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Lost in music

Musik heilt
von

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~Incubus, Nightmare, Nachtmahr~

Seit einer gefühlten Ewigkeit hatte ich ihn nicht mehr gesehen. Für die Kinder der „Straße“ kann eine Ewigkeit schon einen Tag bedeuten, denn selbst ein Tag kann lang sein.

Meine Ewigkeit hingegen hatte drei Wochen gedauert. Früher hatte ich ihn jeden Tag gesehen. Cain, meinen besten Freund seit Kindertagen.

Ein Jahr lang bewohnte er schon seine eigene Zwei-Zimmer- Wohnung außerhalb der „Straße“. Seine Gründe hatte ich nie erfahren.
 

Auf der langen Fahrt stadteinwärts dachte ich über unser Leben nach. Beide stammten wir aus gutbetuchten Familien, welche uns zuerst vernachlässigt und dann verstoßen hatten. So kamen wir in die „Straße“, eine Art privates Jugendzentrum, in dem wir versuchten unser Leben wieder in den Griff zu bekommen. Eigentlich ist es einfach in der Straße zu überleben, wenn man sich in die Hierarchie einfügt. Für mich kein Problem. Schnell nahm mich der Musikerclan auf und bei ihnen fand ich endlich eine neue Familie. Es machte mich unendlich glücklich, dass alle mich beim Bassspielen unterstützten und ich schließlich in eine der „Groupe petit“, eine Nachwuchsband, aufgenommen wurde. Ich genoss die Anerkennung, welche ich mir im Laufe der Jahre erarbeitet hatte.

Cain jedoch war schon immer anders gewesen. Für ihn war es unsinnig sich irgendwo anzuschließen, auch wenn sich der Sport- und der Literaturclan sich um ihn stritt. Es dauerte nicht lang bis er zum Außenseiter wurde.

„Ist doch schöner, wenn die Leute einen nicht hintergehen können“, pflegte er wie ein Greis zu sagen und setzte meist noch ein selbstgefälliges Grinsen auf, welches seinem eigentlichen Charakter widersprach.

Schließlich bewarb er sich für eine Stelle in einem kleinen Buchladen und zog aus der Straße, sobald er die Zusage erhielt.

Zwar hatte seine Entscheidung unserer Freundschaft nichts abgetan, aber ich vermisste die unsere gemeinsamen Nachmittagsstunden in denen ich mit ihm die Sportler beobachtete und wir über unsere Zukunft nachdachten.
 

„Nächster Halt: Bahnhof Mitte“, verkündete die mechanische Stimme aus dem Lautsprecher der S-Bahn. Ich stand auf und ging langsam Richtung Tür. Rennen in der Bahn sah nicht nur uncool aus, es war auch kreuzgefährlich wegen des plötzlichen Halts an den vielen Ampeln der Innenstadt und dem dabei entstehenden Sog Richtung Boden.

An der Tür angelangt, hielt auch die Bahn und ich konnte aus dem Abteil springen. Schnell bewegte ich mich Richtung Fußgängerweg, denn ich hatte schon des Öfteren die Bekanntschaft einer Kühlerhaube gemacht. Nun machte mich auf den Restweg zu beschreiten.
 

Mich ergriffen gemischte Gefühle, wenn ich die Straße betrat, in der Cain wohnt. Einerseits hatte ich etwas Angst, denn nicht selten hört man von Banden, die diese Gegend unsicher machten. Andererseits war sie das Zuhause von Cain und er war die wichtigste Person in meinem Leben seit jeher.
 

Ich betrat also die kleine, dunkle Seitengasse, welche mich von der Hektik der Stadt wegführte. Mein erster Eindruck der Gasse war mit einer Erinnerung an die Straßen Londons verbunden gewesen. Dort war ich als Kind mit meinen Eltern gewesen. Die schmiedeeiserne Eingangstür und die Treppen hinauf bis zur Tür hinauf lockten mich förmlich an.

Schnell schritt ich durch die Gasse und hinauf zur Eingangstür, wollte gerade die alte Türglocke drücken, als die Haustür aufgerissen wurde und eine junge, erzürnt wirkende Frau schoss heraus.

Erst stockte ich, aber als ich mir ihr Gesicht genauer besah, hatte ich meine Gewissheit. Ama starrte mich an.

Die dunkelhaarige Schönheit leitete seit cirka einem Jahr den Literaturclan und war für ihre überschwellenden Gefühle bekannt.

Warum hatte man sie zu Cain geschickt? Es war doch weitestgehend bekannt, dass die beiden einander nicht leiden konnten. Oder doch?

Ich riss mich aus meinen schwirrenden Gedanken und erwiderte ihren Blick lächelnd. Das Fußvolk schweigt zu seiner eigenen Sicherheit.

„Guten Tag, Ama-sensei“, grüßte ich sie höflich.

Eine Erwiderung folgte nicht. Schlecht gelaunt wurde ich nur angefahren:„Du bist doch der Babybass, der immer mit Cain abhängt?“

Babybass, du Gossenmädchen? Langsam zweifelte ich am Verstand dieser Frau. Ich mochte unter ihr stehen und vielleicht hatte ich auch nicht so viel Einfluss wie sie, aber musste sie mich deswegen gleich beleidigen?

Ihr einen möglich grausamen Tod wünschend nickte ich.

„Gut, dann richte ihm aus, dass er eine Woche hat.“ Mit diesen Worten rauschte sie davon.

Mir taten diejenigen leid, welche ihr heute noch begegnen würde.

Ich öffnete die Tür, die ich glücklicherweise vom Zuschlagen gehindert hatte, wieder und trat ein.

Vermutlich hätte mich Cain nach einem solchen Besuch nicht mehr hereingelassen. Verübeln konnte ich es ihm nicht.

Kopfschüttelnd betrat ich das Treppenhaus, welches offensichtlich in den letzten Stunden geputzt worden war, denn die Stufen trieften nicht wie üblich vor Dreck und zudem nahm ich einen leichten Zitronenduft wahr, welcher so chemisch roch, dass er nur von Putzmittel stammen konnte.

Meine gute Laune langsam wiedererlangend lief ich die Stufen zum ersten Stock hinauf. Meine Rache an Ama würde süß sein, auch wenn ich noch nicht wusste wie.

Vor der ramponierten Holztür angekommen, blieb ich kurz stehen um mich etwas zu beruhigen. Bei einem meiner letzten Besuche hatte mich Cain förmlich herausgeekelt, weil ich mit einem 1000-Watt-Grinsen bei ihm erschienen war. Danach hatte ich mir vorgenommen ihn nicht mehr mit guter Laune zu überschütten, zu sehr genoss ich unsere wenige gemeinsame Zeit.

Nach einigen Minuten zog ich den Zweischlüssel aus meiner Armeetasche und schloss die Tür mit einem leisen Klicken auf.

Beunruhigt nahm ich zur Kenntnis, dass er nicht abgeschlossen hatte, was für ihn eigentlich normal war.

Bedacht vorsichtig verschloss ich die Tür hinter mir.

Ich zog meine Schuhe aus und stellte sie neben die Tür. Meine Tasche und meinen Winterparka legte ich gleich daneben.

„Cain?“ Ich versuchte abzuschätzen wie er gelaunt war. Da er nicht antwortete, schwante mir böses.

Auf Socken schlich ich über den Parkettboden durch den Vorraum ins Wohnzimmer. Dort erblicke ich ihn auch sofort.

Zusammengesunken hockte er auf den grauen Couch und starrte auf einen kleinen Fernseher auf dem nur das Fehlbild flimmerte.

Ich ging um die Couch herum und ließ mich neben ihm nieder. An die Lehne des Sofas gelehnt beobachtete ich ihn.

Er trug heute abgerissene Bluejeans und ein weißes T-Shirt. Er war barfuss. Seine braunen Haare waren länger geworden und hingen ihm einheitlich über die Schultern, zudem verwehrte sein schräges Pony einen Blick auf sein rechtes Auge. Recht gesund sah er noch aus, aber er war blasser geworden, weiß wie der Tod.

Noch immer ruhte sein Blick auf der Bildröhre. Nun richtete ich meinen auch darauf.

„Was soll das denn sein? “ fragte ich nach einer Weile und legte den Kopf schräg.

„Pixelstorm“, antwortete er kratzig und starrte weiter.

„Schön“, meinte ich und griff nach der Fernbedienung. Ich hob sie hoch und sah ihn fragend an. Dabei bemerkte ich, dass er mich kurz aus den Augenwinkeln betrachtet hatte.

„Kann ich?“ fragte ich, als er nicht reagierte.

Es folgte nur ein Nicken.

Gut, dachte ich bei mir und schaltete auf ITV, meinen Lieblingsmusiksender, der täglich rund um die Uhr nur Musik brachte. Gerade lief „Dig“ von Incubus und ich wollte mich gerade in die weichen Polster sinken lassen, als Cain aufstand. Als ich mich zu ihm umsah, hatte er bereits das Sofa umquert und war in der sich anschließenden Küche verschwunden.

Wieder griff ich nach der Schalte, stellte den Fernseher etwas leiser und erhob mich ebenfalls um ihm zu folgen.

Er stand mir den Rücken zugewandt vor der Werkfläche und holte gerade zwei Tassen aus dem hängenden Küchenschrank. An schlechten Tagen kochte er nur sich eine Tasse Tee und ließ mich stehen. Ich war also nicht unerwünscht.

Das Wasser machte gurgelnd auf sich aufmerksam und Cain goss es über die Teebeutel, die er zuvor in die Tassen gehängt hatte. Fast augenblicklich breitete sich der Duft von Heidelbeeren aus.

Mit je einer Tasse in einer Hand ging er ohne mich weiter zu beachten an mir vorbei ins Wohnzimmer. Konnte es sein, dass er sich zwei gemacht hatte?

Doch dann zerstob er meine Ängste, in dem er mich leise rief.

„Akira!“

Hatte ich schon erwähnt, dass ich auf seine Stimme wie eine Motte auf Licht reagierte?

Mit dem Anflug eines Lächelns folgte ich seinem Ruf und ging zurück ins Wohnzimmer um mich zu ihm zu gesellen.

Wieder Stille, aber diesmal war sie nicht ganz so bedrückend.

Nach einer Weile streckte ich meine Hand nach einer der Tassen aus, zog sie aber nach einer kurzen Berührung wieder zurück. Schmerz lass nach! War noch nicht so viel Zeit vergangen wie ich annahm? Ein gedämpftes Lachen neben mir bestätigte meine Annahme.

Ich ließ also von einem erneuten Versuch ab und wand mich Cain zu.

Er saß in der gleichen Pose wie zuvor. Die Beine an den Körper gezogen und die Arme auf den Knien abgelegt. Diesmal sah er aber mich an mit einem schiefen Lächeln auf den Lippen.

Ich lehnte mich zurück und begann: „Also, wie geht’s dir, Cain?“

Er verzog das Gesicht gespielt leidvoll.

„So schlimm? “ fragte ich.

Heftiges Nicken folgte.

Ich grinste und forschte weiter: „Vielleicht wegen Ama-sensei?“

Wieder verzog er das Gesicht, diesmal aber ehrlich ratlos. „Wie kommst du auf Ama?“

Gespielt geschockt sprang ich auf und rief: „Das fragst du mich und nennst sie so freundschaftlich >Ama<?“

Ich ließ mich wieder auf Sofa fallen und redete in meinem üblichen Ton weiter. „Also, was ich damit fragen will, was läuft zwischen euch?“

Während meiner Fragen wechselte sein Gesichtsausdruck von belustigt über ratlos zu geschockt. Schade, dass ich dieses Wechselbad der Gefühle nicht filmen konnte.

Einige Minuten vergingen, während dieser er mich anstarrte wie eine metaphysische Erscheinung.

Verunsichert fragte ich: „Cain?“

Endlich zeichneten sich erste Lebenszeichen in seinem Gesicht ab. „Glaubst du echt, Ama und ich…?“

Als ich nickte, brauchte er einige Zeit um fortzufahren: „Um erstmal ein Missverständnis zu klären: Ich nenne sie so, weil keiner außerhalb der Straße Ama eine Ehrenbezeugung entgegenbringt, wie sie es zum Beispiel bei deiner Mentorin machen. Warum sollte ich ihr also mehr Respekt entgegenbringen, als jeder andere?“ Als ich gedankenverloren nickte, lächelte er sanft. Vielleicht hatte er durch eins der offenen Fenster meine Begegnung mit der Hexe belauscht. Laut genug war Amas Stimme immerhin. „Ich frage mich überhaupt, wie du mir zutrauen kannst etwas mit dieser intriganten Furie anzufangen. Egal, ob Freundschaft oder Beziehung. Ich habe gerüchteweise erfahren, dass sie sehr dominant sein soll in und bei…“ Er schwieg bedeutungsvoll. „Wie auch immer, eine Klette wie sie kann ich nicht gebrauchen.“

Ich grinste frech und lehnte mich zu ihm hinüber. „Ach und ich dachte, du stehst auf Kletten.“ Ich legte meinen Kopf fragend schief.

Ziemlich entgleist schaut er daraufhin aus. Zudem öffnete er seinen Mund, heraus kam aber nichts.

Etwas komisch war die Situation schon. Hatte er nicht immer behauptet, ich sei wie eine kleine Schwester für ihn? In diesem Moment war ich mir über den Wahrheitsgehalt dieser Aussage nicht mehr so sicher.

Liebevoll pattete ich ihm schließlich den Kopf und lehnte mich wieder nach hinten.

„Entschuldige Cain, Emily-sensei hat mir geraten mit Jungen übungsweise zu flirten, die für mich nicht als Lebensabschnittspartner in Frage kommen. Du weißt, wegen meiner Männerphobie. Und du bist der Einzige, den ich gut genug kenne…“

„Nicht gut genug…,“ flüsterte es so leise, dass mir nicht klar war, ob ich es hören sollte. Er hatte den Blick von mir abgewandt und blickte auf seine Knie.

Ich rutschte besorgt näher zu ihm und hob seinen Kopf mit zwei Fingern wieder auf meine Höhe.

„Cain?“ Meine Frage war nur ein schwaches Flüstern ausgelöst von seinem Blick.

Noch nie hatte ich diesen bei ihm gesehen. Die stahlblauen Augen strahlten nicht wie sonst, sondern wirkten wie stumpfes Metall und äußerst verletzlich. Er presste seine Lippen aufeinander, als würde er versuchen Tränen zu bekämpfen. Anscheinend war dies auch der Fall, denn er vermiet es strikt mich anzusehen.

Mit einem Seufzen zog ich ihn an mich und unterdrückte schon fast brutal seine Versuche aus meinen Armen auszubrechen.

Beruhigend strich ich mit einer Hand über den zitternden Rücken und drückte mit der Anderen seinen Kopf an meine Schulter.

Während er sich langsam fasste, flüsterte ich ihm ins Ohr: „Cain, falls dich etwas bedrückt, ich bin für dich da. Wenn dir jemand droht… Ich bin für dich da und leg mich sogar mit Ama an, aber bitte mach dich nicht so fertig!“

Cain war psychisch schon seit seiner Kindheit angeschlagen gewesen, so fertig wie er jetzt und überhaupt in letzter Zeit gewesen war, hatte ich ihn aber noch nie erlebt.

Zu einem Arzt, der ihm sicherlich Antidepressiva verschrieben hätte, wehrte er sich standhaft zu gehen. Sobald ich auch nur das Wort Arzt verwendete, schaltete er auf Durchzug. Schließlich hatte ich ihn mit dem Thema in Ruhe gelassen, ich konnte ihn immerhin nicht dazu zwingen. Jetzt war ich mir nicht mehr so sicher, ob ich ihn nicht hätte doch dorthin schleifen sollen, auch wenn dazu Gewalt notwenig gewesen wäre.

Cain brauchte unbedingt jemanden zum Reden, welcher ihn aufbaute und ihn beruhigen konnte. Gerne wäre ich diejenige gewesen, doch anscheinend vertraute er mir nicht genug.

Ich weiß nicht, wie lange, wir so dasaßen, doch irgendwann, als ich dachte, er wäre in meinen Armen eingeschlafen, drückte er sich leicht von mir und sah mich undurchdringlichen Augen an.

„Krieg ich einen Kuss?“

„Eh?“ An meiner weniger intelligenten Antwort ließ sich meine Überraschung abschätzen. Mit allem hätte ich gerechnet, aber das…?

„Cain, bitte was?“ fragte ich noch mal zur Sicherheit.

Er seufzte und wiederholte: „Bekomme ich einen Kuss von dir?“

Mich erinnerte sein Gesichtsausdruck an den eines ungeduldiges Kind. Ganz untypisch für ihn, da er sonst versuchte unnahbar zu wirken.

Offenbar ließ sich die Situation nicht durch etwas anderes als Konfrontation umgehen.

Ich atmete kurz durch und begann dann zu sprechen: „Du weißt schon, das du mich so was noch nie, niemals nie, gefragt hast?“ Ein Nicken folgte und ich fuhr fort: „Außerdem weißt du, dass wir beschlossen hatten, für immer beste freunde zu bleiben und nicht den gleichen Fehler zu begehen wie alle anderen, indem wir etwas miteinander anfangen.“

Sein Blick wurde nachdenklich und sein Nicken war eher zögerlich, als zustimmend.

„Weißt du, manchmal möchte ich gerne so sein, wie alle anderen!“ Während er redete kam er mir immer näher und legte schließlich seine Lippen auf mein.

Schock! Seine Lippen waren weicher als erwartet. Weich genug um mir zu gefallen. Ein winziger Teil meines Gehirns sehnte sich danach den Kuss einfach zu genießen, denn meinen letzten Freund hatte ich schon vor einem Jahr verlassen und auf kurze Ausflüge stand ich nicht.

Doch der Größtteil meines Hirns sträubte sich gegen diese Berührung. Ein Kuss war ja okay, aber Cain legte eindeutig zu viel Leidenschaft hinein. Nun drückte er mich nach hinten auf das Sofa und ich verwundert wie ich war, verhinderte es nicht. Doch nur zunächst, bald kam ich wieder zur Besinnung.

Mit einer plötzlichen Bewegung und übermäßigen Krafteinsatz stieß ich ihn von mir und sprang auf.

„Sag mal geht’s noch?“ schrie ich entgeistert, „Es ist okay, wenn du dich bei mir ausheulst, aber benutze mich nicht als Ersatz für eine feste Freundin!“

Ohne ihn weiter zu beachten schnappte ich mir meine Sachen und verließ die Wohnung fluchtartig.
 

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Muhaha! Auch diesmal keine Kommentare. -mikki-

No mercy

Heute war wieder einer der Tage, an denen ich entspannt war. Vor allem, weil ich mal nicht nachdenken musste.

Der Grund dafür war, dass die neue Woche angefangen hatte und ich in meinen Alltagstrott zurückgekehrt war. Ich saß mit meinen Bandmitgliedern und Freundinnen in einem Raum des hauseigenen Studios und wir spielten ein paar unserer älteren Songs. Nicht, dass wir diese am Ende noch vergaßen.

Gerade hatten wir einen meiner Lieblingssongs beendet, eine Ballade, die vom Verlust wichtiger Dinge erzählte, als Emily hereinkam und mich zu sich winkte.

Ich stellte meinen schwarzen ESP-Fakebass von GrassRoots vorsichtig zur Seite und schritt schnell auf sie zu.

„Guten Tag, Emily-sensei“, begrüßte ich sie.

Sie nickte mir freundlich zu und winkte mich weiter auf den Gang hinaus.

Draußen angekommen lehnte ich mich gegen die Wand und sie positionierte sich vor mir. Mit einer ernsten Miene begann sie zu sprechen: „Ich hoffe es stört deine Kolleginnen nicht, wenn ich mal kurz mit dir plaudere, denn es ist wirklich wichtig.“

Ich nickte, stieß mich wieder von der Wand ab und steckte meinen Kopf noch mal durch den Türrahmen. Als die anderen mich bemerkten, rief ich ihnen zu: „Wir machen mal kurz ne Pause. Wenn ich mit Emily-sensei geredet habe, geht’s weiter.“

Ein vierstimmiges „Viel Spaß“ erhielt ich als Zustimmung. Zufrieden schloss ich die Tür und lehnte mich wieder an die Wand.

Eine kurze Pause entstand. Dann trat sie zu meinem Erstaunen neben mich und um sich mit geschlossenen Augen ebenfalls an die Wand lehnte.

„Akira, Akira…, “ seufzte sie, „ manchmal weiß ich echt nicht, was ich mir dir machen soll!“

Geschockt drehte ich den Kopf zu ihr. „Lassen meine Leistungen so zu wünschen übrig? Ich geben zu bei der Konzentration hadert es momentan bei mir…“

Ein wissendes Lächeln erschien auf ihren Lippen und sie fragte: „Wo bist du denn mit deinen Gedanken?“

Ich schwieg und sah geradeaus zur weißen Wand gegenüber.

„Sind sie bei deinem Freund Cain?“ Ihrem Ton nach zu schließen wusste sie die Antwort schon, deshalb beließ ich es bei einem leichten Nicken.

Sie fuhr fort: „Ich weiß zwar nicht, was passiert ist, aber du solltest unbedingt mit ihm reden! Immerhin ist er dein bester Freund und du weißt, wie er ist.“ Sie lächelt. „Zudem hat die Garde mir berichtet, dass Cain die letzten Tage verdächtig oft in der Nähe der Straße war. Du weißt ja, dass nach den letzten Übergriffen Schutztruppen an den Eingängen des Zentrums postiert wurden. Damit nicht noch schlimmere Dinge passieren. Deshalb weiß ich auch, dass Cain ziemlich oft daran vorbeigegangen ist und was noch auffällig war, er war kurz davor hereinzukommen. Bis heute…!“ Mein Kopf fuhr erneut herum und ich starrte sie irritiert an. „Du meinst…?“ Ich schwieg abwartend.

Weiterhin lächelnd nickte sie und drehte sich dann zum gehen. Über die Schulter schauend bedeutete sie mir ihr zu folgen. „Follow me!“

Schnell kam ich ihrer Aufforderung nach.

Als wir durch das Studio zurück ins Haupthaus liefen, trafen vor allem mich viele neugierige Blicke. Offensichtlich wusste die ganze Familie schon von meinem Besuch. Wundervoll, diese Privatsphäre.

Ich riss mich zusammen und konzentrierte mich auf das Kommende.

Seit jenem Tag hatte ich nicht mehr mit Cain gesprochen, gute acht Tage. Sonst telefonierten wir mindestens jeden zweiten Tag, auch wenn meist ich diejenige war, die die gesamte Zeit redete.

Zu meiner Überraschung wurde ich von Emily zu einem der licht durchfluteten Klavierzimmer gebracht und schon von weitem hörte ich jemanden spielen. Es klang sehr angenehm. Auch wenn diese Musik meinen Geschmack nicht hundertprozentig traf, war diese Melodie so mitreißend, dass sie auch mich erreichte.

Eine sanfte Melodie in Moll.

Emily begann leise zu summen und schließlich zu singen: „If I could fall into the sky. Do you think time would pass me by 'cause you know I'd walk a thousand miles if I could just see you. If I could just hold you… tonight.”

Zum Abschluss folgte ein geradezu brillantes Solothema und ich betrat hinter Emily das Zimmer.

Cain saß noch am Klavier und schloss gerade behutsam den Deckel der Tasten.

Dann bemerkte er uns, spreng auf und kam auf uns zu. Jedoch behielt er eine Art Sicherheitsabstand bei. Betreten sah er zu Boden, sodass ich ihn ungestört anstarren konnte.

Er sah besser aus, hatte mehr Farbe im Gesicht. Bestimmt war er in den letzten Tagen öfter an der frischen Luft gewesen. Auch einen Friseur schien er besucht zu haben, denn seine Haare waren wesentlich kürzer und wirken gepflegt. Er trug Bluejeans, ein dunkelbraunes „Dir en grey“-T-Shirt und braune Vans.

Emily brach als erste das Schweigen. „Bevor ich gehe, möchte ich dich gerne um etwas bitten, Cain-kun.“

Er nickte und hob den Blick.

Auf Emilys Gesicht lag ein unendlich weicher Ausdruck. „Ich möchte dich gerne in meine Familie aufnehmen. Du weißt, was das heißt?“

Das Erstauen über dieses Angebot war ihm deutlich anzusehen. „Ähm... ja.“

„Was bejahst du? “ forschte meine Mentorin weiter.

„I-ich weiß nicht… was ich sagen soll, “ stotterte mein bester Freund. „Natürlich ist es mir eine Ehre dieses Angebot zu erhalten, aber…“ Mich erstaunte diese Aussage, da er es sonst als lästig empfand sich auch nur als Mitglied eines solchen Netzwerks vorzustellen. „Aber um ehrlich zu sein, weiß ich gar nicht, ob ich annehmen kann. Bin ich überhaupt musikalisch genug für eure Familie?“

Mit einem raschen Seitenblick auf Emily bestätigte sich meine Annahme, dass sie genauso ungläubig ob dieser Aussage war, wie ich.

Emily räusperte sich und antwortete dann langsam: „Ob du nicht genug Begabung hast… Wenn ich nicht wüsste, dass du diese Frage ernst meinst, würde ich denken du scherzt. Also, wenn wir gewusst hätten, dass du so gut Klavier spielst, wie du es gerade eben getan hast…“ Er öffnete den Mund um zu protestieren, sie ließ ihm aber keine Chance zu widersprechen. „Wenn wir es gewusst hätten, dann wärst du schon vor zehn Jahren mit Akira gemeinsam aufgenommen worden. Da du aber bei der Eignungsprüfung kein Interesse an uns zeigtest, warst du für uns kein potentieller Kandidat. Wenn du also jetzt keine anderen Verpflichtungen hast, dann kannst du dich als willkommen sehen.“

Als sie geendet hatte, lächelte er eins seiner Engelslächeln, welches jetzt, da er wieder wie ein Mensch aussah seine ganze Wirkung entfaltete. Ich schluckte unauffällig und sah zur Seite.

Jedoch konnte ich sein Lächeln noch in seiner Stimme hören, als er antwortete: „Dann nehme ich gerne an!“

Auch wenn ich diese Antwort erwartet hatte, war es etwas anderes sie aus Cains Mund zu hören.

„Wenn das so ist, freue ich mich und heiße dich stellvertretend für alle Clanmitglieder in unserer Familie willkommen! “ erwiderte Emily darauf und als ich wieder zu den beiden schaute, umarmte sie ihn sogar. Das Gefühl, welches dieser Anblick in mir auslöste, war mir nicht ganz unbekannt und ich versuchte es schnell zu vertreiben. Emily löste sich schließlich von ihm und drehte sich freudig grinsend zu mir um.

Sie musste ein niedliches Kind gewesen sein, schoss es mir durch den Kopf.

„Wenn es dir nichts ausmacht, mit einem Anfänger zusammenzuarbeiten, würde ich ihn gerne in deine Band stecken und Chary dafür rausnehmen. Du warst ja eh nicht so zufrieden mit ihr…“

Froh über den Themenwechsel überlegte ich und sah dabei kurz zu Cain, welcher mich ebenfalls musterte. Zugegeben Charys Spiel war mir einerlei, aber…

„Denkst du das passt, Emily-sensei? Immerhin wären wir dann fünf Mädchen und ein Junge!“

Auch sie überlegte kurz und rief dann belustigt aus: „Warte mal! Alex ist doch auch ein Junge, rein biologisch gesehen.“

Ich prustete los. „Wie blöd von mir! Aber wenn man ‚ne längere Zeit mit ihm zusammen ist, vergisst man das schon mal. Okay… dann bin ich vorerst einverstanden. Du weißt ja was ich von Charys Fähigkeiten halte, aber wenn es nicht klappt, will ich sie zurück!“

Emily nickte lächelnd. „Dann wünsche ich euch noch eine hoffentlich erfolgreiche Aussprache. Ich muss jetzt nämlich los und allen die fröhliche Botschaft überbringen!“ Sie zwinkerte uns zu und verschwand mit dem leisen Klicken der Tür.

Eine unangenehme Stille entstand und ich konnte mich nicht überwinden etwas zu sagen.

Doch das war gar nicht nötig, denn Cain nahm mich an der Hand und zog mich mit sich zum Klavier. Ohne Murren setzte ich mich neben ihn auf die Klavierbank.

Er sagte weiterhin nichts, deckte aber die Tasten des Instruments auf und begann langsam eine traurige Melodie zu spielen.

Mitten im Spiel brach er jedoch plötzlich ab und flüsterte: „Es tut mir leid, was letzte Woche passiert ist. Ich… ich habe die Kontrolle verloren.“

Er setzte an weiter zu spielen, doch ich hinderte ihn daran. Sicher griff ich nach seinem Handgelenk. Sein Verhalten regte mich echt auf. Konnte er nicht eine Minute mal stillsitzen und erklären, was Sache war?

„Kannst du mal kurz nichts machen außer zu erklären was du eigentlich meinst? “ sprach ich meine Gedanken aus.

Er starrte weiterhin auf die Tasten, nickte aber und ließ die Hände sinken. Ich ließ auch sein Handgelenk wieder frei.

„Also, “ begann ich, „Was ich nun los?“

Weiterhin schwieg er.

Ich versuchte es auf eine andere Art.

„Cain“, quengelte ich und lehnte mich so zu ihm hinüber, dass er direkt mit meinem Bettelblick konfrontiert wurde.

Meinen Schock über seinen erneuten, verschlossenen Gesichtsausdruck unterdrückte ich gekonnt und attackierte ihn weiter mit meinen Blicken. Wenn ich endlich etwas aus ihm herausbekommen wollte, durfte ich keine Gnade walten lassen. Immerhin tat uns diese Ungewissheit beiden nicht gut.

Mit einem Seufzen wurde ich aus meinen Gedanken gerissen.

Aufmunternd lächelnd lehnte ich mich zurück.

Kurz sah er auf, konnte mich aber nicht länger als eine Sekunde anschauen. Wieder begann er leise eine Melodie zu spielen. Diesmal hielt ich ihn nicht davon ab, denn ich erkannte den Song schon nach wenigen Noten. Es war der gleiche, den er vor unserem Zusammentreffen gespielt hatte.

„Weißt du, “ begann er, „ ich wollte dir dieses Lied schon lange einmal vorspielen, aber es bot sich mir keine passende Gelegenheit. Er… er ist wie ein Spiegel, der meine Gefühle für dich genau zeigt… Auch wenn es mir eigentlich nicht mehr zusteht, ich will es dir dennoch sagen. Akira… ich liebe dich.“ Nun sah er mich direkt an und stoppte mitten im Spiel.

Mein Gehirn brauchte eine Weile um diese Information zu verarbeiten. Sicherlich hatte ich sie nur falsch gedeutet. So wie mein Hirn sie auslegte, ergab sie einfach keinen Sinn.

Deshalb sagte ich daraufhin: „Ich liebe dich doch auch Cain! Du bist wie ein Bruder für mich.“

Ein gequältes Lächeln schlich sich auf sein Gesicht und er seufzte.

Er setzte sein Spiel langsam fort und sprach den Text leise mit: „Wenn ich in den Himmel fallen könnte. Denkst du die Zeit würde mich verschwinden lassen. Du weißt, ich würde eintausend Meilen laufen, wenn ich dich nur sehen könnte… wenn ich dich nur halten könnte… heute Nacht.“ Er hielt kurz inne, bevor er weiter sprach: „Ich liebe dich Akira! Als Mensch, als Frau, aber nicht als Schwester!“

Nun spielte er weiter. Auf eine Antwort schien er nicht zu warten.

Ich hätte ihm in diesem Moment auch keine geben können.

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Eigentlich dachte ich, ich hätte diese Geschichte hier schon vollständig hochgeladen, aber falsch!



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