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In my Time of Dying

Teil III: Am Ufer des dunklen Wassers
von

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Der Morgen kroch nur langsam heran, doch Gabriel fühlte jede Minute bis zum Sonnenaufgang in seinen Knochen. Von seinem Platz auf dem Sofa aus konnte er durch die Fenster den Nachthimmel beobachten und je weiter die Zeit fortschritt desto mehr klärte sich der Himmel. Die Sterne leuchteten, leider nur schwach, weil das elektrische Licht der Stadt das Meiste von ihrem Glanz verschluckte. Es trieb Gabriel dazu einen unterschwelligen Zorn zu empfinden, der sich in seiner Brust festsetzte. Es war so wenig, was er von hieraus sehen konnte und noch weniger konnte er die Stille ertragen, die ihn umgab. Nicht einmal die Ruhe der Nacht konnte er hier vernehmen lediglich Geräuschlosigkeit, welche hin und wieder von einem Motorengeräusch unterbrochen wurde, wenn draußen ein Auto vorbei fuhr.
 

Gabriel war sich im Klaren darüber, dass er keine weitere Nacht hier verbringen konnte. Es war einengend, lieblos und glich mehr einem Grab als einer Wohnung. Nicht mal als Behausung wagte er dies zu bezeichnen, es war so weit von dem entfernt, was er als angenehm empfand, dass dieses Zimmer noch einmal diesen Titel verdiente.
 

Aus demselben Grund wagte Gabriel es nicht aufzustehen und sich einen anderen Platz als das Sofa zu suchen. Würde er sich erheben, um sich die Füße zu vertreten, brächte es ihn womöglich auf den Gedanken die Tür zu benutzen und nie wieder in diese Wohnung zurück zu kehren. Während Setsunas Anwesenheit hatte er es nicht bemerkt, doch nun war die fehlende Präsenz von Lebenskraft so deutlich wie der verdrehte Sinn von Ergebenheit, der in der Luft hing und Gabriel mehrmals zum Würgen brachte.
 

Sollte ich jetzt vor die Tür oder auf den Balkon treten, würde Setsuna mich nie wieder sehen, erkannte Gabriel.
 

Die absolute Gewissheit, dass dies geschehen würde, sollte er jetzt weichen, hielt Gabriel davon ab vor dieser verschmutzen Atmosphäre zu fliehen, die auch drohte, ihn zu umfassen und ins Verderben zu reißen.
 

Ich muss standhaft bleiben, sagte sich Gabriel. Dieser niedere kranke Geist, der hier in der Luft liegt, kann mir nichts anhaben und sollte ich jetzt gehen, würde ich Setsuna seinem grausamen Schicksal überlassen.
 

Jener bemerkte es sicher nicht, dass hier Kräfte sich zusammen getan und sich gegen ihn verschworen hatten. Dicht hatte sich das unsichtbare Netz aus Schicksalsfäden, um ihn gezogen, sodass Gabriel vermutete, dass sich der Junge dessen noch nicht einmal bewusst war. Das Schlafzimmer hinter dieser Wand links neben ihm wirkte auf Gabriel eher wie der Kokon einer hungrigen Meereskrabbe als dem Nest von zwei Liebenden. Wenn er sich konzentrierte, konnte er die pulsierende abweisende Präsenz spüren, die ihn mit körperlosen Augen anstarrte und ihn zerreißen würde, wenn sie es könnte.
 

Aber nicht mit ihm. Solange dieses Wesen nicht älter war als er selbst, würde es ihn, nichts anhaben können. Überhaupt es gab nur sehr wenige Wesen, die seines Alters waren und noch weniger würden ihn verletzten wollen.
 

Es gibt eigentlich sowieso nur einen, der dies im Sinn hat.
 

Dies war eine Gewissheit, die nicht weichen wollte. Gabriel war sich dessen so sicher, wie dem Vertrauen, dass hinter der trüben Nacht und dem elektrischen Licht ein Meer von Sternen wartete. Schließlich war es eben genau dieser Einblick in seine eigene zerrüttete Gefühlswelt, die ihn soweit beruhigte, dass er sich zurücklehnen und für eine Weile die Augen schließen konnte. Der Gedanke an Schmerz erschreckte Gabriel nicht, wenn auch jenes Wesen, das ihn verletzen wollte und an dessen Namen er sich nicht entsann, ihm mehr Leid zufügen zu gedachte, als er zu ertragen in der Lage war. Dessen ungeachtet blieben die Furcht vor Wesen ohne Namen und der halb erwartete Fluchtinstinkt aus.
 

Das größere Übel blieb für Gabriel das Gefühl nicht atmen und klar denken zu können, solange er hier in dieser Wohnung gastierte. Weit schlimmer als jeder Schmerz, der ihn draußen in der Welt erwarten konnte, war der Geschmack von Fäulnis der auf seiner Zunge zerrann und ein Zerrbild von Entsetzen in sein Gedächtnis brannte. Gabriel bekam den Eindruck, als sich am Horizont der Himmel rot zu verfärben begann, dass selbst der brennende Boden aus Magma von Sheol ein angenehmerer Ort wäre als dieses Wohnzimmer.
 

-
 

Der durchdringende Ton des Weckers zerrte unerbittlich Setsuna aus dem Schlaf. Sein Kopf war schwer und seine Augen ließen sich kaum öffnen, aber ein Rascheln am Fenster und das Geräusch von Vorhängen, deutete ihm, dass Sarah bereits aufgestanden war. Durch einen winzigen Spalt seiner Augenlider sah Setsuna wie sie ihren Tag mit dem ihm wohlbekannten resoluten unnachgiebigen Verhalten begann. Sie würde ihn aus dem Bett prügeln, wenn sie es für richtig hielt, nur das ihre Mimik heute darauf schließen ließ, dass sie in keiner guten Stimmung war. Die verspannten Mundwinkel brachten Setsuna dazu sich widerwillig aufzurichten und die Bettdecke beiseite zu schlagen.
 

„Morgen“, murmelte er noch im Halbschlaf zu seiner Schwester.
 

Sarah nickte knapp, keiner von ihnen war Frühaufsteher und die Morgenstunden verbrachten sie häufig mit gemeinsamem Schweigen. Weder Sarah noch er selbst schienen viel Energie aufbringen zu können, während der Morgennebel die Sonne bedeckte oder es so kalt war, das man lediglich ihr Licht sehen, aber nicht ihre Wärme auf der Haut spüren konnte.
 

„Ich gehe jetzt duschen“, kündigte Setsuna seiner Schwester an und zog sich das Tshirt über den Kopf, das er des Nachts zum Schlafen getragen hatte. Das strömende Wasser auf seiner Haut würde ihn aufwecken und den ganzen Dreck fortspülen, der wie eine nicht sichtbare Schicht aus Staub an ihm zu kleben schien.
 

„Tu das“, antwortete Sarah. „Ich werde Frühstück machen. Oder es zumindest versuchen, nachdem du die Einkäufe auf dem Balkon hast liegen lassen.“
 

Mit einem Nicken stimmte Setsuna seiner Schwester zu. Sie hatte sich der Aufgabe angenommen sich um den Haushalt zu kümmern, wenn gleich auch es ihm vorkam, dass es ihr mehr um die Ordnung und die Kontrolle ging, die sie dadurch gewann, als dem wirklichen Pflichtgefühl dafür verantwortlich zu sein. Den Seitenhieb, den sie ihm eben verpasst hatte, akzeptierte er mit der gleichen Fassung. Auch wenn er den Tonfall für überflüssig empfand, so war es Setsuna wichtiger, dass Sarah ihre angespannte Haltung verlor. Jene sie anscheinend nicht in der Lage war aufzugeben, die sich als feine Linien in ihren Schultermuskeln präsentieren und nicht weichen wollten, seit Sarah sich jener einen schicksalhaften Stunde dazu entschieden hatte ihre Freiheit für ein kleines Engelsmädchen aufzugeben.
 

Während Setsuna die Schlafzimmertür öffnete, hatte er den schäbigen Gedanken, dass das Mädchen Sarahs Opfer wohl kaum zu schätzen wusste. Nichts davon konnte sie zurückgeben und seiner Schwester die Angst in ihren Augen nehmen auch nicht. Seine Schwester hatte etwas gesehen, dass sie nicht vergessen konnte, etwas erfahren, dass sie nicht zur Ruhe kommen ließ und das sie davon abhielt ihn um Hilfe zu bitten.
 

Sie vertraut mir nicht.
 

Eine Einsicht, die er noch nie so formuliert hatte, aber die ihm auch keineswegs fremd war. Obgleich er sich an den Zustand, den dieser Fakt hervorgebracht hatte, gewöhnt hatte, behelligte das seine eigentliche Beziehung mit Sarah weniger. Ähnlich wie bei ihrer unterschiedlichen Liebe zueinander vor dem Beginn der Ereignisse, würde dies ihn auch nicht daran hindern für seine kleine Schwester verantwortlich zu sein.
 

Weniger die Erkenntnis als die Klarheit seines Gedanken war es, die ihn wie eine Meereswelle überrollte. Das von zu viel Licht durchflutete Badezimmer ließ ihn kurzzeitig wanken und an die Holztür lehnen, weil seine zittrigen Beine ihn kaum tragen wollten. Sein nächster Atemzug war so rein und befreit, dass er drohte ihm Tränen der Erleichterung in die Augen zu treiben. Sein Kopf schwamm auf Grund der herrlichen Kälte, die über ihn hinweg strömte, als er in die Dusche stolperte und blind den Wasserhahn aufdrehte. Setsuna begrüßte das eiskalte Wasser, das über sein Haupt und seine Haut rann, denn trotz dessen das er fror und schauderte, schrie etwas in ihm vor Wonne.
 

Seine Haut drohte weiß und blau zu werden vor Kälte, die ihm mehr an einen klaren Gebirgsbach erinnerte als seine heruntergekommene Dusche in einem winzigen Badezimmer einer Plattenbauwohnung, doch Setsuna wollte nicht weiter nach dem Ursprung dieser Reinheit fragen, die sich über ihn ergoss. Etwas Altes streckte verzweifelt seine Arme nach dem Gefühl aus, von dem selbst Setsuna nicht wollte, dass es endete. Voller Wonne legte er den Kopf in den Nacken und ließ sich weiter von dem dünnen Duschstrahl berieseln, der in seinen Gedanken aber ein gewaltiger Wasserfall war und all Sorgen und Bedenken fortspülte.
 

In seiner Seligkeit bemerkte Setsuna nicht wie der Duschstrahl einen kaum sichtbaren Schatten von ihm abwusch. Schriftzeichen aus Enoch, deren Anordnung an eine fesselnde Kette erinnerte, wurden den Abfluss hinunter gespült, um nie wieder gesehen zu werden.
 

Frei, schrie Setsuna seinen Gedanken. Ich habe mich noch nie so frei gefühlt.
 

Niemals würde er zugeben, dass in dem Wasser sich wirklich Tränen der Erleichterung fanden. Aber er hätte auch nicht bestimmen können, was das Gefühl der Befreiung ausgelöst hatte. Nur unbewusst, tief in dem Inneren von Setsunas Seele entwich dem Organischen Engel Alexiel ein Stoßseufzer, als eine Last von ihr genommen wurde, das Teil ihres Jahrtausend altes Gefängnisses gewesen war und ihr nun erlaubte selbständig zu atmen.
 

Sie ebenfalls konnte nur den einen Gedanken fassen, als reines klares Wasser auf sie herab strömte.
 

Frei, schrie sie mit ihren Gedanken, weil man ihr ihre Stimme geraubt hatte, die prophetischen Worte, Ich werde wieder frei sein.
 

-
 

Sarah sah Setsuna abwartend hinterher, als er sich noch durch Schlaf und Träume verwirrt zur Badezimmertür kämpfte. Er schwankte ein wenig, als gälte sein Blick nicht der Realität, aber derzeit kümmerte sie das wenig. Sie strich ihre Schuluniform glatt und wartete bis zu dem Moment, wo sich die Holztür mit einem Klacken schloss und bald darauf das Wasser zu rauschen begann.
 

Mit einem festen Schritt stürmte Sarah nahezu aus dem Schlafzimmer, das Herz in ihrer Brust zu einer Faust geballt, ihre Haare streng zurückgenommen und mit einem eiskalten Blick, der ihre Entschlossenheit widerspiegelte. Die komplette Nacht hatte sie kaum Schlaf gefunden und sich unter der Decke gewälzt, weil Alpträume sie plagten und Bilder sie verfolgten. Sie brauchte nicht einmal Sandalphons Anwesenheit, um zu wissen, dass dies zum Teil sein Werk war. Er zerrte die Grenzen herunter, deren Abwesenheit man sonst nur in wilden Träumen fand und hinterließ lediglich die nackte Wand zwischen ihr und ... dem Engel.
 

Je weiter die Nacht voranschritt, desto klarer wurde ihr, dass sie diesen Zustand nicht lange würde ertragen können. So früh wie möglich würde sie dem Eindringling sagen, dass er unerwünscht war. Sie hatte einen Anspruch auf Sicherheit und sie konnte Sandalphon nicht erlauben die Anwesenheit des Fremden dazu zu Nutzen, um mit diesem Anspruch herumzuspielen.
 

Das duldete sie einfach nicht.
 

Resolut und gefasst trat Sarah über die Schwelle zum Wohnzimmer, als würde sie vor einer gesamten Nation eine Kriegserklärung verkünden wollen und nicht einmal der Anblick des Fremden, der sie gestern noch aus der Fassung gebracht und in die Flucht getrieben hatte, konnte sie jetzt in Zweifel geraten lassen. Auf ihrer Haut füllte sie wie Wellen wütend aufeinander einschlugen, das Treffen von zwei Gewalten, die beide wussten, dass einer den anderen verschlingen würde.
 

Sie blickte dem Fremden, der zwar erwartungsvoll aufgestanden war, aber weder Angst noch Anspannung zeigte, direkt ins Gesicht und verkündete: „Ich will das du gehst.“
 

Es platzte aus ihr heraus wie der barsche Befehl eines Oberkommandanten einer Armee, aber die Autorität prallte an dem fremden Engel mit dem unnatürlich ruhigen Blick ab, wie eine schäumende Welle an einem Eisberg. Etwas brach in sich zusammen und ihr Plan, den Fremden einfach zur Tür hinaus zu befehligen, die erste Berührung mit dem Feind nicht zu überleben drohte. Dafür stand der Herausforderer noch zu sicher und zu unberührt da.
 

Rage stieg in Sarah hoch.
 

Setsuna gehört mir, donnerte sie dem Fremden entgegen, der in ihr Leben geplatzt war, als würde ihn jegliches Recht und jeglicher Anspruch auf bestehende Verhältnisse nicht im Geringsten kümmern. Die Arroganz, die dahinter lag und zu der nur noch ein von oben herab geworfenes, verächtliches Lächeln fehlte, trieb sie fast in den Wahnsinn. Dieser Mann würde ihr Setsuna nicht wegnehmen, denn daraus würde es hinauslaufen, würde sie den Fremden nur einen Moment länger dulden. Daher würde sie einen Weg finden ihn loszuwerden, ganz gleich was Sandalphon halten würde.
 

Nicht damit rechnete sie jedoch, dass der Fremde bereitwillig einwilligen würde.
 

„Einverstanden“, sprach er und seine Stimme hallte mit einem Klang in dem engen Wohnzimmer wider, der Sarah daran erinnerte wie der Minister ihre Anklage vor Gericht begonnen hatte. Sie räusperte sich, um sicher zu gehen, dass es diesmal nichts gab, was sie am Sprechen hinderte.
 

„Du wirst gehen und nie wieder kommen“, bestimmte Sarah und wagte es nicht dies als Frage zu stellen.
 

Sie durfte weder wanken noch Unsicherheit zeigen, trotz dessen das sie am liebsten auf die Knie gesunken wäre.
 

„Ich werde gehen und nie wieder kommen“, wiederholte der Fremde – Gabriel – ihre Worte.
 

Es überraschte sie, dass er eine Hand auf sein Herz legte und sich leicht verneigte, aber wenn dies sein Versprechen gültig machte, dann sollte sie diese Geste der Unterwerfung akzeptieren.
 

„Geh“, sprach Sarah so fest es ihr möglich war, ohne das leichte Zittern, dass sie erfasst hatte, sich anmerken zu lassen. „Sofort!“
 

Der Engel Gabriel verneigte sich noch einmal, ehe er an ihr vorbei und zur Wohnungstür hinaus schritt. Keines Blickes würdigte er sie, als sie einander passierten und er ohne Umschweife ging und nicht einmal um ein paar Schuhe für seine nackten Füße bat. Aber etwas schwoll in Sarah zu einer bedrohlichen Größe heran, als nur wenige Zentimeter sie für einen Moment trennten und sie bebte am gesamten Körper bis die Wohnungstür mit einem Klacken wieder ins Schloss fiel.
 

Für eine friedvolle Sekunde wusste Sarah, dass es endlich vorbei war und sie verdammt noch mal gewonnen hatte. Doch bevor sie sich über die neuen und wiederhergestellten alten Umstände freuen konnte, hörte sie wie Setsuna im Badezimmer das Wasser abdrehte. Mit dem fehlenden Hintergrundgeräusch brach tatsächlich etwas in Sarah zusammen und sie sank erblasst auf den Boden des Wohnzimmerteppichs.
 

Weder sah noch hörte sie ihn, aber Sarah vernahm deutlich Sandalphons Stimme in ihrem Geist, dies vielleicht die einzige Schlacht bleiben würde, die sie in diesem Krieg je gewann.



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