Zum Inhalt der Seite

Snowdrops and Chocolate

Die Fortsetzung des gleichnamigen Doujinshi
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Rückzieher und Rückschlag

Kapitel 16 – Rückzieher und Rückschlag
 

„SPINNT IHR JETZT KOMPLETT?!“

Nicht nur die anwesenden Zalei, sondern auch ihre Carn fuhren vor Schreck zusammen. Ein Vogel flatterte ängstlich aufgescheucht unter der Decke herum. Sogar die alte Schildkröte Schnappi hatte vor lauter Schreck die Augen geöffnet.

In letzter Zeit waren Worte dieser Lautstärke, vor allem Worte, die jeden Respekt missen ließen, eher selten im großen Sitzungssaal ertönt. In der letzten Zeit nämlich, in der Lan nicht an den Ratssitzungen teilgenommen hatte. Doch mit gewohnter Stimmgewalt bewies er seine inzwischen völlige Genesung von seiner Schussverletzung.

„Einen anderen Ton sollst du dir angewöhnen, Lan! Ich dir habe tausendmal gesagt.“ befahl der Vorsitzende Meister Adoy mit ruhigem, aber durchaus starkem Ton.

Ryu teilte zwar Lans Geisteshaltung, nicht jedoch sein Temperament. Und so konnte er seine Zweifel deutlich geschliffener formulieren.

„Meister. Sie möchten Kei Chiharu ernsthaft für die nächste Prüfung anmelden? Das ist unsinnig. Er wurde erst sieben Monate lang ausgebildet. Keine Chance, dass er die Prüfung jetzt schon bestehen könnte.“

„Oh, doch. Das sehr wohl ich denke.“ widersprach Meister Adoy.

Von Suzumaru, seinem Informaten von K.R.O.S.S., hatte Meister Adoy erfahren, dass Yuki die Ausbildungsberichte für Kei absichtlich falsch ausgefüllt hatte. Er hatte den Rat glauben lassen, Kei könne kaum das Wort ‚Zalei´ freihändig buchstabieren, dabei beherrschte der sogar schon lange den Körpertausch fast perfekt. Meister Adoy hatte Yuki noch am selben Abend zu sich bestellt und ihm sein Fehlverhalten in einem wortreichen und blumigen Gespräch bewusst gemacht. Yuki war daraufhin gezwungen gewesen, die Berichte fortan nicht nur korrekt und direkt an Meister Adoy persönlich adressiert zu schreiben, sondern Meister Adoy hatte es sich darüber hinaus nicht nehmen lassen, Keis Fortschritte stichprobenartig selbst zu kontrollieren. Etwa acht Wochen lang hatte er Keis Ausbildung auf diese Weise verfolgt und war zum Schluss gekommen, er sei reif, ein richtiger Zalei zu werden.

„Selbst wenn Kei die Prüfung unter einem sehr gnädigen Prüferauge bestehen sollte, dann wäre er trotzdem viel zu früh auf sich gestellt. Er hat einfach für zu kurze Zeit in der Welt der Zalei und mit seinem Carn zusammen gelebt, um seine Kräfte richtig verstehen zu können. Kei ist ein Hitzkopf. Es ist zu früh, glauben Sie mir.“ versuchte Ryu zu erklären.

„Sieben Monate!“ wiederholte Lan mit nun etwas gemäßigterer Stimme. „Das ist verrückt! Keiner kann die Prüfung nach sieben Monaten schaffen. Ich habe acht Monate gebraucht und das war schon total verrückt!“

„Du hast also vor allem Angst, dass er deinen Rekord bricht. Du willst nicht, dass er dich vom Thron stößt, ist es das? Ganz schön arrogant.“ funkelte Mika Takano in Lans Richtung.

„Was soll der Quatsch denn jetzt wieder heißen? Ich sage nur: Wenn einer weiß, dass eine zu frühe Prüfung nur schadet, dann ja wohl ich!“ verteidigte sich Lan umgehend.

Seit mit Ryu ein sehr guter Freund und Verbündeter von Lan in den Zaleirat gewählt worden war, hatte sich Lans Verhältnis mit Mika zusehends verschlechtert. Die beiden hatten noch nie besonders viel für einander übrig gehabt, aber nun hatte Mika zunehmend den Eindruck gewonnen, dass Lan und Ryu mehr oder weniger gegen den Rat arbeiteten. Immer wieder waren in den letzten Wochen Beschlüsse von den beiden totargumentiert, zerpflückt oder blockiert worden. Ganz zu schweigen von den üblen Vorwürfen gegen den Rat, die beide auf ihrer offen-geheimen Homepage immer wieder äußerten.

„Meister Adoy hat sich selbst vor Ort von Kei Chiharus Wissensstand überzeugt. Wenn er zum Schluss kommt, der Junge ist so weit, dann vertraue ich seinem Urteil.“ Entgegnete Mika.

„Du bist so ein feiger Mi…“

„Keine Beleidigungen ich dulde, Lan, oder du verlassen den Saal!“

„Oh toll! Wenn nur einer mal den Arsch in der Hose hat, sich einem total irrsinnigen Beschluss entgegen zu stellen, wird der sofort rausgeschmissen. Was ist das hier denn nur für ein berechnender, hinterlistiger, feiger Sauhaufen von Arschkriechern?!“

„Lan! Ausgeschlossen von der Verhandlung du bist! Hinaus!“ Meister Adoy hatte alle Mühe, an sich zu halten. Seine Hand zitterte vor Wut, als er mit dem Finger zur Tür deutete.

Ryu hatte die Hand vors Gesicht geschlagen. So sehr er innerlich geneigt war, Lan zuzustimmen, so sehr verfluchte er gleichzeitig dessen Temperament. Nicht nur, dass sich die übrigen Ratsmitglieder nun allein schon wegen seiner Beleidigungen nicht mehr auf seine Seite schlagen würden, vor allem war durch Lans Ausschluss nun auch noch eine der wenigen Gegenstimmen verloren.

So fiel das Abstimmungsergebnis nicht besonders überraschend aus. Mit neun zu zwei Stimmen wurde beschlossen, Kei Chiharu für die Zalei-Prüfung anzumelden, die in der kommenden Woche abgehalten werden würde. Kei sollte also das neue Jahr bereits als richtiger Zalei begrüßen.
 

Als Ryu nach Ende der Sitzung das Ratsgebäude verließ, traf er Lan vor dem Tor wieder. Lans Ausdruck zufolge hatte er sich inzwischen nicht wirklich abgeregt. Dafür hatte er mindestens eine Schachtel Zigaretten geraucht, während er auf Ryu gewartet hatte, wie ein kurzer Blick auf das Pflaster zu seinen Füßen verriet. Unzählige ausgetretene Zigarettenstummel hoben sich vom leicht verschneiten Grund ab.

„Sag es nicht!“ winkte Lan gleich von vornherein ab.

„Doch. Lan, so geht das nicht! Du hast das Glück, direkt im Rat zu sitzen, an der Quelle! Du könntest wirklich etwas bewegen, wenn du mal auf Überzeugung statt Konfrontation setzen würdest. Mit solchen Aktionen machst du alles nur noch schlimmer.“

Lan atmete laut aus und senkte den Blick schuldbewusst auf den Boden. Er wusste es ja selbst, eigentlich. Aber er hatte Adoys Idee als so wahnsinnig empfunden, dass er den Beschluss einfach nur um jeden Preis verhindern wollte. Taktisches Kalkül war noch nie seine Stärke gewesen. Den Part hatten immer andere Figuren spielen müssen, während er selbst dafür mutig an vorderster Front gekämpft hatte.

„Ich kann Taro nicht erreichen. Schon seit Wochen nicht. Er hat sich auch nicht mehr gemeldet, obwohl er anrufen wollte, sobald er bei seinem alten Kumpel ist.“ fiel Lan plötzlich ein.

„Na und? Der Kerl hat sich mein halbes Leben nie gemeldet. Ich frag mich, wie du das überhaupt erwarten konntest.“ zuckte Ryu gleichgültig mit den Schultern und wandte sich zum Gehen.
 

Ryu fiel nun die Aufgabe zu, Kei und Yuki vom Beschluss des Zaleirats in Kenntnis zu setzen. Schon als Kei die Tür geöffnet hatte, hatte ihn eine böse Vorahnung überkommen.

Aber erst nach einem Abendessen in gedrückter Stimmung und angespanntem Schweigen rückte Ryu schließlich mit der Neuigkeit heraus.

„Nächste Woche… So bald schon…“ überlegte Yuki laut.

Kei wusste nicht wirklich, was er dazu sagen sollte. Eigentlich freute er sich ein bisschen. Er hatte immerhin ehrgeizig an sich gearbeitet, um ein richtiger Zalei zu werden. Und in den letzten Wochen hatte er sich gefreut, dass seine Fortschritte endlich anerkannt worden waren. Yuki hatte zuvor stets mit Lob gegeizt. Kei hatte nicht vergessen, wie sauer er gewesen war, als er von Yukis gefälschten Berichten erfahren hatte. Yuki hatte ihm zwar zu erklären versucht, dass er es getan hatte, um Kei zu schützen. Aber wirklich verziehen hatte Kei ihm trotzdem nicht. In den letzten Wochen war ihr Verhältnis sehr angespannt gewesen und Kei hatte sich deshalb oft zu seinem besten Freund Atari zurückgezogen.

Wenn er seine Ausbildung abschloss, würde Kei auch seinen Lehrer Yuki verlassen können. Obwohl beide Freunde geworden waren – Freunde, nicht mehr, aber auch nicht weniger – schien Kei diese Aussicht nach ihrem Streit gar nicht so unangenehm. Er fühlte sich durch die Ausbildung fast wie an Yuki gefesselt.

Trotzdem war Keis Haltung zur Prüfung zwiespältig. Die drei sorgenvollen Gesichter um ihn drückten auch seine anfängliche Freude. Lan hatte ihm einmal von seiner Prüfung und der Zeit danach erzählt, dass es zu früh gewesen war, und auf welche Probleme er deshalb gestoßen war. Er hatte Yuki verteidigt. Aber auch das hatte Keis Ehrgeiz nicht geschmälert, oder seinen Groll gegen Yuki.

Nun aber waren Yuki, Ryu und Kiku ernsthaft besorgt. Kei konnte nicht wirklich verstehen warum, oder was ihn erwartete. Er spürte allerdings, dass ihre Sorge echt war.
 

Später an diesem Abend hing Kei in seinem Zimmer seinen Gedanken nach, während Robin neben ihm zusammengerollt auf dem Bett schlief. Kei streichelte ihm geistesabwesend übers Fell und jonglierte gleichzeitig mit Gedanken. Noch immer hatte er keine eindeutige Meinung zu seiner Prüfung gefunden. Dass er sie antreten würde, war beschlossene Sache. Kei war nur unschlüssig, ob er sich freuen, Angst haben, sich vorbereiten oder was auch immer tun sollte.

Ein Klopfen riss ihn aus seinen Gedanken, kurz bevor Yuki eintrat und die Tür hinter sich zuschob.

„Was gibt´s?“ drehte Kei sich zu ihm um.

„Wir sollten uns unterhalten.“ Antwortete Yuki mit ruhigem Ton.

Kei bedeutete ihm mit einem knappen Nicken, dass er zu einer Aussprache bereit war. Daraufhin legte sich für einen Moment ein angedeutetes Lächeln auf Yukis Lippen, das sich jedoch sofort wieder verflüchtigte. Yuki setzte sich auf Keis Schreibtischstuhl, den er so in die Raummitte rollte, dass er Kei direkt gegenüber saß.

„Ich merke, dass du immer noch wütend bist wegen der Berichte.“ Begann er schließlich mit gesenktem Blick.

„Du hast mich monatelang angelogen und mir erzählt, ich wäre nicht gut. Das hat schon ganz schön an meinem Ego gekratzt. Ganz zu schweigen davon, dass ich dir vertraut hab.“

„Deswegen habe ich mich ja auch immer wieder bei dir entschuldigt. Glaub mir bitte, dass ich es für dich getan habe. Es ist nicht gut, die Prüfung zu früh abzulegen. Du hast gehört, was Lan deswegen passiert ist. Vor sieben Monaten hast du noch nicht einmal gewusst, was ein Zalei überhaupt ist, und ab nächster Woche sollst du alle Verantwortung allein tragen. Das geht viel zu schnell.“

„Wenn aber doch der Rat der Meinung ist, dass ich gut genug bin…?“

„Deine Fähigkeiten mögen gut genug sein. Aber es geht nicht nur allein darum, den Körpertausch zu beherrschen. Du und Robin müsst euch in der Welt zurechtfinden, du musst deine Fähigkeiten richtig einschätzen können und fest im Sattel sitzen, wenn… mal irgendwas nicht optimal läuft. Es kann dir sonst das Genick brechen.“

„Also findest du, dass ich noch zu unreif bin, um ein richtiger Zalei zu werden?“ schmollte Kei.

„Nein! Ich halte dich nicht für unreif,… etwas impulsiv vielleicht, aber nicht unreif.“ Musste Yuki doch für einen kurzen Augenblick ein bisschen grinsen. „Ich habe einfach Angst um dich, weil ich finde, diese Verantwortung, die der Rat dir auferlegen will, ist noch zu groß, als dass du sie ganz alleine stemmen könntest.“

Yuki sprach sehr leise und langsam, wählte jedes Wort mit Bedacht. Er hatte sich vornüber gelehnt und stützte sich mit den Unterarmen auf den Knien ab. Während er sprach, hielt er den Kopf und den Blick gesenkt, als ob er seine Fingerspitzen beobachtete, die nervös mit einander spielten. Allein aus seiner Haltung und dem unsicheren Klang seiner Stimme konnte Kei lesen wie groß Yukis Sorge um ihn war. Das konnte ihn nicht kalt lassen.

„Was bleibt mir denn übrig? Angemeldet bin ich ja schon, es gibt kein Zurück.“ Seufzte Kei und gab sich geschlagen.

Nun hob Yuki den Kopf und sah Kei mit festem Blick an.

Yuki wusste noch einen Ausweg, auch wenn er selbst die Konsequenzen fürchtete. Yuki liebte Kei noch immer, vielleicht sogar noch mehr als früher. Er hatte es genossen, Kei immer in seiner Nähe haben zu können. Dabei hatte ihn auch nie gestört, dass seine Gefühle einseitig blieben. Allein Keis Anwesenheit hatte Yuki in den letzten Monaten glücklich gemacht.

Aber gerade weil er Kei liebte, nahm er lieber in Kauf, ihn zu verlieren, als dass er ihn ins offene Messer laufen ließ.

„Fall durch. Brich die Ausbildung ab.“
 

Etwa zur selben Zeit hatte sich Mika Takanos Wut auf Lan längst wieder gelegt. Da Lan regelmäßig über die Strenge schlug und sich dabei für gewöhnlich nicht des erlesensten Vokabulars bediente, hatte Mika schon vor Längerem gelernt, Beleidigungen an sich abprallen zu lassen. Gerade in den Wochen und Monaten, in denen sie gemeinsam an ihrem Buch gearbeitet hatten, war er nicht selten Zielscheibe von Lans verbalen Schießübungen geworden. Mittlerweile ließ er sich nur noch mäßig provozieren oder ärgern.

Mika hatte das Ratsgebäude noch nicht verlassen. Bis in die Abendstunden hatte er in seinem Büro Nacharbeiten zu den heutigen Beschlüssen erledigt. Es war schon fast nachtdunkel, als er den letzten Ordner zuklappte und an seinen angestammten Platz im dritten Regal des zweiten Schranks von rechts neben der Tür stellte. Dann streckte er sich gähnend durch und ließ sich anschließend wieder in seinen Sessel fallen. Mikas Carn, ein prächtiger Falke namens Zaza, thronte derweil auf einer Stange, die dem Schreibtisch gegenüber lag, und putzte sein Gefieder.

Mika überlegte kurz, ob er nach Hause gehen sollte. Dann siegte aber doch seine Neugier und er wollte noch einen ganz kurzen Blick auf die Rebellenhomepage von Lan, Taro und Ryu werfen. Seit einer Weile war das eine lästige Angewohnheit geworden. Aber Mika würde Lan gegenüber natürlich niemals zugeben, seine Seite zu besuchen.

Tatsächlich gab es einen Artikel von vor ein paar Tagen, den Mika noch nicht gelesen hatte. Das holte er nun nach. Entsetzt weiteten sich seine Augen. Nun ja, er war bisher davon ausgegangen, dass über die Homepage nur Lügen verbreitet würden. Meister Adoy hatte die meisten Vorwürfe sogar im Rat selbst entschieden von sich gewiesen, einige sogar mit Gegenbeweisen. Mika hatte keinen Anlass, einem chaotischen Rocker, den er ohnehin nicht leiden konnte, mehr zu glauben als dem angesehenen Meisterzalei mit exzellentem Ruf, Wissen und Können. Wenn aber nun doch die eine oder andere Anschuldigung wahr sein sollte…

Mika gab sich gern ratskonform und stets korrekt. Aber er war nicht dumm. Dass er nicht zum offenen Kampf blies, wenn er eine andere Meinung vertrat, bedeutete ja nicht, dass er alles einfach hinnahm. Lan hatte es wegen seines Ausschlusses natürlich nicht erfahren, aber Mika hatte gegen Keis Prüfung gestimmt.

Der Artikel auf Mikas Monitor erklärte, Meister Adoy habe sich im vergangenen Jahr vom Vorstandschef einer Baufirma bezahlen lassen, damit ein Zalei in seinem Auftrag die Baustelle eines Konkurrenten sabotierte. Zwei Bauarbeiter wurden verletzt, einer von ihnen schwer. Ein Drahtseil, das deutliche Bissspuren aufwies, soll Meister Adoy seitdem im Archiv unter Verschluss halten. Die Autoren hatten durch einen Brief des besagten Bauunternehmers von der Sache erfahren.

Sollte das wahr sein, wäre es natürlich ein ausgewachsener Skandal!

Zwar wusste Mika, dass Meister Adoy gelegentlich bezahlte Aufträge für die Zalei annahm, aber es durfte sich dabei keinesfalls um illegale, sittenwidrige oder unzumutbare Tätigkeiten handeln. Auch wenn in der Regel mit allen Beteiligten – Auftraggeber, Meister Adoy und den ausführenden Zalei – absolutes Stillschweigen vereinbart wurde, durfte so etwas nicht passieren. Das Schweigen sollte doch vor allem dem Schutz ihrer schamanischen Tradition und der Integration in die Gesellschaft dienen. An einen derartigen Missbrauch wollte Mika nicht glauben.

Nun war Mika in der glücklichen Position, sich ganz einfach Klarheit verschaffen zu können. Sein Schlüssel für das Ratsgebäude sperrte auch im Schloss des Archivs. Meister Adoy hatte dort zwar einen persönlichen Schrank, in dem Mika das betreffende Stück Drahtseil vermutete, jedoch kannte er durch die Verkettung einiger Zufälle die Zahlenkombination dafür.

Kurzentschlossen machte sich Mika also auf den Weg in den Keller, wo sich das Archiv befand. Zaza würde inzwischen im Büro auf seinen Zalei warten.

Unbeobachtet in den Keller zu gelangen, den Schrank im Halbdunkel zu finden und mit der richtigen Kombination zu öffnen, glückte Mika erstaunlich einfach. Nicht so einfach war es allerdings, im schwachen Licht einer einsamen Glühbirne den Großteil des Schrankinhalts identifizieren zu können. Mika fand allerlei Schriftstücke sowie Gegenstände aller Art, die er oftmals erst auf den zweiten Blick, oft auch gar nicht, zuordnen konnte. Nach einigen Minuten des Suchens fiel Mika ein silbern aufblitzender Gegenstand auf, der unter einem dunklen Stofffetzen hervorlugte. Er griff danach und beförderte in der Tat ein Stück Drahtseil zu Tage. Das eine Ende war völlig ausgefranst. Die einzelnen Drähte, die zu einer Kordel gedreht waren, waren auf verschiedener Höhe abgerissen und standen in bizarren Formen in alle Richtungen ab. Noch Zentimeter darunter waren zahlreiche Einkerbungen, Kratzer und kleine Runde Einstiche in das Metall zu sehen. Es erforderte nicht viel Phantasie, die Beschädigungen als Bissspuren zu erkennen.

Mika stand da wie versteinert. Bis zuletzt war er fest davon ausgegangen, dass er rein gar nichts finden würde, am allerwenigsten ein angebissenes Drahtseil. Aber nun hielt er den Beweis in der Hand. Dieser Teil des Artikels war korrekt. Der Rest auch? Hatte Lan etwa die ganze Zeit über recht gehabt, was Meister Adoy anging? Was sollte Mika nun nur tun?

Minuten später erwachte Mika langsam aus seiner Starre. Er griff nach dem Handy in seiner Westentasche, öffnete das Telefonbuch und suchte Lans Nummer. Seine Hand zitterte etwas, als er auf `Wählen` drückte. Kein Empfang.

Ein Wort schoss Mika in den Sinn, das er gerne laut ausgerufen hätte, wäre er Lan gewesen. Da er aber Mika war, begnügte er sich mit einem missbilligenden Schnauben.

Das Drahtseil noch in der Hand verließ Mika das Archiv und erklomm die Treppe ins Erdgeschoss. In einer Nische der Eingangshalle versuchte er sein Glück erneut. Das Handy wählte an. Erst nach langem Klingeln nahm Lan ab. Mika konnte ihn kaum verstehen. Lan trieb sich vermutlich gerade in irgendeinem dieser furchtbaren Clubs herum. Seine Stimme ging in einer Flut von Beats und Bässen unter. Mika beschränkte sich leicht angesäuert auf ein „Ruf mich sofort zurück, wenn du reden kannst!“ und legte auf, noch bevor Lan antworten konnte.

Sofort durchsuchte Mika sein Telefonbuch erneut. Irgendwann, vor einigen Jahren hatte Taro Natsukori ihm einmal seine Nummer gegeben. Hoffentlich hatte er sie noch gespeichert. Und hoffentlich hatte sich die Nummer nicht geändert. Zumindest Mikas erste Hoffnung bewahrheitete sich. Er wählte an. Nummer nicht vergeben. Wieder dieses Wort in seinen Gedanken…

Nun konnte er also nur auf Lans Rückruf warten. Mika atmete tief durch und rief sich selbst zur Ordnung. Er würde jetzt in sein Büro gehen, Zaza holen, nach Hause gehen und so bald wie möglich mit Lan sprechen. Kein Grund zur Panik. Um sich selbst zu demonstrieren wie wenig panisch er war, steckte er sein Handy gleichgültig wieder ein.

Trotzdem klammerte er sich aber immer noch an das Drahtseil, das Corpus delicti, als er die breiten Stufen in der Eingangshalle hinaufstieg, dem linken Gang folgte bis zur Biegung nach rechts und dann eine kleinere Treppe in den zweiten Stock nahm. Er betrat gerade den Gang, in dessen Mitte sich sein Büro befand, als sein Handy sich piepsend meldete.

„Gott sei Dank!“ dachte Mika bei sich und lernte eine ganz neue Seite an sich kennen, als er Lans Stimme - immer noch, aber nun deutlich leiser als zuvor begleitet von Rockmusik - am anderen Ende wie den reinsten Engelschor wahrnahm.

„Was ist denn passiert, dass du mich unbedingt sprechen willst?“ wunderte sich Lan.

„Euer Artikel… Das Drahtseil…“

„Was ist damit?“

„Na ja, das… äh… halte ich gerade in der Hand.“ Mika musste fast lachen ob dieser skurrilen Situation.

„WAS?! Du… Moment, du hast das Ding gefunden?“

„Ja. Es sieht wirklich aus wie abgekaut.“

„Wo bist du jetzt, im Rat? Ich komm sofort!“

„OK, ich warte in meinem Bür-…“

Mika erstarrte erneut zur Salzsäule. Direkt vor seinem Büro wurde er erwartet. Meister Adoy stand dort wie ein Portier und blickte ihm mit einem freundlichen, aber eiskalten Lächeln entgegen. Auf seinem Arm hielt er Zaza, das Lederband an dessen Fuß fest in der Hand. Der Falke hatte seine Federn aufgeplustert, die Flügel gespreizt und ließ einen lauten Schrei los. Auch ihm war nicht entgangen, dass diese Situation nichts Gutes bedeutete.

„Mika, Mika… Ein guter Kerl du immer warst. Doch Neugier ist ein Laster.“ Beinahe mitleidig schüttelte Meister Adoy den Kopf.

Mika stand wie angewurzelt, seine Lippen bewegten sich, über sie kam jedoch kein Laut. Als hätte jemand ein Bleigewicht daran gehängt, sank sein Arm langsam herab, in dessen Hand er das Handy hielt.

„Mika?! Was ist los? Hey, rede mit mir!“ brüllte Lan regelrecht in sein Telefon.

„A-Adoy…“ hauchte Mika kraftlos, wenige Augenblicke bevor sein Handy aus seinem Griff schlüpfte, den mit Einmal alle Kraft verlassen hatte. Laut fiel es auf den marmorierten Fußboden. Ungehört von Dritten.

Es war spät geworden. Das Ratsgebäude war verlassen bis auf Mika, den Workaholic, und Meister Adoy, der praktisch im Ratsgebäude wohnte. So konnte auch niemand den herzzerreißenden Schrei des Falken Zaza hören oder sein verzweifeltes Flügelschlagen sehen, kurz bevor ihm Meister Adoy mit schneller Hand und lautem KRACK den Hals umdrehte. Und es konnte auch niemand sehen, wie nur einen Wimpernschlag später Mika Takano leblos zusammenbrach.
 

Eine gute Stunde später verständigte der alte Meister Adoy die Polizei. Der Meister habe laute Stimmen auf dem Gang gehört und dann zwei Personen im heftigen Streit vorgefunden. Als die Beamten eintrafen, fanden sie zunächst an der beschriebenen Stelle die beiden toten Körper von Mika Takano und seinem Falken. Lauten Stimmen folgend ertappten sie kurz darauf im Büro des Meisters den mutmaßlichen Mörder beim Versuch, den einzigen Zeugen umzubringen.

Der leicht alkoholisierte, tobende und bereits polizeibekannte Lan Sekiei wurde trotz heftiger Gegenwehr durch drei Polizisten überwältigt und vorläufig festgenommen.

Später würde man feststellen, dass Takano bis kurz vor seinem Tod mit ausgerechnet dieser Person telefoniert hatte, mit der es wenige Stunden zuvor zum Streit gekommen war. Zudem war Sekiei an diesem Abend überstürzt von einem Club aufgebrochen, weil „er sich um diesen Takano kümmern müsse“, wie mehrere Zeugen aussagen würden.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (1)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Yujianlong
2011-03-08T10:29:44+00:00 08.03.2011 11:29
OMG... NEEEEEEEEIN TT________TT
*sniff*
Nicht Lan, Finger weg von meinem Lan.
Dieser blöde, miese, kleine... Arrg!!
Ich bringe ihn um!
Ich schwöre bei allem was mir heilig ist, ich murks diesen blöden Meister ab.. und seine Schildkröte verarbeite ich zu SUPPE!! <>____<>

So... Nachdem das nun geklärt ist:
Gutes Kapitel. Sehr schön geschrieben.
Ich mag die Stelle, bei der Mika die Website überprüft. Ich mag Mika sowieso.. Und dass er einen Falken als Carn hat, macht es nur besser... Und jetzt ist er einfach tot... TT_______TT
Jedenfalls finde ich, dass man so einen sehr guten Einblick bekommt, was die Website genau zeigt und schreibt. Und auch, wie viel diese kleine Rebellentruppe wirklich weiss. ^^
Nieder mit Aoi.. *knurr*


Zurück