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Herzschlag I

Miss Paine
von

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028 – Versuchung

Mein Körper war bleiern. Ich trieb in düsterer Tiefe vor mich hin. Kein Licht, kein Geräusch. Friedlich und beängstigend. Dieser Ort war leer und ich wollte fort.

Eine mächtige Strömung riss an meinen Gliedern. Aufwärts, immer schneller, lauter. Ein Blatt im Wind, bis ich zu mir kam und auf dem Stuhl neben meinem Bett eine verschwommene Silhouette erkannte.

„Was war los?“, murmelte ich unverständlich, während mein Blick sich schärfte.

„Du.“

Ezra saß mir mit verschränkten Armen gegenüber. Er war gefasst – wie immer.

Ich spürte noch Druck in meiner Brust, als ich mich aufsetzte.

Einen Moment, zwei, und ich bemerkte, dass etwas fehlte: Sofia. Ich hatte sie hier zurückgelassen.

„Wo ist Sofia?“

Ezra wies mit dem Zeigefinger nach oben.

„Wie geht es ihr?“

Sein Schweigen machte mich nervös. Das tat er mit Absicht.

„Sag schon!“, forderte ich erneut.

„Was glaubst du denn?“

„... nicht gut“, vermutete ich.

„Beschissen. Du hast ganze Arbeit geleistet. Kompliment.“

Kein sarkastischer Unterton und ebenso wenig klang es nach Anerkennung. Unmöglich diese Aussage richtig einzuordnen.

„Was soll das heißen?“

Diesmal kam seine Antwort umgehend: „Dass du beinahe alles richtig gemacht hast. Dein einziger Fehler war, Magdalena unterschätzt zu haben.“

Die Kälte seiner Miene stand seiner Aussage in nichts nach. „Du bist krank. Wie kannst du das sagen?“

„Aus Fehlern lernt man. Ich will nur sichergehen, dass die deinen dir bewusst sind.“

„Du musst sie ja wahnsinnig hassen ...“

„Magdalena? Nein, überhaupt nicht. Aber ich werte nicht, ich bewerte.“

Ganz neutral, ohne die kleinste Emotion, als wäre es ihm egal, wie so vieles andere auch. Er behängte sich nicht mit anderer Leute Probleme.

Meine Augen wanderten von Ezras ausdruckslosem Gesicht, quer durch mein Zimmer, zum Fenster. Die Vorhänge waren zugezogen, dahinter spitzte kein Licht. Die Uhr an meiner Wand stand auf acht. Abends?

„Hast du mit ihr gesprochen?“, wollte ich wissen, nachdem ich die Wut über seine Worte hinuntergeschluckt hatte.

„Ja.“

„Und was hat sie gesagt?“

„Nicht viel. Sie bat mich, nach dir zu sehen, dann wurde sie ohnmächtig.“

Es tat mir unendlich leid, Magdalena in eine solche Situation gebracht zu haben.

„Ist sie in Ordnung?“

„So in Ordnung man sein kann, nachdem man knapp dem Tod entronnen ist.“

Das konnte ich nicht stehen lassen. „Ich wollte sie nicht umbringen!“

„Nicht?“ Zum ersten Mal seit Beginn dieses Gesprächs lag Ausdruck in seiner Stimme: Sarkasmus.

„Nein!“

„Sondern?“

„Ich musste wissen, wie sie schmeckt. Das war alles. Ich hatte nicht vor, sie zu töten!“

Je mehr ich mich darüber aufregte, desto stärker wurde das flaue Gefühl in meinem Magen. Mir war schwindelig.

Ezra dagegen hatte mit Leichtigkeit zurück zu seinem emotionslosen Tonfall gefunden. „Bedenkt man dein Alter, besteht darin kein Unterschied.“

„Ich. Hätte. Sie. Nicht. Getötet.“ Noch einmal, langsam, damit er mich verstand.

„Und zwar nur deshalb, weil sie dich zuerst erledigt hat. Glaub mir, du hättest sie getötet.“

Zwecklos mit ihm darüber zu streiten. Ich verkniff mir jede weitere Gegenrede und wechselte das Thema: „Hast du ihr das beigebracht? Wie sie sich gegen mich verteidigen kann.“

„Ich brachte ihr bei, Vampire zu töten. Das war vor deiner Zeit. Aber du lenkst ab.“

Etwas schräg, immerhin war er selbst einer.

„Stimmt. Ich will nicht mit dir darüber diskutieren, ob oder ob nicht.“

Das amüsierte Schnauben seinerseits ließ mich hoffen, also fuhr ich fort: „Warum war es wichtig, ihr das beizubringen?“

Immerhin ging ich nicht davon aus, dass Sofia oder Ezra ihr etwas antun würden.

„Weil es notwendig war.“ Kein Thema, über das er sprechen mochte.

„Ja ... weshalb? Mir hast du es nicht beigebracht.“

Er seufzte resigniert, bevor er mir meine Antwort gab: „Menschen werden in der Gesellschaft nicht geduldet. Wir wollten auf Gefahren von außerhalb vorbereitet sein, aber es ist nie dazu gekommen, dass sie dieses Wissen anwenden musste. Bis heute.“

„Du kannst es nicht lassen, oder?“, brummte ich missmutig.

„Was? Dir vorzuhalten, dass du sie ernsthaft in Gefahr gebracht hast? Nein, kann ich nicht. Nicht, bis du es nicht eingesehen hast.“

„Ich dachte, es sei dir egal!“

„Es geht nicht um das, was du getan hast. Du flüchtest vor der Wahrheit, anstatt sie zu akzeptieren und dich damit auseinanderzusetzen. Du machst es dir zu leicht.“

„Woher willst du überhaupt wissen, was passiert wäre? Sofia habe ich auch nicht gefressen!“

„Beweise es.“ Ezra klang nicht, als würde er scherzen. Es war auch nicht seine Art.

Ich war ratlos.

„Was meinst du damit?“, fragte ich mit einer ordentlichen Portion Skepsis.

„Du bist doch sonst nicht so schwer von Begriff“, stichelte er und stand auf. „Los, mitkommen!“

„Wa-warte! Was hast du vor? Willst du mich noch mal auf Magda loslassen?“

Die Vorstellung war mir nicht geheuer. Magdalena war ohne Frage bedient, ich wollte sie nicht erneut überfallen. Außerdem ... fühlte ich mich nicht gut.

„Magdalena hat damit nichts zu tun. Ich habe einen Gast für dich eingeladen.“

Einen Gast? Das kam überraschend.

„Wen?“

„Das wirst du gleich sehen. Er wartet im Keller.“

Ein merkwürdiger Ort, einen Gast unterzubringen. Mir schwante Übles. 'Gast' war in diesem Fall offenbar eine freundliche Umschreibung für ... Nahrung.

„Mir ist jetzt nicht nach einem Gast. Ich fühle mich nicht gut. Flau, irgendwie.“

 „Und ich kann dir ganz genau sagen, warum das so ist.“ Ezra beugte sich zu mir hinunter und tippte mit dem Zeigefinger auf meine Brust. Es schmerzte unerwartet heftig. „Du warst tot. Es hat deinen Körper viel Energie gekostet, dich wieder zurückzuholen und jetzt hast du Hunger. Du brauchst Blut.“

Es war mir nicht entgangen, wie das Blut in seinen Adern rauschte, wie sein Herz schlug, und dass es mich lockte. Trotzdem hatte ich den Gedanken verworfen, ihn anzuspringen. Auch wenn Ezra starke Zweifel hegte, war ich nicht die unkontrollierte Bestie, für die er mich hielt.

„Schön“, ergab ich mich und stieg aus dem Bett. „Ich werde es dir beweisen.“

Bevor er noch einen weiteren unangebrachten Kommentar abgeben konnte, schob ich ihn zurück und verließ mein Zimmer. Seine Überheblichkeit nervte. Er mochte vieles wissen, vieles können und wahrscheinlich überstieg sein Erfahrungsschatz all meine Vorstellungen, doch im Bezug auf mich gab es einen entscheidenden Unterschied zu allen jungen Vampiren, die er kennen mochte: Ich hatte es gewollt.

Ezra war mir wortlos nach unten gefolgt. Als wir vor der schweren metallenen Kellertür standen, eröffnete er mir ein nicht unwesentliches Detail: „Ich dachte, ich bringe dir jemanden, den du magst, dadurch ist der Ansporn größer.“

Die Auswahl derer, die ich mochte, war nicht groß. Verschwindend gering, wenn man ehrlich war. Ich konnte nicht verhindern, dass Nervosität meinen Verstand in Beschlag nahm. Anspannung zerrte an mir, als ich die Tür öffnete. Ich hielt die Luft an.

Unser Trainingsraum lag düster und still vor mir. Ein schwacher Herzschlag drang durch die Leere. Ich erkannte dunkle Umrisse, hörte flachen Atem, dicht am Boden. Eine schmale Gestalt lag reglos vor mir.  Ich zögerte, atmete ein und mein Herz machte einen schmerzvollen Satz. Ich fuhr herum und schlug Ezra meine Hand ins Gesicht.

„Du verdammter Scheißkerl!“, brüllte ich ihn an und krallte mich in sein Hemd – ich musste mich festhalten.

„Nicht der Gast, den du dir erhofft hattest?“, fragte er und löste sorgsam meine Finger aus seiner Kleidung.

„Ich habe mir niemanden erhofft! Und am allerwenigsten sie! Was hast du ihr angetan?“

Ezras Hand war angenehm kühl. Ich umklammerte sie eisern. Ein Anker.

„Du stellst die falschen Fragen, Megan. Sieh lieber zu, dass du sie am Leben lässt.“

Der Boden unter meinen Füßen geriet ins Wanken. Die Luft schmeckte süßer als Honig und roch nach Sommer, nach Leben und nach Lust. Jede Nuance dieses Dufts war mir vertraut. Er zog mich in seinen Bann, wie schon zuvor, und ich musste sie zurückhaben, die Leichtigkeit, die ich zwischen Amandas Laken gefunden hatte.

Meine Hand glitt von Ezras Fingern, ich folgte dem steten Drang hinunter in den Staub, hinab zu Amanda, die friedlich dort lag und meinen Kampf nicht bemerkte. Sie war nicht bei sich. Ihr Gesicht war wunderschön in meinen Händen. Ich konnte nicht leugnen, sie vermisst zu haben, ihre zarte Haut, das weiche Haar, den makellosen Körper. Mir schwirrte der Kopf. Ich zog sie zu mir heran, auf meinen Schoß, und schloss die Augen, inhalierte ihren betörenden Duft. Mein Puls überschlug sich. Ich öffnete den Mund, um zu atmen, und Speichel rann über meine Lippen. Die mahnende Stimme in meinem Kopf war unter dem Rauschen ihres Blutes verstummt.

Ich begehrte sie, mehr als irgendetwas sonst. Leben pochte in ihrer Halsschlagader. Es zog mich an – ganz natürlich – wie Blüten eine Biene. Ich war betrunken, kaum hatte der erste Tropfen ihres Blutes meine Zunge berührt. Ein voller, bittersüßer Geschmack, der mich schweben ließ. Mein Körper hatte kein Gewicht, ich spürte mich nicht mehr, war federleicht und jeden ihrer Atemzüge war wie der meine. Wir verschmolzen auf ungekannte Weise und ich brauchte mehr, wollte alles. Kein anderer sollte sich an dieser Kostbarkeit bedienen. Sie gehörte mir.

Je mehr ich trank, desto unbesiegbarer fühlte ich mich. Mein Geist war klar, zu einhundert Prozent, obwohl ich nicht die geringste Ahnung hatte, wo ich war. Ich hatte es vergessen, hatte verdrängt, was um mich war. Es gab nur noch mich und meine Beute, bis uns jemand gewaltsam auseinander riss.

Vergeblich versuchte ich, meine Finger wieder an Amandas Kleidung zu bekommen. Ezra wusste es zu verhindern. Er stieß mich zurück, ehe ich reagieren konnte. Amanda lag hinter ihm und ich musste zu ihr zurück, was immer es kostete.

Eine Minute, länger würde es nicht dauern. Seine Haltung war alles andere als kampfbereit. Ein Kinderspiel. Ich behielt seine Hände im Blick und stürzte mich auf ihn. Ein schneller Schritt, ein fester Schlag, ich duckte mich, blockierte seinen Tritt, hielt ihn fest und flog mit Schwung in den Dreck. Mein Fehler.

Ich rollte zurück auf die Beine, ehe Ezra bei mir war. Er war überraschend schnell, ließ mir keine Zeit, noch einmal Luft zu holen, und zwang mich mit einem harten Schlag seines Ellenbogens in die Knie. Ein Gefühl, als hätte er mir ein Loch in den Schädel gehämmert. Alles drehte sich. Meine Sicht war getrübt, dennoch erkannte ich, wie er vor mir in die Hocke ging.

„Es reicht“, sagte er mit trockener Bestimmtheit.

Ich war unschlüssig. Sollte ich aufgeben? Es erneut versuchen?

„Ja, ich weiß ...“, nuschelte ich und wartete, bis er sich erhob.

Er ließ sich Zeit und zum ersten Mal wünschte ich, er würde den Mund halten. „Du hast lange durchgehalten.“ Es klang, als wollte er mich loben. „Eine beachtliche Leistung.“

„Danke.“

Er reichte mir die Hand. Ich musterte sie prüfend, dann fiel mein Blick auf Amanda. Ich schmeckte ihr Blut auf meinen Lippen und die Entscheidung fiel. Ezra war im Weg. Ich stützte mich mit einer Hand auf den Boden, spannte meine Beine und rammte ihm meine Schulter in den Unterleib. Er keuchte, ich riss ihm die Füße weg und er packte mich am Kopf, ehe er fiel. Ezra zog mich mit sich. Ich krallte meine Fingernägel in seine Haut, wollte ihn zum Loslassen bringen. Es half nicht.

„Hat Sofia dir das beigebracht?“, fragte er, während er sich meinen Arm griff, dessen Hand ihn massakrierte.

„Nein, wieso?“, fauchte ich.

„Weil es listig ist.“

Frechheit. „Und stell dir vor“, setzte ich an, schlug ihm meine Faust ins Gesicht, und fuhr fort, „Ich bin ganz alleine darauf gekommen!“

Er musste meine Haare loslassen, wenn er nicht weiter Schläge einstecken wollte. Ich teilte munter aus, bis er auch meine zweite Hand zu fassen bekam und beide zu meinen Seiten fest in den Sand drückte.

„Schluss jetzt!“, knurrte er finster.

Ich hatte keine Angst. „Was? Willst du mir sonst den Hals umdrehen?“

„Halt den Mund.“

„Was hält dich ab?“

Er seufzte entnervt. Ich versuchte, durch seine trüben Augen einen Blick auf seine Gedanken zu erhaschen. Würde er für Ruhe sorgen, oder mir noch eine weitere Gelegenheit geben? Schwer zu sagen.

„Lass mich los!“, wies ich ihn auf seinen nächsten Schritt hin.

„Nein.“

„Das ist mein Ernst“, versuchte ich meiner Aufforderung mehr Gewicht zu verleihen.

„Meiner auch.“

An seiner Stelle hätte ich mich ebenso wenig freigegeben. Ich ließ meine Blicke über sein Gesicht wandern, während er sich darüber klar wurde, was er zu tun gedachte. Er war über mich gebeugt, Haare fielen ihm in die Stirn, Kinn und Wangen zierten kurze Bartstoppeln. Sein Hals pulsierte.

„Ezra ...“

Er sagte nichts, als wartete er, dass ich weitersprach. Ich wollte nicht.

„Was?“, fragte er schließlich.

Es war das Eigenartigste, was ich mir hätte ausdenken können. Nein, es lag fernab meiner Vorstellungskraft.

„Du musst mich jetzt wirklich loslassen.“

„Ich lasse dich los, sobald du zur Ruhe gekommen bist.“

„Wird nicht passieren ... fürchte ich. Du machst mich nervös.“

Keine Reaktion. Er lockerte den Griff um meine Handgelenke und ich war frei – zumindest meine Arme und die waren alles, was ich benötigte. Ich riss sie nach oben und schlang sie Ezra um den Hals, bevor er aufstehen konnte. Zog mich hinauf und zerrte ihn herunter, dass sich unsere Wege in der Mitte trafen. Ich war nicht sicher, wonach er schmeckte – zu viel von Amandas Blut klebte noch an mir – doch allein das Gefühl seiner Lippen auf meinen, jagte mir Schauer über die Haut. Ezra blieb verblüffend ruhig. Schockstarre? Ich verspürte das dringende Bedürfnis, ihm die Kleider vom Leib zu reißen, als er mir mit gleichmäßigem Druck auf die Brust zu verstehen gab, dass ich loslassen sollte. Ich ergab mich kampflos und ließ ihn mich zu Boden drücken.

„Schlag dir das aus dem Kopf“, sagte er und stand auf.

Bedauerlich. „Was ist dein Problem?“, fragte ich und blieb liegen.

„Ich habe kein Problem. Du bist durcheinander.“

„Durcheinander?“ Ich konnte nicht anders, als darüber zu lachen. „Ich bin nicht durcheinander.“

„Das kommt von ihr.“ Er wies in Amandas Richtung. „Nicht ungewöhnlich.“

 „Aha.“ Ich setzte mich auf und warf einen Blick hinüber.

Ezras Erklärung war dürftig, doch musste ich mir eingestehen, dass er jetzt – da er vor mir stand – nicht einmal halb so attraktiv erschien, wie ich es eben noch gedacht hatte. Ich rieb mit den Händen fest über mein Gesicht, um das Durcheinander zu ordnen, von dem er gesprochen hatte.

„Das ergibt keinen Sinn“, nuschelte ich in meine Handflächen.

So schnell mich die Lust überkommen hatte, so schnell war sie vergangen und ließ mich verwirrt zurück. Ich hörte, wie Ezra durch den Raum lief, hinüber zu Amanda. Er hob sie vom Boden und trug sie Richtung Ausgang.

„Wirst du sie zurück in die Stadt bringen?“

„Nein.“

„... sondern?“

„Beerdigen.“

Ich gefror auf der Stelle. Das hatte er nicht gesagt. Es konnte nicht sein.

„Sie lebt!“, fuhr ich ihn an und sprang auf die Beine, um ihn aufzuhalten.

 Ich hörte, dass sie atmete, dass ihr Herz schlug. Sie war nicht tot. „Willst du sie umbringen?“

Ezra blieb vor der Tür stehen. „Nein“, sagte er ruhig. „Sie hat viel Blut verloren, das überlebt sie nicht.“

Seine Worte verwandelten meine Kniegelenke in Butter. Mir war schlecht und ich war wütend.

„Warum hast du mich nicht aufgehalten?“ Es klang verzweifelt, keine Spur der Wut, die ich hatte ausdrücken wollen.

„Gib nicht mir die Schuld.“

Eine erschlagende Lektion. Ezra ließ es vollkommen kalt. Es war nichts Besonderes für ihn. Alltag. Wahrscheinlich. Während ich auf dem kalten Boden Platz nahm, schritt er unbeirrt hinauf ins Erdgeschoss. Ich fror. Meine dunkel verschmierten Hände zitterten in meinem Schoß. Hatte ich sie umgebracht? Einfach so? Das Pochen in meinem Kopf war unerträglich. Ich zwang mich weiterzuatmen, das Stechen in meiner Brust zu ignorieren. Jeden Moment würde ich verglühen, es war unerträglich heiß. Ich schwitzte. Ich war schuld. Ohne es zu wollen, war ich gegen eine Wand gerannt. Nein – mit voller Absicht, mit Genuss. Es war eine grauenvolle Erkenntnis. Sie würde sterben, wegen mir.

Ich wusste nichts mit mir anzufangen, war wie gelähmt. Vielleicht blieb ich hier. Verbarrikadierte mich hinter dieser dicken Tür und wartete, bis es besser wurde. Wenn es besser wurde. Ich glaubte nicht daran.

Oben war Unruhe ausgebrochen. Ein zweites Paar Füße lief über den Boden. Eilig und schnell. Es war Magdalena, sie kam in meine Richtung.

„Megan?“, rief sie. „Ist alles in Ordnung?“

Wie sollte es in Ordnung sein? Ich antwortete nicht und Magdalena kam herunter.

„Bleib weg!“, fuhr ich sie an.

Sie blieb ein paar Fuß entfernt stehen. „Was ist mit dir? Willst du nicht nach oben kommen?“

Magdalena wusste es nicht, dessen war ich sicher.

„Verschwinde, bevor ich dich auch umbringe!“, fluchte ich.

„Umbringen? ... Sie braucht Bettruhe und viel Wasser. Das wird wieder, hat Ezra dir das nicht gesagt?“, fragte sie ehrlich überrascht.

Dreckiger Mistkerl!

Mir blieb keine Zeit mehr, Magdalena eine Antwort zu geben, ich musste nach oben in den Salon. Ezra saß auf dem Tisch und wischte Blut von Amandas Hals. Sie lag auf dem Sofa.

„Sie hat es dir gesagt“, stellte er trocken fest.

„Stimmt es? Sie wird nicht sterben?“

„Irgendwann. Aber nicht deswegen.“

„Du bist nicht mehr bei Trost!“, schimpfte ich, während der Zorn von mir Besitz ergriff. „Ich sollte dich auf der Stelle in Stücke reißen!“

„Tu dir keinen Zwang an.“

Eine sanfte Hand auf meinem Arm hielt mich zurück. Ich war froh darum.

„Lass gut sein.“ Magdalena bemühte sich, ihre Unsicherheit zu verbergen. Meine Nähe behagte ihr nicht. Es war nur allzu verständlich. „Du wärst deinen Kopf zuerst los. Das ist es nicht wert.“

Ich wusste, dass der kurze Moment der Genugtuung schnell durch Ezras Hand beendet werden konnte, dennoch juckte es in meinen Fingern, ihm eine Abreibung zu verpassen.

„Größenwahn ist ein schnell tödliches Gift. Es ist notwendig, frühzeitig das richtige Gegengift zu verabreichen“, begründete er sein Vorgehen. „Und anders funktioniert es bei dir nicht.“

„Du hast mich glauben lassen, sie umgebracht zu haben!“

„Das hättest du, wäre ich nicht dort gewesen.“

So sehr ich es bedauerte, er hatte Recht. Zwecklos, das Offensichtliche abzustreiten. Ich löste meinen Arm aus Magdalenas sanftem Griff. Besser, ich kam ihr nicht zu nah.

„Magda ...“

Sie sah mich mit ihren gütigen Augen an und ich wusste, dass sie verstanden hatte, was ich sagen wollte. Sie legte die Hände an mein Gesicht und die Wärme ihrer Worte berührte mein Herz, wie es sonst nichts vermochte: „Es gibt nichts zu verzeihen. Alles ist gut. Ich weiß, wie sehr es deiner Natur widerspricht, was in dir vorgeht. Du musst dich nicht entschuldigen.“

Sie konnte in Worte fassen, was mich quälte und nahm mir im selben Atemzug die Last. Für sie war ich kein Monster, obwohl ich ihre Angst riechen konnte. Sie gab sich solche Mühe, für mich stark zu sein. Ich war froh, dass sie zu mir stand, obgleich der Kraft und Überwindung, die es sie kostete.

„Ich weiß, dass du dich wunderbar entwickeln wirst“, fuhr sie fort, „aber ich fürchte, dich dabei nicht weiter begleiten zu können. Ich werde in die Stadt ziehen. Das ist für uns beide am besten.“

Ich nickte. Mit Sicherheit war Magdalena in der Stadt besser aufgehoben, als in diesem Haus. Daran gab es keinen Zweifel und dennoch stimmte es mich traurig. Ich wollte nicht, dass sie ging.

„Wann?“, fragte ich.

Ihre Augen glänzten feucht, als ich hineinblickte. „Sobald die Kutsche da ist“, sagte sie.

Mir fiel der große Koffer auf, der im Flur stand. Sie hatte bereits gepackt. Ezra trug Amanda hinaus. „Sie ist da“, sagte er.

„Ich werde Amanda mitnehmen und sicherstellen, dass es ihr gut geht.“ Sie seufzte schwer. „Ihr werdet mir fehlen.“

Wie egoistisch von mir. Magdalena verlor viel mehr. Keine Entschuldigung der Welt konnte das wiedergutmachen.

„... ich habe das nicht gewollt.“ Eine Träne lief über ihr Gesicht. Ich musste schlucken.

Magdalena lächelte gequält. „Du warst die Einzige, die nicht wusste, dass es so kommen würde. Mach dir keine Vorwürfe, es ist in Ordnung.“

„Wo wirst du wohnen?“

Ein Kopfschütteln. „Das kann ich dir nicht sagen. Ich weiß es noch nicht, aber das ist nicht schlimm.“

Es war schlimm. Ich wusste, wie schlimm es war, nicht zu wissen, wohin man gehen sollte und ich wünschte, etwas an dieser Situation ändern zu können. Eine Unterkunft für sie suchen, ein Haus kaufen, irgendetwas. Ich musste mit Sofia sprechen. Sie würde für sie sorgen können, das musste sie.

Magdalena strich über meine Wange, ihre Berührung stellte mir die Nackenhaare auf und von jetzt auf gleich weckte ihre unmittelbare Nähe meine Gier. Ich musste nur zugreifen, es war leicht. Ich zerrte sie an mich und schlug ohne zu zögern meine Zähne in ihre Haut.

Es war warm und schmeckte ... fad.

„Keine zwei Minuten kann man dich alleine lassen“, brummte Ezra hinter meinem Rücken.

Wie? Ich riss die Augen auf und fand mich fernab dessen, was ich erwartet hatte. Magdalena stand mit bleichem Gesicht vor mir. Ein Arm umfasste meinen Brustkorb, ein zweiter drückte seine Hand vor meinen Mund. Ich versuchte, mich herauszuwinden. Zwecklos. Ezra hatte mich fest im Griff. Ich fluchte unter seinen Fingern, zappelte und trat um mich, bis Magdalena mich in den Arm nahm und meinen Widerstand versiegen ließ. Sie vergab mir – noch einmal. Mein Magen zog sich zusammen, als sie mich losließ. Ein Lebewohl und ich hatte die Nerven verloren. Das erdrückende Gefühl von Bedauern und Schuld wälzte sich über meine Schultern. Ich wollte etwas sagen, wollte um Verzeihung bitten, doch Ezra hielt mich weiter fest. Auf diese Weise war es sicherer, das hatte ich verstanden.

Magdalena betrachtete mich. Sie war traurig, kämpfte um Fassung.

„Pass gut auf sie auf“, sagte sie.

Ezra nickte – ich spürte die Bewegung – und Magdalena wandte sich ab, nahm ihren Koffer und verließ eilig das Haus. Ihre Schritte waren schwer, wurden leiser, verstummten, dann holperte die Kutsche mit ihr davon und es brach mir das Herz. Sie war fort.

Ezra ließ mich los. „Magdalena kommt zurecht.“

Das hoffte ich sehr. Ich konnte sie mir nur schwer als Einzelgängerin vorstellen. Sie war zu herzlich und zu warm, als dass sie die Einsamkeit lange ertragen konnte.

„Bist du in Ordnung?“, fragte er.

Er klang überraschend interessiert.

„Kein bisschen“, antwortete ich trocken.

Ich musste mich zusammenreißen, durfte Ezra keine Angriffsfläche bieten. Es war mühsam und wahrscheinlich hatte er meine Unruhe längst bemerkt. Es war zu viel. Die vergangenen Stunden schienen der Feder des Teufels entsprungen zu sein, der mich lenkte, mir die Kontrolle versagte. Eine beruhigende Vorstellung, doch ich wusste, dass nicht der Teufel dahinter steckte. Ich hatte Zufriedenheit empfunden, Stärke und Freude, hatte jeden Augenblick genossen und hasste mich in diesem Moment dafür.

Ezra stand noch immer hinter mir. Er legte seine Hände auf meine Schultern und riss mit seinen Worten heftig an meiner gefassten Fassade. „Es wird leichter, hab Geduld.“

Ich streifte seine Hände ab und wandte mich zu ihm um. „Ich will nicht, dass es leichter wird.“

Er wirkte überrascht.

„Ich will, dass etwas wie das nicht mehr passiert“, fuhr ich fort.

„Es bedarf langem Training, den eigenen Instinkt zu unterdrücken.“

„Wir haben Zeit, nicht wahr?“

Ezra schnaubte zufrieden. „Ja, haben wir.“


Nachwort zu diesem Kapitel:
Ein bisschen bedaure ich es schon, dass Magda jetzt weg ist q.q Ich mag sie sehr gern ♥
In allerletzter Sekunde habe ich mich übrigens doch dazu entschieden, Megan an dieser Stelle die Nerven behalten zu lassen. War knapp xD
Ich hoffe, das Kapitel hat euch gefallen.
Würde mich sehr über ein kurzes Feedback freuen ♥
Danke^^ Komplett anzeigen

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