. Er war nach dem Sex mit einer jungen Gräfin abgehauen und war auf dem Weg zum Ballsaal einer fremden, jungen Frau begegnet. Sie hatte einen Schleier getragen und ihre unschuldige, scheue Art hatte das Raubtier in ihm geweckt. Es würde eine Freude werden, sie zu entjungfern, denn dass sie noch unberührt war, das sah man ihr schon von weitem an. Also hatte er den Gentleman heraushängen lassen, hatte sie becirct, umgarnt, so getan, als verfolge er keine bösen Absichten. Sie war auf ihn hereingefallen, hatte mit ihm getanzt, doch als die Uhr auf einmal Mitternacht schlug, lief sie ohne ein Wort davon. Er rannte ihr hinterher, denn wenn er einmal ein Ziel auserwählt hatte, gab er keine Ruhe, bis er es eingefangen hatte. Und außerdem, niemand rannte einfach so vor dem Prinzen davon. Auf der Treppe verlor sie ihren Glasschuh und sein Vater brachte ihn dazu, zu verkündigen, dass er die Frau, der der Glasschuh passte, zu seiner Gemahlin nehmen würde. Er selbst fand diese Anweisung lächerlich und sinnlos, doch hatte er sie befolgt. Und so war er im Hause der Freahsóre gelandet, einer alten Familie, die zwar reich war, jedoch keinen hohen Titel besaß. Die zwei Töchter, die ihm die alte Frau – heimlich hatte er sie Hexe genannt – vorgestellt hatten, waren zwar eindeutig nicht das Mädchen von Gestern gewesen, jedoch hatte er es auch nur auf den Spaß abgesehen. Er hatte einzig und alleine vor, die Erste mitzunehmen, sich mit ihr zu vergnügen und sie dann des Betrugs zu beschuldigen. Also hatte er die Älteste von ihnen genommen, als sie den Glasschuh angezogen hatte. Doch als die Tauben ihm von dem Blut erzählten, konnte er nicht einfach so tun, als hätte er es ignoriert. Er brachte die Tochter zurück und verlangte nach der Nächsten. Und auch diese versuchte ihn zu betrügen. Nein, ein Prinz wurde nicht betrogen. Und so hatte er den Glasschuh zerschlagen und sie vom Pferd geschmissen. So groß war sein Verlangen nach dieser Fremden nun auch nicht, dass er sich dafür verarschen ließ.

Er bremste sein Pferd, als er sich der Zugbrücke näherte. Als ein Wächter ihn bemerkte, ließ dieser die Brücke herunter und der Prinz überquerte diese. Im Burghof angekommen liefen einige Stallburschen auf ihn zu und nahmen ihm das Pferd ab, als er abgestiegen war. Er ging schnurstracks Richtung Thronsaal, wo er seine Eltern aufzufinden hoffte.
 

„Vater! Mutter! Ich bin wieder zurück!“

Lächelnd und mit ausgebreiteten Armen betrat der junge Prinz den Raum. Seine Eltern, die sich mit dem Berater unterhalten hatten, blickten auf und als sie ihn entdeckten, schickten sie den alten Mann, der der königlichen Familie seit Jahren diente, weg. Er durchquerte den Raum mit schnellen Schritten und als er vor ihnen stand, verbeugte er sich tief.

„Und doch bist Du alleine!“, bemerkte seine Mutter. „Wo ist deine Gemahlin?“

„Ich dachte, ich hätte sie gefunden“, erzählte der junge Prinz. „Doch hat sie mich betrogen. Und als ich den Betrug bemerkte, hat sie den Glasschuh zerbrochen, sodass ich nicht weiter nach ihr suchen konnte.“ Es missfiel ihm, seine Mutter anzulügen, doch sah er keinen anderen Ausweg.

„Denkst Du, ich würde nicht bemerken, dass du deine eigene Mutter anlügst?“ Nun erhob sein Vater das Wort. Er war ein alter Mann, der einst in der glorreichen Schlacht an den Thorus-Klippen gekämpft hatte, als sein eigener Bruder sich gegen ihn gestellt hatte. Und selbst jetzt strahlte er noch Führungsqualität und Macht aus. Doch das Alter nagte an ihm und auch, wenn er es nach außen hin nicht zeigte, so war er doch schwächer als sonst und nicht mehr der Alte. Er bevorzugte die Ruhe und würde schon bald zurücktreten, um seinem einzigen Sohn den Platz als König zu hinterlassen. Doch dafür brauchte er eine Frau. Dringend. „Zufälligerweise habe ich meinen Berater losgeschickt, um dich zu beobachten. Er hat mir alles erzählt.

Ich war noch nie so enttäuscht von dir, mein Sohn. Und eigentlich bliebe mir jetzt nichts anderes übrig als dich zu verbannen!“ Seine laute, wütende Stimme hallte von den Wänden zurück und der Prinz zuckte kaum merklich zusammen. Selbst seine Mutter blickt erschrocken auf ihren Mann bei diesen Worten und legte beschwichtigend eine Hand auf seinen Unterarm. „Schatz, das meinst du nicht ernst!“

„Schweig!“, befahl er ihr. „Er lässt mir keine andere Wahl. Ich habe mich entschlossen, dir noch eine letzte Chance zu geben. Sag mir, hast du jemals die Legende von der Schlafenden Schönheit gehört?“

Der Prinz schüttelte den Kopf.

„Es heißt, sie schläft in einem Schloss versteckt hinter einer Dornenhecke. Finde diese Prinzessin und nimm sie zur Frau. Ich gebe dir dafür einen Mondenlauf Zeit. Wenn du bis dahin nicht zurückkehrst, werde ich dich enterben. Erhebe dich nun und mach dich auf den Weg!“

„Vater, habt ihr nicht noch weitere Informationen für mich?“ Der Prinz sah ihn verzweifelt an. „Sie könnte überall sein.“

„Du findest schon einen Weg!“, war alles, was der König sagte. „Und nun geh. Bevor ich es vergesse, sei dir noch gesagt, dass es dir untersagt ist, einen Knappen mitzunehmen oder auf deinem Pferd zu reiten. Gehe nun unverzüglich los und kehre erst wieder, wenn du sie gefunden hast!“

Er wollte etwas darauf erwidern, doch sein Vater hatte sich seiner Frau wieder zugewandt und unterhielt sich leise mit ihr. Nervös erhob sich der Prinz und schlich aus dem Saal. Was für eine Unverschämtheit! Er war ein Prinz, niemand ging so mit ihm um. Wie sollte er denn nur dieses Schloss finden? Die Erde war groß. Zu groß um sie in einem Mondenlauf zu durchsuchen. Wütend eilte er den Gang entlang und rannte dabei fast den Berater um, der vorhin bei seinen Eltern gewesen war.

„Es tut mir Leid, mein Prinz!“, entschuldigte sich der alte Mann und zwirbelte nervös seinen weißen, langen Bart. „Ich ahnte nichts von der Strafe, die Euch Euer Vater auferlegen würde. So lasst mich Euch helfen. Im Düsterwald wohnt eine Hexe, welche den Weg zu dem Dornenschloss kennt. Doch seid vorsichtig, denn ihr müsst ihr ein Opfer machen. Das ist alles, was ich euch sagen kann!“ Und dann war er davongehumpelt, sein linkes Bein dabei nach sich ziehend.

Da er sonst keinen anderen Anhaltspunkt hatte, hatte sich der Prinz entschlossen, in den Düsterwald zu gehen. Ein vorbeifahrender Kutscher hatte ihn mitgenommen und ihn wenige Meter vor dem Wald, in den freiwillig niemand einen Fuß setzte, abgesetzt.

Tagsüber sah der Wald vollkommen normal aus, nur nachts änderte er sein Aussehen. Dann erwachten die finsteren Wesen des Waldes, die nach frischem Blut dürsteten. Tagsüber war es meist kein Problem diesen Wald zu durchqueren, jedoch war der Wald groß und wenn man nicht schnell war, kehrte die Nacht ein, noch ehe man durch den Wald war.
 

Tagsüber sah und wirkte alles vollkommen normal. Der Prinz hatte kein allzu großes Problem damit, den Wald zu durchqueren, außerdem musste er nachts im Wald sein, um das Haus der Hexe zu finden. Schwarze Hexenhäuser waren nur des Nachts auffindbar, tagsüber versteckten sie ihr Haus zwischen den Blättern der Bäume.

So blieb ihm also keine andere Möglichkeit, als bis zur Nacht zu warten. Entschlossen folgte der Prinz dem Pfad, der immer tiefer in den Wald führte, als er plötzlich hörte, wie etwas zu Boden fiel.

Mutig zückte er sein Schwert und näherte sich der Stelle, von der das Geräusch gekommen war. Möglicherweise war es ein Tier oder ähnliches. Doch mitten auf dem Weg lag ein Mensch. Ein Junge, in seinem Alter.

Ein ziemlich merkwürdig gekleideter Junge. Er trug ein rotes Oberteil, eine dunkelgraue Hose und Schuhe, die er nie zuvor gesehen hatte. Seine blonden Haare verdeckten sein Gesicht und er wimmerte leise vor sich hin. Irritiert blickte der junge Prinz zu den Baumkronen hinauf. War er etwa da hochgeklettert und dann runtergefallen? Normalerweise würde er jetzt einfach weitergehen und ihn seinem Schicksal überlassen, doch wenn er es sich genau überlegte, so würde er gegen einen Knappen nichts einzuwenden haben. Außerdem, der Prinz hätte ihm somit sein Leben gerettet und dieser merkwürdig gekleidete Fremde würde ihm damit etwas schuldig sein.

Er steckte sein Schwert wieder zurück und näherte sich dem Jungen vorsichtig. Just in diesem Moment öffnete er seine Augen – und zwei grüne Pupillen blickten ihm fragend und irritiert entgegen.

Was für schöne Augen er hatte, dachte der Prinz. Grüne Augen waren selten, ihm selbst waren noch nie Menschen mit solchen Augen begegnet. Es hieß, dass Grünäugige etwas Besonderes waren und zu Höherem auserwählt.
 

Erik blickte auf den fremden jungen Mann, der ihm mit einem schelmischen Lächeln die Hand reichte. Suchend sah er sich um. War er nicht gerade eben noch im Stadtpark gewesen? Er erinnerte sich daran, wie diese komische alte Frau ihm ein Amulett in die Hand gedrückt hatte und er panisch davon gelaufen war. Dann war er über irgendetwas gestolpert und zu Boden gefallen.

Und plötzlich hörte er das Heulen eines Wolfes und als er die Augen aufmachte, stand ein junger, merkwürdig gekleideter Typ vor ihm. Er sah aus wie jemand, der frisch einem LARP entsprungen war.

Er trug ein Kettenhemd und dazu Handschuhe aus der gleichen Herstellungsweise. Auch wenn es nicht so aussah, so wusste Erik doch, dass diese zwei einzelne Kleidungsstücke waren und nicht, wie angenommen, zusammengehörten. Die runde, eiserne Kappe hatte der Fremde nach hinten gelegt so wie eine Kapuze. Passend dazu trug er eine braune Panzerhose und Eisenstiefel. Ein Kuppel, welcher um dessen Lenden gegürtet war, hielt das Schwert fest. Erik bemerkte, dass dieses nicht ganz in der Scheide steckte und er fragte sich, ob der Fremde es gezückt hatte, weil er ihn zuerst für eine Gefahr oder ähnliches hielt. Lächerlich, fuhr ihm durch den Kopf. Was konnte er schon anrichten?

„Nun, wie lange willst du denn noch dort unten verbringen?“, fragte der Mann. „Normalerweise bin ich nicht so freundlich und kümmere mich um einen Fremden!“

Erik griff nach der Hand und ließ sich aufhelfen. „Und wie komme ich dann zu der Ehre?“, wollte er wissen und strich sich sein blondes Haar aus dem Gesicht.

„Ich brauche jemanden, der mich begleitet!“, erklärte der junge Mann. „Mein Name ist übrigens Christopher und ich bin der Prinz dieses Landes!“

„Klar!“ Erik grinste. „Und ich bin ein Graf. Graf Erik von und Zu Verarschen-kann-ich-mich-selber!“

„Denkst du, ich würde scherzen?“ Christopher hob eine Augenbraue. „Wie kannst du es wagen, einen Prinzen zu beleidigen?“

„Als ob es hier noch Prinzen geben würde!“ Erik verdrehte die Augen und drehte sich dann um. „Danke, dass Eure Majestät mir geholfen hat, nun muss ich allerdings weitergehen!“ Was für ein Spinner, dachte er bei sich. Er ging weiter in den Wald hinein und ließ den Spinner zurück.

Wie lange er nun durch den Wald lief, war ihm nicht klar, doch plötzlich brach die Nacht herein. Es wurde binnen weniger Sekunden dunkel und irgendetwas an dem Wald änderte sich.
 

Die Bäume, die vorhin noch wie ganz normale Bäume ausgesehen haben, veränderten plötzlich ihr Aussehen. Sie bekamen schauerliche Fratzen und im Wind wirkten ihre Äste und Zweige wie knöcherne Arme, die nach ihm griffen. Leuchtend rote Augen funkelten ihm entgegen und Erik stolperte über eine Wurzel. Fluchend rieb er sich seinen Hintern und rappelte sich wieder auf.

„Das Ganze bildest du dir bloß ein, Erik!“, sprach er zu sich selbst. „Das sind bloß Wahnvorstellungen. Die Äste sehen so gruselig aus, weil du nicht weißt, wo du bist!“ Allmählich begann er sich ernsthaft Sorgen zu machen. Er musste doch irgendwo sein. Und irgendwie hierhergekommen sein. Wo auch immer Hierher war.

„Möglicherweise ist das Ganze auch nur ein verrückter Traum!“, überlegte Erik. „Und in Wirklichkeit liegst du im Park bewusstlos. Bestimmt hat dich schon jemand gefunden und ins Krankenhaus gebracht oder so!“ Und wenn er im Koma lag? Er wollte sich nicht vorstellen, was es hieß niemals mehr …

Seine Gedanken wurden gestört, als er plötzlich das Heulen eines Wolfes vernahm. Ein Heulen, das bedrohlich nah klang. Aber es gab doch gar keine freilebenden Wölfe mehr. Und selbst wenn, Wölfe hatten vor einem Menschen viel mehr Angst wie vor ihm. Erik setzte sich die Kapuze seines roten Pullovers auf und schlang die Arme um seine Brust, denn mit dem Heulen des Wolfes war auch ein eiskalter Wind aufgetreten, der ihm durch Mark und Bein fuhr.

Vor ihm erschienen die schwarzen Umrisse des großen Raubtieres. Es war viel größer als die Wölfe, die Erik im Zoo gesehen hatte. Und irgendwie auch viel animalischer, wie es da im Mondschein stand. Blut rann ihm aus dem Mund und sein graues Fell war zerzaust und voll mit Blutflecken. Erik ahnte, dass dieses Blut nicht das des Wolfes war. Riesige, spitze Reißzähne entblößte das Tier, als es sein spitzes Maul öffnete und wieder den Mond anheulte. Es machte einige Schritte vorwärts und fixierte Erik mit seinen gelben Augen. Der Junge trat einen Schritt nach hinten und in diesem Moment begann der Wolf auf ihn zuzulaufen.

„Weg da!“ Gerade noch rechtzeitig duckte sich Erik, als neben ihm eine Gestalt vorbeieilte und sein Schwert in das offene Maul des Wolfes stieß.

Sofort sackte das Tier leblos zu Boden und rührte sich nicht mehr. Fluchend zog der Fremde sein Schwert aus dem Kadaver heraus und wischte die Klinge an seiner Hose sauber.

„D-danke!“, murmelte Erik und trat näher. Nun erkannte er, dass es kein Fremder war, der ihm geholfen hatte, sondern der verrückte Möchtegern-Prinz Christopher.

„Rot!“ Wütend sprang Christopher auf und deutete mit der Schwertspitze auf Eriks Kehle. Dieser trat erschrocken zurück. „Wie kann man nur so doof sein und in einem Düsterwald etwas Rotes tragen? Jedes Kind weiß doch, das die Farbe Rot einen Blutwolf schon Meilenweit anlocken kann.“

„Was hat bitteschön die Farbe eines Kleidungsstückes mit einem Wolfsangriff zu tun?“, hakte Erik nach. Bei den Worten ‚Rot‘ und ‚Wolf‘ klingelte etwas in ihm, doch er konnte sich nicht erinnern, an was.

Doch dann erinnerte sich Erik daran und er begann lauthals loszulachen. „Sag mir bloß nicht, du redest von Rotkäppchen!“ Eine andere Erklärung für die Verbindung dieser beiden Worte fiel ihm nicht ein. Er war also in einem Traum mit einem verrückten Prinzen in einer verrückten Märchenwelt gelandet. Na toll!

„Blutwölfe greifen niemals einzeln an!“, war alles, was Christopher erwiderte. „Wenn einer von ihnen ein Opfer gefunden hat, ruft er seine Artgenossen herbei und während sie näher kommen, verletzt er das Opfer so sehr, dass es sich nicht mehr wehren kann, jedoch noch immer bei vollem Bewusstsein ist, sodass es seinen eigenen Tod miterleben muss.“ Und um seine Worte zu bestätigen, tauchten dort, wo der Wolf vor wenigen Sekunden noch gestanden und gejault hatte, drei weitere Wölfe auf.

„Gegen einen Wolf zu kämpfen, ist schon ein Ding der Unmöglichkeit!“, meinte Christopher seufzend und zückte dennoch sein Schwert. „Wenn ich das hier nicht überstehe, sagst du meinen Eltern, dass es mir echt Leid tut, wie viel Sorgen sie wegen mir haben?“ Er grinste ihm zu.

Erik zitterte am ganzen Leibe. Er musste doch irgendetwas tun, fragte sich nur was. Das Einzige, was er neben dem Lernen gut konnte, war Rennen. Wie ein Feigling davonrennen.

„Denkst du nicht, es ist besser, wenn wir abhauen?“, fragte er also den jungen Mann. „Dann kannst du deine Eltern selbst um Entschuldigung bitten!“

„Ehrlich gesagt, ist mir total egal, was sie von mir denken“, antwortete Christopher grinsend. „Sie haben sowieso schon eine schlechte Meinung von mir. Aber irgendetwas musst du ihnen ja sagen, wenn ich hierbei draufgehe!“

„Dir sind deine Eltern also komplett egal, aber mir, einem Fremden, rettest du sein Leben und riskierst, selbst dabei zu sterben?“ Erik hob verwundert eine Augenbraue.

„Mhm, ja!“, meinte Christopher gelangweilt. „Außerdem, wenn ich das hier überleben sollte, bist du mir etwas schuldig. Und wenn ich ehrlich bin, könnte ich gerade wirklich gut einen Diener gebrauchen!“

Erik beobachtete den jungen Prinzen nachdenklich. „Okay, dann hau ab!“, entgegnete er. „Du hast mir vorhin schon mein Leben gerettet, ich werde dich also begleiten, wo auch immer du hingehen willst. Alles ist mir lieber, als deine zerfetzte Leiche vor mir zu sehen und es deinen Eltern zu sagen. Also, kommst du?“

Sein Gegenüber grinste. „Gut, wenn du das sagst!“

Die Wölfe hatten den beiden lauernd zugesehen, doch nun setzten sie zum Angriff an. Der Größte von ihnen an der Spitze setzte zum Sprung an und Erik und Christopher rannten los. Sie schlugen den Weg ins Unterholz ein und hofften, dass die Wölfe dort nicht so leicht durchbrachen. Dornen und Äste zerkratzen vor allem Eriks Kleidung, und manchmal wirkte es so, als würden die Bäume mit ihren Zweigen nach ihnen greifen und sie festhalten. Immer dann, wenn dies geschah, zückte Christopher sein Schwert und zerschlug die Äste.

Doch die Wölfe hinter ihnen kamen mit Leichtigkeit durch das Dickicht, so als würde der Wald ihnen dabei helfen, sie zu schnappen, auseinanderzunehmen und aufzufressen.

Erik, der wenige Nasenlängen schneller wie Christopher war, bremste ab, als er vor sich eine Reihe eng zusammengewachsener Bäume sah. Auch Christopher hielt an und fluchte laut, als er die Baumreihe vor sich sah. Hinter ihnen näherten sich die Raubtiere.

„Kommt es mir nur so vor oder stellt sich der Wald gegen uns?“, sprach Erik das aus, was er schon die ganze Zeit vermutet hatte.

„Natürlich tut er das!“, entgegnete der Prinz neben ihm. „Das ist ein Düsterwald, die stellen sich immer gegen uns Menschen.“

„Aha.“ Erik nickte knapp. „Und wie sollen wir dem entkommen?“

„Auch wenn ich es nur ungern zugebe, aber ich habe keine Ahnung!“, erklärte Christopher seufzend.

„Yutsu Mi Cha La Wi ro

Dsurae No Hiranui Hiraku

Yutsu Mi Cha La Tsusgli ro

Dsurae No Hiranui Hiraku “

Merkwürdig klingende Worte drangen an Eriks Ohr. Er sah sich um und plötzlich trat aus dem Wald heraus eine umhangtragende Gestalt, dem Klang ihrer Stimme nach musste sie weiblich sein. Mit einem Eichenstab deutete sie auf die Tiere, die plötzlich umkehrten und davoneilten.

Erik spürte wie ihm schwarz vor Augen wurde und er sackte zu Boden…

Hexenschwestern

„Du bist eine Hexe!“

Christopher fing den bewusstlosen Erik auf, ehe dieser zu Boden stürzte. Mit einem Arm hielt er den Jungen fest, mit dem anderen deutete sein Schwert auf die Frau, die nun langsam auf sie zukam. „Warum hast du uns geholfen?“

„Nun, weil ihr in Not wart“, entgegnete sie ruhig und Christopher konnte das weiße Band sehen, welches sie unterhalb ihrer Brust um ihren Umhang geschlungen hatte. Dieses Band zeichnete sie als weiße Hexe aus. Eine Hexe, die sich der guten Magie verschrieben hatte, doch was machte so eine Hexe hier im Düsterwald? Das war normalerweise ein Ort für böse Hexen, Kinderfresserinnen und ähnliche.

Verwundert erkundigte sich Christopher danach.

„Nun, ich bin auf der Durchreise und hab mich entschlossen, meiner Schwester einen Besuch abzustatten. Nächsten Monat findet die Hexenkonferenz statt! Mein Name ist übrigens Perona. Ich bin eine weiße Hexe der Geistermagie“, erklärte sie und senkte ihre Kapuze. Darunter kamen rosafarbene Haare zum Vorschein, welche zu Korkenzieherlocken geformt waren. „Und was macht ihr beide zu dieser späten Stunde hier? Es ist nicht gerade sehr ratsam, nachts einen Düsterwald zu durchqueren!“

„Das ist mir schon klar. Ich bin auf der Suche nach deiner Schwester!“, erklärte Christopher und als die Hexe ihn fragend anblickte, erzählte er die Geschichte von Anfang an.

„Und du sagst also, Erik sei einfach so vom Himmel gefallen!“ Inzwischen hatte sich die Hexe zu ihm gesellt und sie hatten sich auf den Boden gesetzt. Sie betrachtete den bewusstlosen Jungen nachdenklich. „Ich spüre eine merkwürdige Aura an ihm. Er kommt nicht von hier, leider habe ich keine Ahnung, woher er stammt. Dieser Junge ist für etwas Besonderes bestimmt. Und du willst meine Schwester also nach der Schlafenden Schönheit fragen?“ Sie blickte den Prinzen neugierig an.

Dieser nickte. „Ja, auch wenn ich keine Ahnung habe, wie ich sie dazu bringen soll, mir davon zu berichten.“

„Nun, normalerweise würde sie ein Menschenopfer fordern. Meine Schwester bevorzugt Kinder, aber mit deinem Freund würde sie auch zufrieden sein“, erklärte die Hexe ruhig. „Natürlich kann ich verstehen, dass du deinem Freund so etwas nicht antun kannst. Deswegen werde ich meine Schwester danach ausfragen!“

„Du würdest das wirklich riskieren?“ Christopher blickte sie fragend an.

„Auch wenn wir auf zwei unterschiedlichen Seiten stehen, so sind wir doch Schwestern. Und wir würden uns niemals betrügen oder anlügen. So ist das Uralte Hexengebot schon seit Jahrtausenden und keine hat es je gewagt, es zu brechen. Ich weiß, dass meine Schwester mir alles verraten wird, was sie darüber weiß. Auch wenn sie böse ist, ich liebe sie!“ Die Hexe legte eine Hand auf Eriks Stirn. „Ihr Haus liegt gleich hinter den Bäume dort. Bleibt hier und ich werde einige Geister heraufbeschwören, die euch vor Gefahren beschützt. Um ihn brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Er ist einfach nicht mit der Situation klargekommen. Er dürfte bald wieder aufwachen!“

Christopher nickte zustimmend. Irgendwie fühlte er sich für den Fremden verantwortlich. Dieser war kein Adliger, auch kein Kämpfer, doch etwas anderes war an ihm. Der junge Prinz spürte einfach, dass es besser war, wenn der Junge ihn begleitete. Zwar gab er sonst nie etwas auf sein Bauchgefühl, aber heute entschied er sich mal darauf zu hören. Außerdem, wenn der Typ ihn begleitete, würde Christopher jemanden haben, der sein Schwert trug und den er durch die Gegend hetzen konnte, wenn er etwas brauchte und selbst zu faul war, sich darum zu kümmern. Und selbst wenn er nicht kämpfen konnte, ein Prügelknabe war immer gut zu gebrauchen.

Perona stand auf und klopfte den Staub von ihrem Umhang. Auch Christopher erhob sich automatisch und blickte der jungen Magierin dabei zu, wie sie einige Geister beschwor. Die blassen formlosen Wesen schwebten kreisförmig um ihn und den Jungen herum und sangen dabei leise etwas in einer fremden Sprache.

„Ich werde am Morgengrauen wieder hier sein. Ihr dürft den Kreis nicht durchbrechen, denn dann wird meine Schwester euch sofort bemerken!“, bemerkte Perona noch einmal, dann trat sie selbst aus dem Kreis heraus. Mit ihrem Eichenstab strich sie über die Baumreihe, welche sich sofort öffneten und den Blick auf ein Lebkuchenhaus freigaben.
 

Bei dem Anblick lief Christopher das Wasser im Munde zusammen. Der Zaun rund um das Haus war aus Zuckerstangen gebaut und das Haus selbst aus Brot mit Lebkuchen als Dachziegeln. Die milchigen Fensterscheiben waren aus reinem Zucker und als Zierde waren Bonbons und andere Süßigkeiten in die Fassade eingebaut worden. Der junge Prinz kannte die Geschichten von den Lebkuchenhäusern nur von seinem Großvater, der als Junge Jagd auf eine Hexe gemacht hatte, nachdem diese seine Schwester in eine Falle gelockt und gegessen hatte. Nun sah er zum ersten Mal selbst eins. Am liebsten würde er hinrennen und etwas davon naschen, doch sein Wille war stärker und er widerstand dem Drang.

Perona setzte wieder ihre Kapuze auf und lächelte dem Prinzen noch einmal zu, bevor sie dann auf das Haus zuschritt und sich die Bäume wieder verschlossen.
 

„Erik … kannst du mich hören?

Erik!

Hörst du mich, Erik?“

Er schlug die Augen auf. Ein lächelndes Gesicht tauchte vor ihm auf. Verwundert setzte er sich auf und blickte sich um. Doch der dichte Nebel versperrte ihm die Sicht und so blickte er wieder zu der fremden Gestalt, die ihn geweckt hatte.

„Wer bist du?“, fragte er verwirrt.

„Ich bin eine Freundin!“, erwiderte das Wesen mit einer zarten, liebvollen Stimme. „Mehr kann ich dir im Moment nicht sagen. Du sollst wissen, dass es einen bestimmten Grund gibt, weshalb du in der Welt der Märchen gelandet bist!“

„Das Ganze da ist also wirklich…“ Er verstummte und fragte sich in Gedanken, wer von ihnen verrückter war.

„Nun, für uns ist es eine ganz normale Welt. Du nennst sie Märchen, weil du sie nicht anders kennst.“

„Also, diese ganzen Geschichten von Aschenputtel und Hänsel und Gretel und so sind alle wahr?“ Er blickte sie irritiert an. Es war eindeutig diese fremde Gestalt, die nicht mehr alle Tassen im Schrank hatte.

„Nun ja, mehr oder weniger. Einiges hat sich nicht ganz so abgespielt wie du es kennst und anderes hat sich sogar geändert. Doch Fakt ist nun, dass du hier gelandet bist. Sag mir, willst du wieder in deine Welt zurückkehren?“ Sie blickte ihn herausfordernd an.

„Ich sehe keinen Grund darin, hierzubleiben!“, entgegnete Erik.

„Dann sei dir gesagt, dass du die schlafende Schönheit finden und ihren Fluch brechen musst. Dann kannst du in deine Welt zurückkehren!“, sprach die Gestalt und wurde dabei immer mehr von den Nebelschwaden bedeckt.

„Etwa Dornröschen?“, rief Erik aus und wollte ihr nachrennen, doch da wachte er plötzlich auf.
 

Sie klopfte genau fünfmal an die Tür. Dreimal mit kurzer, zweimal mit langer Pause. So konnten sich Hexen zu erkennen geben, wenn sie eine andere Hexe besuchten. Kurz darauf öffnete sich die Tür und eine hochgewachsene, schlanke Frau trat heraus. Vom Aussehen her schien sie etwas älter wie Perona selbst zu sein, doch so genau konnte die junge Hexe das nicht sagen, denn die meisten Magierinnen benutzten Zauberei, um ihr wahres Alter zu verbergen. Die schwarzhaarige Hexe vor ihr trug ein langes, dunkelblaues Kleid mit brauner Korsage und einem schwarzen Cape. Perona lächelte, als sie ihre Schwester sah. Eigentlich waren sie nicht wirkliche Schwestern – sie nannten sich nur so.

„Perona!“ Die Schwarzhaarige war überrascht, die junge Hexe hier zu sehen. „Was machst du denn hier?“

„Ich bin auf der Durchreise und dachte mir, wenn ich schon einmal hier bin, kann ich auch mal meine liebe Schwester Megan besuchen“, erklärte sie und trat ein, als die andere Hexe zur Seite trat. Drinnen sah es aus wie im Schlaraffenland. Auf den Tischen stapelten sich Süßigkeiten, Pudding, Kuchen, Kekse, gebratenes Fleisch, Schokolade, Gemüse, Soßen, und, und, und. „Erwartest du jemanden?“, fragte Perona an die ältere Hexe gewandt. Die schwarzhaarige Schönheit zuckte mit den Schultern. „Ich könnte mal wieder was zum Essen gebrauchen. Ein paar kleine Bauernkinder, natürlich schön gemästet vorher. Das letzte hat doch etwas zu zäh geschmeckt!“ Megan lächelte dabei gedankenverloren, während Perona einen Würgereiz vortäuschte.

„So etwas ist eklig!“, meinte sie. „Meg, hast du es dir wirklich überlegt? Du kannst immer noch auf die richtige Seite wechseln. Dein Leben im Einklang mit der Finsternis und der Zerstörung zu führen kann nicht richtig sein.“ Perona hatte schon öfters versucht, sie dazu zu überreden.

„Und, weshalb ist deine Seite die richtige?“ Meg hob fragend eine Augenbraue an. „Bloß, weil es jedem Kind in die Wiege gelegt wird, dass Menschenessen böse ist? Weil es einem von klein auf eingetrichtert wird, muss es doch nicht gleich stimmen? Es ist einfach nur eine andere Sichtweise auf die Dinge.“

„Aber du dienst der Finsternis. Denkst du nicht, es ist falsch?“ Perona blickte ihre Schwester flehend an.

„Nein, das denke ich nicht!“, entgegnete Meg aufrichtig. „Ich diene der Finsternis, weil ich mich dafür entschieden habe. Als Kind wird dir gesagt, dass du das nicht machen darfst, weil das böse ist. Aber, wenn ein Kind fragt, weshalb etwas böse ist, erhält man nur als Antwort, dass es einfach so ist. Wieso sollte ich mich damit zufrieden geben? Ich bin sicher, es gibt irgendwo Menschen, die es als vollkommen normal ansehen, was bei euch böse heißt.“ Sie schob sich eine Haarsträhne hinter ihr Ohr und verschränkte die Arme vor der Brust, so wie sie es immer tat, wenn das Gespräch für sie beendet war. Perona seufzte, blieb jedoch stumm. Es war sinnlos, noch weiter zu diskutieren.

„Warum setzt du dich nicht?“, fragte Meg und wie aus dem Nichts erschien ein Stuhl neben ihr, worauf sich die junge Hexe augenblicklich seufzend niedersinken ließ. „Und dann erzählst du mir, was du in den letzten Jahren gemacht hast.“

Meg und Perona hatten sich auf der Hexenakademie kennengelernt. Meg war die Tochter einer weißen Hexe gewesen, Perona war die einer Schwarzen. Die beiden unterschiedlichen Mädchen wurden in ein Zimmer gesteckt und trotz anfänglicher Schwierigkeiten wurden aus ihnen schon bald allerbeste Freundinnen. Perona glaubte, in Meg jemanden zu haben, der ihren Wunsch nach weißer Magie zu streben, verstehen konnte. Immerhin war Megs Mutter eine weiße Hexe vom Hohen Hexenrat. Doch die junge Frau strebte nach etwas völlig anderem. Sie verschrieb sich der dunklen Magie, niemand wusste etwas davon. Erst am Tag ihres Abschluss wurde Meg zur erfolgreich bestandenen Prüfung der dunklen Magie ausgezeichnet.

Als dies publik wurde, kam es zu einem großen Streit zwischen Mutter und Tochter, der letztendlich damit endete, dass Megs Mutter ihre Tochter verstieß und sie nicht mehr als ihr eigen Fleisch und Blut ansah. Die große Hexe redete kein Wort mehr mit ihrer eigenen Tochter.

Auch Perona war geschockt, doch sie akzeptierte die Entscheidung ihrer besten Freundin. Wenn Meg diesen Weg gehen wollte, war das ihr freier Wille.

„Also?“ Meg stellte das Weinglas, welches sie aus dem Nichts hergezaubert hatte, auf den Tisch und leckte sich mit der Zunge über die Lippen. „Was willst du mich fragen?“

„Als ich vor einigen Tagen in einem Gasthof kampiert bin, habe ich mitgekriegt, wie sich zwei Reisende über die Legende der Schlafenden Schönheit unterhalten haben!“, meinte Perona belanglos. „Es heißt, in einem Schloss versteckt hinter einer Dornenhecke liegt eine schlafende Prinzessin, die nur durch einen Kuss geweckt werden kann. Hast du davon schon mal gehört, Schwesterherz?“

Meg nickte langsam. „Ja, aber wieso willst du das wissen?“

„Nun, wenn ich genaueres weiß, kann ich den beiden Reisenden vielleicht helfen. Sie haben mir irgendwie so leidgetan, auch wenn du das nicht nachvollziehen kannst.“

Die Hexe blickte ihre Freundin fragend an, erwiderte darauf jedoch nichts. Einige Minuten verstrichen, erst dann sprach die schwarze Magierin.

„Die Legende der Schlafenden Schönheit also. Ich habe davon gehört, doch hielt ich es bisher immer nur für Humbug. Ich sollte dir vorher sagen, dass diese Wanderer es möglicherweise mit Feen zu tun bekommen werden. Vielleicht ist es sogar das Beste, wenn sie die Sache abblasen...“

Perona blickte überrascht auf. Feen waren magische, stolze Naturwesen. Es gab nur wenige von ihnen, doch sie waren die mächtigsten Magieträger von allen. Wer sie um Hilfe bat, verkaufte ihnen seine Seele. Sie beherrschten weiße und schwarze Magie, doch selbst die gute Magie konnte bei Feen einen Nachteil mit sich bringen.

„Was haben Feen damit zu tun?“, wunderte sich die Rosahaarige.

„Es heißt, dass einem Königspaar einst eine Tochter geboren wurde, zu der sie die dreizehn Feen einladen wollten. Doch aus irgendeinem Grund waren sie gezwungen, die dreizehnte, die schwarze Fee nicht einzuladen und doch tauchte sie auf der Taufe der kleinen Königstochter auf und hängte einen Todesfluch an sie. Eine andere Fee verwandelte diesen Fluch in einen Fluch des Ewigen Schlafes, nur ein Kuss kann die Prinzessin wecken. Doch wenn sie diesen Kuss nicht erhält, wird sie sterben und mit ihr alle Nachkommen, deren Vorfahren die Prinzessin persönlich gekannt haben“, erzählte Meg ruhig. „Du siehst also, es wäre besser, sich aus der Sache rauszuholen!“

„Aber wenn ich es tue, dann werden unschuldige Menschen sterben!“, erwiderte die junge Hexe. „Das kann ich nicht zulassen. Bitte, du musst mir sagen, wie man zu diesem Schloss kommt.“

„Das weiß ich leider nicht“, gab Meg zu und ihre Freundin seufzte enttäuscht. „Jedoch gibt es noch eine andere Möglichkeit. Die Stumme Schwester. Wenn ihr sie findet, kann sie die sieben Raben rufen, Tiere die schon überall waren und alles gesehen haben. Sie können den richtigen Weg finden.“

„Sag, wie finde ich diese Schwester?“, wollte Perona wissen.

„Es ist leicht sie zu finden. Du musst bloß in der nächsten Vollmondnacht am Brunnen auf sie warten. Sie wird dort erscheinen, jedoch...“ Meg seufzte und nahm Peronas Hände in ihre. „Die Schwester ist stumm. Es gibt nur eine Möglichkeit, sie zum Reden zu bringen...“
 

Es war still, als Erik zu sich kam. Sein Kopf war auf Christophers Schoss gebettet, welcher schlafend an einen Baum gelehnt war. Der Junge setzte sich vorsichtig auf und sah sich verwundert um.

Wenige Meter vor ihnen schwebten zwei Gespenster. Erik erschrak und rüttelte instinktiv an Christopher, bis diese aufwachte. „Wasn los?“, murmelte er verschlafen und blickte Erik verwundert an. Als er bemerkte, dass dieser aufgewacht war, wurde er plötzlich hellwach. „Wie geht es dir?“

„Besser“, entgegnete er. „Aber hast du gesehen, dass da Geister sind?“ Mit dem Kopf deutete er nach hinten auf die Wesen.

„Oh, ach die“, meinte der Prinz abwinkend. „Mach dir keine Sorgen, die sind hier um uns zu schützen.“ Und in kurzen Worten erklärte er Erik, was vorgefallen war.

„D-danke, dass du mich nicht einfach liegen gelassen hast!“, meinte Erik lächelnd. „Du hättest mich einfach liegen lassen können.“

Christopher zuckte mit den Schultern. „Dazu gab es jedoch keinen Grund“, meinte er. „Und außerdem, ich brauche noch einen Diener!“

„Ts, vergiss es“, erwiderte Erik. „Als ob ich einfach so dein Diener werden würde. Ich werde dich begleiten und dir helfen, aber dein Diener bin ich nun lange nicht!“

„Wieso sollte ich dich dann mitnehmen?“, hakte Christopher nach. Der Prinz war es nicht gewöhnt, wenn ihm jemand eine Abfuhr erteilte. „Ohne mich wärst du in dieser Welt doch total aufgeschmissen.“

Erik blickte ihn wütend an, doch eigentlich hatte der junge Kronprinz ja Recht. Er musste sich auf Christopher verlassen, denn dem jungen Mann war klar, dass er sich hier niemals zu Recht finden würde. Und alleine konnte er nicht nach dieser Schlafenden Schönheit suchen. Außerdem, der Prinz war auch auf der Suche nach ihr.

Es lag also auf der Hand, dass es viel besser war sich zusammenzuschließen.

Und trotzdem verspürte Erik gerade eine Riesenlust, dem jungen Prinzen eine reinzuschlagen.

Seufzend lehnte sich Erik gegen den Baumstamm und beschloss, ganz einfach die Worte von ihm zu ignorieren. Einfach bis zehn zählen, sagte er zu sich selbst und rief sich ins Gedächtnis, wie oft er schon die Worte seines Vaters ignoriert hatte. Und auch der Prinz selbst ging nicht weiter darauf ein, sondern stellte ihm eine andere Frage.

„Sag mal, woher kommst du eigentlich?“, wollte Christopher wissen. „So wie du dich benimmst, so wie du gekleidet bist, stammst du sicherlich nicht von hier.“

„Wenn ich es dir sage, wirst du mich höchstwahrscheinlich für verrückt erklären!“, meinte Erik seufzend. „Aber, wenn du es unbedingt wissen willst, ich stamme aus einer anderen Welt!“ Hier gab es rotsüchtige Wölfe, sich bewegende Bäume, Hexen und Geister. Wieso sollten die dann nicht auch an andere Welten glauben?

Doch Christopher lachte nun schallend auf. „Andere Welten, so etwas gibt es doch gar nicht“, meinte er vergnügt. „Erik, du bist wirklich ein lustiger Typ. Wenn diese Sache hier vorbei ist, werde ich dich als meinen persönlichen Hofnarr einstellen!“

Erik erwiderte darauf nichts. „Wenn du mir nicht glauben willst, dann hast du halt Pech gehabt“, meinte er.

„Nun ja, liefere mir doch einfach einen Beweis für deine Behauptung“, forderte Christopher ihn auf. „Oder kannst du es nicht?“

Suchend kramte Erik in seinen Taschen herum. Irgendwo hier musste er doch sein Handy haben. Oder etwas anderes. Schließlich hatte er sein Mobiltelefon gefunden und beförderte es hervor.

„Was ist das denn?“ Christopher kam neugierig näher.

„Ein Beweis, dass ich wirklich aus einer anderen Welt stamme!“, erwiderte Erik. Keinen Empfang, bemerkte er niedergeschlagen. Wäre aber auch zu schön gewesen…

„Ein Handy!“, meinte Erik. Es war ein wirklich altes Teil noch mit Tasten, kleinem Bildschirm und dicker wie seine Hand. Jeder in seiner Klasse gab tagtäglich mit seinem neuesten Smartphone an, nur er besaß noch so ein Steinzeitteil. Er hatte sich Geld zusammengespart und sich eins zugelegt, damals als diese Dinger noch total modern waren. Doch die Zeiten änderten sich und es kamen neue Modelle auf den Markt. Teurere Modelle. Und Erik hatte kein Geld, sich so etwas zu leisten. Doch das würde hier schon reichen. „Man kann damit Nachrichten verschicken und mit Freunden reden, die ganz weit weg sind.“ Belanglos klickte er durch die einzelnen Seiten. Einstellungen … Nachrichten … Kontakte … Spiele … Klick!

„Oh, und man kann damit spielen!“, fügte er hinzu. „Hier, versuch es mal.“ Die Anfangsmelodie von Snake erklang und der Prinz nahm es vorsichtig in seine Hände.

„Was soll ich machen?“, fragte er und drückte auf einige Tasten drauf. „Oh, der Faden ist nach oben abgebogen“, bemerkte er erstaunt und starrte fasziniert auf den Bildschirm.

„Du musst die Schlange zu dem blinkenden Punkt führen“, erklärte Erik ihm. „Aber pass auf, du darfst nicht an den Rand geraten und dich auch nicht selbst berühren.“

„Verstanden!“ Christopher lernte schnell, wie das Spiel funktionierte und nach wenigen Minuten erklang die Siegesmelodie.

„Wenn du willst, kannst du es behalten“, meinte Erik achselzuckend. „Ich brauche es nicht mehr.“

Christopher blickte mit leuchtenden Augen auf. „Wirklich?“, fragte er überrascht. „Das wäre wirklich toll!“

„Klaro.“ Erik kratzte an seinem Kinn. Hier nützte ihm das Teil doch sowieso nichts. Und gekauft hatte er es eigentlich auch nur, um seinen Vater anrufen zu können, was inzwischen nicht mehr nötig war.

„Wie schön, du bist endlich aufgewacht!“, erklang auf einmal eine weibliche Stimme. Erik drehte sich um. Vor ihnen stand eine junge Frau, die einen Eichenstab in der Hand hielt und unter ihrer dunkelgrauen Kapuze blickten rosafarbene Haare hervor. Als sie sich näherte, lösten sich die Geister auf, während ein leichtes Schimmern vom Stab ausging.

„Perona, du bist zurück gekehrt!“ Christopher begrüßte sie und Erik wurde klar, dass dies die Hexe sein musste, von der ihm erzählt wurde.

„Wie geht es dir denn?“ Sie nickte dem Prinzen zu und blickte Erik besorgt an. „Du hast uns einen ganz schönen Schrecken eingejagt!“

„Mit mir ist alles in Ordnung“, meinte Erik lächelnd. „Ich fühle mich wie neugeboren, ich könnte Bäume ausreißen!“ Bei diesen Worten begann der Wind behaglich zu wehen und eine Gänsehaut kribbelte über Eriks Körper. Wirkte es nur so, oder kam die Äste plötzlich bedrohlich näher? Erik trat vorsichtig einen Schritt zurück.

„Sei vorsichtig mit dem, was du hier sagst!“, warnte Perona ihn. „Die Bäume sind nicht gerade erquickt über so etwas.“

„Egal, sag hast du was herausgefunden?“, drängte Christopher. „Was hat die andere Hexe gesagt?“

„Sie sagte, wir müssen am nächsten Brunnen auf die Stumme Schwester warten!“, erklärte Perona ruhig. „Sie kann die Raben rufen, und diese Tiere werden uns dann zu dem Dornenschloss führen.“

„Gut, dann lasst uns gehen!“, entschied Christopher und reichte Erik das Handy wieder. „Hier, steck es ein, bis ich danach verlange.“

Erik griff wortlos danach und blickte dann Perona an. „Wo müssen wir lang?“, fragte er.

„Meine Schwester sagte, der nächste Brunnen würde am Ende des Waldes liegen. Folgt mir einfach!“, sagte sie und ging voran, er und Christopher folgten ihr.

Irgendetwas ist merkwürdig, dachte Erik, während er Peronas Rücksicht betrachtete. Sie pfiff scheinbar fröhlich eine ihm unbekannte Melodie und trotzdem wurde er das Gefühl nicht los, dass sie irgendwie traurig wirkte.

Und er begann sich zu fragen, ob Perona ihnen vielleicht etwas verschwiegen hatte.

Das Opfer der Hexe

Die dreiköpfige Gruppe brauchte genau einen Tag um den Wald zu durchqueren. Einzeln versuchten einige vorwitzige Bäume, ihnen eine Falle zu stellen, doch die Magie der Hexe Perona brachte sie schnell dazu, von ihnen abzulassen. Und so erreichten sie zur Abenddämmerung das Ende des Waldes.

Eine Heide lag vor ihnen. Gras, Wacholder und Heidekraut waren zu sehen und durch die Mitte führte in Schlangenlinien ein breiter Trampelpfad. Man konnte Schuhspuren und die von Rädern und Pferden erkennen.

„Der Brunnen liegt in dieser Richtung!“ Perona ging weiter am Waldesrand entlang. Und schon bald näherten sie sich einem Brunnen. Auf diesem saß eine junge Frau, die sich die Haare bürstete. Erik und Perona näherten sich ihr vorsichtig, doch der Prinz selbst ging mit raschen Schritten auf sie zu.

„Als Kronprinz dieses Landes verlange ich, dass du mir augenblicklich den Weg zu dem Dornenschloss verrätst!“, rief er mit erhabener Stimme. „Rede!“ Er berührte sie, doch sie reagierte nicht.

„Antworte gefälligst!“, rief er erzürnt. Wie konnte man ihn bloß ignorieren? Sie saß mit dem Rücken an ihm zugewandt und blickte weiterhin auf den Brunnen zu. Christopher packte sie grob an der Schulter an und drehte sie um.

Schwarze, dunkle Höhlen blickten ihm entgegen und fahle, eingefallene Haut, die wirkte, als hätte man sie straff über den Schädel gespannt. Die Lippen waren von groben Stichen zusammengenäht worden und am Mundwinkel klebte immer noch Blut. Christopher sprang erschrocken einen Schritt zurück und unterdrückte ein Würgegeräusch.

„Was ist mit ihr geschehen?“, fragte er verunsichert.

„Nun, es heißt die ‚Stumme‘ Schwester!“, bemerkte Perona noch einmal und betonte das Wort ‚Stumm‘ besonders. „Sie kann nicht sprechen!“

„Aber dass das mit ihr geschehen ist, das hätte ich nicht erwartet!“, meinte Erik, der leichenblass im Gesicht war. Blut hatte er noch nie sehen können.

„Nun ja, das ist eben das Los der Stummen Schwester!“, äußerte Perona und kam näher. „Als Hüterin der sieben Raben ist es ihr Schicksal, nie ein Wort zu sagen. Die Raben kennen den Weg zu jedem Ort und jedem Gegenstand. Sie finden das, was du vor Jahren verloren hast und führen dich dorthin.“

„Aber, könnte man damit nicht auch einen Geheimweg in die königliche Schatzkammer finden?“, hakte Erik nach. Perona und Christopher blickten ihn an und erstere nickte langsam.

„Genau deshalb wurden ihr die Lippen zugenäht!“, berichtete Perona seufzend. „Denn die Schwester kann nicht entscheiden, welche Beweggründe gut oder falsch sind. Wenn ihr jemand sagt, was er sucht oder an welchen Ort er will, so ruft sie die Raben!“

„Und was sollen wir jetzt tun?“, mischte sich Christopher ein.

„Nun, vor Eintausend Jahren ist es einem Fremden gelungen, den Weg in die Krippe der Kronprinzessin zu erfragen. Beinahe hätte er sie ermordet, doch gerade rechtzeitig kamen einige Diener herein. Als man ihn ausfragte, gab er zu, die Stumme Schwester benutzt zu haben.

Der König wollte dieses Mädchen sofort hinrichten lassen, nur die Worte seiner Frau besänftigten seinen Jähzorn. Sie erinnerte ihn daran, dass die Schwester nicht selbst entscheidet, und es deswegen falsch wäre, sie dafür hinrichten zu lassen. Die Königin schlug vor, die Feen um einen Zauber zu bitten, der dieses Problem lösen würde!“, erzählte Perona ihnen die Geschichte. Christopher erinnerte sich daran, dass er im Unterricht davon gehört hatte, wie jemand seine Urur- und so weiter – Großmutter zu ermorden versucht hatte.

„Und die Feen nahmen einen Zaubergarn und nähten damit den Mund des Mädchens zu!“, fuhr die Hexe fort. „Und die Stumme Schwester konnte keinen Ton mehr sagen und somit auch die Raben nicht rufen. Und als die Königin fragte, wie man denn nun etwas finden sollte, da antworteten ihr die Feen:

Ein Opfer muss gebracht werden

Ein anderer erfüllt die Qual

Lässt mit groben Stichen sich

Zunähen das Lippenkleid…“

„Und was heißt das nun?“, fragte Christopher nach. Rätsel hatte er noch nie sonderlich gemocht, schließlich konnte man doch auch einfach klipp und klar sagen, was einem auf der Zunge lag.

„Das ist doch einfach“, meinte Perona verärgert. „Jemand von uns muss sich opfern und die Stelle als Stumme Schwester antreten!“
 

„Nein!“

Erik trat einen Schritt nach vorne und blickte Perona fassungslos an, als ihm klar wurde, was die Hexe damit meinte. Und was sie vorhatte.

„So etwas lasse ich nicht zu!“, rief der Junge aus. „Christopher, sag ihr dass das Schwachsinn ist.“

„Wieso sollte ich?“, fragte der junge Mann. „Es ist ihre eigene Entscheidung!“

„Sie wird sterben!“, rief Erik aus, fassungslos über Christophers Gleichgültigkeit.

„Das tun Menschen nun mal!“, entgegnete der Prinz genervt. „Außerdem ist es ihre Entscheidung, und wenn sie uns helfen kann… wie sollen wir es denn deiner Meinung nach tun?“, wollte er wissen.

„Egal wie, aber nicht auf diesen Weg!“, entgegnete Erik. „Das ist nicht fair!“

„Dann schlag doch etwas anderes vor!“, sprach Christopher. „Ich bin der Ansicht, dass es der einzige Weg ist!“

Erik antwortete nicht, sondern dachte nach. Es musste doch eine Möglichkeit geben, er konnte Perona nicht sterben lassen. Sie war noch jung, hatte gerade mal ihr ganzes Leben vor sich. „Warum nehmen wir nicht einfach ein Tier?“, fragte er und blickte zu Perona, doch die schüttelte ihren Kopf und ihre rosafarbenen Locken wippten auf und ab.

„Es muss ein Mensch sein!“, meinte sie.

„Dir ist ein Tierleben also weniger wert wie ein Mensch?“, hakte Christopher nach. „Tut mir Leid, nur kommt mir das ganze ziemlich heuchlerisch vor!“ Herausfordernd blickte er Erik an.

„Das sagt derjenige, der Menschen nur rettet, damit er sie als Sklaven einstellen kann!“, konterte Erik zornig. „Oder wie war das gleich nochmal?“

„Was ist so schlimm daran, wenn ich ihnen ihr Leben rette?“, rief der Prinz aus. „Und außerdem, als Sklaven stelle ich niemanden ein.“

„Du hast mich gerettet, damit ich mich dir anschließe und dir deinen ganzen Scheißkram erledige!“, erinnerte Erik ihn. „Einen anderen Sinn hast du nicht verfolgt!“

„Gut, falls du das nächste Mal in Gefahr schwebst, werde ich dich einfach liegen lassen!“, entgegnete Christopher wütend. „Ohne mich wärst du wahrscheinlich schon längst von den Wölfen zerfetzt worden. Ohne mich wüsstest du gar nicht, wo du hingehen solltest.

Es gibt nun mal keine andere Möglichkeit, als das zu…“

Ein lauter Schrei schnitt Christopher das Wort ab.

Beide drehten sich überrascht um. Es war Perona, die geschrien hatte. Perona, die nun mit zusammengeschnürtem Mund vor ihnen stand, aus dem Bluttropfen fielen.

Beide hatten nicht gesehen, was die Hexe während ihres Streits getan hatte. Erik stürzte auf sie zu, fassungslos, geschockt. „Wie konntest du nur?“, fragte er entsetzt. „Warte, lass mich dir helfen!“

„Bist du wahnsinnig?“, schrie Christopher. „Was, wenn der Faden auf dich übergeht?“

„Das ist mir so was von egal!“, entgegnete Erik verärgert. Wieso interessierte es Christopher was mit ihm geschah, aber Peronas Schicksal war ihm total egal?

„Und was ist mit deiner Familie? Deinen Freunden? Sie machen sich bestimmt Sorgen um dich. Willst du wirklich, dass sie in ständiger Angst leben, weil sie nicht wissen, was aus dir geworden ist?“ Christopher blickte ihn fragend an.

„Als ob es meinen Vater interessieren würde, was mit mir ist!“, rief Erik. „Er wäre froh, wenn ich einfach verschwinden würde.“

„Ihr habt mich erlöst und nun nennt mir den Ort, an den es euch hin verschlägt. Was ihr verloren habt, das werde ich finden. Wenn ihr euch verlaufen habt, werde ich den richtigen Weg finden!“, sprach eine wohltuende, zarte Stimme auf einmal. Die vorherige Stumme war auf sie zugetreten. Die Lippen waren wieder verheilt, und langsam verschwand das Schwarze in ihren Augen und klare, hellblaue Pupillen traten darunter zum Vorschein. Sie war wirklich schön, das konnte Erik nicht bestreiten. Und doch, ein Teil seines Bewusstseins hasste sie dafür, dass sie Perona so ein Schicksal auferlegt hatte.

„Wir suchen das Dornenschloss!“, sprach Christopher. „Wir wollen an den Ort, an dem die Schlafende Schönheit ruht!“

„Was heißt hier bitteschön ‚Wir‘?“, hakte Erik nach. „Als ob ich weiterhin bei dir bleiben würde.“ Dass er eigentlich danach suchen sollte, weil es angeblich der einzige Weg nach Hause ist, daran dachte er im Moment nicht.

„Eure Streitereien interessieren mich nicht!“, unterbrach die Schwester sie.

„ворон

holló

гарван

Reibun

Ronk

Corvus

Raven“, rief sie aus. Erik erkannte Latein und Englisch, sie rief das Wort „Rabe“ in sieben verschiedenen Sprachen aus.

Wind kam auf, der in Spiralen um sie herumwirbelte und langsam löste sie sich in Luft auf. Christopher beobachtete das Ganze desinteressiert, nur Erik blickte verzweifelt zu ihr, denn das würde auch Perona eines Tages erwarten. Doch ehe er etwas tun konnte, hatte sie sich vollständig aufgelöst und nur Perona stand noch neben ihnen. Ihr Mund war zugenäht und ihre Augen pechschwarz... Sie beachtete die beiden nicht mehr, sondern setzte sich auf den Brunnensims und blickte geistesabwesend in die Ferne.

Das Kreischen eines Raben drang an ihr Ohr und beide blickten in den Himmel. Ein schwarzer Vogel näherte sich ihnen. Seine majestätischen schwarzen Flügel waren weit ausgebreitet beim Flug und er ließ sich auf dem Dach des Brunnen nieder.
 

Seine Flügel deuteten nach unten.

„Wir müssen nach Süden!“, meinte Erik. „Dorthin deuten die Flügel nämlich.“ Bei seinen Worten erhob sich der Rabe wieder und flog von dannen.

„Gut, dann gehen wir!“, meinte Christopher. „Wir müssen so schnell wie möglich die Prinzessin finden.“

„Wieso sollte ich mich dir denn noch anschließen?“, fragte Erik nach. „Es gibt keinen Grund, das zu tun.“

„Du bist auf mich angewiesen. Ohne mich kommst du nicht zurück!“, meinte der Prinz.

Nein, er musste die Prinzessin finden. Dann würde er zurück finden.

„Ich gehe den Weg mit dir!“, sagte Erik entschlossen. „Doch kümmere ich mich um meinen eigenen Kram!“

Auf den Rabenschwingen

Sie schlugen den gleichen Weg ein, doch redeten sie kein Wort miteinander. Während sie durch die Heide gingen, einen Fluss überquerten und das Klima dabei immer wärmer wurde, ignorierten sie den anderen, so gut es ging. Nur einmal, als Erik beinahe in den Fluss gefallen wäre, wollte Christopher ihm helfen, doch dieser schlug die Hand weg, die er ihm hingehalten hatte und half sich selbst aus der Situation.

Wie lange sie nun schon wanderten, konnte keiner von beiden sagen. Sie ruhten sich nachts aus und liefen am Tag. Einmal kamen sie in ein Dorf, indem sie Nahrung kauften. Christopher kaufte auch etwas für Erik und schob es dem Jungen heimlich unter, als dieser schlief. Er konnte nicht mitansehen, dass dieser hungern musste.

Erik nahm das Essen wortlos an, nur ein kurzes Lächeln in Christophers Richtung deutete er an, als er dieses am nächsten Tag entdeckte.

Sie kamen an einen Strand an. Fasziniert blickte Erik über das Meer, an dessen Horizont sich die Sonne gerade ihrem Ende neigte. Er war noch nie am Meer gewesen und blickte nun über die Dünen, als er etwas entdeckte.

Ein zweiter Rabe saß auf einem kleinen Sandhügel.
 

Doch etwas an ihm war anders.

„Seine Flügel deuten in zwei verschiedene Richtungen!“, bemerkte Christopher. „Welchen Weg sollen wir einschlagen?“

„Ich gehe nach Osten!“, meinte Erik bestimmt.

„Und wieso denkst du, dass das richtige Weg ist? Ich bin für den Weg nach Westen!“, erklärte der junge Thronerbe.

„Und deshalb ist Osten der richtige Weg“, beharrte Erik. „Denn deine Entscheidungen waren ja noch nie richtig.“

„Das sagt ausgerechnet derjenige, dem seine eigene Familie total egal ist und lieber wegläuft, anstatt sich seinen Problemen zu stellen!“, rief Christopher aus.

„Halte dich aus meinen Angelegenheiten raus. Du hast keine Ahnung, wie mein Vater ist!“, sagte der junge Schüler.

„Du hast jede Nacht im Schlaf gesprochen!“, stellte sein Gegenüber fest. „Darum gewimmert, dass du es nicht mehr aushältst, dass dein Vater ein Trinker ist.“

„Ja und?“ Erik blickte ihn erzürnt an.

„Du fragst nicht einmal nach dem Grund, wieso er das tut!“, entgegnete Christopher. „Oder hast du ihm jemals angeboten, Hilfe für ihn zu suchen?“

„Er hätte sie doch sowieso nicht angenommen!“, schrie Erik verzweifelt. „Er denkt nur an sich, ich bin ihm doch völlig egal.

Und außerdem, was kümmert dich das eigentlich? Du hattest kein Problem damit, dass sich Perona geopfert hat. Du siehst nur deinen eigenen Vorteil, die anderen interessieren dich doch gar nicht!“

„Nun, wenn du so denkst, wieso gehst du dann nicht einfach den Weg, den du für richtig hältst und ich den anderen?“, rief Christopher aus. „Dann bin ich dich wenigstens los!“

„Endlich hast du mal eine richtige Entscheidung getroffen!“, äußerte Erik und ging Richtung Osten los. „Auf Nimmerwiedersehen!“, murmelte er.

„Viel Spaß hier zu versauern!“, rief Christopher ihm nach und ging dann nach Westen.

Keiner der beiden bemerkte, wie der Rabe mit den Flügeln schlug und wieder gen Himmel flog.
 

Nach Westen, er ging nach Westen. Im Westen ging die Sonne auf, es lag doch auf der Hand, dass der richtige Weg zum Schloss dort lag. Christopher war es egal, was Erik dachte. Sollte dieser doch zusehen, wo er blieb.

Nie zuvor hatte er so einen starrköpfigen Typen kennengelernt. Wie konnte man einfach ignorieren, dass der Vater Probleme hatte, denn sonst würde er ja nicht trinken. Christophers Großonkel war selbst dem Alkohol verfallen, als er bei einem Brand seine ganze Familie verloren hatte. Jeder hatte sich von ihm abgewandt, als er immer peinlicher wurde, nur Christopher war bei ihm geblieben. Auf seinem Sterbebett hatte dieser dem kleinen Jungen dann anvertraut, dass er selbst das Feuer gelegt hatte. Er wäre dankbar, dass Christopher ihn nicht im Stich gelassen hatte.

Der Junge hatte nie erfahren, was genau sein Großonkel eigentlich getan hatte. Doch er hatte gelernt, dass man sich nicht einfach von seiner Familie abwenden durfte, sondern ihnen Hilfe anbieten müsse. Egal, wie tief diese gesunken war.

Doch Erik schien das nicht zu kapieren. Er behauptete, Christopher würde Menschen nur helfen, wenn er selbst einen Vorteil daraus schlug, doch das war gelogen.

Er half Menschen, weil er es wollte. Und wenn er dann eine Gegenleistung von ihnen verlangte, was war so falsch daran?

Ein Wald tauchte auf, und Christopher ging den Weg hinein. Dies hier war ein gewöhnlicher Wald, stellte er fest.

Ein Baumstumpf tauchte vor ihm auf, auf dem der nächste Rabe saß. Irritiert stellte Christopher fest, dass dieser nun nach Osten deutete.
 

Er schlug den Weg ein und fragte sich, was Erik gerade machte. Ob dieser dämliche Vollidiot irgendwann merken würde, dass seine Beschuldigungen dem Prinzen gegenüber vollkommener Schwachsinn waren?

Er war immerhin ein Prinz. Er machte nie irgendetwas falsch.

Niemals…

Was war schlimm daran, eine Gegenleistung zu fordern?

Es war ja nicht so, als würde er zuerst die Entschädigung fordern und erst danach das Leben eines Menschen retten.

Er war ein Prinz.

Und er sah nichts Falsches daran.

„Christopher, du bist so ein Idiot!“
 

Erik ging nach Osten. Er wollte einfach nur weg von Christopher, wollte die Worte des Prinzen nicht mehr hören. Es ging ihn doch überhaupt nicht an, wie Erik sich seinem Vater gegenüber benahm. Er wusste doch nicht, was es hieß, arm zu sein. Sich nie etwas leisten zu können, wenn das Geld ständig knapp war und man jeden Cent zweimal umdrehen musste, bevor man ihn ausgab.

Als Prinz wurde er doch mit goldenen Löffeln gefüttert. Alles tat man, was der Adlige verlangte, denn er würde später einmal König werden. Christopher hatte doch keine Ahnung, was in Erik vorging.

Er ging am Strand entlang, hatte seine Turnschuhe ausgezogen und watete nun im Meer, während die Wellen sanft seine nackten Füße umspielten. Wie gut sich das kühle Nass doch anfühlte. Er lief gerne, doch nun hatten sich an seinen Füßen die ersten Blasen gebildet und er hoffte, dass er bald endlich wieder nach Hause finden würde. Sein Vater interessierte ihn zwar nicht, es war viel mehr das Studium, das ihn lockte.

Sein Vater war ihm egal, total egal. Es war ihm doch total egal, wie es seinem Sohn erging. Oder, was sein Sohn für Pläne hatte. Nie hatte er auch nur einmal gefragt, was Erik eigentlich wollte. Und wenn er es erfuhr, dann würde er dagegen sein. So wie er es Erik verbieten wollte, die Aufnahmeprüfung für die Winchester-Uni zu besuchen.

Wenn seine Mutter noch leben würde, sie hätte es ihm bestimmt erlaubt, schoss es Erik durch den Kopf. Und vielleicht würde sein Vater dann auch anders sein. Vielleicht würde er dann ein liebevoller Vater sein. Einer, der seine Probleme nicht in Alkohol ertrank.

Doch seine Mutter war gestorben und sein Vater war … ein Arsch! So sah es Erik jedenfalls.

Und Christopher war kein Deut besser. Er hatte einfach so das Leben von Perona geopfert. Nein, er hatte einfach zugesehen, wie Perona sich opferte…

Sie hatte sich geopfert und Christopher war es egal gewesen. Erik hätte sich sofort angeboten, denn er wollte das Leben Peronas nicht gefährden.

Und auch Christopher war ihm wichtig gewesen. Er hätte es nicht ertragen, wenn dieser sich opfern würde. Viel lieber hätte Erik sein eigenes Leben gegeben.

Vor ihm auf dem Sand entdeckte Erik den nächsten Raben. Und merkwürdigerweise deutete dieser nach Westen.
 

Erik folgte dem Flügel des schwarzen Vogels, welcher ihn fort vom Strand in einen Wald hineinführte. Er erinnerte sich daran, wie er hier Christopher das erste Mal getroffen hatte. Der Junge hatte so freundlich gewirkt. Waren da wirklich böse Hintergedanken gewesen? Und doch, er hatte Peronas Leben geopfert…

Um sein eigenes zu schützen. Und das von Erik.

„Erik, du bist so ein Idiot!“

Im Palast der Schneekönigin

Der Wald lichtete sich vor ihm und er gelangte auf eine große Lichtung. Grünes Gras und Wildblumen, die ihren Blütenkopf weit geöffnet hatten waren zu sehen. Doch noch etwas anderes konnte er ausmachen.

Jemand anderes.

Seine Schritte wurden schneller, während er sich dem anderen näherte. Er wusste, wer dort auf ihn zukam. Er spürte es mit jeder einzelnen Faser seines Körpers.

„Erik!“ Christopher blieb vor ihm stehen. Nervös, unsicher. Der junge Prinz sah ihn fragend an, seine Augen wollten wissen, ob er noch sauer auf ihn war.

„Warum hast du das getan?“, erkundigte sich Erik. „Wieso warst du bereit, Peronas Leben zu opfern aber nicht das meine?“

„Weil … ich es nicht konnte“, erklärte Christopher mit knallrotem Kopf. „Ich ahnte, dass ein Opfer gebracht werden müsse, denn so sind Feen nun mal. Jedoch, ich wollte dich nicht … ich wollte dich nicht verlieren!“ Verlegen fuhr er sich mit seiner Hand durch sein schwarzes Haar.

Erik blickte überrascht auf.

„Ich weiß, es war falsch von mir. Dass ich Perona geopfert habe, bloß um deines zu retten!“, entschuldigte sich der junge Prinz. „Es wäre besser gewesen, wenn ich an ihrer statt gewesen wäre…“, fügte er hinzu.

„Nein!“, rief Erik erschrocken aus. „Das, das hätte ich nicht zugelassen… Ich hätte dich nicht geopfert!“

Christopher blickte ihn erstaunt an. „Das … das meinst du ernst?“

Der blondhaarige Junge nickte. „Ich hätte dich nicht verlieren können“, gab er zu. „Denn, immerhin…“ Er seufzte. „Immerhin hast du mir erst klar gemacht, wie falsch ich eigentlich lag. Mit meinem Vater!“ Er blickte in die Ferne. „Ich hab mich echt wie ein Idiot benommen. Ich wünschte, ich könnte nach Hause zurückfinden … dann würde ich ihn um Verzeihung bitten.“

Christopher lächelte. „Und dank dir ist mir klargeworden, dass es falsch ist, etwas zu verlangen, wenn ich etwas tun soll“, erklärte er. „Na ja, genauer gesagt, hab ich darüber nachgedacht … und festgestellt, dass es einfach nicht der richtige Weg ist, so etwas zu tun.“ Wieder fuhr er sich verlegen durch sein Haar. Erik grinste bei dieser Geste. Irgendwie fand er das süß.

„Also, hast du mir verziehen?“, erkundigte sich Christopher vorsichtig.

Erik blickte ihn durchdringlich an. Seine blauen Augen sahen Erik flehend an. Der Junge nickte langsam. „Ja, ich verzeihe dir!“, meinte er aufmunternd. „Wenn du mir meine Dummheit verzeihst!“

Christopher nickte. „Versprich, dass du, sobald du nachhause kommst, deinen Vater um Verzeihung bittest. Hilf ihm, auch wenn er deine Hilfe ablehnt!“

Erik war einverstanden. Langsamen Schrittes gingen sie aufeinander zu, umarmten sich unbeholfen. Und als sie sich lösten, erschien vor ihnen der fünfe Rabe.
 

Seine Flügel deuteten nach oben. „Dieses Mal führt der Weg nach Norden“, meinte Christopher. „Dann sind wir in alle vier Himmelsrichtungen gegangen.“

Erik nickte und trat neben ihm. „Kommst du?“

Sie schlugen den Weg Richtung Norden ein. Je weiter sie liefen, desto trostloser wurde die Gegend. Die grünen Wiesen wichen schon bald einer Eislandschaft und es wurde kälter und kälter. Erik, der nur in dünnen Kleidern gekleidet war, fing schon bald an zu frieren und so erlegte Christopher einen Bären, aus dessen Fell er grob einen Mantel für Erik herstellte. Die Gegend wurde immer eisiger und schon bald gerieten die beiden Männer in einen Schneesturm. Wild tanzten die Schneeflocken vor ihnen hin und her und versperrten ihnen die Sicht. Die Kälte schien ihnen ins Fleisch zu schneiden und sie versanken tief im Schnee. Das Vorankommen war fast unmöglich geworden und nur noch der Gedanke aus diesem Schneesturm herauszukommen trieb sie vorwärts.

„Wie weit ist es noch?“, rief Erik fragend, der am ganzen Körper zitterte und sich bestimmt schon einige Frostbeulen geholt hatte, so wie er sich fühlte. „Wie lange laufen wir schon?“

„Ich weiß es nicht!“, gab der junge Prinz zurück, der vor ihm lief und ihn durch den Schneesturm führte. „Ich war nie im höchsten Norden gewesen!“

Erik murmelte etwas Unverständliches. „Kann so ein Schneesturm denn mehrere Tage dauern?“

„Tage?“ Christopher lachte laut auf. „Es wäre schön, wenn so ein Sturm nur Tage dauert. Meistens sind es mehrere Wochen, sogar Monate lang kann dies hier dauern!“

Erik ächzte entsetzt. Eigentlich machte ihm der Winter nichts aus, er mochte ihn sogar sehr. Doch dieses Wetter war viel zu anstrengend. Mit zusammengekniffenen Augen blickte er nach vorne. Schneeflocken tanzten vor ihm herum und für einen Moment wirkte es so, als wäre da vorne jemand, der im Schnee tanzen würde. Er blinzelte verwirrt und sah noch einmal nach vorne.

Tatsächlich, es wirkte so, als würde dort jemand im Schnee tanzen. Schemenhafte Gestalten, die kaum zu erkennen waren und beinahe wie eine Illusion wirkten.

„Was … was ist das da?“ Er hob seinen Arm und deutete mit zitternden Händen nach vorne. Christopher folgte seinem Blick.

„Ich weiß nicht, was du meinst!“, wunderte sich der Prinz.

„Da vorne, da vorne ist jemand!“, erklärte Erik. „Sieh doch hin, sieh genau hin!“

Christopher blickte noch einmal nach vorne, doch alles was er sah, war tosender Schnee. Er warf einen Blick auf Erik, dem das Laufen immer schwerer fiel und der immer mehr zitterte. Er musste aus diesem Schneesturm raus, er musste ins Warme. Christopher sah sich um, doch alles was er sah war Schnee, Schnee, Schnee! Verdammt, er hasste dieses Wetter!

Im höchsten Norden trieb sich nie jemand herum. Dort, wo die Eismächte zuhause waren. Sein Großvater hatte ihm Geschichten erzählt, dass hoch im Norden die wunderschöne und grausame Schneekönigin lebte. Sie herrschte über den Winter und schickte jedes Jahr ihre Eistänzerinnen aus, die das Land mit einer kalten Decke aus Schnee bedeckten. Wer ihr zu nahe kam, den verzauberte sie, sodass sein Herz kalt wie Eis wurde. Christopher hatte es bisher immer nur für eine Legende gehalten, ein Märchen, welches man den Kindern erzählte. Und doch dachte er nun daran. Aber vielleicht lag es auch nur an der Situation. Er musste weitergehen, unbedingt. Irgendwie würden sie beide es schon hier rausschaffen.

Christophers Beine wurden schwerer und schwerer. Jeder Schritt, den er machte, schmerzte nun. Die Schneeflocken schnitten in sein Gesicht und seine tauben Finger umklammerten die von Erik. „Wir müssen weiter!“, rief er entschlossen aus und wankte beim Gehen. „Wir müssen weiter…“

Bewusstlos sanken sie beide zu Boden…
 

„Ich habe dich erwartet!“

Ihr Atem strich über Eriks Gesicht. Sie legte eine Hand auf seine Schulter und Eisblumen bildeten sich dort, wo sie ihn berührte. Vorsichtig beugte sie sich zu ihm herunter und hauchte mit eiskalten, blassen Lippen einen Kuss auf seine Stirn.

„Wieso hat es so lange gedauert, mein Liebster?“, wollte sie wissen und ließ ein seltenes Lächeln sehen. „Ich habe dich vermisst!“

„Vergebt mir, meine Königin!“, bat er sie. „Ich weiß nicht, was mich aufgehalten hat, zu Euch zu kommen!“

„Nun, du kannst es ja auch nicht wissen!“ Sie ging um ihn herum, auf den schlafenden Mann zu, der dort am Boden lag. „Wer ist das?“

Erik zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht!“, entgegnete er. „Ich habe ihn noch nie gesehen. Alles, wofür ich Augen habe, seid Ihr meine Eisprinzessin!“

„Möchtest du, dass er verschwindet?“ Mit eiskalten silbrigen Augen blickte sie ihn an.

Er zögerte und sah den Fremden genauer an. Alles, was ihn interessierte, war das Wohlergehen der Königin. Seine Gebieterin erfüllte jeden Gedanken seines Bewusstseins. Und doch, irgendetwas irritierte ihn an dieser Frage. Der Fremde … seine Augen hatten das Gefühl, er hätte ihn schon einmal gesehen, doch sein Kopf sagte etwas anderes.

„Lasst ihn hier!“, antwortete er nach einer Weile. „Ich will wissen, wer er ist.“

Sie hob erstaunt eine Augenbraue. „Ich verstehe!“, sagte sie langsam und ging wieder auf ihn zu. Wieder beugte sie sich zu ihm, um dieses Mal einen Kuss auf sein linkes Auge zu hauchen. „Bist du dir da wirklich sicher?“, wollte sie noch einmal wissen.

„Ja!“ Er hatte den Fremden noch nie gesehen, hatte den Fremden noch nie gekannt. Und trotzdem, etwas in ihm sagte Erik, dass er den Fremden nicht verlieren durfte. Und auch, wenn jede einzelne Faser seines Bewusstseins an die Königin dachte, so gab es diesen einen kleinen Teil seines Seins, der an diesen Fremden dachte, welcher dort unten auf dem eisigen Boden lag. Und der nicht wollte, dass ihm etwas zustieß.

„Wenn du es so willst, dann soll es so sein!“, sagte sie und doch glaubte Erik, eine Spur Zorn aus ihrer Stimme herauszuhören. „Bringt ihn in ein Zimmer!“, rief sie und winkte mit ihrer Hand. Sofort traten Eistänzerinnen in den Saal und trugen ihn fort.

Die Schneekönigin wandte sich wieder an Erik. „Und was willst du jetzt tun?“, erkundigte sie sich, während sie sich auf ihrem Thron geformt aus Eis, niederließ.

„Alles, was ich will, ist bei Euch zu sein, meine Königin!“, erwiderte Erik und sah ihr in die Augen. Ein Schauer rann über seinen Rücken, als sich ihre Blicke kreuzten. Es lag so viel Kälte im Blick dieser wundervollen Frau.

„Nun denn, dann folge mir!“ Sie erhob sich wieder von ihrem Thron. Ihr langes Kleid in hellblauen, silbernen und weißen Farben wehte hinter ihr her, während sie anmutig hinter ihren Thron trat und eine Tür öffnete. Im Rahmen drehte sie sich noch einmal um, lächelte verführerisch und winkte Erik zu sich.

Der Junge ließ es sich nicht zweimal sagen und rannte zu ihr. Sie führte ihn in ihr Schlafzimmer. Als er die Tür hinter sich schloss, lag sie schon auf ihrem Bett aus Schnee. Er trat zu ihr, ließ sich von ihr sein Oberteil ausziehen. Ihre dunkelblauen Fingernägel kratzten über seine nackte Brust und er schauderte bei dem Gefühl.

„Komm zu mir!“, flüsterte sie in sein Ohr und ihr kalter Atem streifte seinen Nacken. Er legte seine Hände auf ihre Schultern und sie hob ihn hoch auf ihren Schoß. Ein Verlangen erfüllte ihn, als er in ihre Augen blickte und sie mit jeder einzelnen Berührung seinen Körper mit Eiskristallen bedeckte. Sein Kopf war mit dem Gedanken an sie erfüllt, er dachte nur an sie. Seine Augen waren mit Bildern von ihr gefüllt, er dachte nur an sie. Sie war alles. Alles, was er kannte.

Oder?
 

Fröstelnd wachte Christopher auf. Eine hauchdünne Decke war über ihm ausgebreitet und er lag auf etwas weichem. Irritiert fasste er es an und stellte fest, dass es Schnee war. Der junge Prinz stand auf und stellte fest, dass er auf einem Schneebett gelegen hatte. Er sah sich um und stellte fest, dass er an einem Ort gelangen war, der vollkommen aus Schnee und Eis zu bestehen schien. Und mit einem Mal wurde dem Prinzen klar, an was für einem Ort er sich befand.

Christopher eilte zur Tür. Sie war nicht abgeschlossen und so gelangte er auf einen langen, eisigen Flur. Vorsichtig rannte er den Flur hinauf, vorsichtig, denn das Eis war glatt. Er musste Erik finden. Wenn er es nicht war, der von der Schneekönigin verzaubert wurde, dann war es Erik.

Drei Küsse benutzte diese Frau, um ihr Opfer für immer ihr gehörig zu machen. Und wenn er ihr langweilig wurde, dann küsste sie ihn ein viertes Mal und er wurde zur Eisskulptur, so erzählten es die Geschichten. Ein Kuss auf die Stirn und jeder Gedanke galt nur noch ihr. Ein Kuss auf das linke Auge und alles was man sah, war sie. Und zum Schluss ein Kuss auf das Herz, sodass man alles vergaß, sogar sich selbst und nur noch existierte, um ihr zu dienen.

„ERIK!!!“, rief Christopher laut aus und schlitterte um eine Ecke. Aus den Wänden schossen Eiskristalle auf ihn zu, die er mit seinem Schwert abwehrte. Er musste ihn unter allen Umständen finden. Wenn er sich nicht beeilte, würde Erik ihn vergessen.

Und das konnte der Prinz nicht zulassen.
 

Sein Körper war mit Eis bedeckt, doch er spürte die Kälte nicht. Alles, was ihn interessierte, war die Königin.

„Woher hast du diese Kette?“ Ihre Finger glitten über seine Brust und näherten sich dem silbernen Anhänger. Doch als sie näher kamen, glühten ihre Finger auf einmal auf und sie zog erschrocken ihre Hand weg. „Nimm ihn ab“, verlangte sie garstig.

Gehorsam glitten seine Hände zu dem Verschluss und er wollte ihn lösen, als seine Augen auf den blauen Edelstein in der Mitte des Amuletts fielen.

So ein zartes Blau … es erinnerte ihn an etwas. Angestrengt dachte Erik nach, doch jeder Gedanke drehte sich um sie. Und doch, er kannte dieses Blau. So ein wunderschönes Blau hatte er irgendwo schon einmal gesehen.

„Worauf wartest du noch?“ Erzürnt sah sie ihn an. „Nimm diese Kette ab!“

Er zögerte und umfasste das Amulett mit einer Hand. Er erschrak, als seine kalte Haut den Anhänger berührte, welcher sich so warm anfühlte. Solch eine Wärme, wie gut sie doch tat. Die Eiskristalle, mit denen seine Hand bedeckt worden war, schmolzen dahin und ein Lächeln bildete sich auf seinem Gesicht.

Er durfte dieses Amulett nicht abnehmen, sagte ihm etwas.

Denn dann würde er jemand wichtigen verlieren.
 

Er gelangte in einen großen Raum. Am Ende des Saals stand ein großer, aus Eis geformter Thron. Und schräg dahinter entdeckte Christopher eine geschlossene Tür. Eilig rannte er darauf zu und riss sie auf.

Auf einem Bett saß Erik ihm mit dem Rücken zugewandt, der vor Kälte blau angelaufen war. Erschrocken rannte Christopher auf ihn zu und zerrte ihn von der Frau – der Schneekönigin. Er legte Erik seinen Pullover um und richtete dann das Schwert auf die Frau, die halbsitzend sich im Bett räkelte.

„Was hast du ihm angetan, du Monster?“, rief er fragend.

„Er ist freiwillig zu mir gekommen!“, erklärte sie und bei jedem Atemzug kamen Eiswolken aus ihrem Mund. „Er hat dich vergessen!“

„Das stimmt nicht!“, sprach Christopher aus und kniete sich zu Erik hinunter. Seine grünen Augen waren mit einem weißen Schimmer belegt und seine Lippen waren blau angelaufen. Christopher griff nach Eriks Händen und erschrak, als er merkte, dass die eine warm war.

„Erik, kannst du mich hören?“ Fragend blickte er ihn an und legte eine Hand auf seine Stirn.

„Chris… Christopher!“, flüsterte er stotternd. „Ich … ich kenne dich!“

„Ja, ja, ja!“, rief der Prinz freudig aus. „Erinnere dich an mich, erinnere dich!“ Sein Gesicht war dem von Erik so nahe, dass sein Atem auf Eriks Auge traf. Eine Träne löste sich aus diesem und er blinzelte überrascht.

„Christopher!“, flüsterte er wieder. „Ja, du bist es!“

Er umarmte den Prinzen freudig. Jede Stelle seines Körpers, die Christopher berührte, wurde augenblicklich gewärmt. Der Prinz zog sein Kettenhemd aus und dann die Tunika, die er darunter trug und reichte sie Erik.

„Wieso lässt du mich alleine?“ Die Schneekönigin trat zu ihnen. Ein Eiskristall rann über ihr Gesicht, sie weinte. „Es ist besser, wenn du bei mir bleibst!“

„Wie kann es besser sein, wenn er dann alles vergessen würde?“, fragte Christopher verärgert und hielt Erik fest.

„Warum bist du aufgewacht?“, fragte sie an ihn gewandt. „Ich habe dich in den Schlaf geschickt, weshalb bist du also aufgewacht? Es wäre besser gewesen, wenn alles so geblieben wäre!“

„Nein, das wäre es nicht!“, verneinte der Prinz. „Dies hier ist nicht richtig.“

„Aber, ihr wärt am Leben!“, sagte sie mit traurigem Blick in den Augen. „Ich wollte euch doch nur vor ihr beschützen!“

„Vor wem?“ Christopher blickte sie irritiert an.

„Vor der Schlafenden Schönheit, nach der ihr sucht! Ihr dürft sie nicht finden, denn sie lockt euch in euer Unheil!“

„Wir haben deinen Fluch überlebt, weshalb sollten wir dann den ihren nicht bezwingen?“, rief Christopher zuversichtlich aus.

Sie seufzte. „Wenn es eure Entscheidung ist, dann kann ich nichts tun. Ich wollte euch helfen, aber wenn ihr meine Hilfe nicht wollte…“ Sie streckte ihre Arme aus und murmelte etwas Unverständliches. Und mit einem Mal löste sie sich auf. In Eiskristallen fiel sie herunter und diese bildeten eine Blume.
 

„Sie wird uns führen!“, sprach Erik aus und erhob sich langsam. Stolpernd ging er auf die Eisrose zu.

„Erik, halt!“, rief Christopher, doch der Junge lächelte.

„Vertrau mir, sie wollte uns nichts Böses. Nur ihre Vorgehensweise war falsch!“ Er streckte die Hand aus und vorsichtig nahm Christopher sie. Im gleichen Augenblick berührte Erik die Eisblume.

Ein Wirbelsturm tauchte aus dem Nichts aus, der sie forttrug. Fort aus dem Palast, der in sich zusammenfiel. Fort vom Norden, in welche Richtung wussten sie nicht.

Er trug sie einfach nur fort.

Der Fluch der Schlafenden Schönheit

Sie landeten vor einer Dornenhecke. Vorsichtig rappelten sie sich auf und Erik trat an die Hecke heran. „Meinst du, wir schaffen es dadurch?“ Er erinnerte sich daran, dass im Märchen die Dornenhecke sich erst nach hundert Jahren öffnete. Was wohl wäre, wenn diese hundert Jahre noch nicht vorbei waren?

Christopher trat nach vorne und berührte vorsichtig einen der geschlossenen Blütenköpfe. Sofort öffnete sich die Rose und nach und nach machten auch alle anderen ihre Köpfe auf.
 

Wie von Zauberhand öffneten die Dornen einen Weg hinein ins Innere. Christopher schritt voran und Erik folgte ihm.

„Sag mal, wie fühlst du dich eigentlich?“, fragte der Prinz nach einer Weile und sah Erik an. Der Junge seufzte.

„Besser!“, antwortete er und biss sich auf seine Unterlippe. „Danke, dass du mich daraus geholt hast!“ Er lächelte ihn erkenntlich an. „Du hast dein Leben riskiert, um mich zu retten!“

„Na ja, wir sind ja Freunde!“, meinte Christopher verlegen. „Bist du sicher, dass du es schaffst?“

Erik nickte zuversichtlich. „Ich hab bisher alles geschafft, den Rest werde ich auch noch hinter mich bringen!“, meinte er zuversichtlich. „So kurz vor dem Ziel können wir doch nicht einfach aufhören!“

Christopher nickte schmunzelnd. „Na dann, stürzen wir uns ins Abenteuer!“

Sie gelangten an das Ende der Dornenhecke und vor ihnen kam ein altes Schloss in Sicht.
 

Es ähnelte mehr einer Burgruine als einem Schloss. Es musste bestimmt schon mehrere Jahrtausende alt sein, denn so eine Baukunst hatte Christopher noch nie gesehen. Entschlossenen Schrittes ging er darauf zu und öffnete die Tür. „Was meinst du, wo finden wir die Prinzessin?“

„Lass uns zum höchsten Turm gehen!“, meinte Erik, sich an das Märchen erinnernd. Sie traten in den Burghof und wandten sich dann zu dem höchsten Turm. Die Tür war von Dornen bedeckt, doch Christopher schlug sie weg und öffnete die Tür.

Eine Wendeltreppe führte steil nach oben. Vereinzelte Stellen waren mit Spinnweben bedeckt. Sie rannten nach oben und hielten sich am Geländer fest. „Beeilen wir uns!“, rief Christopher ihm zu und seine Hände strichen über die Steine an der Wand.

„Dann lauf schneller!“, drängte Erik ihn, was sich dieser nicht zweimal sagen ließ und sein Tempo erhöhte.

Schließlich erreichten sie das Ende der Treppe. Nach Luft schnappend lehnten sie sich an das Geländer. „Puh, das war anstrengender als erwartet!“, rief Christopher auf und trat zur Tür. „Wollen wir?“

Erik nickte und der Prinz drückte die Türklinke nach unten. Sie betraten das Burgzimmer, in dessen Mitte eine umgefallene Spindel stand. An der Wand stand ein Himmelbett mit dunkelrotem Bezug. Vorsichtig näherte sich Christopher dem Bett und entdeckte tatsächlich eine junge, schlafende Frau.

Blauschwarzes, glänzendes Haar umrahmte ein ebenmäßiges Gesicht. Lange Wimpern waren zu sehen und ein blutroter, sinnlicher Kussmund. Die Decke war halb verschoben, sodass er einen Blick auf die Hälfte ihres Oberkörpers erhaschen konnte. Eine wohlgeformte Brust war unter einem weißen Kleid versteckt. Er lächelte und strich durch ihre Haare.

„Wer kann so einer Schönheit denn nur so etwas antun?“, flüsterte er in ihr Ohr und beugte sich zu ihr herunter. „Es wird Zeit aufzuwachen, Dornröschen!“ Er näherte sich vorsichtig ihren Lippen. Und dabei verrutschte die Decke, sodass sie zu Boden fiel. Mit seinem Fuß schubste er die Samtdecke weg.

„Oh! Mein! Gott!“ Erik schrie erschrocken auf. „Christopher, sieh doch mal!“

Der Prinz sah irritiert auf und folgte Eriks Blick, der auf das deutete, was vor den Füßen des Bettes lag.

Ein junger Mann, möglicherweise in Christophers und Eriks Alter lag dort. Er trug ein Hemd, über welches er ein halbzugeknöpftes Sakko angezogen hatte. Sein Gesicht war recht hübsch, ein dünner Schnurrbart war über seiner Oberlippe. Seine Hose hatte er in Seidenstrümpfe gesteckt und dazu trug er braune Halbschuhe. Dieser Mann musste schon lange dort liegen, denn seine Kleidung entsprach nicht mehr dem heutigen Stil. Für Männermode interessierte sich Christopher nicht und so suchten seine Augen weiter nachdem, was Erik so erschreckt hatte.

Ein blutroter Fleck war auf der Brust des jungen Prinzen zu sehen. Christopher strich darüber und stellte fest, es war ein Loch. So, als hätte jemand mit der Hand da reingegriffen und etwas herausgeschnitten.

„Wer ist das bitteschön?“, fragte Erik nach. Er konnte Blut nicht sehen und blieb im Türrahmen stehen, während er krampfhaft versuchte, sich nicht zu übergeben. Als Christopher bemerkte, dass Erik den Anblick nicht ertragen konnte, schmiss er die Decke wieder über den Leichnam.

„Ich habe keine Ahnung!“, erklärte Christopher und trat von der Leiche weg. „Denkst du, er könnte auch schon versucht haben, die Prinzessin zu wecken?“

Erik zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung!“, meinte er und sah sich im Raum um, als plötzlich ein lautes Pochen an sein Ohr drang.

„Hörst du das?“, fragte er nach.

Christopher lauschte. „Der Herzschlag der Prinzessin!“ Er trat an sie heran und legte eine Hand auf ihre Brust. Das Herz pochte darunter, doch der Körper bewegte sich nicht. Verwundert knöpfte der Prinz das Oberteil des Kleides auf und legte ihren Oberkörper frei.

„Du sollst sie küssen, nicht flachlegen!“, rief Erik aus, doch Christopher winkte ihn her. Neugierig trat er zu den beiden ans Bett und entdeckte die Fäden, die quer durch die linke Brust genäht waren. „Was ist das?“, fragte er.

„Es wirkt, als hätte jemand etwas zugenäht!“, meinte Christopher und zupfte an einem Faden. Er stockte und blickte für einen Moment gedankenverloren in die Luft.

„Wusstest du, dass Feen keine Herzen besitzen? Sie atmen auch nicht und diese Schönheit hier scheint auch nicht zu schlafen!“, erklärte der junge Prinz.

„War es nicht eine Fee, die den Todesfluch in einen Hundertjährigen Schlaf gewandelt hatte?“, erinnerte sich Erik an das Märchen. „Du denkst doch nicht etwa, dass das dort eine Fee ist?“

„Mein Bauchgefühl sagt mir, dass dem so ist. Und wenn mir mein Gefühl etwas sagt, setze ich alles daran, die Wahrheit herauszufinden!“, meinte Christopher und zückte sein Schwert. „Schneiden wir das Herz heraus und finden es raus!“, sprach er grinsend und setzte die Schwertspitze an ihre Brust. Mit einer einzigen, raschen Bewegung trennte er die Fäden auseinander und griff mit seiner Hand ins Innere hinein.

„Bääh, das ist ja widerlich!“, rief Erik angeekelt aus, als Christopher seine Hand herauszog und tatsächlich ein pochendes, menschliches Herz herausholte. „Boah, mir wird schlecht!“

Christopher grinste. „Komm, so eklig ist das doch gar nicht!“

„Wenn du das nicht eklig findest, dann dreh dich doch mal um!“, meinte Erik angsterfüllt. Verwundert sah Christopher hinter sich. Die junge Frau hatte die Augen geöffnet und erhob sich nun langsam. Ihr schwarzes Haar fiel wie ein Schleier in ihr Gesicht und doch konnte Christopher ein diabolisches Lächeln erkennen. Vorsichtig trat er einen Schritt zurück.

„So, ihr seid also hinter mein Geheimnis kommen?“ Eine sanfte Stimme erfüllte den Raum und ihre blutroten Augen fixierten Christopher. Erik trat nach vorne, zitternd doch bereit, seinen Freund zu schützen.

„Meine Schwester hat euch gewarnt. Ihr hättet auf sie hören sollen!“, meinte sie lächelnd.

„Deine Schwester?“, erkundigte sich Erik. „Etwa, die Schneekönigin?“

„Ja, meine Schwester. Die weiße Fee, unter euch Menschen auch als Schneekönigin bekannt!“, erklärte sie nickend. „Und die einzige Fee, die sich nicht von mir abgewandt hat!“ Sie stand auf und trat achtlos auf den Leichnam, der vor ihr lag. Erstaunt blickte sie nach unten. „Ich hatte ganz vergessen, dass er dort lag. Nun ist es schon so lange her, dass ich ihn tötete. Vielleicht hätte ich seine Leiche schon früher loswerden sollen!“, überlegte sie laut.

„Was meinst du damit?“, wollte der Prinz wissen.

„Rate doch einfach!“, meinte sie mit einem kalten Lächeln im Gesicht. „So habe ich wenigstens Zeit mir eine Strafe für euch auszudenken. Dafür, dass ihr nicht in meine Falle geraten seid!“

Erik und Christopher warfen sich einen fragenden Blick zu. „Wenn du eine Fee bist, warst du dann die Fee, die die echte Prinzessin töten wollte?“, hakte Erik nach.

„Nein, das war ich nicht!“, entgegnete sie.

„Dann, dann warst du die, die den Fluch umgeändert hat, oder?“, kombinierte der Junge verwundert. „Aber weshalb hast du das dann getan?“

„Weil ich betrogen wurde!“, gab die schöne Fee zur Antwort. „Ich habe den Fluch geändert und war auf der Suche nach dem Mann, der den Fluch von ihr lösen würde.“

„Aber, du hast ihn nicht gefunden?“, fragte Christopher.

„Oh doch, ich fand ihn. Was meint ihr wohl, wer der Mann dort unten ist?“ Sie deutete mit ihrem nackten Fuß auf die Leiche.

„Er ist der Prinz gewesen!“, schlussfolgerte Erik. „Weshalb hast du ihn dann getötet?“

„Weil er mich betrogen hat!“, erklärte die Fee. „Ich habe ihn geliebt und trotzdem hat er dieses dumme Dornröschen gesucht und wollte sie zur Frau nehmen. Eine Frau, die er nicht einmal kannte. Ich jedoch war ständig für ihn dagewesen.

Also habe ich es herausgerissen, sein dummes, achtloses Herz und es mir eingesetzt. Und das Dornröschen selbst fiel in einen Schockzustand. Sie sieht immer und immer wieder, wie ich ihren Liebsten vor ihren Augen töte…“ Ein erbarmungsloses Lachen erfüllte den Raum. „Liebe ist etwas für Blinde. Das Gute existiert doch gar nicht. Und so habe ich jedes Mal die Legende der Schlafenden Schönheit verbreitet und darauf gewartet, dass irgendein dummer Jüngling ankommen würde und ich ihm wieder sein Herz herausreißen könne.

So ging es Jahrhunderte lang… Und dann musstet ausgerechnet ihr auftauchen!“ Etwas veränderte sich an ihr. Und eindeutig nicht zum Besseren. „Ihr musstet hier auftauchen und mir das Herz herausschneiden. Ohne Herz, wie soll ich dann meine Opfer einsammeln? Ich brauche es, also gebt es mir wieder!“ Und wie eine Schlange sauste sie nach vorne und schnappte mit ihren krallenartigen Fingern nach Christopher, der gerade noch zurückweichen konnte. Er umklammerte sein Schwert und hob es an, bereit sich einem Kampf zu stellen.

„Denkst du wirklich, dieses Spielzeug könnte mich aufhalten?“, lachte sie boshaft und flog wieder auf ihn zu. Gerade noch rechtzeitig wich der junge Prinz ihrem Angriff aus, doch geriet er dabei ins Stolpern und ließ beinahe das Herz fallen, welches er noch immer in seiner Hand hielt. Die Fee schnappte nach dem Organ und Christopher wurde klar, dass es ihr gar nicht um ihn ging, sondern viel mehr um das Herz. Im hohen Bogen warf er es Erik zu.

„Fang!“, rief er ihm zu. „Du weißt, was du damit zu tun hast!“ Verdutzt fing dieser es auf und die Fee griff nun ihn an, doch Christopher stellte sich dazwischen.

„Ich bin dein Gegner, also kehre mir nicht den Rücken zu!“, verlangte er und hob das Schwert in ihre Richtung.

Christopher schlug nach der Fee und ließ ihr keine Zeit. Er griff an, bluffte, parierte. Erik nutzte die Zeit und stürzte auf den Leichnam zu, der unter der Decke versteckt war. Ihm war klar, dass er das Herz wieder seinem rechtmäßigen Besitzer wiedergeben musste.

Er schlug die Decke weg und würgte, als er den Toten erblickte. So etwas war widerlich, einfach nur widerlich. Mit zitternden Händen drückte er das Herz in das Loch hinein.

„Wie kannst du es wagen?“, schrie die Fee verzweifelt, als sie sah, was Erik getan hatte. Er zog seine Hand zurück und kaum hatte er den Leichnam des toten Prinzen losgelassen, fing die Fee auf einmal an zu brennen.

Stumm sahen Christopher und Erik dabei zu, wie sich die Flammen um die Fee schlossen und sie schließlich verschwand. Eine Rose segelte zu Boden, dort wo sie stand.

„Ist es jetzt vorbei?“, fragte Erik nach und erhob sich.

„Ja, ist es!“ Christopher schob sein Schwert zurück in die Spitze. „Ich glaube, ich werde niemals heiraten.“

„Aber Heiraten ist etwas Wunderschönes!“, erklang auf einmal eine männliche Stimme. Ein junger Mann, der Prinz der dort zu Boden lag, schwebte vor ihnen. Er war durchsichtig und beiden war klar, dass dort ein Geist vor ihnen stand. Und durch die Tür kam ein zweiter Geist geschwebt. Eine junge Prinzessin, gekleidet in einem alten, zerrissenen Kleid. Sie schwebte auf den Prinzen zu und Erik und Christopher erkannten in ihr das echte Dornröschen.

„Vor allem, wenn man den heiratet, den man von ganzem Herzen liebt!“, sprach sie aus und berührte mit ihren Fingern das Gesicht des Prinzen. Sie drehte sich um und als Eriks Blick den ihren traf, erkannte er sie mit einem Male.

„Du warst das!“, rief er aus. „Du warst die Zigeunerin im Park! Und du warst diese Frau, die mir im Traum erschienen ist. Weshalb hast du mich gerufen?“

„Weil du der Einzige bist, der in der Lage war, den Fluch zu brechen!“, erklärte sie mit einem glücklichen Lächeln auf dem Gesicht. „Du und der junge Prinz hier. Gemeinsam habt ihr den Fluch gebrochen und uns endlich wieder vereint. Wir sind euch zu Dank verpflichtet!“

„Sag, wenn du mich hierher gebracht hast, kannst du mich dann auch wieder zurückbringen?“, wollte Erik wissen.

Dornröschen nickte. „Du musst das Amulett öffnen, dann wird es dich zurückbringen!“, erklärte sie ihm. „Jetzt wird es Zeit, sich zu verabschieden. Mein Liebster und ich waren schon viel zu lange voneinander getrennt.“ Und sie umarmte den Prinzen und beide lösten sich in Sternenstaub auf.

Erik und Christopher blieben alleine in dem Zimmer zurück.

„Du wirst jetzt auch gehen?“ Der Prinz blickte Erik fragend an.

„Ich muss!“, entgegnete dieser. „Ich gehöre nicht in diese Welt hinein, das weißt du. Und außerdem, mein Vater wartet auf mich. Du hast selbst gesagt, ich solle mit ihm reden!“

Christopher seufzte. „Ich weiß, und doch fällt es mir schwer, nun Abschied zu nehmen!“, gestand dieser.

Erik lächelte zuversichtlich. „Mir doch auch!“, gestand dieser. „Du bist wirklich ein guter Freund geworden. Und deshalb werde ich dich auch nie vergessen!“

„Tja, ich bin zu männlich, um jetzt los zu flennen!“, meinte Christopher grinsend und umarmte Erik. „Mach’s gut, du Spinner. Und solltest du mich vergessen, mach ich dir Feuer unterm Hintern!“

„Jemanden wie dich kann man nicht vergessen!“, entgegnete Erik lachend und öffnete das Amulett. „Auf Wiedersehen, Christopher!“
 

Er schlug die Augen auf.

Er saß auf der Parkbank, dort wo er sich hingesetzt hatte. Verwundert sah sich Erik um und stellte fest, dass es schon Abend geworden war. War er etwas eingeschlafen und hatte das Ganze nur geträumt?

Verwundert stand er auf und ging nach Hause. Den Weg über ließ er die Geschehnisse Revue passieren. War das alles tatsächlich nur ein Traum gewesen? Es hatte so real gewirkt.

Erik kam an und schloss die Tür auf. Stille empfing ihn, wahrscheinlich war sein Vater vor dem Fernseher eingeschlafen. Er wollte auf sein Zimmer gehen, doch als er an der Wohnzimmertür vorbeiging, sagte ihm ein Gefühl, dass er die Tür öffnen müsse.

Verwundert öffnete er die Türe. Alles wirkte so, wie es ausgesehen hatte, als Erik gegangen war. War das wirklich erst Stunden her? Es kam ihm eher vor, als wären schon Tage vergangen.

Und dann sah er ihn.
 

„Vater!“

Erik trat an das Bett. Sein Vater blickte ihn an und lächelte, als er seinen Sohn entdeckte.

„Du bist gekommen!“, sagte er und griff nach der Hand seines Kindes. „Das macht mich wirklich glücklich!“

Nachdem Erik abgehauen war, hatte sein Vater einen Anfall bekommen. Erik war fast schon zu spät gekommen, es war ein Wunder gewesen, dass sein Vater so lange durchgehalten hatte, hatten die Ärzte im Krankenhaus gemeint. Jedoch müsste sein Vater nun für mehrere Untersuchungen in der Klinik bleiben. Und außerdem eine Reha, um vom Alkohol runterzukommen. Es musste sich dringend etwas ändern.

„Ich weiß, du bist böse auf mich!“, meinte sein Vater. „Ich kann verstehen, wenn du mich nicht sehen wolltest!“ Er hustete laut. „Aber, ich muss dich darum bitten mir zuzuhören. Das ich dir verbieten wollte, an der Prüfung teilzunehmen, war dumm von mir. Ich weiß doch ganz genau, dass du das Zeug hast, diese Uni zu besuchen!“

„Und wieso hast du es dann getan?“, fragte Christopher verwundert nach. „Wieso wolltest du es mir verbieten?“

Sein Vater seufzte. „Weil ich Angst hatte, dass du dem Druck nicht gewachsen bist. Weißt du, du erinnerst mich oft an deine Mutter. Auch sie war klug und wollte auf die beste Universität im Lande. Wir lernten uns durch Zufall kennen und verliebten uns ineinander. Ich war bloß der dumme Fußballspieler von nebenan. Nicht halb so klug wie sie. Und doch, sie entschied sich ausgerechnet für mich. Damals hielt ich es für das Schönste und Beste, was mir je geschehen konnte. Heute bereue ich es, dass sie sich für mich entschied, denn dann würde sie noch am Leben sein… Als sie erfuhr, dass sie schwanger war, war es ein schrecklicher und wundervoller Moment zugleich für mich. Denn diese Schwangerschaft zog sie runter. Sie hielt dem Druck nicht mehr stand und bei der Prüfung verlor sie ihr Bewusstsein und schwebte in Lebensgefahr…

Sie mussten dich rausholen, denn sonst hättest du nicht überlebt. Jedoch…“ Seine Stimme versagte und Tränen füllten sich in seine Augen.

„Mutter hat es nicht überlebt?“, fragte Erik nach.

„Ja!“, nickte sein Vater. „Es konnte nur einer von euch beiden überleben. Und sie hat sich für dich entschieden.“

Erik atmete erschrocken ein. Er wusste, dass seine Mutter wegen ihm gestorben war. Doch nicht, dass sie eine Wahl gehabt hätte und sich für ihn entschieden hatte.

„Ich war dumm und blind und habe keinen anderen Weg gesehen, als zu trinken. So konnte ich den Schmerz vergessen, doch wenn ich nüchtern war, war der Schmerz auch wieder da. Und du hast gelernt, auf eigenen Beinen zu stehen. Weil dir gar nichts anderes übrig blieb. Wie oft hast du gelogen? Und das nur um nichts über mich zu verraten? Dabei war ich dir so ein schlechter Vater.“ Er weinte und drückte Eriks Hand. „Bitte, mein Sohn kannst du mir denn verzeihen?“

Erik nickte weinend. „Ja, Vater. Das kann ich!“
 

Das Taxi hielt und Erik zahlte dem Fahrer die Summe, die dieser ihm nannte. Er stieg aus und trat auf das große, moderne Gebäude zu. Tief einatmend ging er auf den Campus zu. Heute würde er seine Prüfung abhalten. Und er hatte sich vorgenommen, sie mit Bestnoten zu bestehen.

An das moderne, fast nur aus Glas bestehende Gebäude fügte sich ein altes Bauwerk an. Dieses ehemalige Schloss war zur zur Universität umgeändert worden. Das Gebäude stammte aus dem 14. Jahrhundert und war an einigen Stellen schon verbessert worden, der Stil war jedoch gleich geblieben. Auf dem Campus liefen Studenten und Studentinnen und beachteten ihn kaum. Wenn er das Stipendium bekommen würde, würde auch er zu dieser Gemeinschaft gehören. Erik lächelte zuversichtlich. Er würde alles geben.

Vor ihm ging ein junger Student mit schwarzen Haaren. Erik rannte auf ihn zu. „Entschuldigung, kannst du mir sagen, wie ich zu Gebäude C, Raum 309 komme?“, sprach er ihn an.

„Na klar!“ Der Student drehte sich um und Erik erschrak, als er in die blauen Augen sah, die ihm so bekannt vorkamen. „Du bist wohl wegen der Aufnahmeprüfung hier, oder?“

„Ja!“ Erik nickte verdutzt. „Ähm, und du?“

„Ich bin schon seit einem Jahr hier auf der Universität!“, erklärte der junge Student. „Übrigens, mein Name ist Chris!“
 

The End



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Kommentare zu dieser Fanfic (1)

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Von:  Naenia
2013-02-15T13:54:05+00:00 15.02.2013 14:54
Zunächst möchte ich mich nochmal für diese Wichtelgeschichte bedanken - Ich hab mich wirklich gefreut, als ich gesehen habe, wie viel Mühe du dir gemacht hast, um meine Wünsche zu erfüllen :)
Besonders schön fand ich die Formatierung der Geschichte, als ich sie als PDF bekommen habe. Der Anfang war toll und hat sofort neugierig auf mehr gemacht, auch die Bilder haben die Geschichte schön unterstützt. Ein paar Dinge haben allerdings den Lesefluss gestört: da waren einige Tippfehler, dann gab es wechselnde Anführungszeichen.

Im ersten Kapitel hast du den Charakter von Erik vorgestellt und mit ihm einen der Protagonisten eingeführt. Ich hatte am Anfang wirklich keine Idee, wo das hinführen sollte und war ganz überrascht, wie sich dann alles mit ihm entwickelte :)
Überraschend und wirklich toll fand ich die Art, wie du den Prinzen in die Geschichte miteingebracht hast: Aus der Sicht von Drisella. Diese Perspektive habe ich fast am liebsten gelesen.

Ich werde natürlich auch die noch folgenden Kapitel kommentieren, wenn du weiter hochlädst. Daher habe ich jetzt nur ein bisschen was zum ersten Kapitel gesagt ;)
Antwort von:  CharleyQueens
15.02.2013 16:21
Hey ^^
Vielen lieben Dank für deinen ersten Kommentar. Es freut mich, dass dir das Kapitel gefallen hat und auch, dass die Idee mit den Bildern gut angekommen ist.
LG, Lilim


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