Zum Inhalt der Seite

Ein zweites Leben

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Die Tage danach

Ein bürgerlicher Arzt verabschiedete sich nach seiner getanen Arbeit von Andre. „Ich werde morgen wieder vorbeischauen und ihr die Bandagen wechseln.“
 

„Ich danke Euch, Herr Doktor - für alles, was Ihr für uns und vor allem für meine Frau tut.“ Andre reichte ihm seine Hand als Abschiedsgruß.
 

„Diese Pflicht erfülle ich für jeden gern, denn Menschenleben zu retten ist mir sehr wichtig.“ Der Doktor drückte ihm freundlich die Hand und gab noch einen Ratschlag, bevor er ging: „Wenn Eure Frau aufwacht, dann gebt ihr Hühnerbrühe mit eingeweichtem Brot zum Essen. Damit sie überhaupt etwas im Magen hat und zu Kräften kommt. Frauen in ihrem Zustand verweigern meist jegliche Speisen. Und erzählt ihr vorerst nichts von dem Geschehenen. Es würde sie schwächen und ihre Wunden würden dadurch nicht so schnell verheilen können.“
 

Andre nickte. Genau so würde er es machen. Der freundliche, vollbärtige Arzt mit Brille verließ das Haus und Andre ging in den großen Raum, wo meistens gekocht und gespeist wurde. Unterwegs überflog er noch einmal die Ereignisse vor seinem geistigen Auge: Oscar wurde in der Kutsche, die Bernard und Rosalie gestern Nacht zu Doktor Lasonne mitgebracht hatten, zu dem altbekannten Haus am Rande der Stadt gefahren. Diane, Rosalie und der kleine Oscar waren mit ihr gefahren. Die Männer nahmen die Pferde und eskortierten die Kutsche durch das nächtliche Paris. Alle, bis auf Bernard. Dieser kümmerte sich um das Dinglichste und brach zu einem bekannten und vertrauenswürdigen Arzt auf, mit dem er dann zum Morgengrauen bei dem besagten Haus eintraf. Oscar wurde fürsorglich behandelt und medizinisch versorgt.
 

In dem großen Speiseraum bereiteten Diane und Rosalie das Mittagessen. Andre trug ihnen den Ratschlag des Doktors auf und fragte nach seinem Sohn. Er beabsichtigte gleich Oscar zu besuchen und wollte ihn mitnehmen.
 

„Er ist bestimmt noch bei Alain und Bernard“, sagte Diane und Andre machte sich auf den Weg zu seinen Freunden, die den Kleinen ganz bestimmt mit Lassalle und Jean draußen im Hof beaufsichtigten. Die beiden Männer waren seit dem Vorfall nicht mehr wegzudenken. Sie blieben einfach freiwillig und halfen mit. Genau wie neun weitere Soldaten, die sie schon gestern von der Kaserne aus zu Doktor Lasonne und dann zu diesem Haus am Rande von Paris begleitet hatten.
 

Kaum dass Andre auf den Hof hinausging, rannte ihm auch schon sein Sohn entgegen. „Darf ich zu Mama?!“ Andre musste unwillkürlich schmunzeln. Sein Sohn war ein tapferer Junge und versuchte die Anordnung seines Vaters brav zu befolgen: Man hatte ihm gesagt, seine Mutter würde sich sicherlich besser fühlen, wenn sie nicht allzu viele Menschen auf einmal besuchen würden. Besonders, wenn der Doktor da ist und sie pflegt, dürfe er nicht mit zu ihr. Nun war der Doktor gerade gegangen und das gab Anlass für den kleinen Oscar, seine Mutter sehen zu wollen.
 

„Ich wollte dich gerade holen.“ Andre fuhr ihm sachte durch die blonden Locken und sein Sohn lächelte begeistert. In seiner Rechten hielt er sein Holzschwert, das er nach dem ganzen Unglück von einem der Söldner zurückbekommen hatte.
 

„Danach gehe ich mit Alain weiter fechten!“, meinte er spitzbübisch und Andre nickte ihm zu: „Ja, das kannst du machen, mein Junge.“ Er war erleichtert, dass sein Sohn auf diese Art abgelenkt war und somit die schrecklichen Ereignisse verarbeitete.
 

Oscar schlief noch, aber etwas stimmte nicht mehr. Andre merkte es sofort, als er das Zimmer betrat. Seine Frau lag fast auf dem Bauch, die Knie halb an sich gezogen, die Hände an der Brust zu Fäusten geballt und auf ihren Wangen zeichneten sich die langsam trocknenden Spuren von Tränen ab. Andre schluckte hart und setzte sich vorsichtig zu ihr auf die Bettkante. Er begriff, dass sie wach gewesen sein musste und sich stumm in den Schlaf geweint hatte. Das bedeutete auch, dass sie sich ihres Zustandes bewusst war. Sie würde bestimmt Zeit brauchen, um wieder sie selbst sein zu können. Andre würde ihr diese Zeit selbstverständlich geben und ihr beistehen, denn auch er trug dieselbe Last.
 

„Sie schläft immer noch...“ Die kleinlaute Stimme seines Sohnes riss ihn wieder in die Wirklichkeit. Der kleine Oscar stand direkt neben ihm und betrachtete das Gesicht seiner Mutter. Die Bedeutung von dem getrockneten Nass auf ihren Wangen und den geballten Fäusten an ihrem Brustkorb, schien er nicht verstanden zu haben. In seiner kindlichen Vorstellung war es vielleicht nicht ungewöhnlich, so auszusehen wenn man schlief.
 

Andre schaute zu ihm und legte ihm seinen Arm um die schmalen Schultern. „Dann lassen wir sie noch schlafen.“
 

Wieder nickte der kleine Oscar artig. „Bis bald, Mama.“ Er traute sich nicht sie zu berühren, aus Angst sie aufzuwecken. Ihm hatte man doch weiß gemacht, dass wenn sie schläft, würde sie schneller genesen können. Er richtete sein Augenmerk zu seinem Vater und fasste ihn am Handgelenk. „Gehen wir fechten?“
 

„Aber natürlich.“ Andre stimmte ihm zu und erhob sich. Bevor er mit seinem Sohn ging, beugte er sich über seine Frau und hauchte ihr einen kaum berührenden Kuss auf die Schläfe. „Es wird alles wieder gut, Liebes, das verspreche ich dir.“
 


 

- - -
 


 

Oscar hatte den ganzen Tag durchgeschlafen und erwachte spät abends. Ihr Mann saß bei ihr auf der Bettkante. „Andre...“, formten ihre Lippen tonlos.
 

„Ich bin hier, Liebes. Hast du Hunger?“ Andre vermied, sie nach ihrem Befinden zu fragen, um sie nicht zu betrüben und die Geschehnisse nicht sofort wieder in Erinnerung zu rufen.
 

Oscar verstand ihn auch so und irgendwie war sie dankbar für seine Weitsicht und Fürsorge. „Nein“, antwortete sie leise und tastete mit ihren Fingern nach seiner Hand. „Vielleicht morgen... Bleib bei mir...“ Dann schloss sie ihre geplagten Augen und schlief erneut ein.
 

Andre umschloss zart ihre Finger. „Als ob ich dich jemals verlassen würde, Oscar...“, dachte er bei sich.
 

Am nächsten Tag kam wie versprochen der Arzt, versorgte ihre Wunden und wechselte ihr den Verband. Oscar ließ alles stumm über sich ergehen und auch die Suppe aß sie, die Andre ihr später reichte. Er erzählte ihr belanglose Besonderheiten des Tages und Oscar schenkte ihm dafür ein kleines Lächeln. Seine unbeschwerte Art, als wäre nichts passiert, gab ihr schon etwas Trost. Sie verlor kein Wort dabei und hörte ihm lieber zu. Nach dem Essen schlief sie wieder ein. Und so wiederholte es sich auch am nächsten und übernächsten Tag.
 

Als Oscar das nächste Mal aufwachte, war es bereits wieder hell. Es war ein anderer, neuer Tag, und sie spürte weder Schwäche noch Hilflosigkeit in sich. Sie fühlte sich, als wäre sie ausgeruht und hätte neue Kraft geschöpft. Auch die Tücher zwischen ihren Schenkeln wurden bereits entfernt. Der Verband um ihre Mitte war dagegen noch immer vorhanden. Sie trug eine leichte Schlafhose und ein frisches Hemd. Auch mental ging es ihr besser. Die Schuldgefühle waren nicht mehr die alles dämpfende Empfindung, sondern sie begann sich die Fragen zu stellen, die sie bisher ausgesperrt hatte: Wie viel Zeit war vergangen?! Wo waren ihr Mann und ihr Sohn jetzt?! Was war genau an jenem verhängnisvollen Tag geschehen?!
 

Mit Hilfe ihrer Ellbogen, versuchte sich Oscar hochzuziehen - mühevoll und mit einem pochenden Schmerz in ihrer Lende. Das Aufsitzen kostete sie viel Anstrengung. Doch nun konnte sie sich in dem geräumlichen Zimmer umsehen, was ihr bisher nie von Interesse war.
 

Der Raum war nicht sehr groß, aber gemütlich ausgestattet und ihr sehr bekannt. Gegenüber dem Bett, erblickte sie einen verlöschten Kamin und davor zwei Sessel. Auf dem Kaminsims stand eine Vase mit frisch gepflückten Frühlingsblumen - keine Rosen, keine Disteln. Oscar wusste nicht, ob sie das aufheiternd finden sollte oder nicht. Doch ihr Blick wanderte schon weiter. Durch das kleine Fenster drang Tageslicht und sie glaubte, das Zwitschern der Vögel von draußen zu hören. Neben ihrem Bett hatte man zu beiden Seiten Stühle aufgestellt und sogar einen kleinen Tisch an der Fensterseite. In diesem Zimmer war fast alles so geblieben, wie in der Nacht ihrer Heirat.
 

Auf einmal hörte sie, wie die Tür leise aufging. Ein kleiner, blondgelockter Schopf lugte achtsam hinein. Oscars Herz schlug aufgeregt und ein freudiger Glanz schimmerte in ihren Augen.
 

„Oscar! Du weißt doch, dass du deine Mutter nicht beim Schlafen stören sollst!“, flüsterte jemand mahnend hinter der Tür.
 

„Sie ist doch aber wach, Dia!“, konterte der Kleine mit einem Strahlen im Gesicht und schlüpfte gänzlich in das Zimmer hinein. Er hastete auf das Bett zu und blieb dann doch abrupt davor stehen. „Habe ich die Erlaubnis...“
 

„Komm schon her!“ Oscar ließ ihn nicht weiter reden und streckte gleich einen Arm nach ihm aus.
 

Der Kleine zog schnell seine Schuhe aus und stieg aufs Bett. Oscar hievte ihn auf ihren Schoß, ungeachtet dem entstehenden Stechen an ihrer Wunde. Die Nähe ihres Sohnes war ihr das Wert.
 

In diesem Moment betrat auch Diane das Zimmer und lächelte erfreut. „Ihr seid in der Tat aufgewacht, Madame Oscar!“ Sie trat näher an das Bett heran und richtete Oscar das Kissen hinter dem Rücken auf. „Wie fühlt Ihr Euch?“
 

„Danke, Diane.“ Oscar lehnte sich wieder zurück. „Ich fühle mich den Umständen entsprechend. Aber es wird besser. Sage mir lieber, wo Andre steckt?!“
 

„Beratung mit Alain und Graf Fers“, erstattete ihr Junge schnell Bericht, bevor ihm sein Kindermädchen zuvor kommen konnte. Er schaute dabei verdutzt drein. „Und ich darf nicht dabei sein...“
 

„Du bist noch zu klein dafür, Oscar. Das hat auch dein Papa gesagt“, berichtigte ihn Diane neckend: „Und das heißt nicht „Graf Fers“ sondern „Graf von Fersen“!“
 

„Ist mir zu lang!“, konterte der Kleine darauf frech und flegelhaft.
 

Oscar musste schmunzeln. In den Tagen ihrer Bettruhe hatte sie bisher nicht viel von ihm mitbekommen. Entweder war er nicht da, als sie aufwachte und Andre sich um sie kümmerte. Oder es war bereits Nacht und er schlief schon bei Diane im Zimmer nebenan. Oscar beglückte sein jetziger Besuch umso mehr. Ihr Sohn schien sein sonniges Gemüt nicht verloren zu haben, wenn man bedenkt, was ihm widerfahren war. „Bei nächsten Beratung darfst du dabei sein“, versprach sie ihm verschwörerisch und strich ihm mit ihren Fingern sachte durch das weiche Haar.
 

„Danke Mama!“, jauchzte er erfreut und drückte sich unvermittelt an sie.
 

Oscar unterdrückte dabei einen Schmerzenslaut und legte ihren Arm um ihn. Sein kleiner Körper spendete ihr Trost und Geborgenheit. Die bloße Gewissheit, dass es ihm gut ging und dass sie ihn unversehrt in ihren Armen hielt, entschädigte für all das, was ihr geschehen war.
 

„Soll ich Andre zu Euch holen?“, fragte Diane, von der Szene gerührt.
 

Oscar überlegte kurz. Sie wollte Andre von ganzem Herzen sehen, aber sie wollte auch über andere Dinge Klarheiten haben, die er ihr womöglich verschweigen würde - aus Sorge um sie und weil es ihn bestimmt selbst schwer lastete. Seinen Kummer hatte sie bei seinen Besuchen an ihrem Krankenlager schon vielmals in seinen Augen gelesen, obwohl er ihn zu verbergen versucht hatte. „Du kannst ihn später holen, Diane. Erzähle mir lieber, was genau vorgefallen ist?! Wie lange ich schon hier liege und wie es euch allen erging?! Ich möchte alles darüber wissen, sonst finde ich keine Ruhe. Und keine Sorge: Ich werde das schon verkraften. Ich weiß, dass ich etwas Wertvolles verloren habe. Ich habe es gespürt, obwohl ich bewusstlos war.“
 

Diane rang mit sich. Der Arzt hatte ihnen allen untersagt, Lady Oscar von den schlimmen Ereignissen und dem Verlust zu unterrichten, solange sie noch in keinem stabilen Zustand war.
 

„Bitte, Diane...“
 

„Also gut.“ Diane atmete tief durch, faltete ihre Hände vor sich ineinander und schaute Oscar an. Wegen der Anwesenheit des Jungen ging sie nicht ins Detail. Oberflächlich und umschreibend, aber für Oscar verständlich genug, erzählte sie ihr alles - von dem Moment an, als man sie zu Doktor Lasonne brachte, bis jetzt.
 

Oscar versuchte sich danach an einem matten Lächeln. „Ich danke dir, Diane. Ich fühle mich nach deiner Erzählung wesentlich besser. Du kannst nun Andre, von Fersen und Alain zu mir bitten.“
 

„Soll ich noch etwas für Euch tun?“ Diane lächelte auch. „Möchtet Ihr vielleicht etwas zu Euch nehmen?“
 

„Nichts dergleichen, Diane, danke.“ Oscar wollte sie schon verabschieden, als ihr doch noch etwas einfiel: „Wobei... Haben wir Trinkschokolade im Haus?“
 

„Ja, Madame Oscar. Andre hat dafür gesorgt, dass wir genügend davon haben. Euer Sohn trinkt ihn so gerne, bevor er ins Bett geht.“
 

„Dann mache für uns alle eine heiße Schokolade und auch für die Kameraden, die das Haus bewachen...“
 

„Jawohl, Madame Oscar!“, verabschiedete sich Diane freundlich und huschte leichtfüßig aus dem Zimmer.
 

Oscar blieb mit ihrem Sohn alleine. Sein Gewicht spürte sie kaum. Er hatte sich an sie geschmiegt, es sich bei ihr bequem gemacht und genoss die mütterliche Wärme – und sie die seine. Sie hielt ihn zärtlich in ihren Armen und überdachte die Erzählung von Diane: Sie weilten also schon seit vier Tagen hier, zusammen mit ihrem Mann und ihrem Sohn. Am Hofe wusste man höchstwahrscheinlich schon über sie und ihr Geheimnis Bescheid, sonst wäre wohl von Fersen nicht jeden Tag hier. Und Alain hätte auch nicht seine Kameraden vor dem Haus zu ihrer Sicherheit postieren lassen.
 

Oscar konnte sich schon vorstellen, dass man sie als Verräterin gebrandmarkt hatte und nach ihr suchte, um sie zu bestrafen, solange sie noch verwundet war. Wie lange sie wohl noch ausharren mussten, um dann diesen Ort verlassen zu können? Schweden lag schließlich nicht vor der Tür! Es würde kein Katzensprung sein! Doch dafür musste sie ihre Kräfte vollkommen zurück erlangen und ihre Waffe wieder führen können! Nun, wenn sie ihr Krankenlager wieder verlassen konnte, würde sie sofort ihre Übungen im Fechten und Schießen wieder aufnehmen!
 

„Mama?“, ertönte das herzzerreißende Stimmchen ihres Sohnes an ihrem Hemd.
 

„Was ist, mein Junge?“ Oscar bemühte sich um einen sanften Tonfall, um ihre trübsinnige Gedanken nicht preiszugeben.
 

„Hat dir der böse Mann sehr weh getan?“
 

Oscar schluckte hart. Ihr Sohn klang nicht wie vorhin ausgelassen und fröhlich, sondern traurig und elend. Wieso hatte sie das nicht gemerkt? Konnte sich denn ein Kind von fünf Jahren schon so gut verstellen? Sie versuchte ihn von seinen Gedanken abzubringen. „Wie kommst du darauf? Wir haben miteinander gekämpft und da kann es passieren, dass einer den anderen kräftig haut. Mir ist nichts geschehen, keine Sorge. Ich muss mich nur ein paar Tage erholen und dann wird wieder alles gut.“
 

„Ich mag Frankreich nicht, Mama... Es nimmt mir dich und Papa weg...“
 

„Ich verspreche dir, wir werden weg fahren, sobald ich gesund bin. Danach wird uns niemand mehr trennen können.“ Oscar drückte den kleinen Körper fester an sich. Seine Worte schnitten ihr mitten durchs Herz und sie konnte ihrer Stimme kaum noch einen ruhigen Ton verleihen. Ihre Kehle schnürte sich zu und ihr Brustkorb zog sich erdrückend zusammen. Ihr Kind sorge sich um sie! Wie viel Ängste musste er all die Tage ertragen ohne sie zeigen zu können?! Hatte er etwa allen sein sonniges Gemüt vorgegaukelt, um sie zu täuschen und zu zeigen, dass er ein braver und tapferer Junge ist? In diesem zarten Alter? Es hatte ihn doch sicherlich niemand dazu bewogen oder ihm das eingetrichtert! Oder war dies das Erbe seiner Eltern? Besonders von seiner Mutter? Sie wurde dazu erzogen, niemals ihre Gefühle und ihre Schwächen preiszugeben! Ihre Empfindungen zu verbergen und im Keim zu ersticken! Nein! Das wollte Oscar ihrem Kind nicht auch antun! „Mein Sohn...“, sprach sie ihn mild und beherrscht an: „Versprich mir, dass du deine Gefühle niemals verbirgst und mir alles erzählst, wenn dich etwas bekümmert.“
 

„Ich verspreche es dir, Mama!“, sagte der Kleine klar und deutlich.
 

Hastende Schritte vom Korridor drangen in ihr Gehör. Erst entfernt, dann näher und im nächsten Moment ging wieder die Tür auf. „Oscar!“ Andre eilte ohne anzuhalten auf das Bett zu. Am Kopfende setzte er sich auf einen Stuhl, nahm Oscars Hand und hauchte darauf einen Kuss. „Diane sagte uns, dass du uns sehen möchtest. Wird es für dich nicht aber zu viel sein?“ Sorgsam musterte er ihr Gesicht mit seinen Blicken, auf der Suche nach verräterischen Anzeichen. Sie kam ihm noch etwas schwach und erschöpft vor. Ansonsten fand er nichts Verdächtiges an ihr, was auf Schmerzen oder Leid hindeutete.
 

Oscar schenkte ihm ein liebevolles Lächeln. Also ging es ihr soweit besser. „Es geht mir gut, Andre“, bestätigte sie ihm und grüßte gleich darauf die beiden Männer, die jetzt ebenfalls zu ihr ans Bett kamen: „Graf von Fersen. Alain. Entschuldigt, dass ich euch vom Bett begrüße. Wir müssen noch Einiges besprechen und deshalb würde ich euch bitten, die Sessel näher zu rücken und euch hinzusetzen.“
 

„Oscar...“ Andre war etwas verdattert.
 

Graf von Fersen äußerte das, was gerade alle dachten: „Wenn Ihr schon so anfangt, Oscar, dann geht es Euch in der Tat besser. Ich bin erfreut, Euch auf dem Weg der Genesung zu sehen.“
 

„Unkraut vergeht nicht, Graf“, meinte Oscar sarkastisch und brachte die Männer zum Grinsen. Sie wurde aber gleich wieder ernst und wechselte ihren Blick auf Alain, der bei Andre stand. „Du beginnst. Ich möchte wissen, was in der Kaserne nach meinem Weggang geschehen ist. Und von wem ihr den Befehl erhalten habt, das Haus und meine Wenigkeit zu bewachen.“
 

„Kaum wach und schon seid Ihr tonangebend, Oberst.“
 

„Du brauchst nicht mehr „Oberst“ zu mir sagen. Das bin ich nicht mehr.“
 

„Ich habe mich aber daran gewöhnt, Oberst.“
 

„Also gut. Wie du willst.“ Oscar verdrehte insgeheim die Augen. Sie wollte keine Wortgefechte dieser Art. Es gab Wichtigeres zu klären. Alain ging auch nicht mehr weiter darauf ein und begann sachlich mit seinem Bericht: „Leutnant Dagous ist jetzt unser Befehlshaber. Ihr habt ziemlich großen Eindruck hinterlassen. Auch auf ihn, obwohl er an dem Tag gar nicht anwesend war. Elf Soldaten haben sich zusätzlich freiwillig gemeldet und er hat uns bis zu Eurer Genesung abkommandiert.“
 

„Elf weitere Soldaten...“, murmelte Oscar staunend.
 

Ihr Sohn regte sich in ihren Armen. „Sie sind lustig, Mama...“, nuschelte er und spielte mit dem Stoff ihres Hemdes: „Sie sind nicht gemein, wie der Mann, der dir weh getan hat... Sie sagen du bist tapfer und mutig wie eine Löwin. Das mögen sie und deswegen sind sie hier.“
 

„Ganz recht, Kumpel!“ Alain zwinkerte ihm zu. „Und wir wollen alle, dass es deiner Mutter bald besser geht. Wie wäre es, wenn du nachschaust, was meine Kameraden so treiben?“
 

„Nein!“, warf ihm der Kleine erbost entgegen, als hätte er den Hintergrund durchschaut, und jetzt klammerte er sich sogar noch fester an seine Mutter: „Ich bleibe bei Mama!“
 

„Gehe bitte trotzdem, mein Junge.“ Andre rührte die Entschlossenheit seines Sohnes, aber er verstand auch Alain. Es gab ernste Themen zu besprechen, die nicht für Kinderohren bestimmt waren. Er wollte ihn schon von Oscars Schoß herabziehen, als sie ihn plötzlich am Handgelenk packte und genau das verhinderte. Das verblüffte alle.
 

Oscar runzelte mit der Stirn und erwiderte in ihrem bestimmenden Tonfall: „Er bleibt hier! Ihr müsst eben andere Worte wählen, aber ich will, dass er bei mir ist!“
 

„Wie du wünschst.“ Andre wollte sie nicht verstimmen. Zumal ihre Wunden noch nicht ganz verheilt waren. Und er verstand, warum sie die Anwesenheit ihres gemeinsamen Sohnes brauchte. Er ersetzte ihr den Verlust und tröstete sie. Oscar ließ sein Handgelenk los und Andre fuhr sachte durch das Haar seines Sohnes, statt ihn vom Schoß seiner Mutter zu nehmen. Dann schaute er zu Alain und bedeutete ihm mit einem Blick, ihr nicht zu widersprechen. Sein Freund bestätigte nickend, dass er ihn verstanden hatte.
 

Von Fersen verstand auch so, was Oscar meinte und warum sie ihr Kind nicht von sich nehmen lassen wollte. Er sprach daher nach Alain als Nächster, bemüht um einen sachlichen Tonfall: „In Versailles herrscht dagegen Aufruhr, Oscar.“
 

„Aufruhr?“, Oscar wurde stutzig: „Wegen mir?“
 

„Größtenteils ja, Oscar“, redete von Fersen und in seinem Blick zeichnete sich ein Hauch von Mitleid ab: „Es gibt dort Menschen, die Euch nicht wohlgesinnt sind und schon immer neidisch auf Euch waren. Sie bestanden beim König darauf, Euch und Eure gesamte Familie des Adeltitels zu entheben und Euer ganzes Familienvermögen einzuziehen. Um das zu verhindern, verkündete Euer Vater offiziell, er habe keine Tochter Namens Oscar Francois. Daher hat auch keiner Eurer Familie Verrat begangen. Das hat den König überzeugt und er ließ ihm seinen Titel, den Rang und das ganze Vermögen de Jarjayes.“
 

„Oh, Vater...“, seufzte Oscar schwer.
 

„Mittellos seid Ihr trotzdem nicht“, sprach von Fersen schon weiter: „Die Königin verlangte von Eurem Vater Euren Erbanteil - und das ist nicht gerade wenig. Da Ihr nicht mehr seine Tochter seid, gehört dieser Anteil dem Königshaus wieder. Euer Vater hat dem zugestimmt und Ihre Majestät schickt Euren Erbanteil mit mir nach Schweden, damit Ihr darüber nach Belieben verfügen könnt.“
 

„Oh, meine Majestät...“ Oscar seufzte wieder tief ergriffen und wollte von dem Grafen sogleich Weiteres wissen: „Wie geht es meiner Mutter?“
 

„Madame de Jarjayes ist wohlauf. Die Königin hat sie zu ihrer eigenen Sicherheit nach Hause geschickt. Euer einstiges Kindermädchen hat ihr dann alles erzählt. Danach kam Graf de Girodel, um mit Eurem Vater zu sprechen. So erfuhren dann alle von Eurer Schussverletzung. Eure Mutter und Andres Großmutter brachen sofort zu Doktor Lasonne auf, aber man hatte Euch schon von dort fortgeschafft und kein Mensch wusste, wohin.“
 

„Außer Euch“, merkte Oscar an und von Fersen bestätigte: „Wenn Ihr es mir nicht gesagt hättet, wäre ich auch nie darauf gekommen. Eure Männer waren ziemlich überrascht, mich hier plötzlich zu sehen. Aber Andre und Euer einstiger Schützling Rosalie, haben alles geklärt. Sie haben mir eine Schweigepflicht abgenommen. Deswegen weiß noch niemand Eurer Familie, wo Ihr seid.“
 

„So soll es auch bleiben“, meinte dazu Oscar schweren Herzens: „Ich will niemanden mehr da hineinziehen. Sagt mir nur noch: Wisst Ihr zufällig, was Graf de Girodel von meinem Vater wollte?“
 

„Nein, Oscar, das weiß ich leider nicht. Allerdings ist mir aufgefallen, dass Graf de Girodel seit dem Vorfall öfters an der Seite Eures Vaters zu sehen ist. Er steht ihm in allen Sachen bei und sucht im Hintergrund nach Euch. Ich habe gesehen, wie er jeden Tag zwei seiner Soldaten auf Erkundungsritte losschickt. Aber keine Sorge, auf mich wird er nicht kommen. Über meine Verbindung zu Euch, weiß er nicht im Geringsten.“



Fanfic-Anzeigeoptionen
Blättern mit der linken / rechten Pfeiltaste möglich
Kommentare zu diesem Kapitel (2)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  hunny123
2014-10-06T18:59:19+00:00 06.10.2014 20:59
Ein sehr spannende Handlung, ich liebe es, dass der kleine Oscar soviel in deiner Geschichte mitspielen darf. Es vermittelt so viele neue Seiten an seiner Mutter. Ein schönes Kapitel, sehr authentisch
Antwort von:  Saph_ira
06.10.2014 21:22
Dankeschön, es freut mich dass es dir sehr gefällt und ich kann dir versprechen, dass der kleine Oscar bis zum letzten Kapitel mitspielen wird. ;-)
Von:  FeelLikeParadise
2014-09-20T20:38:16+00:00 20.09.2014 22:38
Oh ich bin gespannt wie die ganze Sache ausgehen wird :) Und ob Oscar ihre Eltern vll. noch ein letztes Mal sehen wird? Du machst es echt spannend , freut mich :)
LG:)
Antwort von:  Saph_ira
20.09.2014 23:23
Dankeschön. ;-) Ob Oscar ihre Eltern noch sehen wird, verrate ich es noch nicht. Aber es könnte sich noch alles fügen. ;-)
Liebe Grüße :-)


Zurück