10. Kapitel
Cloud lehnte sich zurück und betrachtete den Himmel, den man von seinem Standpunkt aus ungewöhnlich gut sehen konnte. Er hatte mal wieder Wache, seiner Meinung nach eine der langweiligsten Aufgaben überhaupt. Den ganzen Tag stand man herum und hoffte, dass irgendetwas passierte, was eh nicht eintreffen würde.
Andererseits war er froh über die Ruhe. Zwar hieß sie, dass seine dunklen Gedanken wieder kehrten, aber sie hieß auch, dass die Realität keine Gefahren bereithielt. Wenn es ruhig war, waren die Probleme nur in seinem Kopf – es war nicht gut, aber besser zu ertragen als die Gemeinschaftsduschen, das ständige Betatschen seiner Kameraden, der Truppenärzte, der Vorgesetzten...
Die Realität war einige Zeit lang nur Angst und Phantomschmerz gewesen. Ein gut gemeintes Schulterklopfen hatte ihn zusammen zucken lassen. Ein Händedruck in Schweiß ausbrechen lassen. Der Schwitzkasten, in den er von Zeit zu Zeit genommen wurde... man konnte sagen, er hatte sich im Nahkampf geübt. Seine Reaktionen waren blitzschnell, seine Abwehr langsamer Übergriffe perfekt. Aber um welchen Preis? Eine Umarmung ließ ihn zitternd zurück, ein Griff in sein Haar mit einem Gefühl der Leere. Erst seit ein paar Tagen konnte er eine Berührung über sich ergehen lassen ohne am liebsten gleich zur nächsten Toilette zu rennen.
Aber warum? Warum hatte ihm das so viel Angst gemacht? Es war doch gar nichts passiert. Doch im selben Moment, wo diese Worte durch seinen Kopf liefen, schossen Tränen aus seinen Augen. Es war nicht nichts passiert. Er hatte sich wirklich erschrocken – selbst General Sephiroth hatte gesagt, dass es okay war zu weinen. Er durfte also verletzt und ängstlich sein, oder?
Aber nicht im Dienst. Er wischte die Träne von seiner Wange und stellte sich wieder stramm. Hier könnte jederzeit einer seiner Vorgesetzten vorbei kommen. Und von denen musste ihn sicher keiner so sehen. Wer wusste schon, ob der nächste, der ihn auslachte, nicht auch irgendetwas mit ihm vorhatte.
So wie Belkara. In seinen dicken Handschuhen ballte sich seine Hand zur Faust. Er hatte das getan, was Sephiroth gesagt hatte. Und jetzt lief der Scheißkerl rum, als wäre nichts passiert. Und jeden Tag wieder grinste er ihn so dreckig an. Warum hatte der General gesagt, dass er Belkara decken sollte? Er hatte es zum einen nicht verdient, zum anderen schien es auch nicht den gewünschten Effekt zu haben. Der Typ kuschte ganz sicher nicht aus Angst vor ihm. Eher im Gegenteil. Bei jeder Truppenübung fühlte Cloud die Blicke auf sich. Sie liefen wie Öl über seine Haut.
Der Infanterist schluckte seine Übelkeit hinunter. Auch die war jetzt nicht angebracht. Er würde nicht noch einmal angegriffen werden. Und wenn doch, hatte er offiziell das Recht nach dem großen General Sephiroth zu rufen.
Und der würde ihn retten. Hundertprozentig. Cloud wusste nicht, wie, aber er würde ihn hören und finden. Da war der Blonde sich sicher. Wenn er es aus dem höchsten Stock Shinras in die Slums in wenigen Sekunden geschafft hatte, konnte er ihn immer und überall beschützen. Der Mann war nicht nur eine lebende Legende, er war überirdisch.
Er war reiner als ein gleißend heller Stern am Abendhimmel, schöner als ein neu geborener Phönix und stärker als ein Bergdrache. Er war ein Engel. Ein schwarz gewandeter Engel mit fließendem, silbernen Haar.
Cloud seufzte, während die Röte auf seinen Wangen brannte. Bei Gaia, das dürfte ja nie jemand hören. Ein Glück, dass man keine Gedanken lesen konnte.
Konnte man doch nicht, oder?