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Yoyogi

Tsuzuku & Meto
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Und weiter geht's!

In diesem Kapitel geht es vor allem um Tsuzuku und darum, warum er so ist, wie er ist. Seine Gründe wirken vielleicht nicht so krass wie das, was Meto mitgemacht hat, aber einfach hatte er's auch nicht.
Aber, wie immer bei mir, gibt's zu dem Drama auch wieder ein kleines Zuckerl. Meto kann schon seeehr süß sein...

enjoy reading ^^
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Wataba Genki

Wieder vergingen für Tsuzuku ein paar Tage mit Arbeit im Tanaka. Seine anhaltend gute Laune fiel allen seinen Kollegen auf, doch auf ihr neugieriges Nachfragen antwortete er nur: „Freut euch einfach, dass es mir gut geht und dass ich arbeite.“

Zu Hause intensivierte er sein Gesangstraining, suchte nach immer neuen Songs und Tutorials und übte bis in die Nacht. Einmal klopfte seine Nachbarin aus der Wohnung darunter, eine ältere Dame mit drei Katzen, an seine Tür und bat ihn mehr oder weniger freundlich darum, zu so später Stunde (es war halb elf) doch endlich mit dem „Geschrei“ aufzuhören. Er entschuldigte sich und als er sie am nächsten Morgen mit zwei schweren Einkaufstaschen auf der Treppe traf, half er ihr kurzentschlossen dabei, diese bis zu ihrer Wohnungstür zu tragen. So etwas war eigentlich überhaupt nicht seine Art, doch er fühlte sich seit dem Auftritt im Yoyogi so entspannt, dass seine Sozial-Angst und alles, was damit zusammenhing, sich weiterhin irgendwo im Urlaub befanden.
 

Währenddessen ging Meto weiterhin seinem gewohnten Tagesablauf nach. Lernen, Schlagzeug üben, Essen, Lesen, weiterlernen, wieder üben.

Nach dem Auftritt war er mit gemischten Gefühlen nach Hause gekommen, zumal sein Vater ihn gleich an der Tür empfangen hatte. Doch statt ihm Druck und Vorwürfe zu machen, hatte dieser den langen Zettel, auf dem Meto ihm von dem Auftritt berichtete, aufmerksam gelesen und dann anerkennend gesagt: „Dann hast du dich jetzt also endlich gekümmert. Weißt du, Meto, nichts anderes wollten wir von dir. Wenn du gern professionell Schlagzeug spielen willst, dann bleib da dran. Es besteht bei deinem Talent immerhin die Chance, dass da wirklich etwas draus wird. Deine Mutter und ich, wir unterstützen dich auf jeden Fall.“

Meto hatte gelächelt und war dann sofort im Keller verschwunden, um weiter zu üben.

Es lief also ziemlich gut in seinem Leben.
 

Bei Tsuzuku dagegen war es nach ganzen vier Tagen bester Laune wieder vorbei. Nicht etwa, weil seine Motivation nachließ, nein, vielmehr brachte ihn etwas, das am Donnerstagabend auftauchte, plötzlich aus der Bahn.

An diesem Abend klingelte das Telefon. Allein das kam recht selten vor, denn Tsuzuku hatte kaum jemanden, der ihn darüber anrief. Mit seinen Kollegen aus dem Tanaka telefonierte er, wenn es einmal notwendig war, über Handy oder schrieb Nachrichten, und so gab er seine Festnetznummer so gut wie nie heraus. Deshalb ahnte er bereits, als er das Läuten des Telefons im Flur hörte, dass es eigentlich nur eine Person gab, die ihn auf diese Weise kontaktierte. Zwar leuchtete die Nummer des Anrufers auf dem Display, doch er sah bewusst nicht hin.

„Wataba hier“, meldete er sich knapp.

Am anderen Ende war ein leises Lachen zu hören. „Also wirklich, Genki! Hast du meine Nummer immer noch nicht im Telefonbuch? Das sind doch nur ein paar Zahlen, die kannst du doch mal eben eingeben!“ Es war nicht zu fassen. Schon im ersten Satz schwang ein spöttischer, kaum verborgener Vorwurf mit, alles Weitere gab Tsuzuku schon fast den Rest, bevor er der weiblichen Stimme am anderen Ende der Leitung überhaupt mit einem frostigen „Hallo, wie geht’s?“ antworten konnte.

„Mama. Wieso rufst du an?“, fragte er, nachdem er innerlich bis zehn gezählt und den ersten Schwall Spott und Vorwürfe heruntergeschluckt hatte.

„Ich wollte mal hören, was du so machst in Tokyo. Du hast dich lange nicht mehr gemeldet, Junge.“

Junge. Sie nannte ihn immer noch Junge! Als würde sie seit Jahren ignorieren, dass er längst über zwanzig und somit definitiv erwachsen war. Und genau genommen tat sie das auch. Sie ignorierte beinahe alles an ihm. Es interessierte sie einfach nicht, weshalb er vor sechs Jahren nach Tokyo gezogen war, welcher Arbeit er nachging, was für ein Leben er hier führte. So, wie es sie noch nie interessiert hatte. Ihre Frage „Was machst du so?“ war nichts weiter als die Suche nach etwas, womit sie ihn weiter sticheln und sich darüber amüsieren konnte.

„Mir geht’s gut“, erwiderte er knapp und hätte am liebsten ein zynisches „Was interessiert dich das auf einmal?“ hinterhergeschoben. Doch das verbiss er sich, wie eh und je. Noch nie hatte er seiner Mutter eine ihrer bissigen Bemerkungen zurückgezahlt. Er schluckte einfach jedes ihrer Worte, konnte bei ihr nicht anders. Wenn er mit Kollegen stritt (das war in seinem Job vor dem im Tanaka öfter vorgekommen), dann war es ihm leicht gefallen, Kontra zu geben, den anderen zu verletzen und sich anschließend durch Flucht aus der Affäre zu ziehen. Er hatte seine harte Schale ausgespielt, mit der er sich ganz gut verteidigen konnte. Doch nicht gegen seine Mutter.

Saeko Wataba war eine Frau, die sich wenig bis gar keine Gedanken darum machte, was ihre Bemerkungen bei anderen Menschen anrichteten. Sie redete, wie es ihr einfiel, und meistens hatte sie für alle anderen nur Spott und ihr verletzendes, leises Lachen übrig. Insbesondere für ihren einzigen Sohn. Tsuzuku wusste nicht sicher, ob es nicht vielleicht diese unsensible Art seiner Mutter war, die ihn unauslöschlich geprägt und zu dem unsozialen, komplizierten Menschen gemacht hatte, der er heute war. Aber er vermutete es. Sie war die einzige, die seine gesamte Kindheit und Jugend in seiner Nähe gewesen war und ihn tagtäglich mehr oder weniger mit ihrem taktlosen Verhalten traktiert hatte. Eigentlich hätte sie ihm beibringen sollen, wie man mit Menschen umging, doch das hatte sie nicht getan und so hatte Tsuzuku sich alles selbstständig beibringen müssen. Nur leider war ein Kind, später ein einsamer Jugendlicher, dazu kaum selbst in der Lage, weshalb das Ergebnis nun einem schiefen, aus abgerissenen Fäden gewebten Fetzen Stoff glich. Einem Stofffetzen, der deshalb die falsche Form hatte und nirgends wirklich passte.

„Hast du wieder Arbeit gefunden, Genki? Als ich dich letztes Mal fragte, hattest du keine“, stichelte sie weiter und fand sich selbst dabei wahrscheinlich auch noch humorvoll.

„Ja, in einem Restaurant, als Kellner“, erwiderte er und war froh, dass seine Mutter sein Gesicht nicht sehen konnte. Selbst ihr wäre aufgefallen, wie kalt seine Augen wurden, und als er versehentlich in den Garderobenspiegel blickte, erschrak er selbst darüber.

„Ich wollte dich nämlich mal besuchen kommen. Vorausgesetzt, du hast eine anständige Wohnung, aber die wirst du dir ja wohl leisten können, wenn du einen Job hast, oder?“

Tsuzuku knallte den Hörer beinahe schon reflexartig zurück auf die Ablage. Die schwarze Nummer auf dem Display verschwand. Saeko hörte jetzt sicher jenes gleichförmige „Tuut, tuut, tuut,…“, das anzeigte, dass ihr Sohn das Gespräch als Reaktion auf ihre Frage abgebrochen hatte. Aber ob sie einsah, warum er auf keinen Fall wollte, dass sie ihn besuchte, war mehr als fraglich. Sie hatte fünfundzwanzig Jahre lang nicht verstanden, was in Genki vorging, warum also sollte sich das jetzt noch einmal ändern.

Mit einem gequälten Seufzen ließ Tsuzuku sich auf die Couch fallen. Seine gute Laune der letzten Tage war verflogen und er hasste seine Mutter dafür, dass sie mitten in die beste Zeit seines Lebens geplatzt und ihm wieder einmal alles verdorben hatte. Er schaltete den Fernseher ein, doch dort liefen auf fast allen Sendern entweder Nachrichten oder schlechte Dorama. Also stellte er das Gerät wieder ab, knallte die Fernbedienung auf den Couchtisch und zog sein Handy aus der Hosentasche. Tippte mit den Fingern darauf herum, bis Metos Nummer auf dem Display erschien und starrte die lange Reihe von Zahlen eine ganze Weile an. Doch da er keine Ahnung hatte, wie er das, was gerade passiert war, in eine SMS verpacken sollte, und davon ausging, dass Meto eher nicht telefonieren wollen würde, legte er das Handy schließlich beiseite, zog sich eine dünne Jacke über und verließ die Wohnung in Richtung eines kleinen Parks, der zwischen den dicht gedrängten Häusern von Ichigaya eine winzige Oase bildete. Er setzte sich auf eine der Bänke und da sonst niemand im Park war, den er hätte beobachten können, legte er den Kopf in den Nacken, sah ins dichte Blätterdach über ihm und lauschte dem Rauschen des Windes in den Bäumen.

Doch er kam nicht zur Ruhe. Immer wieder gingen ihm die, wie Nadeln gespitzten Worte seiner Mutter durch den Kopf. Warum hatte sie sich ausgerechnet heute melden müssen?! Gerade jetzt, wo er so einen großen Schritt nach vorn gemacht hatte! Manchmal, wenn sie sich lange nicht meldete, vergaß er sie fast und damit auch ihre Bemerkungen und in taktlosen Witzen verpackten Vorwürfe. In den letzten Wochen, genau genommen seit dem er Meto kannte, hatte er nicht einen Gedanken an sie verschwendet und war damit vollauf glücklich und zufrieden gewesen. Das familiäre Gefühl, dass ihm von ihr völlig fehlte, hatte er nun von anderer Stelle bekommen und das war gut so. Auch, wenn er Meto nicht in dem Sinne als seine Familie bezeichnen konnte, so war es doch dessen Freundschaft und die Ähnlichkeit zwischen ihnen, die ihm zum ersten Mal wirklich ein tiefes Gefühl von Zugehörigkeit zu einem anderen Menschen gegeben hatte.

Er wünschte sich, dass Meto da wäre, sich neben ihn setzte, seine kleine Hand auf seinen Arm legte und ihn spüren ließ, dass er nicht allein war. Und mit jedem Moment, den er länger in den leeren Park vor sich starrte und versuchte, den Anruf seiner Mutter, die er bei sich nur noch Saeko nannte, zu vergessen, wurde sein Wunsch, darüber zu sprechen, größer. Er musste das irgendwie loswerden, teilen, abladen bei jemandem, dem er bedingungslos vertrauen konnte. Und da gab es nun einmal nur Meto.

Tsuzuku stand auf, verließ den Park und kehrte in seine Wohnung zurück. Sein Handy lag einladend auf dem Sofa, schien regelrecht Metos Nummer zu flüstern, doch wieder wusste Tsuzuku nicht, wie er entweder per Nachricht oder über Telefon erklären sollte, was ihm durch den Kopf ging.

Schließlich nahm er das Handy und schrieb: „Meto, hast du Zeit, kann ich zu dir kommen? Tsu.“

Und als hätte sein Freund nur darauf gewartet, dass er sich meldete, kam sogleich die Antwort: „Ja, klar, bin sowieso gerade allein zu Hause.“

Er nahm seine Jacke, packte die üblichen Kleinigkeiten ein und machte sich auf den Weg nach Adachi. Im Zug kamen ihm Zweifel. Er konnte doch Meto, der genug Probleme mit sich selbst hatte, nicht mit seinen eigenen belasten! Erst recht, weil dessen Familienleben offenbar recht gut und gesund war.

Doch er hatte sich jetzt auf den Weg gemacht und die Alternative „Allein sein“ hielt er schon in der Vorstellung nicht aus.

„Ich muss ihm ja nicht alles erzählen“, sagte er sich, als er schließlich vor der Tür des hübschen Einfamilienhauses stand und den Klingelknopf über dem Namensschild „Maeda“ drückte.

Meto empfing ihn an der Tür (in denselben lässigen Kleidern wie letztes Mal) und schien sofort zu bemerken, dass etwas nicht stimmte.

„Komm rein. Wie gesagt, ich bin allein zu Hause“, sagte er, als hätte er nie aufgehört zu sprechen. Tsuzuku wusste, dass das nur ihm gegenüber so war, doch trotzdem war es ein Fortschritt. Sie gingen in sein Zimmer und Tsuzuku setzte sich wieder auf den Schreibtischstuhl. Meto räumte ein paar Bücher und Zeichnungen vom Bett, setzte sich dann dort mit gekreuzten Beinen hin und nahm Ruana in den Arm.

„Magst du drüber reden? Ist vielleicht gut“, sagte er.

„Ach, eigentlich ist das nichts weiter… Viel wichtiger ist: Klappt’s bei dir, mit deinen Eltern und so?“, fragte Tsuzuku zurück.

„Ja, alles prima. Ich glaube, sie haben verstanden, was ich will, jedenfalls wollen sie mich unterstützen. Aber jetzt erzähl! Was ist los?“

Tsuzuku sah Meto nicht an, doch er spürte den unnachgiebigen Blick seines Freundes und so gab er schließlich auf. „Weißt du, Meto, ich wäre echt froh, wenn ich solche Eltern wie deine hätte. Die interessieren sich anscheinend echt und ehrlich für dich, obwohl du bist, wie du eben bist. Da kannst du wirklich glücklich drüber sein.“

„Bin ich auch. Aber… bei dir sieht’s wohl anders aus?“

„Ich hab nur meine Mutter. Und die ist…“, sein Herz klopfte aufgeregt, war es doch das erste Mal, dass er mit jemandem wirklich darüber sprach, „…nicht gerade das, was man sich unter einer netten Mama vorstellt. Sie ist… man nennt das wohl unsensibel. Es interessiert sie nicht, ob sie einen mit dem, was sie sagt, verletzt oder so. Und das meiste, was sie sagt, ist halt ziemlich gemein. Vorhin hat sie mich zum ersten Mal seit einem halben Jahr angerufen, nur um mich runterzumachen und mir wieder klarzumachen, dass sie mich für einen unfähigen Jungen hält.“

„Oh. Aber da hat sie überhaupt nicht Recht! Und das weißt du doch, oder?“

„Ja, im Grunde weiß ich das. Aber trotzdem bin ich jedes Mal, wenn sie mich anruft, wieder niedergeschlagen und… manchmal frage ich mich dann schon: Was kann ich eigentlich?“ Obwohl er sich dagegen wehrte, sprangen ihm Tränen in die Augen. Er versuchte, sie wegzublinzeln.

Meto beugte sich ein wenig vor, die Augen leicht verengt. „Du kannst singen, Tsuzuku! Und du arbeitest im Restaurant, obwohl du nicht gut mit Menschen kannst! Das kann dir keiner wegnehmen, hörst du, auch deine Mutter nicht, wenn sie doch so gemein zu dir ist!“ Gerade, weil er so glücklich darüber war, liebe und verständnisvolle Eltern zu haben, machte es ihn umso wütender, dass Tsuzuku von seiner Mutter so mies behandelt wurde.

„Ihr Lieblingssatz ist „Du wirst das ja wohl können, Genki!“, so nach dem Motto, wenn ich mal irgendwas nicht kann, bin ich ein kompletter Idiot.“

„Genki?“, fragte Meto. „Ist das dein richtiger Name?“

Tsuzuku nickte. „Genki Wataba.“

„Deinen Nachnamen weiß ich schon, der steht ja auf dem Schild an deiner Tür.“ Meto zögerte kurz, dann fügte er hinzu: „Ich heiße eigentlich Haruka. …Aber ich mag den Namen nicht.“

„Klingt auch wie ein bisschen wie ein Mädchenname.“

„Nicht deshalb.“ Das ging schon wieder in diese Richtung. Und noch war Meto nicht so weit, seinem Freund von der ganzen Hikikomori-Geschichte zu erzählen, also blockte er ab.

Wie eine nicht enden wollende Tonkassette spielte sich derweil in Tsuzukus Kopf immer wieder das ab, was seine Mutter zu ihm gesagt hatte. Dazu ältere Dinge, die bei ihm tiefe Verletzungen hinterlassen hatten. Saekos Unsensibilität hatte zu manchen Zeiten in seinem Leben kaum Grenzen gekannt, und besonders schlimm war es gewesen, kurz bevor er mit neunzehn von zu Hause ausgezogen war. Wenn er mit anderen Schwierigkeiten gehabt hatte, meist weil er (ja auch durch ihre Schuld) eben nicht sonderlich sozial war, und damit nach Hause gekommen war, hatte es statt Trost und Bestätigung nur wieder diese taktlosen Bemerkungen gehagelt, die seine Mutter auch noch wirklich für humorvoll zu halten schien. Er wäre schon mit Ignoranz vollkommen zufrieden gewesen.

All das kam immer dann wieder hoch, wenn sie ihn angerufen hatte, egal wie lange das Gespräch dann dauerte. Saeko brachte es fertig, ihren Sohn schon im ersten Satz mit ihren Worten niederzuschlagen.

Tsuzuku blinzelte hastig, doch die Tränen waren zu schwer, zu viele, um sie auf diese Weise unauffällig am Heruntertropfen zu hindern. Er stützte den Kopf auf die Hände, schwere Schluchzer stiegen in ihm auf, die er unmöglich unterdrücken konnte. Es kam einfach alles raus.

„Nicht weinen, Tsuzuku.“ Meto war aufgestanden und hatte seine Arme um ihn gelegt. „Du musst nicht mehr traurig und allein sein. Du hast Ruana und mich, und wir haben dich gern.“ Er hielt ihm den Teddy vors Gesicht und ließ Ruana mit süß verstellter Stimme sprechen: „Ruana Tsu lieb. Tsu nich weinen! Tsu viel schöner, wenn er lacht!“ Zum ersten Mal gab Meto seinen Teddy aus der Hand, drückte ihn Tsuzuku in die Arme und sagte leise: „Ruana-chan ist die weltbeste Tröste-Freundin.“

Vorsichtig drückte der Ältere den Bären an sich. Und verstand auf einmal, warum Meto sie immer und überall dabei hatte. Irgendwie schaffte es dieses flauschige Stück Stoff mit den großen, schwarzen Knopfaugen und dem locker sitzenden Kopf, dass man sich gut und sicher fühlte.

„Weißt du, Tsu, du kannst gern öfter hier vorbeikommen und auch gerne mit uns essen. Meine Eltern mögen dich, ich hab ihnen geschrieben, wie gut es mir geht, seit du da bist.“

„Wissen sie, dass du mit mir sprichst?“

Meto nickte. „Mein Vater sagt, das ist okay, und er meinte, dass es irgendwas mit Erwachsenwerden und Abnabelung und so zu tun hat. Vielleicht ist das ja so. Ich wende mich dir zu und von meinen Eltern ab, weil das so sein muss.“

„Nur, dass ich etwas älter bin als du…“

„Das ist mir ganz egal. Es zählt doch, dass du mein Freund bist.“ Meto lächelte und hielt ihm ein Taschentuch hin. „Hier, dein Kajal ist ganz verschmiert.“

Tsuzuku stand auf und ging zum Spiegel, der an der Tür von Metos Kleiderschrank hing. Tatsächlich, sein dunkles Augen-Make-up hatte sich bis auf seine Wangen verteilt und ließ ihn noch trauriger aussehen, als er war. Während er versuchte, die Farbe mithilfe des Taschentuchs wegzubekommen, sah er im Spiegel, dass Meto in seinem auf dem Bett herumliegenden Kosmetiktäschchen kramte.

„Wenn du magst, mach ich dir ein neues“, sagte der Jüngere und zog Make-up-Entferner, Flüssigkajal und Lidschatten aus dem Täschchen. Tsuzuku setzte sich zu ihm auf die Bettkante und Meto befahl: „Augen zu!“ Es war nicht das erste Mal, dass er jemanden schminkte. Seine ersten Schminkversuche hatte er mit Kasumi gemacht, er hatte sie geschminkt und sie ihn.

„So, jetzt siehst du wieder schön aus“, sagte er schließlich.

Tsuzuku sah in den Spiegel. Meto hatte ihm ein Make-up wie zum Ausgehen in Shinjuku verpasst, schwarz, dunkelblau und sogar mit kleinen Glitzerpartikeln. Der Jüngere zog sein Handy hervor.

„Lächeln, Tsu!“ Und schon gab die Kamera ihr charakteristisches Klicken von sich. Es war das erste Bild, das Meto von seinem Freund machte, und es folgten gleich noch ein paar weitere, so lange, bis er Tsuzukus hübsches Lächeln eingefangen hatte.

Auf einmal legte Meto das Handy rasch weg, beugte sich vor, bis sein Gesicht ganz nah an Tsuzukus war, und sah ihn lange an. Dann hob er langsam die Hand und strich dem Älteren die schwarzen, stufigen Haare aus dem Gesicht. „Weißt du eigentlich… wie wunderschön du bist?“

Natürlich wusste Tsuzuku, dass er gut aussah. Immerhin verwendete er viel Sorgfalt auf sein Äußeres, und auch, wenn es ihm sonst oft fehlte, in Bezug auf sein Aussehen hatte er das Selbstbewusstsein, sich selbst als gutaussehend zu bezeichnen. Sein Körper und seine Stimme waren nämlich so ziemlich das einzige, was er an sich wirklich mochte.

Aber irgendetwas daran, wie Meto diese Frage aussprach, war anders. Es bezog sich nicht auf ein hübsches Gesicht, einen schlanken Körper oder helle Haut, sondern meinte etwas anderes. Und obwohl Tsuzuku noch nicht ganz erfasste, wie Meto diese liebevolle Frage genau meinte, so bauten die Worte doch sein durch Saekos Anruf angeschlagenes Selbstwertgefühl wieder auf.

Meto sah ihm noch einmal direkt in die Augen. „Okay, du bist wiederhergestellt“, sagte er dann. „Deine Augen leuchten. Aber weißt du, was du tust, wenn du gleich nach Hause fährst? Du machst dir im Zug Musik auf die Ohren, ganz laut, und dann machst du die Augen zu und stellst dir vor, dass du auf einer Bühne stehst und singst. Und wenn du zu Hause bist, übst du singen, bis du todmüde ins Bett fällst.“ Das war die längste Rede, die Tsuzuku bisher aus Metos Mund gehört hatte. Und, soweit er sich erinnern konnte, auch der erste Ratschlag, den ihm der Jüngere gab.

„Und du meinst, das bringt was, damit ich Saeko wieder vergesse?“

„Ich hab das früher oft gemacht. Wenn… wenn es um mich herum dunkel geworden ist… dann bin ich runter in den Keller und hab Schlagzeug gespielt wie ein Verrückter. Glaub mir, das wirkt. Aber du musst es richtig machen, nicht nur so’n bisschen.“

„Dann muss ich meine Nachbarn aber vorher warnen.“

„Mach das. Und wenn du’s ihnen erklären musst, sag: Es ist wie bei einem Gewitter. Einmal knallt’s richtig, aber danach ist die Luft sauber und man kann wieder frei atmen.“

Tsuzuku musste zugeben, dass er doch ein wenig überrascht war. Offenbar steckten eine Menge guter, geradezu weiser Gedanken in Metos Kopf und er ließ die jetzt einen nach dem anderen nach zwei Jahren Schweigen wieder heraus.
 

Als er dann wieder im spätabendlich halbleeren Zug nach Ichigaya saß, befolgte Tsuzuku den Ratschlag seines Freundes, setzte sich auf einen etwas abgelegenen Platz und hörte GazettE bei fast voller Lautstärke. Und statt wie sonst auf die vorbeihuschende Stadt zu blicken, legte er den Kopf zurück, schloss die Augen und stellte sich vor, wie er auf einer großen Bühne stand und sang. Der Wahnsinn, ein totales Hochgefühl! Meto hatte Recht, das tat wirklich gut.

Als er eine Station vor Ichigaya die Augen wieder öffnete, weil das letzte Lied auf seiner Playlist gelaufen war, bemerkte Tsuzuku, dass ihm gegenüber wohl schon seit einiger Zeit ein Mädchen in blau-gelb-weißer Mittelschuluniform saß und ihn neugierig ansah.

„Gazetto?“, fragte sie.

„W-woher weißt du…?“, gab Tsuzuku verwirrt zurück.

„Sie haben die Lippen bewegt und ich hab den Song daran erkannt. Tolle Musik, klasse Band. Und Sie? Sind Sie auch Sänger?“

„Ich? Wieso?“

„Sie sehen so gekonnt aus. Also, sind Sie Sänger?“

Tsuzuku dachte an den Auftritt mit Dis:Hana, an das Karaoke vor ein paar Wochen und an die vielen Stunden, die er mit Üben verbrachte. „Ja“, antwortete er, „bin ich.“

Der Zug hielt, das Mädchen stand auf und sagte: „Vielleicht hört man ja von dir?“ Dann stieg sie aus und verschwand in der Bahnstation.

Dieses kurze Gespräch hatte Tsuzuku ein klein wenig aus der Fassung gebracht und so schaute er bis Ichigaya doch wieder aus dem Fenster. Als der Zug hielt und er nach den üblichen fünfzehn Minuten Fußweg seine Wohnung wieder erreicht hatte, schrieb er mit roten Zeichen auf einen großen Zettel: „Bitte entschuldigen Sie, aber heute Abend gibt es ein Gewitter. Morgen ist dann die Luft wieder klar.“ Er heftete das Blatt mit zwei Klebestreifen an seine Wohnungstür und kramte dann aus einer Schublade im Wohnzimmerschrank eine Mappe, gefüllt mit losen Blättern: Seine etwa zwanzig selbstgeschriebenen Songs. Nur zwei von ihnen hatten bis jetzt eine echte Melodie und mit diesen beiden wollte er sich heute Abend befassen.

Und wieder behielt Meto Recht: Die Arbeit an Songs, das Singen, Musik im Allgemeinen, all das sorgte dafür, dass Tsuzuku für den Rest des Abends nicht einen Gedanken an Saeko verschwendete und als er nach dem Üben tatsächlich völlig müde ins Bett fiel, träumte er wieder von der Bühne. In diesem Traum waren die Klänge der Drums besonders intensiv und er erkannte Metos Art zu spielen in ihnen wieder, obwohl kein anderer Mensch außer ihm selbst im Traum vorkam.


Nachwort zu diesem Kapitel:
So, das war Tsu's Drama-Kapitel. Ich hoffe, es hat euch gefallen.

Nächstes Mal seht ihr MiA wieder und es geht auch ein bisschen voran in Sachen Musik und so.

Bis dann ^^
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Kommentare zu diesem Kapitel (5)

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Von: abgemeldet
2014-10-20T15:30:16+00:00 20.10.2014 17:30
Tolles Kapitel, bin begeistert.^^
Die Chara bringst du so gut rüber, dass finde ich echt toll.^^

Lg^^
Antwort von: Harulein
21.10.2014 06:32
Dankeschöön! ^_^
Von: Futuhiro
2014-08-02T12:16:29+00:00 02.08.2014 14:16
Wouw, tiefsinniges Kapitel, gefällt mir gut.
Mein erster Gedanke war ja <Du Depp, wieso bist du auch ans Telefon rangegangen ...> Aber gut, man kann seiner Vergangenheit nicht ewig ausweichen. Das Kapitel kam mir inhaltlich gut recherchiert vor. Tsuzuku hatte ja mit seiner Mutter wirklich kein einfaches Leben, obwohl sie sich wohl heutzutage wieder ganz gut versöhnt haben sollen.

Über den Kommentar <Das klingt ja auch wie ein Mädchenname> musste ich lachen. Das war ein derart kläglicher Versuch von Tsuzuku, die Situation irgendwie zu retten. XD
Antwort von: Harulein
02.08.2014 14:55
Haha, nein, die Geschichte ist null recherchiert, da bin ich ganz ehrlich. *lach* Ich hab diese Mutter-Sohn-Problemgeschichte teilweise aus einem Roman "übernommen", den ich da gerade vorher gelesen hatte.
Antwort von: Futuhiro
02.08.2014 14:59
Witzig. ^^
Ja, aber Tsuzuku war mit seiner Mutter tatsächlich ziemlich im Krawall und ist auch sehr frühzeitig ausgezogen oder wurde rausgeschmissen. So ein bischen von beidem, vermutlich.
Von:  Tesla
2014-05-20T05:03:58+00:00 20.05.2014 07:03
Sehr schönes Kapitel. Ein bisschen au. Weil ich wage die Behauptung das tsu ( rein aus den Interviews) seine Mama eigentich recht gern hat und sie ihn auch unter stützt. Auch wenn sie für eine Japanerin einen recht alternativen Lebensstil gewählt hat. Aber da weiß man wo es herkommt. Aber es passt trotzdem sehr gut und meto... Gott wie niedlich. Der kann ja ein richtiger kleiner Philosoph sein.
ich bleibe also gspannt auf das nächste kapi.
Antwort von: Harulein
20.05.2014 17:42
Die ganze FF ist ja ziemlich AU (z.B. auch in Bezug auf MiAs Band und so weiter), und die Idee, dass Tsu hier nicht so gut mit seiner Mam kann, ist aus einem Roman übernommen, wo eine der Hauptcharas in 'ner ähnlichen Lage ist. Ich werde das irgendwo später auch noch mal ausführlicher beleuchten, bzw. Saeko nochmal vorkommen lassen.
Und Metochen... ich hab bei ihm irgendwie die Vorstellung, dass er sich so seine ganz eigenen Gedanken um die Welt und die Menschen macht.

Antwort von:  Tesla
20.05.2014 17:48
War ja jetzt auch keine Kritik. Nur so was mir aufgefallen ist. Ich meine jede FF ist AU, weil wir kennen die leute ja nicht persönlich und wenn man sie kennen würde, würde man wohl auch nicht mehr schreiben... glaub ich zumindest^.~


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