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Mord ohne Leiche

Das Gewicht einer Seele
von

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Ersticken

Penny versteifte sich, als seine Faust dicht neben ihrem Gesicht nassen Putz aus der Mauer sprengte. Rasch wandte sie den Kopf ab. Nasskalter Sand berührte ihre Wange. Schweiß rann mit dem Regenwasser, das die Wand ausspülte, in ihren Kragen. In ihren Augen brannten Tränen. Das war nur eine Warnung gewesen! Er wollte ihr nichts tun – noch nicht. Es war nur eine Frage der Zeit. Ein eigenartig krachender, mechanischer Laut zerriss die Stille. Betont langsam zog er die Hand zurück. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie das tiefe Loch, was er hinterlassen hatte. Für einen Augenblick setzte ihr Herz aus. Das konnte nicht sein. Niemand besaß so viel Kraft, um das Mauerwerk mit der bloßen Faust zu zertrümmern.

Ihr Blick irrte umher. Sie konnte kaum etwas sehen, dafür war es zu dunkel. Sie spürte die Enge, die bedrängend hohen, fensterlosen Wände, die ihr keinen Schutz geboten hatten. Kalte Nässe kroch ihr in die Knochen und vertrieb die Hitze ihrer Flucht. Warum war sie hierher geflohen? Weder die Nacht noch die engen, verschachtelten Hinterhöfe bargen vor ihm. Hier war sie ausgeliefert, selbst wenn ein Bobby vorbeikommen sollte, denn er war kein Mensch, sondern ein außer Kontrolle geratenes Monster. Der Gedanke rang ihr ein panisches Keuchen ab. Ihr Herz tat weh … Unnatürlich laut klangen ihre rauen Atemzüge und kondensierten in Wölkchen vor ihrem Gesicht. Ihr Herz schlug schmerzhaft hart und schnell. Betäubende Kälte jagte Hitze unter ihrer Haut, bis sie brannte und prickelte. Er presste sie mit seinem immensen Gewicht gegen die Wand. Unter Mantel und Kleid drückten sich die Stäbe des Mieders durch Unterhemd und Miederjäckchen in ihren Leib, quetschten ihre Rippen und drückten ihr die Luft ab. Scharfer Schmerz explodierte, als ihn ein Beben durchlief, begleitet von einem tiefen, unmenschlichen Grollen, das aus seinem Inneren zu kommen schien. Es klang wie der Leerlauf einer Dampfmaschine. Die Härchen auf ihrem Unterarm richteten sich auf. Sie keuchte auf.

Eine weitere Welle nackter Angst kroch aus ihrer Brust und floss durch ihre Adern. Panik drohte ihren Verstand zu überschwemmen. Nein, sie durfte sich nicht hinreißen lassen. Wenn sie nachgab, starb sie. Penny kniff die Augen zusammen und konzentrierte sich auf ihre Muskeln. Sie musste sich zur Wehr setzen und kämpfen. Aber wie hoch waren ihre Chancen? Erneut das unmenschliche Geräusch …

Als habe er den Gedanken wahrgenommen, presste er sich noch fester gegen sie. Sie riss die Augen auf. Etwas knackte … Dumpfer Schmerz rann in verwirrende Lichtblitze. Hatte er ihr die Knochen gebrochen? Die harten Herzschläge wurden immer leichter und schneller, eilten dem entsetzlich ansteigenden Schmerz hinterher, bis sie kaum noch Luft bekam. Vor ihren Augen flackerten Lichtblitze, in ihren Ohren rauschte das Blut. Heiß stieg ihr Blut mit entsetzlichem Druck in die Schläfen, nur um von kaltschweißiger, bleierner Schwere hinabgerissen zu werden. Sie konnte sich nicht regen. Jeder flache Atemzug schnitt tief in ihre Lungen. Er drückte ihren Brustkorb noch stärker zusammen. Trotzdem nahm sie den beißenden Schimmelgestank seines nassen Mantels wahr. Er kroch ihr in die Kehle und legte sich wie ein Film über die Zunge. Ihr Mund wurde trocken. Zugleich schmeckte sie Blut.

Das war das Ende. Sie zitterte. Warum konnte sie nicht schreien, sich kaum regen? Penny blinzelte.

Nein, nein … nicht durchdrehen. Sinnlose Gegenwehr wäre Kraftverschwendung und würde sie noch schneller töten. Jede Bewegung konterte er mit stärkerer Belastung auf ihrem Brustkorb. Er würde sie einfach zerquetschen, wie in den Fabriken, wenn Arbeiter in Maschinen kamen. Maschinen?

Konnte das sein? Gab es so etwas? Das musste eine irre Vorstellung sein, geboren aus der Verzweiflung … oder?

Langsam klärte sich ihr Kopf. Zugleich steigerte sich der Druck auf ihre Brust unerträglich.

Er hört was ich denke!

Plötzlich verschwand sein Gewicht.

Schmerzhaft kalt strömte die Nachtluft nach, als er von ihr abließ. Ihre Beine konnten sie nicht mehr tragen. Mit zitternden Knien taumelte sie und sank hustend nach vorn. Keuchend fing sie sich ab. Ihre Arme knickten ein. Sie zitterte. Der Dreck unter ihren Händen war real, ebenso die Pfütze, in der sie kniete, die schwere, rußige Luft, die ihre Brust füllte und der Schmerz; all das war wirklich, ihr Leben. Verschonte er sie? Penny zweifelte daran. Er hatte ihr alle Kraft geraubt. Tränen rannen über ihre Wangen.

Verdammte Schwäche. Das fahle Echo ihrer sonstigen Stärke verklang in sinnloser Wut.

Wo war er? Mühsam hob sie den Blick. Bilder tanzten, verschoben sich, tauchten in die Schatten und die Nacht ab, um aufzublitzen und sich übereinanderzulegen. Zitternd krallte sie die Nägel in den Boden. Sie schloss die Lider.

Konzentration!

Erneut blinzelte sie, bis das Karussell aufhörte sich zu drehen. War er fort?

Nein!

Mit einem einzigen Schritt stand er wieder vor ihr. Seine behandschuhten Hände schossen vor.

„Bitte nicht …“ Schwäche brach ihre Stimme.

Seine Finger schwebten dicht vor ihrem Gesicht.

Kein Laut kam über seine Lippen. Nur ihr harscher, rascher Atem und der starke Regen klangen in ihren Ohren. Ihr wurde schwindelig. Ein hohes, helles Pfeifen setzte ein, was die Ränder der Wirklichkeit zerfaserte. Doch bevor die gnädige Ohnmacht sie umfing, packte er sie unter den Armen und riss sie auf die Füße. Ein scharfer Stich zog durch Pennys Brustkorb und flachte zu dumpfem Pochen ab. Er hatte ihr die Rippen gebrochen, ganz sicher. Sie keuchte, schrie. Speichel benetzte ihr trockenen Lippen. Einen Moment später verlor sie den Bodenkontakt. Hilflos pendelten ihre Beine über der Erde. Er hielt sie, als habe sie kein Gewicht. Seine Kraft, sein Gewicht, alles an ihm sprach für einen Automaten. Er war riesig, weitaus größer, als andere Männer. Und doch war sein Körper warm und irgendwie lebendig.

Was war er?

Instinktiv versteifte sie sich bei dem Gedanken in Erwartung seiner Rache, aber es passierte nichts. Er reagierte nicht.

Was hast du vor? Eisenmann, warum tust du das? Was bin ich für dich? Was willst du überhaupt von mir?!

In ihre Angst mischte sich neue Unsicherheit. Vorsichtig hob sie den Blick. Unter seinem regennassen Hut konnte sie kein Gesicht ausmachen, nur konturlose Schwärze. Ihre Augen täuschen sie. Schmerz, Erschöpfung und Dunkelheit mochten das bewirken. Hier, zwischen all den Hinterhöfen und Werkstätten gab es kein Licht. Er zog sie näher an sich.

Tropfen perlten von der Filzkrempe in ihr Gesicht. Der Regen vermischte sich mit ihren Tränen. Sie blinzelte die Nässe fort und strengte ihre Augen an. Wenigstens schwache Konturen mussten auszumachen sein, aber es gab kein Gesicht. Penny öffnete den Mund. Sie wollte schreien. Ein ersticktes Wimmern kam über ihre Lippen. Im gleichen Augenblick lösten sich dunstige Fetzen aus der Schwärze unter dem Hut und trieben auf sie zu. Sie zog den Kopf zwischen die Schultern. Um was auch immer es sich handelte, sie wollte damit nicht in Berührung kommen. Ein Nebelfinger tastete nach ihrem Gesicht, strich behutsam über ihre Haut. Betäubendes Kribbeln blieb zurück. Wimmernd, zitternd folgte sie der Schwärze, die rauchig auseinander faserte und sich neu sammelten, um kurzzeitige Konsistenz zu gewinnen.

Was immer das war, es konnte kein Mensch sein! Panik überrollte sie mit aller Macht. Sie schrie bis der gellende Laut ihre eigenen Ohren betäubte. Sofort fuhr der Dunst in ihren Mund, füllte ihn aus, lähmte jede Empfindung, reizte ihre Kehle, stieg - nein sickerte - ihr in Nase, Augen und Ohren. Qualvoll hustete sie Angst und Übelkeit aus.

Die Reste ihres Widerstands zerbrachen. Langsam tastete sich das Wesen in sie.

Am Rand der Wirklichkeit knarrte etwas Metall zerkratzte Stein. Der Laut gerann zu unschönem Kreischen. Plötzlich klärte sich ihr Kopf. Sie kannte das Geräusch. Es klang wie eisenbeschlagene Räder auf dem Pflaster. Hufe klapperten träge. In das Schnauben des Pferdes mischte sich eine atemlos raue Stimme. Worte, die keinen Sinn besaßen.

Hilfe, bitte … Hilfe!

Hatte sie das gesagt oder nur gedacht? Penny wusste es nicht. Sie würgte. Etwas in ihrer Kehle gab nach. Salzig Nässe rann über ihre Zunge in den Hals. Übelkeit stieg aus ihrem Magen auf. Das Rauschen in ihren Ohren nahm zu, verschlang die Geräusche ihrer Umwelt. Was sagte die Person? Was …? Sie versuchte sich zu konzentrieren.

Die Zeit dehnte sich, zog sich zusammen. Wenn nicht gleich etwas geschah … Ihr Herz krampfte sich zusammen. Die Todesmüdigkeit kehrte zurück und überschwemmte ihren Verstand. Farbige Lichtflecken flackerten hinter ihren Lidern. Sie starb …

Ein Ruck ging durch den Stahlgriff ihres Peinigers. Die Finger lockerten sich. Schwach lichteten sich die Nebel um ihren Verstand, gerade lang genug um das Rauschen zu einem Flüstern zu senken. Wimmernd sackte Penny unter dem Druck zusammen. Trotzdem ließ er sie nicht los. Ein scharfes, metallenes Schaben erklang. Das Geräusch reichte, um ihren Verstand zu zerfetzen. Hysterische Worte endeten in einem panischen Keuchen. Penny wusste nicht einmal mehr zu sagen, ob die Stimme einem Mann oder einer Frau gehörte.

Das Pferd wieherte. Rasche Schritte entfernten sich. Hufschlag hallte von den Wänden zurück.

Nein, bitte nicht.

Sie nahm weit entfernte Erinnerungsfetzen wahr, die an ihr vorüber trieben, verdreckt und staubig wie ein altes Gemälde. Träume von einem Haus, winterkahlen Feldern und dürren Bäumen. Ihre Vergangenheit? Nein. War das nicht ein Bild gewesen? Irgendwo hing es – nur wo?

Charles? Hing es nicht …

Der Gedanke verwehte. Sie wusste es nicht mehr.

Wer war das verkrüppelte Mädchen, was im Wintergarten saß?

Wem gehörte das kleine Pferd? Warum zog es nicht die Kinderkutsche, die leer und geisterhaft durch das graubraune Gras rollte? Wer hatte das Gesicht der Puppe zertrümmert und ihre Augen zertreten?

Wer träumte diese Träume?

Wie ein furchtsamer Gedanke

Dichte, graue Regenschleier verbragen die Aussicht auf den Park. An den Scheiben rann das Wasser hinab und tränkte die von der Kälte aufgerissenen Fugen. Auf der Innenseite kondensierte das Wasser am Fenstergitter. Eine Droschke rollte am Haus vorüber. Zaida hörte sie eher als dass sie sie gesehen hätte. Heute war ein furchtbar trüber, ermüdender Tag, der es ihr fast unmöglich machte, sich auf den Brief an die arme Lady Arlington zu konzentrieren. Träge kroch ihr Blick über den Schreibtisch zurück zu ihrer Schreibmappe. Unter dem goldenen Schriftzug ihres Namens und der Adresse sammelten sich durchstrichene Muster, Gedankengänge und Tintenflecke. Sie hatte seit dem Frühstück mindestens ein halbes Dutzend unsinniger Ansätze notiert und verworfen. Die eintönig graue Langeweile hielt sie fest im Griff und umnebelte ihren Verstand. Zaida war sich dessen wohl bewusst, ebenso war ihr klar, dass sie mehr Zeit mit den Beobachtungen des Wetters und des Kaminfeuers zubrachte, anstatt in aller Förmlichkeit Kondolenzgrüße zu verfassen oder wenigstens Zeilen, die der jungen Frau Mut zusprachen. Aber das, was sie schreiben wollte, konnte sie nicht zu Papier bringen. Die Briefe wurden im Vorfeld geöffnet und gelesen. Zaida schluckte trocken. Ihre Kehle stieß gegen den hoch geschlossenen Vatermörder. Am liebsten hätte sie sich heute gar nicht angezogen, sondern den ganzen Tag im Hausmantel verbracht, aber auch das lag nicht im Bereich des Machbaren. Sie war eine Dame und musste ihr Gesicht wahren, schließlich befand sich außer Ana auch die Gräfin im Haus …

Das enervierende Tropfen des übervollen Balkonsiphons bohrte sich in ihre Aufmerksamkeit und zerriss den Nebel, der sich um ihren Geist zu legen drohte endgültig.

Meine liebe Lady Arlington,

nach den jüngst geschehenen Ereignissen möchte ich mich in aller Form bei Ihnen entschuldigen und mich nach Ihrem werten Befinden erkundigen. In der Vergangenheit -

Zaida strich die Zeilen und setzte erneut an:

Sie müssen mir –

Nein, so plump konnte sie den Brief nicht beginnen. Veronica Arlington mochte sicher nicht ihre engste Freundin sein, aber in Zusammenhang mit der Snegurotschka, hatte diese arme Frau mehr als genug durchgemacht. Ihre – zugegeben geringe – Sensitivität gegenüber der Geisterwelt hatte sie nicht vor dem wilden, heimatlosen Winterwesen bewahren können. Die Wahrnehmung und Offenheit gegenüber dem Übersinnlichen hatte dem Geschöpf viel eher einen Wirtskörper verschafft, ohne dass sich Lady Veronica dagegen zur Wehr setzen konnte. In Folge dessen war es innerhalb eines einzigen Tages zu unabsehbaren Folgen für die junge Frau gekommen. Sie – viel eher die Snegurotschka – hatte Lord Arlington getötet und Veronica war hier, in diesem Haus über Anabelle hergefallen, nur um schwer von ihr verletzt zu werden. Seit dem unseligen Weihnachtsfest vor neun Tagen lag die junge Lady in einer Klinik, bewacht von Polizisten. Sie stand unter Verdacht ihren Mann getötet zu haben. Hailey wusste es eigentlich besser, aber er brauchte eine Schuldige und das Bauernopfer zählte zu Upperclass Londons. Aus den Zeitungsartikeln ging fast einstimmig hervor, dass jeder an die Schuld Lady Veronicas glaubte. Selbst wenn sie je den Gerichtssaal als freie Frau verlassen sollte, so würde ihr Name und der Ihrer Familie auf ewig ruiniert sein. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Arlingtons sich von ihr lossagten, das Land mit unbestimmtem Ziel in aller Stille verließen oder drastischere Maßnahmen ergriffen. Obwohl Zaida wenig von Lady Veronicas Befähigungen hielt, war das dennoch nicht das Ziel, was ihr vorgeschwebt hatte.

Sie setzte die Feder an.

Liebe Freundin,

auch wenn ich für all Ihr Unglück mitverantwortlich bin, möchte ich Ihnen unter allen Umständen helfen. In der unmöglichen Situation, in der Sie sich befinden, will ich Sie nicht allein lassen. Bitte vertrauen Sie in Miss Talleyrand und mich. Wir werden alles unternehmen, um den Verdacht gegen Sie zu entkräften. Auch wenn es nicht einfach zu werden verspricht, will ich dafür sorgen, dass Sie als freie Frau das hohe Gericht verlassen. Ein von mir beauftragter Verteidiger, Sir Patrick Richard Gaughan, der üblicherweise Lords des Oberhauses zu seinem Klientel zählt, wird sich mit Ihnen in Verbindung setzen, sobald Sie mental und emotional dazu in der Lage sind. Er ist bereits von mir instruiert und in Kenntnis der tatsächlichen Vorgänge gesetzt worden. Ihm sollte es möglich sein, einen Freispruch zu erwirken. Über alle weiteren Vorgehensweisen können wir uns – der Situation gebeugt – erst später Gedanken machen. Seien Sie sich in jedem Fall unserer Unterstützung sicher.

Ja, so klang der Brief weitaus besser und für Lady Veronica greifbarer. Zaida zog sich einen neuen Bogen heran und übertrug die Zeilen ins Reine.

Gerade als sie ihre Unterschrift zeichnete, klopfte es an der Tür des Morgenzimmers. Ein kühler Hauch streifte Zaidas Wange und brachte den Geruch nach Schnee mit. Gräfin Petrowna stand auf dem Flur. Zaida wandte sich im Stuhl um. Ihre Augen brannten leicht, wie bei einem Fieberschub. Sie blinzelte. Sie wollte nicht mit der Gräfin reden, schon gar nicht ihre Gegenwart im Rücken spüren, wenn sie arbeitete. In ihr verdichtete sich ein schier unerträglicher Widerwille gegen die Anwesenheit der Russin. Die Kälte wandelte sich zu brennender Hitze, der Glut, die durch ihre Adern rann. Ewig konnte sie die Gräfin nicht stehen lassen. Es war schon unhöflich sie warten zu lassen. Mühsam kühlte sie ihre Gefühle aus. Sie durfte keine Emotionen in die ohnehin labile Situation zwischen ihnen einbringen.

„Bitte, Gräfin, treten Sie ein.“

Jewa Petrowna schien zu zögern. Natürlich. Sie hatte die Aufwallung und Abneigung deutlich gespürt. Im Gegensatz zu Ana war sie sensibel für Schwankungen in den Empfindungen und der Gesamtsituation.

Die Türklinke bewegte sich nach unten und ein schwacher Schimmer des Gaslichts kroch in das schattige Morgenzimmer. Jewa Petrowna trat ein, selbst ein stummer grauer, unauffälliger Schatten in mausgrauem Tageskleid und in geduckter Haltung. Aller Stolz der Russin zerbrach, sobald sie einen Raum betrat, in dem sich Zaida aufhielt. Die Pose des geprügelten Hundes stand ihr nicht gut zu Gesicht. Zaida straffte sich und wies auf den sommerlich gelb bezogenen Sessel, der ihr am nächsten stand. Die Gräfin zögerte. Sie schien zu überlegen. In ihren Händen hielt sie ein Blatt Papier. Offenbar hatte sie ein größeres Anliegen vorbereitet und war sich nicht sicher, ob sie es in aufrechter Haltung vorbringen sollte. Zaida musterte sie. Etwas in der Mimik der Russin hatte sich verändert. Sie wirkte trotz ihrer Unsicherheit entschlossen.

Seit sie Jewa Petrowna aufgenommen hatten, ging beinah täglich eine Wandlung in ihr vor. Sie entwickelte sich vermutlich mit der angespannten Situation im Haus. Bis zu einem gewissen Grad empfand Zaida sogar Sympathie für Gräfin Petrowna. Vielleicht mochte das Gefühl ihrer leidvollen Historie geschuldet sein, aber daran glaubte Zaida nicht. Sie erkannte den klaren Unterschied zwischen ungewolltem Mitleid und einem echten, greifbaren Gefühl von Achtung. Jewa Petrowna hatte viel in ihrem Leben und darüber hinaus im Tod erlebt: Geschehnisse, die sie nachhaltig geprägt und aus ihr eine mutige Frau, eine überlebensfähige Kämpferin gemacht hatten. Zudem umgab sie der Hauch der gehobenen Bildung. Unter anderen Umständen hätte einer echten Freundschaft nichts entgegengestanden.

„Bitte, liebe Gräfin, setzen Sie sich doch.“

Auf die nochmalige Aufforderung reagierte Madame Petrowna nicht. Einen Augenblick betrachtete sie ihre blasse Hand, mit der sie das Schriftstück festhielt, bevor sie es Zaida reichte. Zaida glaubte den Inhalt bereits zu kennen. Unter ihrer Haut kroch ein Schauder entlang; Scham und der tiefe Wunsch sich zurückziehen zu wollen, wenn sie sich nicht irrte. Es waren nicht ihre Gefühle, sondern die Gräfin Petrownas.

Madame Zaida, es ist mir unmöglich länger Ihre großmütige Gastfreundschaft anzunehmen, denn ich weiß, dass meine schiere Anwesenheit Ihren Sinn von Anstand verletzt. Mir ist bewusst, dass ich Ihnen und Mademoiselle Anabelle etwas angetan habe, was den Frieden Ihres Hauses zutiefst erschüttert hat. Keine Entschuldigung der Welt würde ausreichen um meine Verfehlung vor Ihnen zu rechtfertigen oder gut zu machen. Dennoch ist es mir ein tiefes Bedürfnis mich aus tiefstem Herzen bei Ihnen und Mademoiselle Anabelle zu entschuldigen. Sie wissen sicher, dass meine Worte aus reiner Überzeugung heraus kommen.

Bitte verzeihen Sie mir, vielleicht, irgendwann. Ich will heute Ihr Haus verlassen, denn das Glück zwischen ihnen beiden stört sich an meiner Gegenwart.

Hochatungsvoll

Ihre Jewa Magdalina Petrowna

Zaida atmete tief durch, ohne dass sonderlich viel Luft ihre Lungen erreichte. Trotz der frischen Winterkälte, die Gräfin Petrowna mitbrachte, fühlte sie sich erstickt.

„Sie missverstehen die Situation, Gräfin“, begann Zaida. „Ich bin mir sicher, dass Sie mit der gegebenen Situation genauso umzugehen wissen wie ich. Deshalb insistiere ich gegen Ihre Worte und muss darauf bestehen, dass Sie weiterhin mein Gast sind.“

Die ohnehin blasse Haut der Gräfin verlor den letzten Rest Farbe. Nur die großen, hellen Augen schimmerten. Der Ausdruck entsprach vollkommener Verständnislosigkeit. Warum?, formten ihre Lippen.

Zaida erhob sich und strich ihren Rock glatt. Sacht berührte sie Jewa Petrownas Schulter und deutete ein weiteres Mal auf den Sessel. Dieses Mal kam die Gräfin der Aufforderung nach, aber Zaida spürte ihren brennenden Blick. Zaida legte den Brief zur Seite und setzte sich ebenfalls.

„Sehen Sie, Gräfin, unter den gegebenen Umständen ist das Miteinander das wir teilen, nicht immer einfach, aber Sie wissen so gut wie ich, wer und was wir drei Frauen sind. Wenn wir uns nicht gegenseitig helfen und unterstützen, sind wir der Welt dort draußen ausgeliefert als Monster.“

Der schmale Hals unter dem grauen Stehkragen zuckte. Gräfin Petrownas Kopf sank nach vorne. Sie schien sich mehr als unwohl zu fühlen. Sacht faltete sie beide Hände im Schoß.

„Ich will diesen Brief“, Zaida griff danach und hielt ihn hoch, „nicht weiter beachten, liebe Gräfin. Sehen Sie sich bitte weiterhin als mein Gast und finden Sie die Kraft, in allen Punkten an sich zu arbeiten. Sie sind bereits mehrfach über sich hinausgewachsen. Das wird Ihnen sicher auch noch öfter gelingen.“

Auf welche Weise die Worte bei Jewa Petrowna ankamen konnte Zaida aus ihrer versteinerten Mimik ablesen. Die Russin hatte sich nicht gut genug im Griff, um ihren Schrecken und Ärger zu verbergen. Sie wusste, dass sie für die Menschen in der Stadt eine Gef…

Weißglühendes Feuer verbrannte das Bild der Eis-Gräfin und hinterließ blendend weiße Leere, die von einem schwachen Pochen begleitet wurde. Es hörte - nein fühlte - sich an wie das regelmäßigen Schlagen eines Herzens, das sich in dem Pulsieren von Zaidas eigenem Blut widerzuspiegeln schien. Zuckende Schatten erwachten mit dem sacht ansteigenden Druck zwischen ihren Schläfen, die bei jedem Pumpen des fremden Herzens einen Schemen auf die weiße Leere warfen. Schwere Atemzüge rannen unter die die Bilder du durchtränkten sie mit feuchtem Atem. Zaida spürte Arme und Beine wie unbewegliche Bleigewichte, die sie hinab zogen und in die Polster drückten. Am Rand des Wahrnehmbaren knarrte Holz … Rabenflügel flatterten rasch und schattenhaft. Federn stoben auf und segelten herab. Plötzlich sackte Zaida nach vorne. Instinktiv wollte sie sich abfangen, aber ihre Glieder ließen sich nicht bewegen. In ihrer Kehle sammelte sich ein Schrei … der zu einem tonlosen Röcheln gerann. Schrecken zuckte durch ihren Körper. Eisige Kälte fing sie auf. Sie fühlte, wie sie mit dem Gesicht in den eisüberzogenen Schnee stürzte, spürte das Prickeln ihrer Haut, das gefrieren ihres Speichels und ihrer Tränen. Sie war unfähig sich zu regen, zu schreien, zu … Schnee rieselte in ihrer Kragen und löste sich in ihrem halb offenen Mund auf, kitzelte bei ihren kurzen, abgehackten Atemzügen in ihrer Nase und geriet in Tröpfchen in ihre Luftröhre. Zaida versteifte sich. Sie konnte nichts tun, nichts, nur hier liegen, vielleicht ersticken und … Angst breitete sich mit der Kälte aus und schloss sich mit einer stählernen Klammer um ihre Brust. Es war die banale Angst eines lebenden Menschen, eines hilflosen, magiefreien Geschöpfs, das sterben konnte. In ihrem Kopf manifestierte sich ein Schrei in dem sich alle Furcht vor dem Tod sammelte. Über ihre Lippen kam nichts, nur Speichel, der in den Schnee floss. Hinter ihrer Stirn explodierte nackte, erstickende Panik. Sie begann zu keuchen zu … Sengender Schmerz zerriss Zaidas Bewusstsein und durchbrach die Mauer aus lahmem Fleisch, Eis und Schnee zur Realität. Die Ohrfeige verlor rasch ihren Biss in taubem Kribbeln, dennoch blieb ein heißes Pulsieren zurück. Über Zaidas Unterlippe rann warmer Speichel, der auf ihr Kinn troff. Zaida blinzelte. Ihre Augäpfel fühlten sich trocken an und rollten erst jetzt unter den Lidern hervor. Das rötliche Licht veränderte sich zu einer verzerrten Realität aus flackerndem Licht, einer schimmernden Schattengestalt, die der naiven Vorstellung einer Heiligen glich und grauen Nebeln, die in ihren Hals bissen und die Augen tränen ließen. Langsam klärte sich das Bild. Kaminfeuer verlieh Madame Petrowna eine rotgoldene Korona, die ihre dunkelblonden Locken zu illuminieren schien. Zaida zupfte mit einer Hand ihr Taschentuch aus dem Ärmel, trocknete ihre Lippen und tastete mit der anderen nach ihrer Wange. Sie war heiß und schwoll an. Sacht legte die Gräfin ihre kalte Hand auf. Das Gefühl tat gut. Leider zog sie ihre Finger gleich wieder zurück. Sie suchte Abstand. Zaida hob den Kopf und suchte nach den Augen Madame Petrownas. Leider stand sie ungünstig, sodass es Zaida unmöglich war, ihre Mimik zu erkennen.

Eine Vision direkt vor ihren Augen– weiter konnte sich Zaida kaum noch entblößen. So dankbar sie der Russin war, aus diesem Todesalb erlöst worden zu sein, so unmöglich war die Situation, in der sie sich befanden.

Madame Petrowna wandte sich halb ab und trat zur Tür. In ihrer Haltung hatte sich etwas geändert. Sie wirkte stolzer, entschlossener. Zaida bezweifelte, dass ihr Madame Petrownas Entscheidung gefallen würde.

Getrennte Wege

Anabelle betrachtete nachdenklich ihren defekten Stahlkörper, der in den Ketten des Deckenkrans hing. Bislang hatte er jedem Versuch widerstanden, sich reparieren zu lassen. Das Zusammentreffen mit Madame Petrownas ehemaliger Meisterin – die irrsinnige Kälte und die Ablagerungen in den Gliedmaßen - waren der Technik nicht gut bekommen.

„Merde.“ Sie trat ein paar Schritte zurück, bis sie mit dem Rücken gegen die Dachbodentür stieß. Sie ließ den Korpus nicht aus den Augen. Was stimmte damit nicht?

Es gab kein einziges Teil, was sie nicht auseinandergebaut und gründlich gereinigt hatte. Wenn sie die Gelenke testete, funktionierten sie einwandfrei, aber sobald Zaida ihre Seele in die Maschine übertrug, fühlte sich der Körper fremd an. Sie konnte ihn kam bewegen. Vom mechanischen Standpunkt war alles in Ordnung, abgesehen von der dicken, blauen Kristallplatte, hinter der sich im Gebrauchsfall die Essenz ihrer Seele befand. Die feinen Spinnrisse konnten es doch nicht sein? Schließlich hatte der Angriff der Snegurotschka den schweren Edelstein doch nicht durchdrungen. Das wäre ihr unweigerliches Ende gewesen. Anabelle schauderte bei der Vorstellung. Aber der Gedanke ließ sich nicht von der Hand weisen. Sie bemerkte das Zucken ihrer Brauen mit milder Überraschung. In letzter Zeit bildeten sich immer häufiger menschliche Gesten in ihrem sonst neutralen Erscheinungsbild ab. Anabelle schüttelte den Gedanken ab und verschränkte die Arme vor der Brust. Wichtiger war, wie sie an einen Ersatz für den Kristall kommen sollte? Sie konnte wohl kaum eine neue, so große Platte aus Bergkristall fertigen lassen. Allein dieses Stück wog mindestens acht Pfund. Sie reparieren zu lassen, war scheinbar nicht mehr möglich. Sie atmete - atmete? - nein, sie füllte die Blasebalge in ihrem Torso mit abgestandener, staubiger Luft und stieß sie wieder aus. Wahrscheinlich blieb ihr nichts anderes übrig als sich doch nach einer neuen Platte umzusehen, wollte sie je wieder in ihren vertrauten, wehrhaften Stahlkörper übersiedeln. Bei einigen ihrer Gegner musste sie in der Lage sein zu kämpfen. Das konnte sie nicht im gleichen Maß, wenn sie den aktuellen Leib nutzte. Trotzdem fühlte sie sich gerade viel Menschlicher und konnte die Zweisamkeit mit Zaida mehr genießen. Instinktiv strich sie über die wesentlich kleinere Diamantplatte, die oberhalb des ihres Busenansatzes saß und den Hohlraum ihrer Essenz verschloss.

Vielleicht war es gut so wie es gerade war …

Die Tür stieß in ihren Rücken. Wer störte jetzt wieder? Sie trat zur Seite. Madame Petrowna, Jewa, spähte in die Dachkammer. Zwischen ihren Brauen zog sich eine steile Falte nach oben und in ihren hellen Augen brannte Zorn. Sie schien verärgert zu sein. Seit die russische Gräfin unter Zaidas Dach lebte, lag eine besondere Spannung in der Luft, die sich zusehends verdichtete. Anabelle kannte das Geheimnis – Eifersucht. Weder Zaida noch Jewa ließen sich zu Gefühlsausbrüchen verleiten; sie zwangen sich die Form zu wahren. Aber zwischen den beiden Frauen stand die erste Annäherung Madame Petrownas – der sich Anabelle auch nicht wiedersetzt hatte. Zaida würde auch zukünftig diese Verfehlung nicht vergessen.

Anabelle kniff die Augen zusammen und massierte sich den Nasenrücken. „Alors, Madame, was ist passiert?“

Jewa schob die Tür hinter sich ins Schloss, verharrte kurz, bevor sie sich umwandte. Sie hielt den Blick gesenkt. Helle Locken fielen ihr in die Stirn. Ihre Lippen zitterten. Die unnatürliche Blässe stand im Gegensatz zu der gefurchten Stirn. Wenn Anabelle ihre Körpersprache recht interpretierte, stand keine Wut hinter ihrer Haltung.

„Madame Petrowna?“

Jewa zögerte, wobei sie ihre Finger in den teuren Stoff ihres Rockes grub. In ihrer Hand lag ein zerknitterter Zettel – die einzige Möglichkeit der Ausdrucksweise für die stumme Frau.

In Anabelle erwachte ein unangenehmes, schwer einzuordnendes Gefühl. Es kam an eine Mischung aus schwacher Sorge, Schuldbewusstsein und Unsicherheit heran. Hatte Zaida die Gräfin des Hauses verwiesen? Anabelle schob den Gedanken von sich. Er war zu unwahrscheinlich. Schließlich würde sich eine Dame wie Zaida nie solch eine Blöße geben.

Anabelle wies zum Schreibtischstuhl.

„Bitte, Madame Petrowna.“

Jewa straffte sich, bevor sie sich von der Tür löste. Noch immer bewegte sie sich langsam und unsicher. Sie rang die Hände. Neben dem ledergepolsterten Holzdrehstuhl blieb Jewa stehen und reichte Anabelle das Blatt. Zögernd glättete Anabelle den Zettel auf der zerkratzten Tischplatte. Eigentlich wollte sie nicht wissen, was Jewa ihr zu sagen hatte, aber sie konnte sich gegenüber den unangenehmen Dingen, die seit einigen Tagen in dem Haus vorgingen, nicht verschließen.

Wahrscheinlich ist es unerheblich, wenn ich mich in aller Form bei Ihnen und Madame Zaida entschuldige. Dennoch möchte ich es, denn ich habe diesem Haus nichts Gutes gebracht.

Meine liebe Mademoiselle Talleyrand, es lag mir fern, Ihnen auf solch unmögliche, ehrlose Weise zu Nahe getreten zu sein. Bitte glauben Sie mir, dass ich zu der Zeit nicht Herrin meines Körpers gewesen bin.

Um wenigstens den letzten Rest Anstand zu wahren, kann ich nicht länger in diesem Haus bleiben. Die Gastfreundschaft, die mir durch Madame Zaida zuteilgeworden ist, möchte ich gerne mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln vergelten. Sie beide haben auch für mich Unglaubliches geleistet und mir ein Leben in Ehre geschenkt. Umso mehr bedauere ich jedwede meiner Verfehlungen.

Anabelle verstand ihre Reaktion, aber Jewa war noch nicht in der Lage auf eigenen Beinen zu stehen, Ehre hin oder her, aber selbst Zaida würde das nicht zulassen wollen, vollkommen gelichgültig, was sie sonst von der Gräfin hielt. Allein aus dem Gesichtspunkt der Gefahr, die Jewa für normale Menschen darstellte, war es unmöglich, sie wieder auf London loszulassen. Demonstrativ zerknüllte Anabelle den Brief und warf ihn in den Papierkorb neben ihrem Schreibtisch.

„Das halte ich von Ihren Zeilen, Madame.“

Jewa sprang fassungslos auf. Ihr Gesicht hatte den letzten Rest Farbe verloren, nur um sofort hektisch rote Flecken auf ihre Wangen zu zaubern. Die steile Falte zwischen ihren Brauen vertiefte sich. Blanker Zorn erwachte. In etwa so hatte sie auch ausgesehen, als Anabelle sie eingelassen hatte. Spätestens jetzt lag die Vermutung nah, dass Zaida in etwa das Gleiche mit der Version des an sie gerichteten Schriftstücks getan hatte. Vermutlich hatte sie nur gemäßigtere Worte gewählt. Anabelle wandte sich ab. Sollte sich die Gräfin ruhig austoben, sprechen konnte sie nicht.

Natürlich zog Jewa sich Füllfederhalter und Papier heran. Das Kratzen der Spitze und die verkrampften Laute, die sie ausstieß, sprachen von ihrer Wut.

Anabelle trat an das Konstrukt heran, ließ die Aufhängung herab und griff nach einem Stemmeisen. Später würde sie die Zeilen Jewas vielleicht lesen. Jetzt hatte sie Wichtigeres zu tun, etwas das Zaida vielleicht versöhnlich stimmte und etwas Ruhe einbrachte. Der Körper war unbrauchbar, zumindest im Augenblick. Ein Splitter aus der Herzplatte wäre sicher ein sehr persönliches Geschenk für Zaida. Damit überreichte sie ihr einen winzigen Teil ihrer Seele und der Liebe, die sie empfand.

*

Zaidas Hände zitterten. Der Kontrast ihrer schwarzen Haut zu den hellen Briefbögen verstärkte den Eindruck. Warum hinterließ eine Vision solch einen starken Eindruck? Sie stützte sich mit dem Ellbogen auf der Stuhllehne ab und stützte den Kopf in die Hand. Auf ihrer Stirn hatte sich kalter Schweiß gebildet. Mühsam atmete sie ein und schloss für einen Moment die Augen. Diese verbrennen der Realität und die blendend weiße Helligkeit mochten etwas mit Jewa Petrowna zu tun haben, aber unter den gegebenen Umständen ging von der Gräfin ungefähr die selbe Gefahr aus wie von der Snegurotschka. So lange die beiden hier waren, richteten sie keinen Schaden an. Zaida befeuchtete ihre Lippen. Die Eindrücke, die sie gehabt hatte, waren nicht die des Beobachters. Seit Jahrzehnten , nein seit Jahrhunderten erlebte sie eine Vision nicht aktiv sondern als unbeteiligte Beobachterin. Der Platz als Zuschauer reichte in den meisten Fällen auch vollkommen aus. Zaida hatte es gehasst, in den Körper eines Sterbenden gezogen zu werden. Die Schmerzen und das sichere Gefühl des endgültigen Endes waren ihr in vielen Fällen von den Menschen aufgezwungen worden. Sie hatte ihre Schmerzen ertragen, ihre Ängste und die Scheu vor dem Verlust ausgestanden, nur um andere zu entlasten und ihnen ein friedvolles Ende zu schenken. Und wofür? Weil sie es für wichtig erachtet und irrigerweise für ihre Pflicht gehalten hatte. Sie, die Priesterin der Sonne und des Lebens … Nein, das wollte sie nie wieder ertragen. Zwei Jahrhunderte mit unzähligen Schicksalen, die sich nie vollkommen verdrängen ließen, reichten für ein unendliches Leben aus. Zaida ballte die Faust vor der Stirn. Wie konnte das passieren? Durch Songa und Manikongo war sie geschützt. Wo trieben sich die beiden Raben überhaupt herum?

Es klingelte. Überrascht öffnete Zaida die Augen. Klienten?

Sie war sicher, dass in ihrem Auftragsbuch kein Termin für heute Vormittag verzeichnet stand. Langsam erhob sie sich und trat ans Fenster. Auf der Straße stand eine herrschaftliche Kutsche des Palastes und auf dem Bock saß ein rot livrierter Mann, dem das Regenwasser über die Krempe seines Hutes Mütze in den Mantelkragen rann. Dennoch verzog er keine Miene. Spätestens Morgen würde er die ersten Auswirkungen einer massiven Erkältung mitbekommen.

Zaida löste sich vom Fenster um zu öffnen. Vor dem Siegel über der Garderobenkonsole überprüfte sie den Sitz ihres Kleides und ihre Frisur. Selbst wenn es sich nur um einen Diener der Königin handeln mochte, so musste sie einen ordentlichen und guten Eindruck machen. Erneut klingelte es. In der oberen Etage schwang die Tür des Gästezimmers auf und der Schatten der Gräfin fiel auf die Stufen. Hoffentlich kam sie ihrer Neugier nicht nach. Nichts wäre ungünstiger als ihre Anwesenheit. Rasch öffnete Zaida die Tür.

Unter dem Vordach stand John Brown. In der rechten Hand hielt er seinen nassen Balmoral. Auf den Schultern seines Jacketts waren Regentropfen zerplatzt, standen aber auf dem dicken, schwarzen Stoff. Selbst jetzt trug Brown einen Kilt. Er schien nicht zu frieren.

„Guten Morgen, Mr. Brown.“ Zaida trat zur Seite und machte eine einladende Handbewegung in den Hausflur. Schweigend kam der hochgewachsene, breitschultrige Mann ihrer Aufforderung nach. Er brachte mit der kaltnassen Luft den Geruch von Erde und feuchter Wolle herein. Sein Blick glitt an den Türen entlang und die Stufen hinauf. Glücklicherweise hatte die Gräfin sich zurückgezogen. Zaida öffnete die Salontür und bat ihn in den wesentlich kälteren Raum. Auf der Vogelstange saß Songa, den Kopf unter einem Flügel. Der Rabe schreckte auf, als Brown eintrat. Er krächzte kurz, schüttelte sein Gefieder und sank wieder in sich zusammen. Brown war stehen geblieben. Er musterte Songa. Zwischen seinen Brauen fraß sich eine steile Falte in die Haut. Er machte eine Handbewegung in den Flur. „Raus, Federvieh!“, befahl er.

Zaida bemerkte, wie sich Browns Kiefermuskeln unter dem Bart bewegten. Sie zuckten auch noch als Songa sich abstieß und nach draußen flatterte. Das war ganz und gar nicht gut … In Zaidas Kehle saß ein fester Kloß, der ihr das Schlucken erschwerte. Hatte die Königin etwas von dieser unsäglichen Affäre mit Lady Arlington mitbekommen? Wusste sie, dass hier ein Wintergeist in Anas Körper festsaß, oder war ihr zu Ohren gekommen … Langsam, schwer atmete Brown durch. Zaida wurde es schlecht. Unsicherheit und Angst versuchten sich in ihre nach oben zu zwingen. So hatte er zum letzten Mal reagiert, als sie Ana gegen den Willen der Königin bei sich aufgenommen und sie vor dem Gesetz geschützt hatte. Brown war der direkteste aller Diener der Königin. Sie saß vermutlich selbst draußen, in der Kutsche und wartete, dass er seinen Auftrag erledigte. Er hatte sich nicht gesetzt sondern stand reglos mitten im Raum. Noch immer arbeitete die Muskulatur in seinem klaren, ernsten Gesicht. Oh verdammt auch … Zaida klammerte sich an den Türknauf. Der Boden unter ihren Füßen schien zu wanken.

„Ich habe einen Auftrag für dich, Frau.“ Seine Stimme klang dumpf. Er starrte die Wand an.

„Soll ich Anabelle rufen?“

Er schüttelte den Kopf, bevor er sich umwandte. Seine Augen fanden erst jetzt einen Fokus. „Nein, das hat sie untersagt.“

„Ist es geheim?“, fragte Zaida zögernd.

„Warum glaubst du, habe ich dein sprechendes Federvieh sonst ausgejagt, Weib?“, schnappte Brown.

Über die barsche Ausdrucksweise sah Zaida hinweg. Brown duzte sogar die Königin und nannte sie Weib. Er war direkt, vielleicht der größte Vorteil des rüpelhaften Mannes und ein Attribut, was Zaida bei ihm schätzte. Er konnte nicht lügen und geheime Aufträge zu überbringen verlangte ihm mehr ab, als er geben konnte. Wenigstens sprach er nichts von den Verfehlungen der letzten Tage des alten Jahres an.

„Dann bitte ich darum, dass Sie zum Punkt kommen, Mr. Brown.“

„Es geht um einen Vorfall mit Lady Fortesque.“ Brown setzte sich nun doch. Mit seinen großen, kräftigen Händen drehte er den Balmoral Bonnet und zerrte am Hutband. Seine Brauen zogen sich zusammen. „Sie misstraut ihr.“ Er sah kurz auf, bevor er sich wieder auf sein schwarzes Barett konzentrierte.

„Lady Fortesque ist … wer?“ Zaida zögerte absichtlich um klar zu machen, dass sie seine Gedanken nicht lesen konnte.

Brown entspannte sich etwas. „Sagt dir Curver & Fortesque etwas?“

Bei der Erwähnung des Firmennamens hatte Zaida sogar ein klares Bild des Schriftzuges vor Augen. Natürlich war ihr Curver & Fortesque ein Begriff.

„Eine Tuchmacherei, die sich durch recht moderne Maschinen hervortut und trotz der hohen Produktion gute Qualität liefert.“

Brown nickte. „Nahezu jeder, der gutes Geld verdient, kleidet sich in Stoffe von Curver & Fortesque.“

Langsam löste Zaida sich von der Tür und breitete die Hände aus. „Sie wollen sicher keine Werbung für eine Fabrik machen. Worum geht es wirklich?“

Brown versteifte sich. Er knüllte sein Balmoral. Die Adern auf seinem Handrücken traten deutlich hervor. Er presste die Lippen aufeinander. Er schwieg. Plötzlich erhob er sich. „Die Lady scheint jüngst mit Anaïs Talleyrand-Bergen in Kontakt gekommen zu sein.“

Zaida fuhr zusammen. Um ihre Brust spannte sich ein Stahlring, der nicht aufplatzen wollte. Atem holen konnte sie nicht. Anaïs, Anas Schwester lebte noch? Hinter ihren Schläfen pochte das Blut. Das konnte doch nicht sein! Anaïs Talleyrand-Bergen war tot. Zaida erinnerte sich deutlich an den angeketteten Körper, der Anabelle bis aufs Haar glich, an das entsetzliche Gefühl ihn mit Öl zu übergießen, nachdem sie der Maschine die künstlichen Augen zertrümmert und die Herzplatte mit Königswasser aufgelöst hatte. In all den Jahren war der Moment der brennenden Maschine noch immer präsent. Nervös befeuchtete Zaida ihre Lippen. „Das kann nicht sein.“

„Es ist so!“, presste Brown hervor. „Anaïs Talleyrand-Bergen hat mit Lady Fortesque direkt nach dem Tod ihres Mannes Kontakt aufgenommen. Erledige das Problem, schnell und unauffällig!“

Während er sprach fiel etwas Kaltes in Zaidas Kragen. Sie konnte Eis auf ihrer Haut schmelzen fühlen. Ich rann ein Schauder über den Rücken. Sie versteifte sich. Wieder hatte sie das Gefühl Schnee zu atmen …

„Kein Wort zu der französischen Maschine!“

Brown war aufgestanden und verließ den Salon. Er warf ihr ein paar Brocken vor und gab ihr kaum weitere Anhaltspunkte. Das konnte er nicht machen!

„Warten Sie, Brown!“ Sie trat auf den schmalen Flur zwischen Salon und Treppe. Tatsächlich blieb er an der Tür stehen. Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Was soll das?!“, fragte sie scharf. „Ein paar Informationen mehr würden mir die Arbeit erheblich erleichtern.“

Er schwieg nachdenklich, den Blick nach innen gerichtet. „Ich habe nicht viel, Nyasha.“

Nyasha? Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Zugleich rann ihr ein eisiger Schauder über den Rücken. Wie kam er zu diesem Namen? Beim Schlucken stieß ihre Kehle gegen den eng geschlossenen Vatermörder.

„Für Sie, Brown, bin ich Madame Zaida!“, stieß sie zwischen zusammengepressten Zähnen hervor. Browns Miene blieb vollkommen unbewegt. Wie konnte es sein, dass er ihren Geburtsnamen kannte und offen aussprach. Was erlaubte er sich? Mühsam zwang sie die erste Wut hinunter. Sie musste sich mäßigen, schließlich war er der Vertraute und Privatsekretär der Königin. Vielleicht unterhielt sie sich mit ihm tatsächlich so offen über ihre Agenten.

„Wo finde ich Lady Fortesque?“ Sie konnte den nun heiß aufwallenden Ärger kaum aus der Stimme verbannen.

„Wahrscheinlich in ihrem Stadthaus in der Albany Street, in Camden.“

Das war nicht weit weg.

„Haben Sie eine Hausnummer oder wenigstens Anhaltspunkte?“ Zaida verengte die Augen. „Beispielseise in der Nähe des zerstörten Colluseums oder am Regent‘s Park?“

Er nickte. „Regent’s Park.“

„Haben Sie mehr für mich?“ Ungeduld schwang in ihrer Stimme nach. Er zögerte kurz, bevor er sagte:

„Wenn sie nicht mehr dort sein sollte, finden Sie sie in ihrem Cottage in Northumberland.“

Offenbar hatte er genügend Informationen gegeben, denn er tippte sich an den Balmoral und wandte sich zum gehen. Einen Moment später schlug die Haustür zu. Zaida registrierte es nur am Rande. Die innere Kälte nahm zu. Verdammt, wie sollte sie damit umgehen? Wenn Anas Schwester noch lebte, konnte es gut möglich sein, dass auch Robert von Bergen nicht umgekommen war. Allein bei der Vorstellung rann körperlich schmerzhafte Angst durch Zaidas Körper. Sie rieb sich die Arme um das Gefühl loszuwerden. Allein gegen eine Kampfmaschine und einen Magier? Wie groß waren ihre Chancen?

*

„Annabelle?“ Zaidas Stimme drang gedämpft durch die Tür. Sie klopft sacht dagegen. „Hast du einen Moment Zeit?“

Nicht ausgerechnet jetzt. Gequält stöhnte sie und warf einen Blick auf ihre Taschenuhr, die auf der Arbeitsplatte lag. Erst vier Uhr? Tee gab es doch frühestens in einer Stunde.

Sie schob Diamantfeile und Bohrer in den Werkzeuggürtel über ihrer Lederschürze, nahm den kleinen, blau verfärbten Splitter vom Tisch und schlug ihn in einen öligen Lappen ein. Zaida sollte ihr Geschenk nicht unbearbeitet sehen. Mit einem Blick überprüfte sie, ob die restlichen Gegenstände, die sie zur Herstellung der Kette brauchte, möglichst unverfänglich wirkten. Nicht wirklich. Die Fassung aus Zahnrädchen, die wie Schmetterlingsflügel übereinander verlötet waren, lagen prominent im Weg. Leider war das Kupfer noch zu warm, um es einfach einzustecken. Vorsichtig drapierte sie eine Schachtel mit Schrauben und eine weitere mit Muttern davor. Zufrieden trat sie zurück, öffnete aber mit aufgesetzt finsterer Miene. Hoffentlich bemerkte Zaida die Charade nicht. Offenbar hatte ihre Freundin nicht mit solch einem Unmut gerechnet. Zaida wich instinktiv einen Schritt zurück. Ihre Augen weiteten sich.

„Ana?“, fragte sie. Unsicherheit schwang in ihrer Stimme.

Ging es vielleicht um Jewa? Vielleicht hatte Zaida sie doch … nein, solch eine Verfehlung würde ihr nicht ähnlich sehen.

„La Lettre, Madame Petrowna hat dir sicher auch einen Brief übergeben“, begann Anabelle. Sie hoffte, dass Zaida nicht deshalb hinaufgekommen war.

„Ja, sicher. Ich habe ihr gesagt, dass ich ihn nicht akzeptieren kann und ihn im Kamin verbrannt.“ Zögernd streckte Zaida die Hand aus und legte sie sacht über Anabelles Wange. Die Berührung tat gut. Sie fühlte sich wundervoll zärtlich und vertraut an.

„Hat sie dir einen ähnlichen Brief gegeben?“

Anabelle löste sich aus Zaidas zärtlicher Geste und wies mit der Hand über die Schulter. „La corbeille à papier. Ich habe ihn gelesen und weggeworfen, denn ich denke, dass sie außerhalb des Hauses für sich und andere eine Gefahr bedeutet. Aber ich kann sie verstehen. Sie fühlt sich nicht akzeptiert …“ Anabelle biss sich auf die Unterlippe. War jetzt der richtige Zeitpunkt Zaida darauf anzusprechen?

Kurz versteifte sich ihre Freundin, senkte aber die Lider.

„Du hast recht, Liebes. Ich kann sie nur nicht ansehen ohne die Gewissheit, dass sie dich …“ In ihrer Stimme schwang Schmerz und Wut mit.

„Je ne … Es war nicht nur ihre Verfehlung. Du darfst es ihr nicht zum …“, Anabelle spürte, dass sie sich heiß redete, denn das Wort fehlte. „reproche … Vorwurf machen, denn zu diesem Zeitpunkt konnte sie ihre Jagdinstinkte noch nicht beeinflussen. Jetzt ist sie zumindest für dich und mich keine Gefahr mehr.“

Zaida lächelte bitter. „Das rufe ich mir immer wieder in Erinnerung. Allein deshalb kann ich Madame Petrowna nicht gehen lassen, denn die Gefahr, dass sie sich wieder rückentwickelt, ist gegeben.“

Anabelle umarmte sie. Es ging einfach nicht anders. Sie folgte blind dem Gefühl, was Zaida in ihr hervorrief. Diese impulsive Art kannte sie nicht an sich. All die Jahre, vollkommen gleich ob in ihrer menschlichen oder metallenen Hülle, hatte sie nie den Wunsch verspürt ihren Emotionen nachzugeben. Es fühlte sich falsch an, aber andererseits richtig, denn Zaida streichelte sie, schob ihre langen, schlanken Finger unter ihren Haaransatz und berührte die Anschlüsse in ihrem Nacken, das Nervenzentrum ihres Körpers. Anabelle spürte dem wundervollen Gefühl nach. Plötzlich flüsterte Zaida: „Ich bin nicht wegen Madame Petrowna hier, Liebes.“ Der Ernst in ihrem Tonfall ließ Anabelle aufschauen.

„Mais?“, fragte sie. „Warum sonst?“

„Inspektor Hailey wartet unten. Kannst du dich um ihn kümmern?“

Hailey? Anabelle spürte die bittere Eifersucht auf den Inspecteur. Konnte er ihnen nicht eine Woche ohne seine Anwesenheit gönnen?

„Ein neuer Fall?“, fragte sie. Wahrscheinlich konnte sie ihre Haltung ihm gegenüber nicht aus ihrer Stimme streichen, denn Zaida hielt sie an den Schultern, trat aber einen Schritt zurück. Ihr stolze Haltung schmolz tiefer Erschöpfung. Zaida senkte sie den Blick. Das Licht der Werkstatt schimmerte auf ihren schwarzen Wangen. Ihre Hände sanken herab. Sie schien sich unwohl zu fühlen und nestelte an dem schlichten, dunklen Kostüm. Ein Auftrag, aber nicht an sie beide, sondern nur an Zaida. Das Kochen in ihrem Inneren nahm zu. Oh wie sie Hailey manchmal hasste!

„Du trägst Reisekleidung, ma cher? Der Auftrag führt dich von London fort?“

„Nicht Haileys.“ Zaida atmete tief durch. Sie straffte sich. „Mr. Brown überbrachte mir vorhin ein dringendes Anliegen der Königin; die zwingende Aufforderung, mich bis zum Ende der Woche bei Lady Fortesque einzufinden. Die alte Dame muss wohl …“ Einen Moment zögerte sie. Dachte sie sich eine vertretbare Version der Wahrheit aus? „Die Lady hat ein paar schwer lösbare Probleme, die ich beseitigen soll.“

Immerhin nicht Hailey. Trotz allem zog sich Anabelles Essenz zusammen. „Du allein, nehme ich an?“

Zaida nickte traurig. „Leider ja, Liebes. Ich möchte dich bitten, dass du Hailey hilfst, denn ich kann es dieses Mal nicht.“

„Wann hattest du mir vor, von deiner Reise zu erzählen?“

„Eigentlich gleich nachdem Brown ging. Hailey kam leider dazwischen.“ Sie griff nach Anabelles Händen. „Ich will diese Reise gar nicht antreten, denn ich habe eine böse Ahnung …“, ihre Lippen zuckten. „Ich hatte die Vision im Schnee zu ersticken.“

„Die Snegurotschka?“, fragte Anabelle. Sie hatte das Gefühl ihr nicht mehr vorhandenes Herz bis in die Kehle schlagen zu fühlen.

Knapp, kaum merklich, schüttelte Zaida den Kopf. „Ich kann mir das Szenario nicht einmal erklären.“

Ihre Stimme versank mit der Stille des Hauses.

Das Gefühl von Hitze und Tränen strömte durch Anabelles Essenz. „Was hast du gesehen?“

„Kälte und Schnee“, begann Zaida. Sie legte die Hände übereinander. Schwer überschatteten die Wimpern ihre dunklen Augen. „Ich …“ Ihre Finger verkrampften sich, „war nicht in der Lage mich zu bewegen, konnte nicht sprechen, nur atmen und sehen. Dann stürzte ich in den Schnee, das Gesicht voran. Ich konnte die beißende Kälte fühlen, habe Schnee und Wasser geatmet. Es war wie in fester Materie zu ertrinken.“

Anabelle presste die Lippen aufeinander und nahm ihre Hände. Sacht massierte sie die feinen, langen Finger. Sicher fühlten sie sich jetzt kalt an. Zaida fürchtete sich. Selbst wenn diese Eindrücke nichts mit ihrem Auftrag zu tun haben sollten, würden sie Zaidas Fähigkeiten stark beeinträchtigen und ihre Konzentration stören.

„Kommt die Vision durch Jewa?“ Anabelle fühlte sich bei den Worten mehr als unwohl.

„Es wäre wahrscheinlich logisch“, flüsterte Zaida. Sie schüttelte schwach den Kopf. „Seit die Gräfin bei uns ist, hatte ich nicht eine Vision. Außerdem hatte ich das Gefühl der Lähmung. Ich bezweifele, dass sie die Quelle ist. Dahinter verbirgt sich eine Warnung, die ich nur noch nicht deuten kann.“

„Dann weise den Auftrag der Königin und den Haileys ab, Zaida.“

Schmerzlich schüttelte die Magierin den Kopf. „Gegen einen königlichen Befehl kann ich nicht aufbegehren.“

Enttäuschung kroch betäubend durch Anabelles metallenen Körper. Normalerweise fiel es ihr nicht so schwer, Zaida für eine Weile ziehen zu lassen. Aber allein die Erwähnung einer bösen Ahnung, wie Zaida sich ausgedrückt hatte, machte ihr Angst. Hinter ihren Worten verbarg sich mehr. In Anabelle wuchs das Gefühl von lauernder Gefahr, die sich in der Tageshelligkeit verbarg, offen, und doch unterschwellig. „Geh nicht, bitte.“

„Mir wird nichts passieren, Liebes“, flüsterte Zaida.

Zumeist hatte sich jedwede Sorge um eine mächtige, alte Magierin wie Zaida, als lächerlich erwiesen. Es war eine Tatsache, dass es kein Wesen gab, das der Macht der Sonne und der Erde wiederstehen konnte. Trotzdem ließ sich diese immer präsenter werdende Angst nicht vertreiben. Umstimmen lassen würde Zaida sich nicht. Ein Befehl war ein Befehl. Resigniert nickte Anabelle. Zaida strich sanft über ihre Wange, tasteten nach ihren Lippen … Anabelle hob den Blick.

Ihre Freundin zog sie an sich. Die Wärme ihres Körpers war sogar für sie spürbar. Seufzend lehnte sie sich an Zaida. „Ich kümmere mich um Haileys Probleme, promis, Zaida.“

„Danke, Liebes.“

Zaida lehnte ihre Stirn gegen Anabelles. Tränen schimmerten in ihren schwarzen Augen. Sie fürchtete sich. Anabelle schauderte, auch wenn sie keine Kälte wahrnahm. Zaidas Angst war nicht unbegründet. Wie konnte Anabelle Hailey unterstützen, wenn ernstzunehmende Gefahr drohte?

„Bitte bleib mit mir in Kontakt, Zaida, schick mir Telegramme oder entsende Songa und Manikongo. Ich muss einfach sicher sein, dass dir nichts passiert.“

Sie schlang ihre Arme um den Nacken Zaidas und reckte sich, um diese weichen, dunklen Lippen zu küssen. „Promis?“

„Versprochen“, flüsterte Zaida. Ihr warmer, feuchter Atem streifte Anabelles Haut. „Mach dir keine Sorgen, Liebes.“

Die Worte klangen ehrlich, steigerten aber Anabelles Ängste.

„Wenn ich dir doch nur glauben könnte, ma cher.“


Nachwort zu diesem Kapitel:
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Kommentare zu dieser Fanfic (9)

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Von:  MissKazama
2016-05-18T15:26:35+00:00 18.05.2016 17:26
Wow echt packend und perfekt geschrieben *____*
Antwort von:  Luca-Seraphin
20.06.2016 06:24
Vielen lieben Dank :D Dann hoffe ich, dass Dir alles andere auch gefällt :)
Von:  Silver_Wolf
2014-05-30T12:21:22+00:00 30.05.2014 14:21
Also ich bn ja so oder so n fan dieser Story :-) die letzte war schon hammer ^^ ich hoffe du schreibst bald weiter :-)
Antwort von:  Luca-Seraphin
30.05.2014 15:32
Hehehe, Danke Dir :)
Der erste Band dazu (Raunacht) wird nun überarbeitet bei einem Verlag erscheinen. Danach kommt das Buch hier ;) Voerhin hatte mich miene Verlegerin angeschireben und frage ganz vorsichtig, ob sie wahlweise vergessen hätte mir die lektorierte Fassung zu Raunacht zu schicken. Konnte ich nur mit einem saftigen "Ja" beanworten :D
Von:  rikku1987
2013-09-07T08:13:28+00:00 07.09.2013 10:13
*reinhuscht und sich umsieht* juhu bin der erste:-D also es ist mal wieder hammergeil * auf favos setzt* kann das nächste kapi kaum erwarten
Antwort von:  Luca-Seraphin
07.09.2013 11:07
Dem kann schnell nachgekommen werden :D Lade ich doch gleich mal wieder eins hoch :D
Ich Danke Dir :)


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