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Frühlingserwachen

Adventskalender Türchen 25 - Original
von

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One-Shot

I.

 

„Ich weiß nicht.“

 

Es war nicht gerade die Antwort gewesen, die Hal auf die Frage „Warst du schon immer so blöd?“ erwartet hätte. Skeptisch hob er eine Augenbraue, sah zu dem schmächtigen Jungen hinauf, der immer noch halb im Papiermüllcontainer hing, als würde er es jeden Tag tun. (Zugegeben, wenn Hal allzu schlechte Laune hatte, stimmte das sogar.)

„Willst du mich verarschen?“, knurrte er, trat gegen den Container. Das laute Krachen des Tritts zusammen mit der Erschütterung ließen sein Opfer zusammenzucken, doch standhaftdumm wie der Junge war, sah er Hal immer noch an, irgendwie fast entschuldigend. Es war erbärmlich.

„Nein.“

Natürlich nicht. Hal schnaubte.

„Normale Menschen wissen, ob sie ihr Leben in Müllcontainern verbracht haben.“

 

„Ich erinnere mich aber nicht.“

 

Die Worte ließen Hal für einen langen Moment innehalten. Er musterte den Jungen, der aussah, als wisse er nicht so recht, ob er aus dem Container kriechen durfte oder lieber gleich drin blieb, ehe man ihn nochmal reinwarf, suchte eine Antwort in den blauen Augen, die viel zu entschuldigend dreinblickten – als wäre er Schuld.

Hal hasste diesen Blick.

Doch für den Moment reichte es trotzdem nicht, um sein Gegenüber einfach wieder in den Container zu schubsen, den Deckel zuzuknallen und abzumarschieren. Er hatte kein Mitleid. Aber auch wenn seine Situation letztlich eine andere gewesen war, dieses Gefühl von Entwurzeltsein, das Emilio mit Sicherheit hatte, kannte er zur Genüge und darüber hinaus. Langsam schüttelte er den Kopf, schob die Hände in die Hosentaschen und wandte sich ab. Nur einen kurzen Seitenblick warf er zurück zu dem armseligen Wurm.

„Dann überleg dir mal, ob du zukünftig weiterhin so ein Typ Mensch bleiben willst. So bequem können Müllcontainer nicht sein.“

Die Erwiderung auf seine Worte kannte Hal allerdings schon, deshalb machte er sich gar nicht die Mühe, auf sie zu warten, sondern ließ das klägliche Bild einfach hinter sich. Es war doch bescheuert.

 

 

 

II.

 

Er wusste nicht einmal, wieso genau er hier saß.

Die Schule war vorbei, der Schulhof leer und verlassen. Abgesehen von ihm selbst und dem schmächtigen Gör an seiner Seite, während sie auf einer Tischtennisplatte saßen, von der sie den Schnee hatten schieben müssen. Es war kalt, da half auch die dicke Winterjacke wenig, ihr Atem dampfte in kleinen Wölkchen in der Luft vor ihren Gesichtern. Die Luft roch nach Schnee, doch noch fiel nichts.

„Es ist ein bisschen wie Winterschlaf“, kommentierte er irgendwann in das fast friedliche Schweigen hinein. Emilio hob den Blick, sah aus großen, blauen Augen zu ihm auf, Nase und Wangen von der Kälte ganz rot. Die Jacke, die er trug, war abgetragen, schien ihre besten Tage eigentlich schon hinter sich zu haben.

„Winterschlaf?“, wiederholte er, seine Augenbrauen hoben sich skeptisch, „Wie meinst du das?“

Hal zuckte mit den Schultern, sah in den Himmel hinauf und machte eine vage Geste, die ihn und Emilio umfasste.

 

„Das hier. Du. Deine…“, er brach ab, wieder gestikulierend, schüttelte dann den Kopf.

„Ich. Kannst du dir das vorstellen? Du wachst auf, und stellst fest, dass die letzten Jahre deines Lebens ohne dich passiert sind. Völlig desorientiert, wie ein Tier, das du im Winterschlaf an einen anderen Ort bringst. Noch ganz verschlafen, weißt gar nicht, wo du hin sollst.“

Emilios Blick war groß, aufmerksam, nachdenklich. Er sah Hal lange an, ohne etwas zu erwidern, den Kopf leicht schief gelegt, und seine Augen glühten mit der Intensität seiner Gedanken. Schließlich regte er sich wieder, wandte den Blick ab, sah zu einem Baum hinüber, der kahl und schneebedeckt im kalten Wind sanft hin und her wiegte.

„Und dir ist sowas passiert? Was hast du dann gemacht?“

Schweigen war die Antwort, während Hal langsam und geräuschvoll ausatmete, eine Art nachdenkliches Schnauben. Er hob die Augenbrauen, sah Emilio in einer Mischung aus Selbstverständlichkeit und Skepsis an.

„Na, ich hab mir nen Frühling gesucht“, erwiderte er leichthin, achselzuckend, „Und irgendwann bin ich morgens aufgewacht und wusste – das ist es. Mein Frühling. Ende von Winterschlaf und Desorientierung.“

Wieder folgte Schweigen, dieses Mal durch Emilio. Nur ein leiser, nachdenklicher Laut kam von dem Jungen, sein Blick glitt hinauf zum Himmel, hinunter zur schneebedeckten Erde, hing kurz an Hal, als suche er in seinem Blick eine Antwort auf eine Frage, die noch ungestellt blieb, dann blieb er am Ende auf dem Baum im Wind, von dessen Ästen kleine Schneeklumpen fielen.

 

„Hoffentlich kommt der Frühling bald.“

 

 

 

III.

 

Hal wusste wirklich nicht, wieso er diesem Schwachsinn zugestimmt hatte.

Weihnachten? Bei einem Lehrer? Mit seinem liebsten Mobbingopfer und dessen scheinbar neuerdings besten Freund oder was auch immer Fynn Featherly eigentlich hier machte, außer gelegentlich einen gemeinen Kommentar über seinen Mathelehrer zu verteilen und Cakepops rumzureichen.

 

Sie saßen im Wohnzimmer von besagtem Herren Lehrer, Tassen mit heißer Schokolade dampften auf dem Tisch. Teller voll Plätzchen und Lebkuchen und Cakepops standen zwischen unnötig weihnachtlich kitschigen Kerzen und Kerzengestecken, in der Luft hing der Duft von Zimt – eine Duftkerze – und der Schokolade. Im Fernsehen lief irgendein typischer Weihnachtsfilm, den Hal schon vor zehn Jahren gehasst hatte, am Weihnachtsbaum glitzerten kunterbunte Kugeln und Lametta im Schein einer langen Lichterkette, die um die grünen Äste und Zweige gewickelt war. Sie hatten gemeinsam geschmückt, und nachdem jeder von ihnen eine sehr andere Vorstellung davon hatte, was an einen Weihnachtsbaum gehörte, erschien Hal das Ergebnis wie ein missglücktes Experiment, das irgendwann zum Leben erwachen und die ganze Welt vernichten würde. Hübsch war eindeutig anders, aber die kleinen Kinder – Emilio und sein Freund – hatten offenbar ihren Spaß. Im Garten stand ein Schneemann, der Emilios Schal, Fynns Mütze, und die Handschuhe von Hal trug. Und eine alte Motorradjacke, die Fitzgerald irgendwo ausgegraben hatte. Fynn hatte ihm ein extra grimmiges Gesicht gemacht und verkündet, das sei Mr. Hawkins, nachdem der sich geweigert hatte, vorbeizuschneien, wie der Junge lautstark lamentierte.

 

Eigentlich war es sogar… na ja. Erträglich. Hal hätte lieber zuhause bei seinen Orchideen gesessen als bei dieser Ansammlung komischer Typen, die einer seltsamer waren als der andere. Aber irgendwie war es lustig, mit dem schief eingewickelten Geschenken unter dem Weihnachtsbaum und der absolut unfamiliären, unpassenden Gesellschaft. Trotzdem brauchte Hal irgendwann seine Ruhe, zog sich zurück. Hinaus in den Garten, in die Kälte, zu dem grimmigen Schneemann. Emilio folgte wie ein treuer Schoßhund, ohne dass Hal es merkte, bis der Kerl schon neben ihm stand.

„Nächstes Jahr müssen wir wieder zusammenfeiern. Aber dann soll Mr. Hawkins auch kommen“, murmelte er in die kalte Winterluft, jedes Wort ein kleines Atemwölkchen. Hal schnaubte erheitert.

„Sag das ihm, nicht mir. Außerdem haben wir doch keine Ahnung, wo wir nächstes Jahr sein werden, eh?“

Emilio runzelte die Stirn, sah ihn eindringlich aus großen Augen an.

 

„Na, zusammen natürlich.“

 

Er lachte leise, sah hinauf in den Himmel, der sich schwarz und sternenklar über ihnen spannte. Hal brummte vage, sein Blick eher finster, während er in das fröhliche Gesicht neben sich sah. In den blauen Augen funkelten die Sterne.

„Und Flemming?“

Emilio machte einen vagen Laut, zog die Schultern hoch und sah zu Boden. Er biss sich auf die Unterlippe. Es war unübersehbar, dass es ein Thema war, das er nicht mochte. Mit der Schuhspitze fuhr er durch den Schnee, malte ein vages Muster in die weiße Decke.

„Es ist besser, wenn ich nicht mehr da bin“, erklärte er bedrückt, aber überzeugt. Hal knuffte dem Jungen nicht mehr sanft in die Seite.

 

„Du kannst immer noch im Müllcontainer einziehen“, kommentierte er spöttisch, woraufhin Emilio nur den Kopf schüttelte und ihm einen wenig überzeugten Blick zuwarf. Unter dem Stirnrunzeln sah er ein wenig verloren aus, „Da bleib ich lieber hier…“

 

 

 

IV.

 

Die Wände waren hellblau. Und die Folie auf dem Boden war es auch. Hal runzelte die Stirn, als er die letzte kümmerliche Kiste mit Emilios Habseligkeiten in der Mitte des frisch gestrichenen Zimmers abstellte. Durch das Fenster wehte kühle Luft herein, vertrieb den penetranten Gestank der Farbe zumindest ein wenig. Von den beiden Malern fand er keine Spur. Hal seufzte, fuhr sich mit einer Hand durch das Haar. Bei dem Farbdesaster auf dem Boden war er wirklich froh, sich um die Streichhilfe gedrückt zu haben. Der Schnee draußen schmolz langsam, weiß wich matschigem Grau. Irgendwo piepste ein Vogel kläglich gegen die letzte Winterkälte an.

Mit einem weiteren Seufzen verließ er den Raum, der noch nach so gar nichts wohnlichem Aussah, stapfte hinunter ins Wohnzimmer, in der Hoffnung, dort zu finden, wen er suchte.

 

Fand er auch.

 

Der Anblick war übelkeiterregend. Mann und Junge waren auf dem Sofa ausgebreitet, schlafend, in farbverfleckten Overalls. Über dem Sofa lag eine alte Wolldecke, die inzwischen ebenso farbfleckig war wie die beiden Kerle. Marshmallow lag auf Emilios Bauch, sorgfältig ebenfalls in einen plüschhasengroßen Overall gesteckt. Ging’s denen denn zu gut…?

Wahrscheinlich.  

Hal schüttelte den Kopf, stieß Emilio grob gegen die Schulter. Der Junge verzog das Gesicht, die Augenbrauen zogen sich zusammen, hinterließen eine kleine Falte auf Emilios Stirn. Er grummelte, öffnete die Augen dann träge. Hal schnaubte leise.

„Guten Morgen, Schlafmütze“, brummte er schroff. Emilio blinzelte, blaue Augen leuchteten desorientiert, doch die Verwirrung klärte mit einem breiten Lächeln auf, als der Junge sich erhob, Marshmallow sicher auf dem Arm.

„Ich bin wach“, kommentierte er, ließ Hal damit die Augenbrauen hochziehen.

„Eh, das seh ich. Im Gegensatz zu dem Penner da drüben.“

Emilios Blick wanderte zu dem noch schlafenden Mann hinüber, und er lachte leise. Er hätte mal wieder eine Rasur vertragen können, befand Hal, als ihm die Stoppeln in seinem Gesicht auffielen. „Lass den armen Stoppelbart in Ruhe“, mahnte Emilio sanft, und obwohl die ganze Situation völlig lächerlich war, schaffte er es, unglaublich ernst dabei zu klingen. Hal verdrehte die Augen, folgte mit dem Blick, als Emilio aufstand und zum Fenster ging. Die Wolken der letzten Tage hatten sich verzogen und ließen den ganzen nassen Matsch am Boden im Sonnenlicht glänzen wie von Diamanten überzogen.

 

„Der Frühling kommt, Hal.“



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von: abgemeldet
2016-04-28T15:56:25+00:00 28.04.2016 17:56
Ich habe nicht alles verstanden, aber diese Geschichte ist sehr schön geschrieben und ziemlich traurig. An einigen Stellen fand ich Hal sogar recht poetisch, gerade, wenn ich bedenke, wie er Emilio am Anfang behandelt. Allgemein mag ich es sehr, wie Du die flüchtigen Bewegungen der Charaktere darstellst! Wie dieses "nachdenkliche Schnauben"; das hat mir echt gut gefallen!


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