Mad Tea House
Obwohl das nicht die erste Überraschung war, die das Wunderland für Alice parat hatte, fühlte sie sich doch mit der Tatsache, dass eine Leiche sie gegrüßt hatte, ein wenig überfordert. Kurzzeitig breitete sich in ihrem Magen das Gefühl, als ob sie von einem 30 Meter hohen Turm herunterschaute, aus und sie stolperte rückwärts.
"Nicht doch. Du brauchst keine Angst zu haben.", meinte die 'Leiche' ruhig.
"Hab ich gar nicht. Das war nur ... unerwartet.", entgegnete Alice fast schon überheblich. "Wieso hängst du hier ...?"
"Haha ... Denkst du, ich hänge aus einem Grund hier ... oder um ein bestimmtes Ziel zu erreichen? - Nein. Ganz bestimmt nicht." Der Mann lachte unheimlich. "Mein Dasein hier ist absolut sinnlos. ... Genauso wie die Existenz der Menschen an sich." Etwas regte sich in Alice. So wie der Kerl sprach hatte sie ab und zu auch schon gedacht, aber meistens dann, wenn sie den Höhepunkt ihrer Depression erreichte. Trotzdem versuchte sie zunächst zuzuhören, anstatt ihm Recht zu geben oder zu widersprechen.
"Schau sie doch an. Wie lächerlich sie sind ... Sie denken doch tatsächlich, sie wären allmächtig, nur weil sie ein paar Naturgesetze überwunden haben. ... Sie sind stolz auf sich, weil sie sich von allen Lebewesen auf der Welt am meisten entwickelt haben. Und dennoch bleiben sie dumm. ... Egoistisch. ... Jeder von ihnen ist erpicht darauf, seinen eigenen Magen vollzustopfen. ... Jeder von ihnen handelt so, dass es ihm selbst Profit bringt ... Hast du das schon mal beobachtet? Hat dich noch nie ein Mensch zutiefst enttäuscht? Oder gleich mehrere? ... Und nun sag mir, welchen Sinn die Existenz SOLCHER Wesen hat, hm? Sie sind Fehler. Allesamt." Dieser Vortrag ähnelte einem Eimer voll kaltem Wasser, das man auf Alice geschüttet hatte.
//Er hat Recht. ... Das ist alles völlig bedeutungslos.//, dachte sie und sogleich beschlich sie eine widerliche eiskalte Angst. War das etwa die Erkenntnis des Lebens? Dass es keine Erkenntnis gab ... ? Ende. Punkt. Aus. - War das etwa alles? War es alles etwa nur ein Streich der Natur, die Menschen so zu erschaffen, damit sie sich gegenseitig nur Schmerzen zufügten?
"W-woher ... weißt du das denn alles?", fragte sie bestürzt und merkte, dass ihre Hände so kalt wie die einer Leiche geworden waren.. Der Gehängte lächelte und deutete auf sein Handgelenk. 'XII' stand dort geschrieben.
"XII ... Hangman ... Du bist doch nicht etwa ...?"
"Ich bin eine Tarotkarte, Mädchen. Ich weiß alles über das Schicksal der Menschen."
//Tarot - XII - Hangman.//, schoss ihr nochmals durch den Kopf. //Es heißt doch bei der Deutung: '... Er versucht sich gar nicht erst gegen das Schicksal aufzulehnen. ... Er stellt die Frage nach dem Sinn des Lebens und resigniert.' Dann ist das also eine weitere Falle. Ich muss ihn mit seinen eigenen Waffen schlagen, bevor er mich in diese endlose Depression mitzieht. Ich kann nicht jetzt schon abrutschen. Noch nicht.// Sogleich zückte sie ihr Messer.
"Also kann ich dich doch auch befreien, oder etwa nicht? Wenn das alles eh keinen Sinn hat.", sprach sie und versuchte ruhig zu wirken..
"Nein! Das darfst du nicht!" Alice musste sich zusammenreißen, um nicht grinsen zu müssen.
"Was? Wieso nicht?"
"Wenn du mich befreist, fehlt eine Karte im Stapel und die Balance ist gestört!", erklärte er und zuckte entschuldigend mit den Schultern.
"Hmmm ... lass mich überlegen - hast du nicht vorhin noch gemeint, deine Existenz hätte keinen Sinn, blah blah?" Alice wusste, dass sie diese kleine undichte Stelle perfekt getroffen hatte.
"Ja, aber ... ich ..." Der Gehängte versuchte krampfhaft ein Argument zu finden, doch das Mädchen ließ ihn gar nicht mehr zu Wort kommen.
"Spar's dir.", entgegnete Alice kühl. "Auf solche Diskussionen kann ich gut verzichten! Und nun wünsche ich dir noch viel Spaß beim Herumhängen. Au revoir, mon cher!" Völlig entgeistert blieb der seltsame Mann hängen und Alice setzte ihren Weg fort.
//Wenn die echt denken, sie könnten mich an der Nase herumführen, haben sie sich geschnitten. Ich bin doch nicht fünf!//, dachte sie sich, während sie sich durch den Wald kämpfte. Immer wieder, wenn das, was der Gehängte zu ihr gesagt hatte, in ihrem Kopf anfing herumzuspuken, lenkte sie sich möglichst mit anderen Dingen ab, wie zum Beispiel der Tatsache, dass es noch weitere Tarotkarten geben musste und sie diese vielleicht bald antreffen würde.
"Womöglich hält sich hier eine auf.", meinte sie zu sich selbst, als sie den Wald endlich verlassen hatte und vor einem zweistöckigen blaugestrichenen Häuschen stand. 'Teehaus zum tollwütigen Hamster' hieß es auf dem Schild.
"Langsam scheint es mir, die Leute hier leiden an Geschmacksverirrung.", brummte die Braunhaarige und betrachtete das Haus erst einmal von allen Seiten. Es hatte mehrere Schornsteine, aus denen Rauch von verschiedenen Farben austrat und nicht wirklich zu dem mittlerweile blutroten Abendhimmel passte. Es würde tatsächlich bald dunkel werden und so beschloss Alice das Teehaus zu betreten.
//Etwas Schlimmerem als dem Tod kann ich ja unmöglich begegnen.//
Ohne zu klopfen betrat sie das Haus und fand sich in einem größeren Raum wieder. Die meiste Möbel sowie der Boden bestanden aus Holz und ein großer Kamin machte die Atmosphäre ziemlich gemütlich. Hinten gab es einen Tresen, hinter dem ein etwa 1,60m großer Hase mit gestreifter Krawatte und Handschuhen damit beschäftigt war, eine der vielen Teekannen auszuschimpfen.
"... Wie oft scholl ich dir eigentlich noch schagen, dasch man den Tee in die Taschen und nicht auf den Kunden gieschen scholl?" Ein auffälliges Merkmal war, dass dieser beinahe überdimensionale Hase eine komische Aussprache hatte. Die arme cremefarbene Teekanne würde wohl am liebsten im Boden versinken und gab nur ab und zu ein paar pfeifende Tönchen von sich.
"Entschuldigung, ich wollte fragen, ob hier ...-" Weiter kam Alice nicht, denn der Hase drehte sich schlagartig um und setzte ein unglaublich breites Grinsen auf, sodass man sämtliche Essensreste zwischen seinen Zähnen deutlich sehen konnte.
"Kundschaft! Mein Name ischt Julihase ... Wasch kann ich dir bringen, schüsches Mädchen?" Nervös zupfte er an seiner Krawatte herum.
"Julihase? ... Nicht Märzhase?"
"Nein, der Name ischt mir schu langweilig geworden, alscho hab ich mich umbenannt!", erklärte der Hase stolz und hob die Nase.
"Wie auch immer ... Eigentlich wollte ich nur fragen, ob ..."
"Wasch? Nichtsch beschtellen? ..." Der Hase sah so aus, als würde er jeden Moment losheulen.
"Also guuuut ... Was habt ihr denn schönes?", gab Alice nach.
"TEE! Jede Menge Tee! Welchen du willscht! ... Kamillentee, Grüner Tee, Schwefeltee, Feuertee, Tischtee, Keramiktee und noch viel mehr! ... Mein Favorit ischt natürlich immer noch der Gemüschetee!" Ein solches Sortiment an Tee war wohl nur in diesem Teehaus zu bekommen.
"Dann nehm ich mal den Grünen Tee ...", meinte Alice und fragte sich, was ein 'Tischtee' sei. Der Hase schien etwas enttäuscht, weil sie nicht den Gemüsetee genommen hatte, rief dann aber:
"Kommt schofort! ... Hutmacheeeeeeeeeer, wo schteckscht du schon wieder? Deck gefälligscht den Tisch!" Schon bald hörte Alice ein Poltern und bald darauf erschien eine Gestalt, die näher betrachtet werden musste. Der Hutmacher war ein junger (was Alice überraschte) Herr von etwa 1,80m Größe und schlanker Statur und einem ausgefallenen Kleidungsstil. Er trug so etwas wie einen ärmellosen schwarzen Mantel mit Stehkragen, den man auch als einfach zu lange Weste aus leichtem Stoff sehen konnte. Sein Hut, sowie das Tuch, das aus seiner Brusttasche hervorschaute, und die Hose waren schwarzweiß kariert. In der anderen Brusttasche ließ sich eine kleine goldenen Uhr erkennen. Des Weiteren trug er weiße Handschuhe und ein Lederhalsband mit einem Metallring darin. Seine Handgelenke wurden von massiven (separaten) Handschellen, wie sie meistens Gefangene tragen, umschlossen, wobei ihre Schwere unbekannt ist, da es sich um das Wunderland handelt. Das Gesicht des Hutmachers war sehr hell, fast schon weiß, und seine Augen, sowie auch seine Lippen, waren schwarz geschminkt. In den schwarzen Haaren waren dunkelblaue Strähnen, die vor allem vorne gut sichtbar waren, da sein Haar hinten eher kürzer geschnitten war. An seinem linken Oberarm war ein größeres Piktatoo zu sehen und das Unterlippenpiercing war natürlich auch sehr auffällig. Was Alice aber als allererstes registriert hatte, war, dass seine Augenfarbe zunächst blaugrau war, nachdem er sie jedoch bemerkt hatte, veränderte sie sich zu einem leuchtenden Grün.
"Eine höchst bezaubernde Kundin haben wir hier.", neigte ersich kurz vor Alice. "MadHatter, stets zu Ihren Diensten."
"Mein Name ist Alice. Angenehm." Daraufhin lächelte er nickend und verschwand kurz Richtung Theke.
Obwohl er ihr eigentlich gefallen müsste, fühlte sie sich durch das Loch in ihrer Brust wie eine ausgestopfte Puppe und es war nur das Wissen, dass sie ihn sympathisch finden musste und nicht das Gefühl, dass sie es tat. Deshalb wunderte sie sich darüber, dass ihre Stimme ebenfalls neutral klang.
//Ich scheine immer mehr Gefühl zu verlieren ...//, dachte sie, während der Hutmacher hinter ihr mit einer süßen rosanen Teekanne auftauchte. Ganz vorsichtig (ja, das ist man vom Hutmacher nicht gewohnt ...) goss er den Tee in ihre Tasse und als er ihr ganz nahe war, sog er die Luft ein und flüsterte:
"Du riechst ... so ... so ...- Das könnte meine Lieblingsteesorte werden ..." Dabei funkelten seine Augen in einem wunderschönen Dunkelrot.
"Bitte was??!" Alice rutschte ein Stück von ihm weg.
"Wir machen ausch allem Tee!", warf der Hase ein.
"Wirklich ... aus allem?"
"Aus allem ...", hauchte MadHatter ihr ins Ohr.
© Nami, 2006