Der Staatsbesuch
Es gab einige Dinge, die Nolan nie an Frediano verstanden hatte und diese Sache kam nun noch mit auf die Liste: Wie war es ihm nur möglich gewesen, die Galauniform zu tragen?
Er störte sich nicht an der blauen Farbe, nicht an dem eleganten Schnitt, dem hohen Kragen oder gar all den edel aussehenden Verzierungen – nein, ihm missfiel es einfach, dass der Stoff unangenehm auf seiner Haut lag und einen nervigen Juckreiz auslöste, dem er zu widerstehen versuchte.
Der Blick in den Spiegel verriet ihm noch dazu, dass er nicht für diesen Posten geschaffen war. Bereits in seiner normalen Kavalleristenuniform war er sich fremd vorgekommen, in der Kommandantenuniform hatte er sich kaum erkannt, aber nun entdeckte er nichts mehr von sich selbst in diesem Abbild. Gut, da war vielleicht noch sein schwarzes Haar – das schon wieder zu lang geworden war – oder seine grünen Augen – die viel zu leblos wirkten – aber sonst gab es absolut gar keine Ähnlichkeiten mit sich selbst, wie er fand. Oder zumindest mit seiner Erinnerung.
Er war versucht, die Hand zu heben, sich selbst – oder eben seinem Spiegelbild – zuzuwinken, aber allein der Gedanke kam ihm derart lächerlich vor, dass er doch darauf verzichtete. Lieber gab er sich mit einem vollkommen Fremden im Glas zufrieden, als sich dieser Lächerlichkeit preiszugeben. Sein Schmunzeln darüber wurde von seinem Gegenüber erwidert.
Schließlich riss er sich von diesem Anblick los und verließ den Raum – nicht ohne noch einen letzten Blick zum Spiegel zu werfen. Sein anderes Ich war verschwunden, aber diese Tatsache erleichterte ihn nicht, sondern bestärkte ihn lediglich darin, dass jemand ihn nur ärgern wollte. Ein Gedanke, den er allerdings rasch wieder beiseite schob.
Nel saß bereits im Wohnzimmer, vertieft in ein Buch, das er ihr gegeben hatte, wobei es das Ergebnis eines wahllosen Griffs in ein Regal gewesen war. Ihre braunen Augen wanderten über die Wörter, wechselten die Zeile und liefen weiter, bis sie am Seitenende angekommen war und blättern musste. Erst als sie erneut an diesem Punkt angelangt war, hob sie den Blick – und kaum sah sie ihn, hielt sie überrascht inne.
„Nolan?“ Ihre Stimme klang genau so ungläubig wie er sich fühlte.
„Sehe ich so schlimm aus?“, fragte er mit gezwungenem Lächeln.
Sofort stieg ihr vor Panik die Röte ins Gesicht. Sie hob die Hände, um hastig abzuwinken, wobei sie das Buch fallenließ. Es schlug derart laut auf dem Boden auf, dass sie erschrocken zusammenzuckte, sich murmelnd entschuldigte und sich bückte, um es wieder aufzuheben.
Es fiel Nolan schwer, das Lachen zurückzuhalten, aber mit viel Selbstbeherrschung gelang es ihm, lediglich zu schmunzeln und sie nicht unbeabsichtigt zu verletzen, obwohl er dieses Verhalten einfach süß fand.
„Schon gut, beruhige dich“, sagte er. „Ich weiß ja selbst, wie ich aussehe.“
Sie richtete sich wieder auf, das Buch fest an die Brust gedrückt. „Aber du siehst nicht schlecht aus! Nur ungewohnt, anders.“
Ihr immer noch gerötetes Gesicht machte es ihm schwer, sie einzuschätzen, weswegen er es sofort wieder aufgab. „Tja, zum Glück kennt mich diese Person, die ich treffen soll, nicht, dann wirke ich nicht wie jemand ganz Neues oder anderes auf sie.“
Obwohl er das sagte, machte es ihn ein wenig unruhig. Diese Person war ein Offizier der Armee von Monerki, sie gehörte zu den Feinden Királys und war möglicherweise nur hier, um einen neuen Krieg zu erklären. Er durfte das alles nicht so locker nehmen – dazu hatte auch Kenton ihn am Vortag noch einmal aufgefordert.
Sie ging auf ihn zu und legte eine Hand auf seine Schulter. „Du schaffst das schon. Daran glaube ich fest.“
Er bedankte sich lächelnd. „Du kommst hier allein zurecht?“
„Jawohl“, verkündete sie. „Mach dir um mich keine Sorgen, ich kriege das hin.“
„Gut. Denk daran, wenn irgendwas ist-“
„Werde ich Richard oder Oriana fragen, ich weiß, ich weiß.“ Nel lächelte immer noch zuversichtlich, was ihn zumindest ein wenig beruhigte. „Du kannst ruhig gehen, ich komme hier zurecht.“
Nolan verabschiedete sich lächelnd und wesentlich erleichterter von ihr und verließ dann das Haus, um sich zum Kavalleristenhof zu begeben.
Dort wurde er nicht nur bereits von der Kompanie erwartet, die ihn begleiten sollte und aus gut einem Dutzend Kavalleristen bestand, sondern auch von einer blau lackierten Kutsche mit dazugehörigem Führer. Normalerweise stand das Gefährt in einem Verschlag des Hofes und wurde nur für derartige Gelegenheiten herausgeholt. Wenn er sich recht entsann, war es das erste Mal, dass er sie bei Tageslicht sah.
Ihm blieb aber keine Gelegenheit, es allzu lange zu bewundern, da kam Kenton bereits aus dem Hauptgebäude auf ihn zugeeilt. „Da bist du ja endlich!“
Wenige Schritte vor Nolan blieb er wieder stehen und musterte ihn von oben bis unten.
„Du siehst...“ Er rang sichtlich nach Worten, seine Brauen waren nachdenklich zusammengezogen.
Nolan beschloss schließlich, ihm hilfreich unter die Arme zu greifen: „Anders aus, ich weiß. Ich hätte mich fast selbst nicht mehr erkannt.“
„Wirklich erstaunlich, das muss ich schon sagen.“ Seine Worte kamen plötzlich wesentlich leichter über seine Lippen, nachdem er nicht mehr derart nach ihnen suchen musste. „Aber ich bin auch froh, wenn du dir später wieder etwas anderes anziehen kannst.“
Nicht einmal Kenton wirkte von dieser Veränderung angetan, das war für Nolan ein deutliches Zeichen, dass es sich hierbei um nichts Gutes handeln konnte. Aber eigentlich wollte er nicht mehr darüber nachdenken.
„Gibt es noch etwas, an das ich denken muss?“
„Du erinnerst dich an das Prozedere?“, erwiderte Kenton mit einer Gegenfrage.
Nolan bestätigte das mit einem entschiedenen Nicken und fragte sich dabei, was man an diesen einfachen Dingen nur vergessen sollte. Ja, man musste ein wenig über seine Wortwahl nachdenken, aber das sollte für jemanden, dessen Großeltern stets darauf bestanden hatten, dass er jede Woche ein neues Wort lernte, zu schaffen sein.
Kenton lächelte erleichtert. „Dann wünsche ich dir viel Erfolg. Vertritt uns ehrenvoll.“
Er salutierte vor dem Berater, ehe dieser zurücktrat und er sich dann den versammelten Kavalleristen zuwenden konnte. Jeder einzelne von ihnen trug die übliche, schmucklose blaue Uniform der Kavalleristen um die er sie in diesem Moment mehr als nur beneidete. Er wäre, liebend gern, auch nur ein einfaches Mitglied dieser Truppe gewesen.
Doch damit durfte er sich im Moment nicht weiter befassen. Stattdessen holte er tief Luft und begann dann, seine Untergebenen, auf den kommenden Besuch vorzubereiten.
Der Schmerz war inzwischen verflogen, aber das änderte nichts daran, dass sie noch immer wütend war. Da sie nun wusste, dass sich das Schwert immer wieder bewegte, weil es im Besitz dieses Mannes war, hatte sich die Schwierigkeit ihrer Aufgabe um ein Vielfaches angehoben. Aber ihr Auftraggeber zeigte sich davon sichtlich unbeeindruckt. Mit unbewegtem Gesicht, weiterhin ein freudloses Lächeln zur Schau tragend, blickte er sie an, so dass sie sich weiterhin zu einer Rechtfertigung berufen fühlte.
„Ich finde, du solltest das wirklich selbst tun“, keifte sie auch sofort.
„Bist du etwa überfordert, Niasa?“ Seine Stimme klang stets derart spöttisch, dass es ihr schwerfiel, ihn ernstzunehmen, wäre da nicht diese machtvolle Aura, die ihn stets umgab und seine leblosen grauen Augen, die ihn emotionslos erscheinen ließen.
„Ich habe dir gesagt, was das letzte Mal geschehen ist, als ich diesem Kerl begegnet bin.“
Kaum erwähnte sie diesen, runzelte er die Stirn. „Du denkst, es sei Kierans Sohn, ja?“
Sie nickte sofort. „So wurde er zumindest von den anderen Bewohnern des Ortes bezeichnet.“
Das schien ihm etwas zu sagen, etwas Wichtiges sogar, ausgehend von seinem plötzlich ernsten Gesichtsausdruck. „Kieran hat aber gar keinen Sohn.“
„Was kann ich dafür?“, schnappte sie. „So wurde mir das gesagt und er war immerhin im Haus.“
Er lächelte wieder dieses absolut falsche Lächeln, das – davon war sie überzeugt – sicherlich jeder hassen musste. „Oh, keine Sorge, ich mache dir keine Vorwürfe. Jeder denkt wohl, es sei sein Sohn, deswegen erzählt man dir das natürlich auch.“
Niasa fragte sich, worauf er mit dieser ganzen Sache überhaupt hinauswollte, fragte aber auch nicht, in der Hoffnung, dass er endlich verschwinden würde. Mit einem leisen Seufzen fuhr er sich durch das schwarze Haar, das zu einem hochstehenden Pferdeschwanz gebunden war.
„Ich überlasse dir dann erst einmal alles Weitere“, sagte er schließlich. „Ich habe zu viel zu tun, um es selbst zu übernehmen. Du kriegst das schon hin, ich kenne deine Methoden gut.“
Sein Grinsen bei diesen Worten löste einen schier unbändigen Zorn in ihr aus, aber sie bekämpfte den Drang, ihn einfach in der Luft zu zerfetzen.
„Fein“, knirschte sie. „Ich kümmere mich darum.“
Als Reaktion tätschelte er ihren Kopf, gab noch ein „Brav“ von sich und ging dann wieder davon, was sie wieder hoffen ließ, dass er nicht wiederkommen würde. Aber sie wusste es besser und deswegen blieb ihr nichts anderes übrig, als sich um diese Aufgabe zu kümmern, wenn sie nicht wollte, dass ihr Volk Schaden davontrug. Sie musste sich nur noch überlegen, wie sie der Kette an diesem Schwert entgehen konnte.
Es war das erste Mal, dass Nolan sich an der Grenze zu Monerki aufhielt. Ein Bergkamm bildete die natürliche Barriere zwischen beiden Ländern, aber auf einem Pfad, der einst als freie Verbindung genutzt worden war, befand sich inzwischen ein Gebäude aus dunklem Holz. Dieses musste erst durchquert werden und im Inneren gab es eine Passkontrolle, soweit er wusste. Aber er war nicht daran interessiert, herauszufinden, ob das stimmte.
Er stand auf dieser Seite der Grenze, immer noch in Király, um auf den Besuch zu warten, gemeinsam mit den anderen Kavalleristen, die sich leise unterhielten und dabei Mutmaßungen über die Person anstellten, die sie erwarteten. Nolan wusste, dass es sich dabei um eine Frau handelte, deren Name Loreley lautete, die rasch in den Rängen der Monerki-Armee aufgestiegen war und nun den Waffenstillstand zu einem richtigen Frieden ausweiten wollte – so die offizielle Begründung ihres Besuchs. Aber Kenton war misstrauisch genug, das nicht zu glauben und damit hatte er Nolan angesteckt. Noch dazu wurde ihm die Uniform immer unangenehmer, je länger er sie trug. Immer wieder zerrte er an seinem Kragen, der ihn zu ersticken drohte, zupfte an den Manschetten, die ihm die Blutzufuhr abzuschneiden versuchten, aber es stellte sich keinerlei Besserung ein, es war hoffnungslos.
Die Tür öffnete sich, er hielt unwillkürlich die Luft an, aber zu seiner Erleichterung traten nur zwei Personen heraus, die sicher nicht zur Armee gehörten. Der Mann hatte langes grünes Haar und trug eine Brille, auf seiner Schulter saß ein weißes Frettchen; die wesentlich kleinere und zierliche Frau hatte silberweißes Haar, das zu einem einseitigen Pferdeschwanz gebunden war. Keiner der beiden trug eine Uniform.
Sie liefen einige Schritte, dann öffnete sich die Tür erneut. Nolan sog erschrocken die Luft ein und stellte sich in Position. Die anderen beiden traten zur Seite und wandten sich jenen zu, die herauskamen.
Aus dem Gebäude marschierten zwanzig, in braune Uniformen gekleidete Soldaten in Zweierreihen, die von einer Frau geführt wurden, die Nolan um einiges zu jung für einen derartigen Posten erschien. Ihr langes, blaues Haar war zu einem praktischen Zopf geflochten, ihre goldenen Augen blickten nicht sonderlich interessiert durch die Gegend und erinnerten Nolan ein wenig an Kureha. Nur deren Augen erschienen ihm inzwischen wesentlich interessanter, diese hier waren einfach nur... unheimlich.
Sie führte eine Waffe mit sich, die wie eine Mischung aus Zauberstab und Speer aussah. Dieser Anblick ließ Nolan eine Hand auf den Griff seines Schwertes legen, nur um sicherzugehen, dass er im Fall eines Angriffs dennoch vorbereitet wäre.
Während er sich der Anwesenheit seiner Waffe versicherte, hielt sie vor den drei Fremden inne, um mit diesen zu sprechen. Was genau in diesem Gespräch ausgetauscht wurde, konnte er auf diese Entfernung nicht hören, aber es schien auch nicht weiter wichtig zu sein, da sie sich schließlich wieder in Bewegung setzte und erst wieder vor Nolan stehenblieb. Wie es die Höflichkeit verlangte, verneigte er sich vor ihr. „Es freut mich, Eure Bekanntschaft zu machen, Lady Loreley. Mein Name ist Nolan Lane, ich bin Kommandant der Kavallerie von Király.“
Sie legte eine Hand auf ihr Herz und deutete einen Knicks an. „Sehr erfreut, Kommandant Lane.“
In Gedanken überschlug er noch einmal die Worte und Sätze, die Kenton mit ihm besprochen hatte und die er auf alle Fälle sagen müsste: „Ich bin gekommen, Euch nach New Kinging zu begleiten.“
„Das ist sehr höflich“, erwiderte sie distanziert. „Ich begleite Euch gern, sofern Ihr mir die Ehre erweist, gemeinsam mit mir in der Kutsche zu fahren.“
„Selbstverständlich.“
Er bat sie, einzusteigen, gab seinen Kavalleristen die Anweisung, dass sie sich wieder in Bewegung setzen würden, bestieg dann ebenfalls die Kutsche und ließ sich in das schwarze Polster sinken.
Nach all der Zeit im Schuppen hatte er befürchtet, dass es im Inneren modrig oder verstaubt riechen würde, aber offenbar hatte man sich große Mühe gegeben, sie zu reinigen.
Kaum dass er diese Feststellung gemacht hatte, fuhr die Kutsche mit einem heftigen Ruck bereits an und obwohl er kaum wenige Sekunden hier saß, hoffte er bereits, dass die Fahrt bald vorbei wäre. Loreleys Augen bohrten sich regelrecht in ihn hinein und er besaß, zu seinem Schrecken, an diesem Ort keinerlei Rückzugsmöglichkeit.
„Nolan Lane“, sagte sie nach einer Periode des Schweigens plötzlich gedehnt.
Die Art, wie sie seinen Namen aussprach, so tonlos als würde sie ihn nicht einmal damit ansprechen wollen, sondern ihn nur vor sich hersagen, erzeugte eine Gänsehaut auf seinen Armen. Dennoch blickte er sie aufmerksam an und wartete darauf, dass sie fortfuhr, was sie auch sofort tat: „Ihr seid noch nicht lange Kommandant, oder?“
„Seit etwas mehr als einem Jahr“, antwortete er darauf und dachte sogleich wieder an Frediano und dessen Tod, was ihn auch sofort wieder zu Landis führte und seine Stimmung unnötig drückte.
Also verwarf er diese Gedanken wieder und konzentrierte sich erneut auf Loreley, die unbekümmert weitersprach: „Verzeiht mir meine direkten Worte, aber ich spüre etwas an Euch, das mich darauf schließen lasst, dass Ihr kein gewöhnlicher Mensch seid.“
Unwillig presste er die Lippen aufeinander und ließ den Blick zum Fenster hinausschweifen, aber seine Heimat war noch fern und konnte ihn deswegen nicht retten. „Und wenn es so wäre?“
Ihm stand sicher nicht der Sinn danach, ihr haarklein zu erzählen, was er erst kurz zuvor erfahren hatte, deswegen blieb ihm, außer Schweigen, nur diese eine Möglichkeit.
Zu seinem Glück wollte sie auch nicht näher darüber sprechen, was sie damit meinte und fuhr stattdessen mit etwas anderem fort: „Da Ihr kein Mensch seid, kann ich mich Euch sicher anvertrauen, ohne dass Ihr an meiner Glaubwürdigkeit zweifelt.“
„Worum geht es?“ Er war sich nicht so sicher, ob er das wirklich erfahren wollte, aber ihm blieb nichts anderes übrig, wenn er nicht respektlos sein wollte.
Endlich nahm Loreley den Blick von ihm und richtete ihn stattdessen aus dem Fenster in den Himmel hinaus. „Ich bin ebenfalls kein Mensch. Vielleicht ahnt Ihr es bereits, aber ich bin das, was die Menschen als Undine kennen.“
Und in diesem Moment traf es Nolan und er fragte sich, warum er nicht vorher daran gedacht hatte. Der Name Loreley mochte, laut Kenton, sehr beliebt gewesen sein in Monerki in den letzten Jahren, aber nun fühlte er sich dennoch geradezu idiotisch, dass er es zuvor gar nicht in Erwägung gezogen hatte. Nun wusste er es aber.
Diese Undine, die hier vor ihm saß, Loreley, musste Nadias und Aidans Mutter sein. Es gab keine andere Erklärung, kein sonstiger Naturgeist mit diesem Namen, aber er hätte niemals damit gerechnet, sie irgendwann und noch viel weniger hier zu treffen, als Mitglied der Armee von Monerki.
„Und was soll mir das sagen?“
Vorerst wollte er nichts davon sagen, dass er ihre Kinder kannte, er wusste ja nicht einmal, ob sie sich noch an diese erinnerte. Und abgesehen von dieser Tatsache musste er natürlich nicht erstaunt sein, war er doch immerhin bei einem Lazarus aufgewachsen, mit einer leibhaftigen Nymphe als Tante, dem Sohn eben dieser als besten Freund, den Kindern einer Undine als Freunde und einem weiteren Naturgeist als Ehefrau eines Freundes... nein, wenn er so darüber nachdachte, gab es wirklich absolut keinen Grund, davon erstaunt zu sein.
Sie bemerkte das aber scheinbar gar nicht. „Etwas ist in der Welt geschehen, das die natürliche Balance stört.“
Nolan schickte ein Stoßgebet, dass dies nichts mit Landis oder sonstigen Ereignissen, die mit ihm im Zusammenhang standen, zu tun hatte. Zu Lebzeiten hatte er bereits genug angerichtet, da musste er nicht noch aus dem Grab heraus irgendwelche Schwierigkeiten machen.
Da riss sie sich wieder vom Fenster los und blickte ihn direkt an, ein beunruhigendes Feuer in ihren goldenen Augen, das ihn unwillkürlich tiefer in seinen Platz sinken ließ. „Findet Ihr nicht auch, dass man alles in seiner Macht stehende tun sollte, um die Balance wiederherzustellen?“
Auf diese Frage wusste er nicht so wirklich zu antworten. Er war versucht, einfach „Ja“ zu sagen, aber durch das Ereignis mit Landis im letzten Jahr, wusste er, dass eine derart unüberlegte Antwort ein schlimmes Ergebnis nach sich ziehen könnte.
„Ich denke, man sollte eher darauf achten, dass man tut, was man kann, ohne dabei andere lebende Wesen in Mitleidenschaft zu ziehen. Selbst wenn diese dafür verantwortlich sind, dass die Balance überhaupt erst gestört wurde.“
„Welch diplomatische Antwort“, sagte sie lächelnd. „Also kann ich mich wohl nicht auf Euch verlassen. Wie schade.“
„Ich weiß nicht, was Ihr vorhabt, aber ich würde Euch raten, es sein zu lassen.“ Sein ernster Blick in diesem Moment wäre selbst für Kenton wieder furchteinflößend gewesen, aber sie ließ sich davon nicht beeindrucken.
„Ich nehme Kenntnis von Eurem Ratschlag, Kommandant Lane.“
Aber er wusste bereits, dass sie sich nicht daran halten würde. Was auch immer sie vorhatte, er müsste ein Auge auf sie werfen. Damit bestätigte sich seine Befürchtung, dass dieser Staatsbesuch nichts mit einem Friedensangebot zu tun hatte. Ihm blieb nur noch zu hoffen, dass sie nichts wirklich Schlimmes plante. Aber er ahnte bereits, dass diese Hoffnung vergeblich sein würde.
Den Rest der Fahrt verbrachten sie angespannt schweigend, sie starrte aus dem Fenster hinaus, während Nolan auf seine Hände hinabsah, ohne diese wirklich wahrzunehmen. Seine Gedanken drehten sich dabei unablässig um die Frage, was Loreley wohl planen könnte und wie er sie davon abhalten sollte, so ganz ohne außergewöhnliche Kräfte.
Er war froh, als sie endlich den Hof in New Kinging erreichten und er geradewegs aus der Kutsche flüchten konnte. Kenton wartete bereits geduldig und blickte ihn erwartungsvoll an, die Augenbrauen leicht angehoben.
Schließlich stieg auch Loreley aus der Kutsche und blickte sich dabei mit geringer Neugier in alle Richtungen um, obwohl es lediglich die heimgekehrten Kavalleristen zu sehen gab, die gerade ihre Pferde absattelten. Die zurückgebliebenen Einheiten gingen längst ihren üblichen Aufgaben nach. Die Soldaten, die unter Loreleys Befehl standen, waren noch nicht anwesend, was Nolan erst im zweiten Augenblick verwunderte, da die Pferde langsam genug gelaufen waren, dass eine trainierte Truppe Soldaten problemlos mit ihnen mithalten könnte.
Erst als sie offenbar genug gesehen hatte, fixierte sie Kenton, der sich sofort anspannte, um ein wenig eindrucksvoller auszusehen.
„Ihr seid Sir Boivin.“ Es klang vielmehr nach einer Feststellung als nach einer Frage, weswegen Kenton die Stirn runzelte.
„So ist es“, bestätigte er. „Lady Loreley, es freut mich sehr, Eure Bekanntschaft zu machen. Wenn Ihr-“
„Ich würde gern hier auf meine Einheiten warten, falls das ginge.“
Kentons Stirn glättete sich wieder, aber Nolan wusste, aus Erfahrung, ganz genau, dass sein Freund gerade am Liebsten nervös mit dem Auge gezuckt hätte. Allerdings schaffte er es, genau das zu verhindern und Loreley damit nicht zu zeigen, wie wenig er es schätzte, derart rüde unterbrochen zu werden.
„Aber selbstverständlich“, antwortete er nichtsdestotrotz. „Zögert nicht, nach mir zu schicken, sobald Ihr etwas benötigt.“
Sie neigte verstehend den Kopf und entfernte sich dann von ihnen. Kaum war sie aus ihrer Hörweite, wandte Kenton sich Nolan zu, das Gesicht nun wirklich vor Ärger verzerrt, was den Kommandanten ein wenig schmunzeln ließ.
„War sie unterwegs auch so?“
„Fortwährend. Sie hat mir außerdem ein wenig Sorgen gemacht.“
Nolan erzählte von seinem Gespräch mit Loreley und seinem Verdacht, dass es sich bei ihr auch um die Mutter von Nadia und Aidan handeln würde. Kenton deutete ein Nicken an, als Zeichen, dass er verstand. „Ich werde ein Auge auf sie werfen, während du weg bist, mach dir keine Gedanken.“
„Weg?“, fragte Nolan irritiert. „Wohin gehe ich denn?“
Diese unschuldig ausgesprochene Frage ließ Kenton wieder sanft lächeln. „Ich dachte, du wolltest vielleicht unbedingt deine Mutter treffen.“
Nolan erinnerte sich nur daran, dass er seinem Freund davon erzählt hatte, dass er seinen Vater kennenlernen wollte. Im Moment war er sich nicht einmal sicher, ob er dem anderen jemals erzählt hatte, dass seine Mutter noch lebte. Aber es war ihm zu müßig, ihn danach zu fragen, vor allem weil er die Antwort darauf eigentlich bereits kannte: Kenton wusste es einfach.
Dennoch gab es da noch etwas, das er nicht einfach vernachlässigen durfte. Er deutete ein wenig in die Richtung, in die Loreley verschwunden war. „Was ist mit ihr? Sollte ich nicht auch auf sie aufpassen? Und Nadia und Aidan sollten-“
„Nimm Nadia mit.“
Im Gegensatz zu Kenton störte Nolan sich nicht daran, unterbrochen zu werden, er neigte lediglich wegen dem Inhalt den Kopf. „Wieso?“
„Weil du sie kennst. Sie wird sicher etwas Unüberlegtes tun, wenn sie herausfindet, wer diese Botschafterin ist und irgendwann wird sie es herausfinden, wenn sie bleibt.“
Es erstaunte Nolan schon gar nicht mehr, dass Kenton derart gut darin war, Menschen zu durchschauen, indem er nur ein paarmal – viel öfter konnte es nicht gewesen sein – mit ihnen sprach.
„Fein, von mir aus, ich nehme sie mit.“ Nolan zuckte mit den Schultern. „Sofern sie will. Und nein, ich werde ihr nichts von Loreley erzählen.“
Kenton lächelte überaus zufrieden. „Danke. Nun, ich hoffe, du wirst erfolgreich bei der Kontaktaufnahme sein, Nolan. Und ich hoffe, dass du nicht enttäuscht sein wirst.“