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Das Hirngespenst

von

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Heute war der Tag gekommen, an dem ich mich endlich dazu überwinden konnte, diesen verregneten Ort hier zu verlassen - Die arme Mrs. Weber war im Alter von 82 nun gestorben. Ich hatte sie sehr gemocht und die letzten 50 Jahre eigentlich nur wegen ihr hier in Forks auf Olympic verbracht. Sie hatte ein gutes Herz gehabt und war stets freundlich und offen und ihrer Familie gegenüber sehr liebevoll. Ihre kleine Enkelin, Angela, war ihr genaues Ebenbild.

Es war nach einem langen Nomadenleben recht interessant, sich niederzulassen und das Treiben mehrerer Generationen nebeneinander zu beobachten. Ich musste mich ja nicht integrieren und so hatte ich endlich etwas gefunden, was mir eine Aufgabe werden konnte. Eine Aufgabe, die sowohl Gutes als auch Schlechtes barg: Es gab nur wenige Menschen wie Mrs. Weber. Eher traf man auf Verlogenheit und Stumpfsinn oder Eitelkeit wie bei dieser Miss Stanley der Fall war.

Das Analysieren einer so komplexen Lebensform wie der des Menschen war für mich immer der rettende Anker geblieben, der meinen Fortgang und damit die Veränderung aufschob.
 

Doch nun mochte ich nicht mehr bleiben. Ich haderte schon seit längerem mit mir, ob ich nicht noch weiter weg ziehen sollte. Ich verstehe bis heute nicht, warum ich damals nicht noch weiter vor diesen Vampirwesen geflohen war. Ich hätte mindestens bis in den Norden gehen sollen aber stattdessen gab ich nach 5 einhalb US-Bundesstaaten auf. Ich stieß ein luftloses Seufzen aus, wie es mir schon seit Jahren nicht mehr passiert war.

Ich hatte nicht mehr gesprochen, denn mich hörte sowieso niemand. Atmen brauchte ich gar nicht. Ich könnte jahrelang regungslos irgendwo stehen und niemanden würde es stören, weil alle durch mich durchlaufen würden. Niemanden würde es stören. Nur mich. Mich würde es stören, weil ich wahnsinnig würde. Weil ich ständig bei vollem Bewusstsein war und allein damit.
 

Ich schaute zum Mond hinauf. Er war voll und rund und ich wusste, dass er mich erkennbar machte. Auf eine seltsame Art und Weise, denn zumindest konnte ich selbst ganz sachte silbrige Striemen erkennen, die wohl meine Hand zeichneten. Das reine Licht der Sonne vermochte dies nicht zu tun, doch ihr reflektiertes Restlicht und der Zauber eines Vollmondes schienen die Struktur meines seltsamen 'Körpers' erfassen zu können.

Es tat gut, dieses silberne, ruhige Licht inmitten dieser Stille im Wald fangen zu können. Es war mir nahezu unbegreiflich, wie in einer so dichten Baumbepflanzung eine so große Lichtung entstanden sein konnte. Sie war vom fahlen Lichtschein getränkt und ich lief immer wieder von einer Seite zur anderen; betrachtete die seltsam grauen Schatten, fühlte mich lebendig. Und trotzdem dem Wahnsinn so nah.
 

Niemand kannte mich, doch ich kannte jeden in dieser Kleinstadt. Die Highschool brachte immer neue Schulabgänger, welche sich bald darauf aus diesem Loch verflüchtigten; den Polizeichef Swan mit seinem unerbittlichen Arbeitstrieb, welcher mir in den letzten 14 Jahren irgendwie ans Herz gewachsen war mit seiner einfachen aber stillen Art; die Leute aus dem Rucksacktouristen-Geschäft - all das und so viel mehr konnte ich sehen und erkunden. Aber nicht erleben. Ich konnte mich nie kenntlich machen, nichts berühren, die ganzen 90 Jahre hier schon nicht. Und davor auch nie.

Der Himmel konnte dieser Zustand keinesfalls sein, aber auch nicht die Hölle - dazu war er wohl noch zu mild. Vielleicht musste ich aber auch den Buddhisten bedenken, der meinen würde, ich wäre ins Nirwana gehüpft oder gerade in einer Wiedergeburtsphase.

Doch das konnte auch nicht sein. Sie dauerte zu lang; ich hatte zu viel gesehen in dieser Zeit. Krieg, auch wenn er Forks kaum erreicht hatte, das Leben, die vielen Gestorbenen, vereinzeltes Familienglück, Katastrophen, herzzerreißende Abschiede, neue Zusammenkünfte... und trotzdem stand ich weit abseits alledem.
 

So war ich in letzter Zeit recht müde vom Dasein geworden und wollte entgegen meiner Vorsätze etwas Neues sehen. Wollte weg von hier; in einem anderen Land die fremden Menschen bespitzeln. Neue Kulturen erkennen.
 

So blickte ich noch mal zum Mond, der mir nunmehr jeden Monat einmal mit seinem vollen, lieben Gesicht zu einem guten Freund geworden war, und verabschiedete mich von dem Blickwinkel, den ich gerade noch zu ihm hatte. Morgen schon sollte es ein anderer sein und in ein paar Monaten würde er mich andersherum anstrahlen. Von der Südhalbkugel gesehen sah er sicher lustig aus.
 

Plötzlich hörte ich einen Windstoß, aber nur aus einer Richtung; nicht wie normalerweise komplett von hinten, bereit zum Überrollen. Er wehte sich schräg hinter mir aus, erreichte mich aber nicht. Darüber war ich sehr froh, denn vielleicht hätte er mich zum Bleiben angehalten.

Dennoch drehte ich mich um, dem unsichtbaren Lufthauch zum Abschied nachzublicken.

Völlig unerwartet traf mich der Schlag: Am anderen Ende der Wiese stand eine schlaksige Gestalt; weiß erschien sie getränkt im Licht des Mondes. Große Hände hingen zu starken Fäusten geballt an den Seiten der Person herab, die schwarze Kleidung fraß die Nacht.

Diese den Hauch von Bronze im fahlen Mondlicht erahnen lassenden Haare, ein solch ebenmäßiges Gesicht überzogen mit einem schwachen Glanz wie es aussah, schmale, graue Lippen und eine Anmut, die sich in den jetzt topasähnlich gefärbten Augen spiegelte...

Versehentlich erinnerte ich mich, dank meiner Bestürzung, laut an seinen Namen und brach somit mein jahrzehntelanges Schweigen: "Edward Masen?"
 

Seine Augen verengten sich und er starrte nun fragend in meine Richtung; nicht als ob er mich sähe, eher als ob er mich gehört hätte.

Die Erinnerung an die morgenroten Augen in seinem Gesicht ließ mich erstarren. Ich hatte damals Angst gehabt, wenn ich ehrlich war. Und diese Angst hätte mich auch jetzt erfasst, wenn seine Iriden nicht diesen warmen gelben Farbton gehabt hätten.
 

Es war, als hätte er gemerkt, dass ich seine Augen fixierte und so richtete er seinen Blick nach oben. Ich war immer fest davon überzeugt gewesen, jedem Blick verborgen zu sein. Doch dieser Blick bohrte sich mit einer solch ungeheuerlichen Intensität in meinen, dass ich all dies betreffende Theorien schlagartig verwarf.
 

Langsam trat er weiter in die Mitte der Lichtung und ich konnte erkennen, dass der Glanz auf seiner Haut viel mehr ein sanftes Funkeln war - ganz als ob tausende kleiner Diamanten in sie eingelassen wären und das Mondlicht schwach in alle Richtungen reflektierten.

Also konnte er doch kein Vampir geworden sein. Aber was war er dann? Und viel wichtiger: Was hatte er hier verloren? Ich wusste genau, dass ich mit seinem Namen Recht gehabt hatte - Diesen Mann könnte ich überall wieder erkennen, denn irgendetwas von ihm hatte sich so in meinem Gedächtnis manifestiert, dass ich glatt fähig gewesen wäre zu behaupten, ihn seit meinen ersten Blicken auf ihn jeden Tag gesehen zu haben. Ihn zu kennen. Die ganzen mehr als 90 Jahre.
 

Ich sah, wie er den Mund öffnete, um zum Sprechen anzusetzen, ihn aber sofort wieder schloss. Stattdessen war er plötzlich verschwunden und ich vernahm wieder diesen Windstoß. Er musste unglaublich schnell sein; schneller als ich.

Ich dachte eine Sekunde lang, dass er weitergezogen oder nie dagewesen war, bis ich ihn hinter mir stehen spürte. Ich empfand seine Kälte.

Fix drehte ich mich um, rein aus einem Impuls heraus. Ich wollte ihn ansehen. Weil er mich ansehen konnte. Da ich zu wissen gedachte, dass er mich sehen konnte, hatte ich Angst, dass er mir etwas antun würde, wenn ich ihm den Rücken zuwand.
 

So stand ich nun vor ihm; uns trennten keine 20 Zentimeter. Wir sahen uns unverwandt in die Augen und es schien mir, als wolle er durch sie hindurch direkt in meine Gedanken sehen. Ich hatte nicht das Gefühl, dass ich diesem Blick noch lange standhalten konnte; einerseits weil die Verblüffung meine Sinne trübte, andererseits weil seine absolute Gegenwart mich - einen Geist - nervös machte.

Im Augenwinkel sah ich, wie er langsam und zögerlich seine Hand hob und sie kurz in der Luft hielt. Noch tiefer drang sein Blick in meine Augen und ich verlor die Konzentration, bis er seine Hand an meine Wange legte.

Es war tatsächlich ein Widerstand zu spüren - all die Zeit, die ich unbeachtet verbringen musste, schien plötzlich winzig klein und nichtig. Diese kalte, zärtliche Hand an meinem Gesicht bedeutete auf einmal die ganze Welt.

Es war mir nicht möglich, über die schiere Ausgeschlossenheit dieser Berührung nachzudenken, zu sehr war ich von der Kälte und meinen Gefühlen gefesselt. Es war ein Kribbeln, fast wie ein Kitzeln, das von dieser Stelle in meinem Gesicht ausging und in Windeseile mein gesamtes Dasein durchzogen hatte. Es fühlte sich intensiver an als alles, was ich je in meinem Leben als Mensch erfahren hatte, soweit ich mich in diesem Moment entsinnen konnte.
 

"Bist du etwa mein Hirngespinst?", fragte seine tiefe Stimme brüchig in die gleißend helle Dunkelheit. Sie schien mich mit aller Macht durchstoßen zu wollen; klang musikalisch und so seltsam vertraut.

Ich spürte, wie seine Handfläche langsam über mein Gesicht nach unten strich, so als würde er sie zurückziehen wollen. Instinktiv schoss mein eigener Arm nach oben und keine Sekunde später lag meine eigene Hand auf seiner. Wir erwischten sie dabei, wie sie seine drückte und beide wieder ein Stück nach oben schob.

Genießerisch schloss ich meine Augen und gab mich der kalten Rechten aus Stein hin. Sie formte perfekt die unwirkliche Linie meiner Wange nach und war ein herrliches Bett für meine Linke.

"Eher bin ich dein Hirngespenst, Edward", flüsterte ich.



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