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Night's End

Der Wiedergänger
von

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Verlorene Liebe

Lang schon hatte Luca alles Zeitgefühl verloren. Er wusste nicht ob es Tag oder Nacht war, nur, dass er zu Tode erschöpft war und seine Gedanken immer wieder in Dunkelheit und wirren Wachträumen zu versinken drohten.

Wie gewohnt hatte Tambren ihm schon mehrfach seine Besorgnis ausgesprochen und er den Drachling ignoriert. Aber nun war der Punkt erreicht, an dem sich auch für Luca Realität mit Einbildung vermischte. Die Kräuterpaste, die er behutsam über eine Eiter schwärende Wunde strich, nahm für den Bruchteil einer Sekunde die Farbe frischen Blutes an, sodass Luca erschrocken die Hände zurück zog und mehrere Herzschläge lang die Lider schließen musste. Ihm war schwindelig. Das alles war viel Arbeit, unfassbar viel Arbeit.

Mit Hilfe Rias und einiger erstaunlich gesunder junger Männer und Frauen, die durchaus freiwillig bereit waren ihre Lebensenergie zum Teil zu opfern, hatte er schon zu Anfang vielen Personen helfen können. Dabei ermahnte er allerdings auch jeden eindringlich im Anschluss zu ruhen, viel zu essen und viel zu trinken, denn die Kraft würde sich nicht wirklich schnell wieder herstellen.

Dem Rat folgte er selbst nur bedingt. Orpheu hatte ihm zwischendurch mehrfach Tee gebracht und einen Apfel, den Luca zu einem Teil mit außergewöhnlicher Gier verschlang, bis er dann die hungrigen Augen eines kleinen Mädchens sah und ihr die restliche Hälfte überließ.

„Du musst essen und schlafen, Luca“, ermahnte ihn Tambren erneut. In der Stimme des Drachlings schwang einige Resignation mit.

Der Magier bedeckte den Rücken des Gnoms mit einem feuchten, vom auskochen noch warmen, Tuch und erhob sich dann unsicher vom Boden. Sein Gleichgewichtssinn setzte für einen Moment aus und er taumelte leicht, fand aber wieder Stand. Schwindelig fühlte er sich dennoch. Das Bild des Kessels kippte und bebte immer wieder leicht. Seine Knie zitterten mit jedem Herzschlag stärker. Aber insgeheim verspürte er einen leisen Anflug von Freude. Der Anblick hatte sich vollständig verändert. Das Pendel hing nicht mehr an seinem Platz, dafür spannten sich Seile an der Holkonstruktion und darüber hingen Tücher wie ein Baldachin, der die Verwundeten vor herabfallenden Steinchen und Sand schützte. Auch hatte man den Richtblock einer anderen Bestimmung zugeführt. Er diente nun als eine art wuchtiger Schreibtisch. Zwei Männer standen dort und katalogisierten alles, was man ihnen vorlegte. Der Koch hatte sich am Rande des Kessels einen Platz gesucht und tat sein Bestes zusammen mit seinen freiwilligen Helfern allen Hunger zu stillen. Die Söldner wechselten sich alle paar Stunden in ihren Wachen ab und die siebenundzwanzig Männer du Frauen, die Luca halfen, hatten sich ihrerseits viel Unterstützung angeworben. Friedvoll und ruhig war es nun hier.

„Du hast Grund auf dich stolz zu sein, Luca“, gab Tambren leise zu. „Aber lass dir das nicht zu Kopf steigen.“

Lächelnd strich der Magier über den Kopf seines kleinen Vertrauten. „Jetzt will ich endlich nach meinem schönen Freund sehen“, flüsterte er.

„Ja, halbtot nutzt du ihm auch nichts“, neckte ihn Tambren.

„Und danach ein Bad ...“ Luca schloss die Augen. Er hatte von Orpheu gehört, dass es hier einen nutzbaren Baderaum gab, endlich eine Möglichkeit allen Dreck und alle Krankheit von seinem Leib zu spülen. Luca hatte die verschmutzten Körper gewaschen, die eitrigen Wunden und die von Fäkalien verdreckten Lager gereinigt. Nichts davon schien ihn zu stören, aber er fühlte sich momentan einfach nur unsauber.

Langsam schritt er durch das Lazarett und ließ die Geräusche und Gerüche hinter sich. Alles fiel von ihm ab wie eine Last der er sich jetzt erst bewusst wurde.

Der ihm zugewiesene Raum war unbeleuchtet, als er ihn betrat und die reglos daliegende Person erahnte er eher, als dass er ihn sah. Seine Augen mussten sich erst an das fehlende Licht gewöhnen. Lautlos trat er an das Lager und kniete sich neben den jungen Mann. Er schlief nun tief. Linnette hatte ihm die Wunden verbunden und ihn gut versorgt. Aber Luca nahm sich vor seinen schönen Freund zu reinigen und ihn noch einmal neu zu verbinden, dieses Mal mit magischer Unterstützung.

Jetzt fiel ihm auch wieder ein, dass der Junge seinen Namen genannt hatte, seinen Geburtsnamen.

Woher kannte er Luca?

Der kleine Drache reckte seinen Kopf so weit in Lucas Gesichtsfeld, dass der Magier ihn einfach ansehen musste.

„Anstatt dir sinnlos dein übermüdetes Hirn darüber zu zermartern, frag ihn, wenn er wach ist“, knurrte Tam.

Luca schlug den Blick nieder und lächelte matt. „Nicht falsch“, gab er zu.

Der Junge vor ihm regte sich, murmelte etwas, versuchte sich auf den Rücken zu drehen und gab es schließlich auf, denn die angelegten Schwingen machten ihm dieses Vorhaben vollkommen unmöglich.

„Er träumt.“, stellte Tambren fest, neigte den Kopf hinab und hob erstaunt die Brauenwülste. „Ganz offenbar aber nichts Schlechtes.“

Luca streichelte dem Drachen liebevoll mit der linken Hand über Kopf und Hals, streckte die rechte nach dem Haar des Jungen aus, zögerte aber einen Moment, bevor er seine Finger in dem dichten, noch immer silberweißen Haaren versenkte und seinen Hinterkopf zu kraulen begann.

Tambrens Schuppen begannen leise - exstatisch – zu klappern und seiner Kehle entrang sich ein wohliges Grollen. Auch der junge Mann regte sich wieder leise auf dem Strohlager, schob sich merklich zu Lucas warmem Körper und legte ungeschickt eine Hand auf das Knie des Magiers.

Das Gefühl diesen jungen Mann zu kennen brannte heißer denn je in Lucas Seele. Er war gerade dabei sich eine einfache Erklärung zu dem Wissen über seinen Namen zu Recht zu legen. Vielleicht hatte sich Justin ja Verraten und es ihm gesagt. Aber dieses Gefühl, als die Hand sein Bein berührte, der Anblick dieser langen, schlanken Finger, weckten einen winzigen Teil einer Erinnerung, die nicht da sein sollte. Dieser Junge, für Luca damals ein Mann, denn der Magier war damals ein Kind, hatte ihm den Armschmuck umgelegt, den er sogar jetzt unter seinem Gewand trug. Das, durch seine Haut, warme Metall fühlte sich für ihn plötzlich lebendig an, als wäre es eine Berührung einer Hand, die sich sanft um seinen Arm legte. Verwirrt hielt er inne und sah einige Sekunden still seinen Ärmel an. Dann löste er die Finger von Tam und dem Jungen, um den Stoff hochzuschieben und das breite, verzierte Armband zu betrachten. Von seiner Art war es eindeutig filigran wie eine elfische Schmiedearbeit. Smaragde, eingefasst in das feine Rankwerk von Silberfäden, feinen Blättern und Verästelungen. Zu diesem Schmuckstück hatte er immer eine sehr intensive Beziehung gehegt. Er trug es fast immer, und selbst ein Ihad oder ein Cyprian konnten ihm dieses Armband nie auf lang entreißen. Justin hatte es hundertfach bewundert, die schöne Arbeit immer als eine der schönsten Zierden an Luca geliebt und Kyle zerstörte es einmal fast in einem Anfall seiner Wut. Aber so unglaublich Zäh wie Luca, war ach diese Arbeit dauerhaft und eine letzte Erinnerung an die Person, die er war, bevor er an Cyprians Seite die Tore des Ordens durchschritt und sie danach über lange Zeit für ihn ins Schloss fielen und sich nicht wieder öffneten.

‚Er hatte es für mich gefertigt’, dachte Luca. ‚Es entstand zu meinem ersten Geburtstag, damals als meine Mutter noch lebte, und er war ein Teil meiner einstmaligen Welt … Tam, weißt du was das bedeutet? Vielleicht weiß er auch, was alles passiert ist. So vieles von meiner Erinnerung liegt unter Ihads Bann verborgen! Und ich kann ihn nicht abschütteln!’

Der Drachling kuschelte seinen Kopf in Lucas Halsbeuge und lächelte zufrieden. ‚Das wäre vielleicht die Befreiung für deinen Geist. Ich kann auch nicht weiter sehen als das, was dir bewusst ist. Aber es wäre schön zu wissen, wie die ganzen Fragmente deiner Vergangenheit zusammen passen, ab welchem Zeitpunkt du wirklich mit Justin in Kontakt kamst, warum dein Vater dich an Ihad und Cyprian verkaufte und wie das Haus deines Vaters unterging. Das alles hast du ja nicht mehr bewusst vor Augen.’

Luca atmete tief durch und nickte. ‚In einem Punkt bin ich mir sicher, mein kleiner Freund. Dieser Junge muss meine Mutter gekannt haben, und er weiß, dass auch ich ein Seraphin bin. Vielleicht kann er mir wirklich all das erzählen, wovon ich nichts mehr weiß. Vielleicht weiß er auch, was mit meiner kleinen Schwester passiert ist, wie mein Vater und meine Stiefmutter starben, all das, wovon ich nur weiß, was Cyprian und Justin mir sagten.’ Etwas zögernder, aber dennoch sehnsüchtig, gestattete er sich den hoffnungsvollen Wunsch, den einzigen, der mehr als alles andere auf seiner Seele brannte in stumme Worte zu fassen. ‚Und vielleicht hat er mich damals auch geliebt, so wie ich ihn nun liebe.’

‚Vielleicht hast du ihn schon damals geliebt’, gab Tam zu bedenken. ‚Aber das erfährst du nur, wenn du ihn fragst.’

Luca nickte. Seine Seele fasste neue Hoffnung.

‚Geh endlich baden, du eitler Kerl’, drängte Tambren ihn nun. ‚Du wirst später ausgeruht wieder gebraucht, und das ist etwas, wofür ich weder hellsichtiges Fähigkeiten haben muss, noch prägkognitive.’

Behutsam hob Luca die Hand des Jungen von seinem Knie und bettete sie auf das Stroh. Unruhig rückte der Seraph seiner Körperwärme nach.

„Ich bin sehr bald wieder bei Dir, mein wunderschöner Freund“, flüsterte Luca, strich ihm mit einer Hand über das Haar und deckte den schlafenden Jungen gründlich zu.
 

Tatsächlich hatte Luca heißes Wasser aus dem, was Orpheu großspurig Baderaum nannte und sich genaugenommen als mit fließendem Wasser gefülltes Felsenloch herausstellte, mitgebracht und den Seraph gereinigt. Alle Verbände hatte er getauscht und noch viele Stunden darauf aufgewendet, ihn immer wieder mit kleinen Teilen seiner Lebenskraft zu versorgen, bis die aus dem Fleisch gerissenen Stellen Stück um Stück zu verschorften, nun nur noch unangenehm ziehenden Verletzungen wurden. Zwischendurch schlief er immer wieder kurz ein, erwachte aber von dem schmerzhaften Ziehen in seinem Rücken, weil er im Schneidersitz auf dem Boden kauerte und nicht einmal eine Wand zum Abstützen hinter sich hatte. Nach einigen Stunden rollte er sich dicht neben dem Jungen in seinen Mantel ein, drückte seinen Drachen an sich und schlief schon tief und fest, bevor sich Tambren noch richtig in seinen Armen ausgerichtet hatte.

Wie lange er im Anschluss geschlafen hatte, konnte er nicht sagen. Aber als er erwachte, lag er zusammengerollt wie ein Neugeborenes auf der Seite, unter einer schwarzen Schwinge verborgen und wohlig warm geschützt vor der Kälte, die leicht über seine Wange strich. Tambren schreckte nun auch hoch und kroch recht wenig behände aus Lucas Armen hinaus, um sich in einer Ecke erleichtern zu wollen.

Der Magier reckte gähnend seine verkrampften Glieder. Er hatte das Gefühl, dass er sich keine Sekunde in dieser Nacht – war es denn Nacht gewesen? – gerührt hatte.

Dann rollte er sich vorsichtig mit dem Rücken zu dem Jungen, sah hinüber zu dem Eingang der Höhle, der verborgen hinter einem Tuch lag und registrierte, dass jemand ihnen etwas zu Essen hier abgestellt hatte.

Tams Fokus verschob sich mit dieser Entdeckung auch sofort. Er ergriff ein Stück Hartkäse, schmiegte seine Wange dagegen und murmelte: „Komm her mein Schatz und lass Dich verführen.“

Luca lachte leise. „Du bist auch nichts außer Magen, oder?“

Tambren streckte ihm die Zunge heraus und biss dann herzhaft in den Käse.

„Wie lang haben wir geschlafen?“, murmelte Luca, arbeitete sich behutsam unter der Schwinge hervor und streckte dann ein weiteres Mal seine müden, schmerzenden Gelenke.

„Lang genug um das Frühstück zu verpassen“, entgegnete Tambren schmatzend.

Luca hob eine Braue und trat zu seinen Satteltaschen um sich ein intaktes Hemd heraus zu suchen und eine Hose, die nicht aussah, als hätte er sie in einem Meer aus Blut gewaschen.

„Was hättest Du eigentlich gemacht, wenn der Kleine“, er deutete mit einer Kopfbewegung auf den riesenhaften Seraph, „in der Nacht aufgewacht wäre und einen nackten Mann neben sich gefunden hätte, Luca?“, fragte Tambren beiläufig und verging sich an dem einzigen Stück Schinken, was auf dem Holzbrett zu finden war.

Luca zog seine Hosen an und schnürte sie an seiner Leiste zusammen. „Das wäre auf seine Reaktion angekommen. Bei hellem entsetzen, hätte ich mich auch mit einem unbequemen Hemd abfinden müssen. Wenn es ihm egal gewesen wäre,“, er zuckte mit den Schultern, nahm sein Hemd und zog es über den Kopf. „Und wenn es ihm gefallen hätte, würde mir vermutlich nun mein Rücken weniger weh tun“, sagte er lächelnd. Er strich sich sein langes Haar aus dem Kragen und kämmte es gründlich, nur um es wie einen knielangen Mantel um sich fallen zu lassen.

Etwas in Luca hellte seine Stimmung auf. Er war zum ersten Mal seit vielen Monaten gut gelaunt und fröhlich.

„Na, wie sehe ich aus?“, fragte er lachend und breitete dabei die Arme aus, sodass sein Haar über Brust und Rücken fiel. Dann legte er die Hände über der Brust zusammen, kniete sich nieder und neigte den Kopf leicht zur Seite.

Tammy warf einen Blick über die Schulter und musterte ihn einige Sekunden kritisch. „Wuschlig, wie ein Wischmob mit Storchenbeinen.“

Luca verzog die Lippen. Er konnte die wirklichen Gedanken seines geschuppten Freundes lesen. Tambrens wirkliche Meinung dazu war eine andere. Er fand Luca schön, besonders in dieser etwas schutzlos weiblichen Pose, wo niemand zu sagen vermochte, ob er Mann oder Frau, Mensch oder Elf war. Der Drachling hasste es, wenn sich der Magier so, oder gar nackt, den Blicken der Männer aussetzte, die ihn begehrten.

Schon mehrfach endete das damit, dass Luca gegen seinen Willen genommen wurde. Er reizte damit Cyprian, der den jungen Mann ohnehin besitzen wollte und in Justin sprach Luca die dunkle Seite an, seine Sehnsucht nach einem Mann, den der Vampir ganz und gar kontrollieren und vereinnahmen konnte.

„Du bist zu weibisch, Luca!“ sagte Tam ärgerlich. Er stopfte sich gerade wieder etwas Käse in den Rachen, als er von Luca hochgenommen und liebevoll gedrückt wurde.

„Ich liebe dich, mein kleiner Freund“, flüsterte Luca. Er gab dem Drachling einen sanften Kuss auf den Kopf und streichelte sanft seinen langen Drachenhals.

Tammy wollte sich im ersten Moment wieder aus den Armen seines Meisters befreien, ließ dann aber den Käse fallen und schmiegte sich eng an Luca. „Ich liebe dich auch“, gestand er leise. Luca brauchte diese Worte nicht, denn er wusste es ja, aber allein dass der Drache diese Worte über die Lippen brachte, die Überwindung seiner eigenen Sturheit, bedeutete einen weiteren Schritt auf die vollkommene Untrennbarkeit der Beiden zu.

Der Magier kniete sich nieder und nahm etwas von dem Käse auf, fütterte Tambren damit und aß selbst ein wenig davon. Aber wie so oft reizten ihn mehr die Getränke als die feste Nahrung. Der Tee – Luca glaubte Kamille und Brennnessel herauszuschmecken – war zwar kalt und hinterließ ein schales, pelziges Gefühl auf der Zunge, war aber um Längen besser als das mit Essig versetzte Wasser in seine Lederschlauch.

Er gestattete sich aber nur einen Becher. Den Rest stellte er neben die Lagerstatt seines schönen Freundes.

„Ruh’ dich aus“, flüsterte er, in dem festen Wissen, dass der Junge davon kaum etwas gehört haben konnte.

Er trat wieder an sein Gepäck heran, das in üblicher Weise ordentlich verstaut da lag, und suchte sich seine Robe heraus.

Der graue Leinenüberwurf war so fadenscheinig, dass man im Gegenlicht Lucas Körper hindurch sah. Das häufige Waschen und der Einsatz in diversen Kriegen, hatten die Stoff zerschlissen. Luca legte ihn wieder zusammen und verstaute ihn in der Tasche.

„Dieses Mal musst Du auf meiner Schulter sitzen bleiben, mein Kleiner“, sagte er zu Tammy. „Ich bezweifele, dass ich diesen Mantel je wieder tragen werde.“

Der letzte Satz galt eher seiner eigenen inneren Unruhe und dem Widerstreben gegenüber dem Orden.

Er trat an den Ausgang der kleinen Höhle, verharrte und sah über die Schulter. Mit einem letzten, sehnsüchtigen Blick zu dem Jungen, verließ er den Raum.
 

Der Anblick im Kessel hatte sich erneut ein wenig verändert. Schweine, Schafe, Kühe, Hühner und Ziegen liefen frei zwischen den Kranken und Verletzten herum. Ein völlig überforderter Zwerg saß mit zornesrotem Gesicht auf dem Richtblock, den Federkiel in einer Hand und eine hölzerne Kladde mit aufgespanntem Pergament in der anderen. „Kann einer das elende Viehzeug wieder zusammen treiben?!“, brüllte er über alle Kopf hinweg und gestikulierte gleichzeitig in diverse Richtungen, in die die Tiere ausgebrochen waren. Luca registrierte am Rande, dass ein Lämmchen an ihm vorbei lief und einen Moment später ein kleines Mädchen mit einem Metalltopf und einem Holzlöffel hinter dem Tier her rannte, um es noch weiter von dem Zwerg fort zu treiben. Vermutlich wollte die Kleine helfen, machte es aber nicht besser. Der unangenehme Geruch nach Tier-Urin und -Kot erfüllte den Kessel.

Luca erkannte das Kind auch wieder. Es war das Mädchen, dem er den halben Apfel gegeben hatte.

Im ersten Moment wollte er die Kleine am Arm ergreifen, um ihr zu sagen, dass sie die Tiere nicht zwischen all den Kranken herumtreiben solle, unterließ es dann aber doch. Seinen steigenden Ärger musste er nicht an dem unschuldigen Kind auslassen.

Genaugenommen konnte Luca kaum fassen, was er da sah. Allerdings fand er in der Masse an Halbmenschen und Menschen auch keinen Orpheu, oder irgendeinen ranghöheren Söldner. Raven trieb sich am Rand des Kessels herum und spielte mit einigen Männern Karten. Entnervt durchschritt Luca den Kessel bis zu dem Richtblock. In der Zeit suchte er mit seinen Blicken nach den ihm unterstellten Heilern und Medikussen. Ria konnte er entdecken. Auch sie hatte zornesrote Wangen und hielt sich weit entfernt von dem Zwerg hier vorne auf. Jedes Mal wenn eines der Tiere einem ihrer Schützlinge auch nur nahe kam, scheuchte sie das es mit Schreien und Tritten zur Seite. Ein Ziegenbock allerdings, ein noch sehr junger, wollte so einfach nicht aufgeben. Scheinbar fand er die Kräuter, die sie bei einem der Verletzten aufgelegt hatte interessant und schmackhaft. Ihn schien auch wenig zu stören, dass sein Futter alkoholisiert war. Er kam immer wieder und Ria scheuchte ihn ständig davon. Letztlich reichte es der Ziege so sehr wie Ria. Er nahm Anlauf und fand sich einen Herzschlag später in der ungünstigen Lage auf dem Rücken niedergezwungen zu sein, während die Zwergin halb auf ihm hockte und seine Hörner fest in beiden Händen hielt.

Aber sie war nicht die Einzige, die ihren stillen, beharrlichen Kampf mit dem Weidenvieh austrug. Linette erging es kaum besser, nur dass sie es mit zwei Schafen zu tun hatte und Selim vergaß ebenfalls für eine Weile seinen Anstand und seinen Rang, als er einige Hühner einfing und sie in eine Decke stopfte, um sie dann dem Zwerg kommentarlos hinzuwerfen. Scheinbar gingen dabei nur einige in der Panik gelegte Eier zu Bruch, dann als die Decke durch das zappelnde Federvieh aufging, stoben die Vögel in einer Masse herumfliegender Federn erneut in alle Richtungen und ein beleidigter und etwas derangierter Hahn stolzierte mit leichter Schräglage über die Stufen des Richtblockes, nur um anschließend bei einem verfehlten Auftritt als Kugel gackernder Federn abzustürzen.

„Herr Zwerg!“, Lucas Wut hielt sich nur noch gering in Grenzen. „Seht zu, dass ihr euer Viehzeug in einer anderen Höhle zählt, hier ist ein Lazarett! Es reicht schon, dass Hunderte unterschiedlicher Waren hier herein du hinaus getragen werden. Dann müsst ihr nicht auch noch Unruhe und Schmutz durch die Tiere hier herein bringen!“

„Magier, ihr seid mir in nichts Weisungsbefugt!“

Er wendete Luca den Hinterkopf zu, als er ein Paar Anweisungen brüllte, die jeder seiner Helfer geflissentlich ignorierte. Luca stützte einen Ellenbogen auf den Richtblock, ließ seine Blicke schweifen und entdeckte einige Sekunden später den Koch. Er stieß einen kurzen, scharfen Pfiff auf seinen Fingern aus und winkte, als er die gesamte Aufmerksamkeit der Personen hier hatte, den Troll zu sich.

„Mano, komm her und kümmere Dich um den hier und das zukünftige Essen!“ forderte er den großen, gemütlichen Mann auf. Aber scheinbar hatte auch seine Geduld schon schwer gelitten, denn sein ohnehin schon furchteinflößendes Gesicht mit dem ausladenden Bart und den Unterkieferfängen, den unzähligen Narben und dem einen, funkelnden Auge, was ihm geblieben war, umwölkte sich zusehends, als er zu dem Richtblock schritt.

Der Zwerg schenkte nun auch Luca seine herablassende Aufmerksamkeit. „Das kann mich nicht einschüchtern, Magier. Ihr habt hier gar nichts zu sagen. Ihr seid nicht der Hauptmann...“, begann er, wurde aber von einem leisen, drohenden Grollen in Lucas Tonfall sofort erstickt. „Nein, ich bin nicht der Hauptmann, aber der Befehlshaber, Zwerg, und wenn ihr nicht eure Stimme mir gegenüber senkt, könnte ich versuchen, ob eure magische Resistenz so legendär ist, wie man es eurem Volk nachsagt, verstanden?!“

Von Lucas Worten ließ sich der Mann nicht beeindrucken, aber spätestens Mano, der offensichtlich auf den geringsten Befehl Lucas hörte, schüchterte ihn doch gehörig ein.

„Mitkommen!“ donnerte ihn der Höhlentroll an. Sofort sprang der Zwerg von seinem Sitzplatz herab und nickte hastig. „Wie ihr wünscht, murmelte er und blickte hinauf. Mano reichte er gerade bis zum Oberschenkel. Allen das reichte schon aus, um ihn zur Räson zu bringen.

„Meister, ich nehme ihn mit. mir fehlt ohnehin noch Fleisch für die Suppe.“

Der Zwergen-Händler zuckte entsetzt zusammen. Mano ließ absichtlich offen, ob er Hühner- oder Zwergen-Brühe machen wollte. Als die beiden Männer zu der notdürftig zusammengestellten Lagerküche aufbrachen, musste Luca sich das Lachen wirklich verkneifen. Tam, der bis eben so getan hatte, als würde er schlafen, hob ein Augenlid und grinste. „An dem Kerl würde sich jeder Magen außer dem eines Trolls verrenken.“

Luca nickte ernst und sah sich erneut um. Die Schwerverletzten hatten sich ausgedünnt. Er wollte es vermeiden, aber scheinbar hatten etliche die letzten Stunden nicht überlebt.

„Das sind immer noch zu viele, Tammy. Keiner von uns ist in der Lage das alles hier in den Griff zu bekommen. Ich brauche einen mächtigen Heiler hier, einen Mann wie Justin. Wir verlieren zudem noch alle Glaubwürdigkeit, wenn wir nicht bald etwas gegen die Todesfälle erreichen können. Der Frieden hier ist labil und brüchig. Das kann nicht mehr sehr lange gut gehen.“

Der Drache legte seinen Kiefer flach auf Lucas Schulter und seufzte leise. „Du kannst sie aber nicht retten. Wenn du Hilfe willst, musst du Orpheu bitten, dass du zu Justin kannst um ihn zu holen.“

Luca atmete tief durch, oder versuchte es zumindest. Der Stein, der die ganzen vergangenen Wochen auf seinem Herzen lastete, gewann erneut Substanz. „Dann muss es wohl sein“, seufzte er.

Mit einer schwerfälligen Bewegung wendete er sich um und sah sich Thorn gegenüber. In all dem ganzen, sonoren Hintergrundlärm hatte er die Schritte des Halbzwergs völlig überhört. Er konnte den Schrecken nicht ganz von seinem Gesicht verbannen. Aber Thorn ignorierte es.

„Kommt mit, Lysander und eilt euch!“

Vielleicht sollte der Tonfall nach einem schroffen Befehl klingen, sackte aber in etwas grotesk fahles, für Luca nur mit unbeschreiblichem Entsetzen gepaartes, ab, das sich kaum noch fassen ließ.

Nun spürte auch er von einem Punkt tief in sich furchtbare Kälte aufsteigen. Justin verdrängte er sofort wieder. Wenn Thorn so tief erschüttert werden konnte, musste es etwas sein, das Luca lieber nicht sehen wollte.

Wortlos nickte er. Und es fiel ihm noch schwerer als zuvor einen Fuß vor den anderen zu setzen.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Anfang 2015 erscheint im Incubus-Verlag ein weiterer Roman der in Äos (der Welt von Night's End) spielt.

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