Zum Inhalt der Seite

Snowdrops and Chocolate

Die Fortsetzung des gleichnamigen Doujinshi
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Unterstützung oder Rettung

Kapitel 21 – Unterstützung oder Rettung
 

Kei und Atari saßen im Wohnzimmer und diskutierten seit dem Ende des Spiels ausführlich alle Fehlentscheidungen des Schiedsrichters. Das war immer hin schon fast eine ganze Stunde lang. Hin und wieder warf auch Ataris kleine Schwester Shimari einen Kommentar ein, zeigte sonst aber wenig Interesse an Fußball. Ihre Aufmerksamkeit galt eher Robin, über dessen Kopf sie einen langen Faden pendeln ließ, um mit ihm zu spielen.

Selbstverständlich hatte ihr Team verloren. Ihr Team verlor immer. Der einzige Trost war, dass sie diesmal auch objektiv betrachtet gar nicht schlecht gespielt hatten, nur mit einem Tor Rückstand unterlegen waren. Aber der Abstieg schien kaum noch vermeidbar, wenn nicht ein Wunder geschah.

„In so einer Situation erkennt man zumindest wer nur ein Schönwetterfan ist und wer ein echter.“ lachte Atari gequält.

„Es macht doch irgendwie sowieso keinen Spaß, ein Team anzufeuern, das auch ohne die Unterstützung ganz gut klarkommt, oder?“

„Genau… Ist viel besser, sich für ein Team die Lunge aus dem Hals zu brüllen, das sowieso verliert.“

„Hey, die Fanartikel kriegen bald Sammlerwert.“

Trotz der Trauer um die Hoffnung auf einen Sieg, die wieder einmal zu Grabe getragen wurde, hatten die beiden Freunde ihren Humor nicht verloren. Letztendlich hatten sie vielleicht auch gar nicht mehr ernsthaft mit einem Sieg ihrer Mannschaft gerechnet.

„Du könntest versuchen, Robin als Maskottchen auszubilden. Vielleicht nützt’s was, wenn er die Fahne schwenkt oder so.“ schlug Atari vor, als sein Blick auf Robin fiel.

Der Fuchs lag auf dem Teppich am anderen Ende der Couch. Nachdem er während des Spiels ein paarmal hinter Shimaris Faden her um den Tisch und über die Regale getobt war, hatte er sich dort zusammengerollt und döste seitdem vor sich hin. Der Faden hatte seinen Reiz verloren. Nur hin und wieder hob er den Kopf, gähnte laut, schleckte sich übers Fell und drehte sich um, bevor er weiterdöste.

„Geht aber nicht. Die haben doch schon einen Löwen als Maskottchen.“

„Dann bindest du ihm halt einfach einen Fellkragen um. Das steht ihm bestimmt gut. Aber ob er das mit dem Anfeuern hinkriegt, weiß ich nicht so recht. Im Moment scheint er die gleiche Sorte Schlafmütze zu sein wie der Torwart…“

„Ich zeig dir mal was.“ zwinkerte Kei.

Er wusste, dass Atari seinem Leben als Zalei sehr kritisch gegenüber stand. Deswegen hatte Kei ihm auch noch nie den Körpertausch oder irgendetwas in diese Richtung gezeigt. Ganz abgesehen davon wäre ihm eine unvergleichliche Standpauke von seinem Lehrer sowieso sicher gewesen, hätte er es getan. Aber so unwohl Atari beim Gedanken war, dass Kei Zalei wurde, so hatte er sich doch zumindest mit dem neuen ungewöhnlichen Haustier abgefunden. Atari ging mit Robin nach ihren inzwischen zahlreichen Treffen fast um wie mit einem exotischen Hund. Er spielte gelegentlich mit ihm und hatte auch keine Scheu mehr, ihn zu streicheln. Deshalb traute sich Kei zumindest, Atari Kunststückchen zu zeigen, die nichts mit der Kraft der Zalei zu tun hatten.
 

„Robin!“ rief er seinen Carn, der sofort den Kopf hob und die Ohren aufstellte. Der Fuchs fixierte seinen Zalei aufmerksam, blieb zunächst aber noch liegen.

„Auf.“ Kei bekräftigte sein Kommando mit einer Aufwärtsbewegung seiner Hand. Robin verstand ihn. Der Fuchs gähnte herzhaft, erhob und streckte sich. Dann setzte er sich wie ein gut dressierter Hund vor seinen Zalei und wartete mit wachen Augen auf weitere Anweisungen.

„Ok. Jetzt wäre er schon fast ein Kandidat fürs Mittelfeld.“ lachte Atari.

Doch Kei überhörte den spöttischen Kommentar einfach. Mit einer weiteren Geste nach oben gab er Robin ein weiteres Kommando. Der Fuchs hatte seine Hand fixiert und verstanden. Aber einen Moment schien er noch abzuwägen, ob er gehorchen wollte. Kei konnte seine Gedanken fast sehen, als er seinen Kopf zögernd leicht schief legte.

Letztendlich entschied der Fuchs aber, seinem Herrn zu folgen. Er hob die Vorderpfoten langsam vom Boden ab, verlagerte sein Gewicht immer weiter nach hinten und streckte seine Hinterpfoten langsam. Kurz darauf balancierte der Fuchs nur noch auf seinen Hinterpfoten und sah seinen Zalei erwartungsvoll an.

Atari staunte schweigend. Kei konnte sich ein triumphierendes Lächeln nicht verkneifen. Robin konnte sicher auf zwei Beinen stehen. Nach einiger Übung wackelte oder taumelte er überhaupt nicht mehr. Kei beschloss, noch einen weiteren Schritt zu wagen. Er streckte seine Hand in Robins Richtung aus. Wieder schien der Fuchs einen Augenblick zu überlegen. Doch dann kam er auf Keis Hand zu. Nicht wie gewohnt allerdings, sondern nur auf seinen Hinterbeinen. Mit erstaunlich sicheren Schritten setzte er eine Pfote vor die nächste.

Diesmal konnte Atari sich ein überraschtes Lachen nicht verkneifen. Shimari applaudierte begeistert.

Kurz bevor Robin Keis Hand erreichte, ließ er sich wieder auf seine Vorderpfoten fallen. Er schlüpfte unter die Hand, die ihn erwartet hatte und ließ sich den Kopf kraulen. Sichtlich genoss er seine Streicheleinheiten und sein Lob.

„Vergiss das mit dem Maskottchen. Robin wird unser neuer Mittelstürmer!“ lachte Atari. Kei nickte zustimmend und stimmte in Ataris Lachen ein.

Ein wohlbekannter Klingelton unterbrach ihr Lachen schließlich. Kei zog sein Handy aus der Hosentasche und sah aufs Display. Kiku rief ihn an.

„Natsukori?“ fragte Atari neugierig. „Will er kontrollieren, ob du anständig bleibst?“

Diese nur halb ironisch gemeinte Frage beantwortete Kei nur mit einem langen, ermahnenden Blick. Yuki würde ihm nicht nachtelefonieren. Nein, wirklich. Soweit würde er trotz aller Eifersucht nie gehen. Yuki wusste genau, dass der sicherste Weg Kei loszuwerden der Versuch war, ihn einzuengen.

„Hallo, Kiku?“ nahm er schließlich ab.

„Kei! Kei, bitte hilf mir!“ Kiku war völlig aufgelöst. Ihre Stimme zitterte und wurde von Schniefen und Schluchzen unterbrochen. Kei begriff sofort, dass irgendetwas sehr Schlimmes passiert sein musste.

„Ok. Was ist los?“ fragte er nervös und versuchte doch gleichzeitig, Kiku ein wenig zu beruhigen. Ihm war selbst bewusst, dass der Versuch kläglich misslang. Seine Stimme war selbst fast heiser vor Aufregung.

„Yuki geht’s schlecht. Es tut mir so leid. Bitte hol uns ab. Ich schaff’s nicht allein und ich kann Ryu nicht erreichen.“ Kei konnte sogar fast Kikus Tränen hören. Sie war absolut verzweifelt. Noch konnte Kei sich nicht vorstellen, was passiert war. Aber allein die Information, dass es Yuki schlecht ging, war wie ein Schlag in die Magengrube. Ein merkwürdiges Gefühl im Bauch, das Kei selten gekannt hatte. Er sprang förmlich von der Couch auf und war schon halb auf dem Weg zur Wohnzimmertür.

„In Ordnung. Ich komm sofort. Wo seid ihr?“

„Im Gewerbegebiet außerhalb der Stadt. Die zweite Ausfahrt hinter der Fußgängerbrücke. Ich warte auf dem Parkplatz auf dich. Bitte beeil dich!“

„Bin unterwegs.“

Kei legte auf, bevor er das Handy in seine Hosentasche zurücksteckte. Mit einem kurzen Blick versicherte er sich, dass Robin ihm folgte. Auch wenn er nicht die geringste Ahnung hatte, was vor sich ging, oder wie er bis zum Gewerbegebiet kommen sollte, zögerte er keinen Augenblick.

Kei wollte schon durch die Wohnzimmertür in den Gang verschwinden. Aber Atari hielt ihn am Handgelenk zurück. Kei sah ihn fragend an.

„Du bist zu Fuß hier.“ stellte er fest.

„Ja. Dann sollte ich mich beeilen, oder?“

„Komm, ich fahr dich.“
 

Kiku hatte es geschafft, Yuki und Minuit zu befreien. Von dem weißen Raum durch die verschlungenen Gänge der K.R.O.S.S.-Zentrale bis zur Eingangshalle, am Pförtner vorbei, über den Hof und bis zum Parkplatz hatte sie Yuki bringen können. Dabei war ihr sicher zugutegekommen, dass K.R.O.S.S. es offensichtlich nicht für nötig hielten, ihr ausgedientes Versuchsobjekt besonders zu bewachen. Das Wachpersonal an der Pforte zu überlisten, war jedoch ihre Meisterleistung des Tages gewesen.

Kiku hatte sich Yukis linken Arm über die Schulter gelegt, hielt ihn mit ihrer rechten Hand fest um die Taille und stützte ihn so. Yuki befand sich in einem merkwürdigen Dämmerzustand. Für kurze Augenblicke war er immer wieder wach genug, um selbst ein paar Schritte zu machen. Dann sank er aber auch immer wieder ganz unvermittelt zusammen und hatte nicht einmal mehr genug Kraft, die Augen offen zu halten. Kiku war sich ziemlich sicher, dass er in diesem Moment kaum wahrnahm, was um ihn geschah.

Am Parkplatz angekommen setzte Kiku sich kraftlos auf den Randstein. Yuki legte sie vorsichtig neben sich ab, sein Kopf auf ihren Schoß gebettet. Hier konnte Kiku sich und Yuki hinter einer Reihe Sträucher und Büsche verbergen. Obwohl die Pflanzen winterlich kahl waren, standen sie doch so dicht, dass sie zumindest von der Zentrale aus den Blick auf die Flüchtigen verdeckten. Minuit war Kiku nervös über ihrem Kopf flatternd gefolgt. Jetzt hing sie an einem Zweig hinter ihr und beobachtete sie mit großen Augen.

Kiku wusste, dass sie Yuki so nicht bis nach Hause bringen konnte. Sie war nicht stark genug, ihn den ganzen Weg zu tragen. Und Yuki war nicht einmal stark genug aufzuwachen. Sie strich einige seiner schneeweißen Haarsträhnen aus seinem Gesicht. Seine Haut selbst war so blass, dass sie fast die Farbe der Haarsträhnen angenommen hatte. Yukis Lider waren wieder geschlossen, als hätte er schon seit längerem geschlafen und würde auch so bald nicht aufwachen.

Kiku konnte sich gegen eine neue Flut von Tränen nicht wehren. So hilflos wie in diesem Moment hatte sie sich vermutlich noch nie gefühlt. Im Erste-Hilfe-Training für den Schulsanitätsdienst hatten sie nie irgendetwas gelernt, was ihr in dieser Situation ansatzweise hätte helfen können. Yuki ging es sehr schlecht und sie konnte nichts für ihn tun. Das einzige, was sie tun konnte, war Hilfe zu rufen. Sie fischte ihr Handy aus der Tasche an ihrer Seite und wählte Ryus Nummer. Große Angst hatte sie davor, Ryu zu beichten was sie getan hatte. Sehr große Angst sogar. Aber noch größere Angst hatte sie, dass Yuki ihren Verrat mit dem Leben bezahlen musste.

Die Mailbox meldete sich, nachdem Kiku eine schiere Ewigkeit dem Freizeichen gelauscht hatte. Kiku legte auf und wählte erneut. Diese Szene wiederholte sich bestimmt zehnmal. Bei jedem Mal zitterten Kikus Hände mehr, als sie die Tasten drückte. Und bei jedem Mal wurde ihr Schluchzen verzweifelter. Schließlich gab sie auf und ließ ihre Hand mit dem Telefon fast wie gelähmt sinken. Ryu war nicht erreichbar. Er würde ihr nicht helfen können. Und nun? Sollte sie hier warten bis sie entdeckt würden? Kiku konnte sich selbst ausmalen, dass K.R.O.S.S. die Wahrung ihrer Geheimnisse über das Leben von Yuki und ihr eigenes stellen würden.

In einem letzten Versuch wählte sie Keis Nummer.
 

Keine zehn Minuten später bog ein altes, dunkelrotes Auto von der Landstraße in den Parkplatz. Kiku erschreckte sich fast zu Tode, als es einmal wendete und die Scheinwerfer direkt neben ihr ins Gebüsch leuchteten. Sie dachte, sie wären erwischt worden und sie seien verloren. Ohne darüber nachzudenken, zog Kiku Yuki etwas näher an sich heran. Ihr Griff um seine Schultern wurde fester. Sie hatte große Angst.

Doch dann öffnete sich die Beifahrertür des unbekannten Autos und sie hörte Keis Stimme aufgeregt ihren Namen rufen. Sofort stürzte Kei auf sie und Yuki zu, kniete sich vor ihr auf den Boden.

„Kiku! Um Himmels Willen! Was ist passiert? Was ist mit Yuki?“

„Es tut mir so leid. Das ist alles meine Schuld.“ schluchzte sie.

Kei strich über Yukis Wange. Wie blass und kalt er war. Kei schluckte hart, bevor er seine Frage wiederholte.

„Was ist mit ihm?“

„I-ich weiß es wirklich nicht genau. Bitte, bringen wir ihn erst mal nach Hause. Dann erzähl ich. Wir müssen hier weg. Bitte.“

Kei nickte stumm. Er griff nach Yukis rechtem Arm, legte sich diesen über die Schultern und zog Yuki mit seiner Linken näher an sich heran. Kiku stützte Yuki und kam Kei so entgegen. Mit seinem rechten Arm fuhr Kei schließlich unter Yukis Beine und hob ihn langsam hoch. Wie eine leblose Puppe lag Yuki in seinen Armen. Kei war einen Kopf kleiner als Yuki, aber dafür war Yuki sehr schlank und entsprechend leicht. Bis zum Auto konnte Kei ihn fast ohne Probleme tragen. Dort legte er Yuki auf den Rücksitz und stieg neben ihm ein. Schwach wie sein Lehrer war, stützte Kei Yukis Kopf gegen seine Schulter und legte einen Arm um ihn, um ihn festzuhalten. Kiku nahm auf dem Beifahrersitz Platz. Sie hielt Minuit in beiden Händen. Atari schwieg. Er sprach kein Wort, als er den Motor startete und das Auto zurück auf die Landstraße lenkte.

Auf dem Weg nach Hause trafen sie zufällig Ryu, der auf Sleipnirs Rücken neben der Landstraße ritt. Sofort bat Kiku Atari, rechts ranzufahren. Noch bevor das Fahrzeug zum Halten kam, sprang sie heraus und rannte zu ihm hinüber. Ein paar Takte sprachen sie wohl. Kei konnte sich gar nicht weniger dafür interessieren, weder hörte noch sah er etwas. Mit seinen Gedanken war er ganz bei Yuki, der bewusstlos in seinem Arm lag. So nahm er auch nicht wahr, dass Atari ihn im Rückspiegel beobachtete. Atari sah Yuki zum ersten Mal seit der Abschlussfeier wieder, und gleichzeitig zum ersten Mal überhaupt Kei und ihn zusammen.

Wenig später stieg Kiku wieder ein und Atari fuhr weiter. Nach wenigen Minuten waren sie zu Hause.

Kei hob Yuki aus dem Auto und rätselte gerade wie er ihn die Treppe in den ersten Stock hinauf tragen sollte. In diesem Moment kam auch Ryu zu Hause an und Kei nahm seine Hilfe dankend an. Yuki schien leicht wie eine Feder, wie Ryu ihn scheinbar völlig mühelos in die Wohnung, die Treppen hinauf und bis in sein Zimmer trug.

Kei bedankte sich noch bei Atari, bevor er ihm folgte. Atari verabschiedete sich wohlwissend, dass er ab jetzt nicht mehr helfen konnte.
 

Yuki lag schlafend auf seinem Bett, Ryu saß an seiner Seite und strich mit einer Hand über Yukis Stirn. Minuit hing an ihrem Lieblingsplatz in Yukis Vorhangstange gegenüber der Tür. Kiku stand in der Mitte des Zimmers, immer noch weinend, und spielte nervös mit den Ärmeln ihres Pullovers. Dieses Bild bot sich Kei, als er das Zimmer betrat.

„Erzähl uns was du weißt.“ forderte Ryu mit ruhiger, aber strenger Stimme.

„S-sie haben ein neues Mittel getestet.“

„Wer?“ mischte sich Kei ein. Er glaubte, dass jeder der Anwesenden wesentlich mehr wusste als er.

„K.R.O.S.S..“ antwortete Ryu nüchtern.

„Wie zum Teufel konnte Yuki ein Opfer von K.R.O.S.S. werden?!“

„Weil Kiku ihn an ausgeliefert hat.“

„Du hast Yuki an K.R.O.S.S. ausgeliefert?!“ Keis Selbstbeherrschung musste gerade einer schweren Belastungsprobe standhalten. Nur schwer konnte er sich zurückhalten, um sich nicht sofort auf Kiku zu stürzen.

„Es tut mir so wahnsinnig leid. Wirklich.“ schniefte Kiku.

„Was für ein Mittel?“ fragte Ryu schließlich weiter.

„Es soll den Körpertausch unterdrücken.“

„Ach ja? Das erklärt Yukis Zustand nicht im Ansatz.“ Ryu sprach fast grausam ruhig. Allen war klar, dass er innerlich kochen musste vor Wut und Sorge. Wie beherrscht er sogar jetzt noch blieb, war fast unheimlich.

„Das ist alles, was ich weiß. Ehrlich. Das sollte alles gar nicht passieren.“

„Richtig. Das hätte alles nicht passieren müssen.“ wiederholte Ryu und warf Kiku einen eiskalten Blick zu. Sie verstand und presste die Lippen fest zusammen. Eine weitere Träne fand den Weg über ihre Wange und tropfte kurz darauf von ihrem Kinn. Sie zitterte.

„Im Moment ist nur Yuki wichtig. Wir unterhalten uns später.“ setzte Ryu fort.

Kiku verstand, dass Ryu damit eher aussagen wollte ‚geh mir aus den Augen‘. Übrigens ein Gedanke, den Kei teilte. Kiku nickte stumm und verließ eilig das Zimmer. Kei hörte noch ihre Schritte den Gang hinunter und das Schlagen ihrer Zimmertür.

Kaum dass sie das Zimmer verlassen hatte, atmete Ryu laut aus. Erneut strich er über Yukis Stirn, fast als wollte er prüfen, ob sein Bruder Fieber hatte. Kei kam einige Schritte näher.

Yuki lag jetzt ganz ruhig da. Er atmete flach, aber gleichmäßig. Fast wie im Schlaf.

„Wie geht es ihm? Können wir irgendwas tun?“ erkundigte sich Kei heiser.

„Ich hab leider keine Ahnung, was überhaupt passiert ist oder was ihm fehlt.“ Ryus Stimme war immer noch sehr ruhig, aber bei Weitem nicht mehr so kalt wie eben. Ganz im Gegenteil schien sie sogar die Sorge und Wärme von Keis Worten anzunehmen.

Bevor Ryu weitersprach, deutete er zu Minuit. Die Fledermaus hing kopfüber an der Vorhangstange und beobachtete aufmerksam ihren Zalei, dessen Bruder und Schüler. Zwar schien sie ein bisschen matt, vermutlich von der Aufregung, aber sonst quicklebendig.

„Minuit scheint es ganz gut zu gehen. Wenn Yuki ernsthaft in Lebensgefahr wäre, könnte man das auch seinem Carn ansehen. Deshalb nehme ich an, dass er sich wieder erholen wird.“

Kei kam noch ein Stück näher ans Bett und betrachtete Yuki mit sorgenvollem Blick. Ryu wiederum sah Kei einen Moment an, bevor sich unbemerkt ein leichtes Lächeln auf seine Lippen legte.

„Ich hoffe, du hast recht.“ flüsterte Kei.

Ryu stand auf und machte seinen Stuhl für Kei frei. Im Umdrehen klopfte er ihm beruhigend auf die Schulter. Ryu verließ das Zimmer, holte den Verbandskasten aus dem Badezimmer und kehrte mit diesem zurück. Für Yukis aufgeschürfte Handgelenke gab er Kei eine Salbe und Verbandszeug. Den Verbandskasten nahm er schließlich mit, als er wieder hinaus ging.

„Ich bin unten bei Lan, falls du was brauchst.“

„Lan ist auch da?“

„Ja. Wenn du Yuki verbunden hast, komm ruhig nach unten. Ich glaub, es wird langsam Zeit, dass wir alle mal unsere Karten offen legen.“
 

Kei hatte gerade den Verband an Yukis zweitem Handgelenk festgeknotet, da fühlte er wie Yuki schwach nach seiner Hand griff. Sofort wanderte Keis Blick zuerst auf Yukis Hand, dann zu seinem Gesicht. Nur aus einem halb geöffneten Auge sah Yuki ihn an. Aber immerhin sah er ihn an.

„Yuki! Du bist wach!“ stellte Kei das Offensichtliche fest.

„Hmh…“

„Wie fühlst du dich?“

„Kei? Du bist da…“ hauchte Yuki immer noch etwas benommen.

„Natürlich bin ich da. Ich wohne hier.“ versuchte Kei, die Stimmung etwas zu lockern. „Du bist wieder zu Hause.“

Yuki blinzelte schwach. Sein Blick wanderte von Kei weg durch das Zimmer. Aus Yukis nicht vorhandener Reaktion konnte Kei aber schließen, dass auch seine Augen noch zu schwach waren, um irgendetwas zu erkennen.

„Wie fühlst du dich?“ fragte Kei erneut, während er sich etwas mehr zu Yuki herunter beugte.

„Nicht so gut.“

„Geht’s bisschen genauer?“

„Mir tut alles weh.“

„Alles?“

„Alles.“

„Kann ich dir irgendwie helfen? Brauchst du irgendwas?“

„Mh-Hmh… Nur schlafen…“

Dann schloss Yuki auch schon wieder die Augen. Kei blieb noch eine Weile an seinem Bett sitzen und beobachtete ihn. Yuki schien diesmal wirklich zu schlafen. Seine Brust hob und senkte sich gleichmäßig mit seinen Atemzügen. Er war immer noch blass, aber nicht mehr ganz so weiß wie vorhin, als er ihn auf dem Parkplatz gesehen hatte.
 

„Danke fürs Verbinden.“

Ryu saß am Esstisch und las in irgendeiner Zeitschrift, die er vom Wohnzimmerregal aufgehoben hatte. Was er las, interessierte ihn gar nicht. Er wollte sich nur irgendwie ablenken, um keine Gedanken zu denken, die er später bereuen könnte. So war er auch nicht böse, dass Lan ihn aus seiner Lektüre riss. Nach einigen Stunden Schlaf auf der Wohnzimmercouch fühlte Lan sich schon ein wenig besser.

„Immer wieder gern. Kannst du denn schon aufstehen?“

„Stehen macht nichts, sitzen ist schlimmer. Sich die ganze Nacht mit Pierre herumzuschlagen und dann auch noch im Galopp, geht ins Kreuz. Und mein Hintern tut auch weh.“

Ryu zog eine Augenbraue hoch und sah Lan lange an. Es dauerte eine ganze Weile, bis Lan bewusst wurde, was er eben gesagt hatte. Dann allerdings traf ihn die Erkenntnis wie ein Blitz und trieb ihm die Schamesröte auf die Wangen.

„Oh Mann! Du weißt, was ich meine! Pierre hat mich angegriffen, wir haben gekämpft. Und du hast selbst gesehen, wie’s mir ging. Ich bin gerade noch so auf Onyx entkommen und war zu kaputt, um mich oben zu halten. Mein Rücken und mein Gesäß tun höllisch weh, weil ich ein paarmal gestürzt bin.“

„Nichts anderes hab ich gedacht.“ zuckte Ryu unschuldig mit den Schultern.

„… Mistkerl.“

Lan ließ sich, nicht gerade rückenschonend, Ryu gegenüber auf die Eckbank fallen. Das bereute er wohl sofort ein wenig, denn er beugte sich mit unnatürlich gekrümmten Rücken vornüber. Um seine wieder abflauende Röte zu verstecken, stahl er einfach Ryus Kaffeetasse und nahm einen Schluck.

Kurze Zeit später betrat Kei das Esszimmer und setzte sich zu ihnen. Kiku ergänzte die Runde, nachdem Ryu sie gerufen hatte. Ganz klein zusammengesunken und immer noch mit Tränen in den Augen setzte sie sich neben Lan auf die Eckbank. Sie schien immer tiefer zusammenzusinken unter den vorwurfsvollen Blicken der anderen. Vor allem Kei gab sich nicht einmal Mühe, seinen Zorn zu verbergen. Er konnte gar nicht in Worte fassen wie wütend er war über das, was Kiku seinem Freund und Lehrer angetan hatte.

Zuerst wagte niemand, den Anfang zu machen. Doch nach einer Weile fasste sich Kei ein Herz.

„Yuki war vorhin mal kurz mehr oder weniger wach.“

„Wie geht’s ihm? Hat er was gesagt?“ erkundigte sich Ryu sofort sorgenvoll.

„Er sagt, ihm tut alles weh. Er wollte nur schlafen.“

„Wenigstens war er ansprechbar, das ist schon etwas.“ versuchte Ryu, sich selbst ebenso zu beruhigen wie Kei. „Hoffen wir, dass er bald wieder auf die Beine kommt.“

„Könnt ihr mir jetzt bitte erklären, was überhaupt mit ihm passiert ist?“ fragte Kei in die Runde.

Ryus und Lans Blicke wanderten zu Kiku, die auf der Bank noch tiefer sank. Sie hatte den Blick auf den Tisch gesenkt und die Hände wieder nervös spielend in ihren Ärmeln versteckt.

„E-es tut mir wirklich alles so leid.“ begann sie kleinlaut, bevor sie zu erklären begann. „Kurz nachdem ich Zaleischülerin geworden bin, hat mich ein Mann von K.R.O.S.S. angesprochen. Er sagte, sie würden erforschen, was hinter der Zaleikraft steckte und sie würden auch mit dem Zaleirat zusammenarbeiten. Das stimmte auch. Ich war neugierig und hab ihnen hin und wieder ein paar Auskünfte gegeben, mehr nicht. Und dann ist es immer mehr und mehr geworden. Ich sollte immer mehr für sie erledigen, nicht nur für K.R.O.S.S., sondern auch für den Zaleirat. Meister Adoy ist ein weiser Mann, deshalb dachte ich, dass alles in Ordnung ist.“

Kei hörte wie Ryu bei diesem Satz laut ausatmete.

„Dann hatte Meister Adoy den Verdacht, dass Taro irgendetwas plant oder vielleicht aus dem Ausland zurückkommt. Er hat befürchtet, dass du, Ryu, oder Yuki ihm irgendwas verheimlicht. Ich sollte ihn informieren, sobald ich etwas erfahre.“

„Hast du für Adoy gearbeitet oder für K.R.O.S.S.?“ hakte Lan nach.

„Offiziell für K.R.O.S.S., aber sie erhalten ihre Anweisungen von Meister Adoy, soviel ich weiß. Zwei Mitarbeiter von K.R.O.S.S. treffen sich regelmäßig mit ihm.“

„Du hast uns alle bei Meister Adoy angeschwärzt. Du hast ihm erzählt, dass unser Vater wieder da ist. Du hast ihm erzählt, dass er, Lan und ich gegen den Rat recherchieren. Du hast ihn auch auf unsere Homepage aufmerksam gemacht. Du hast ihm erzählt, dass Yuki Keis Ausbildungsberichte gefälscht hat. Und letzte Woche hast du ihm auch noch erzählt, dass Yuki Kei geraten hat, absichtlich durch die Prüfung zu fallen. Richtig?“ zählte Ryu mit einer gnadenlosen Nüchternheit auf.

„Ja. Es tut mir so leid. Ich wusste wirklich nicht, was ich damit anrichte.“ schluchzte Kiku schuldbewusst.

„Dass du ihm alle unsere Geheimnisse erzählt hast, ist das eine. Aber wie zum Teufel konntest du Yuki für irgendwelche Experimente an K.R.O.S.S. ausliefern?!“

Jetzt schaffte es sogar Ryu nicht mehr, sich zurückzuhalten. Der Blick, den er Kiku zuwarf, war mehr als eiskalt. Seine Stimme war laut und überschlug sich fast vor Zorn. Er schlug mit der Faust auf den Tisch. Kei bemerkte, dass Ryu zitterte.

Ryu hatte Kiku geliebt wie eine kleine Schwester. Das war vermutlich nicht dieselbe Liebe, die sie für ihn empfand, zumindest wenn er ihr Glauben schenkte, aber sie war doch immer einer der Menschen gewesen, die ihm am allernächsten standen. Niemals hätte er sich vorstellen können, dass sie ihn die ganze Zeit über hintergangen hatte. Vor allem hätte er niemals geglaubt, dass sie seinem Bruder so etwas antun könnte, der immerhin auch für sie fast wie ein Bruder gewesen war. Sich selbst musste Ryu allerdings gleichzeitig den Vorwurf machen, dass er Kiku gegenüber zu sorglos mit seinen geheimen Informationen umgegangen war. Aber Ryu hätte ohne zu zögern seine Hand für sie ins Feuer gelegt.

„Sie haben mir hoch und heilig versprochen, dass Yuki nichts passiert. Sie wollten nur dieses Mittel testen und ihn dann gehen lassen. Ich weiß, dass ich ihnen nicht hätte glauben dürfen. Es tut mir so leid. Bitte glaubt mir das.“ Kiku brach wieder in Tränen aus. Sie konnte ihre Tränen gar nicht so schnell mit den Ärmeln aus ihrem Gesicht wischen wie neue aus ihren Augen strömten. Ihre Schultern bebten unter ihren heftigen Schluchzern.

Als Ryu erkannte, dass er von Kiku nicht mehr erfahren konnte, beschloss er, zunächst das Thema zu wechseln.

„Du hast gesagt, du hast Meister Adoy gestern belauscht, Lan. Was hast du gehört?“

„Im Prinzip das, was Kiku uns gerade bestätigt hat. Der Zaleirat, beziehungsweise Adoy, arbeitet mit K.R.O.S.S. zusammen bei der Erforschung der Zaleikräfte. Adoy versorgt sie mit Informationen und Versuchspersonen, K.R.O.S.S. ihn dafür mit den Forschungsergebnissen und Infos von ihren Spionen.“

„Ich hab immer gehofft, dass wir uns irren und es doch keine Verbindung zwischen dem Rat und K.R.O.S.S. gibt.“ seufzte Ryu und fuhr sich durchs Haar.

„Keine Chance.“ winkte Lan ab.

„Dann decken wir es auf. In der Ratssitzung nächste Woche legen wir die Karten auf den Tisch und lassen Meister Adoy unter Arrest stellen.“

„Willst du das riskieren? Er macht uns fertig. Du weißt, dass er das kann.“

„Entweder wir riskieren es, oder wir warten bis er uns sowieso fertig macht. Mir wäre ersteres lieber. Überlass den Rat ruhig mir. Ich hab langsam sowieso die Schnauze voll.“

„Ich hör das zwar alles zum ersten Mal, aber ich hätte da eine Frage.“ meldete sich Kei . „Wenn der Rat und K.R.O.S.S. zusammenarbeiten, verfügt der Rat dann nicht auch über die ganzen Mittel von K.R.O.S.S.? Kiku hat vorhin gesagt, dass die an Yuki ein Mittel ausprobiert haben, das den Körpertausch unterdrücken soll. Was meint ihr wohl, was die sonst noch so alles in ihrem Lager haben?“

Alle Augen ruhten auf Kei, doch keiner sprach ein Wort.

„… War das eine dumme Frage?“ erkundigte sich Kei schließlich unsicher.

„Nein, das ist sogar eine sehr schlaue Frage.“ nickte Ryu, bevor er sich wieder an Kiku wandte. „Was weißt du über die Forschungen von K.R.O.S.S.?“

„Nicht viel. Ich glaube, nur die Miss selbst kennt alle Forschungsergebnisse. Soviel ich weiß, will die Miss die Fähigkeiten der Zalei erforschen, um sie für alle nutzbar zu machen, auch für Nicht-Zalei. Sie hat verschiedene Mittel entwickelt, mit denen man die Zaleifähigkeiten verstärken, aber auch löschen kann. Ich hab Gerüchte gehört, dass sie sogar einen Zalei im Körper seines Carn einsperren könnte.“

„Das wäre total… wahnsinnig.“ sprach Kei aus was vermutlich alle dachten.

„Was mich brennend interessieren würde: wer ist diese Miss überhaupt? Ich dachte, es wäre diese Obscura, die Frau mit den dunklen Locken. Aber das scheint sie nicht zu sein.“ grübelte Lan.

„Obscura ist nicht die Miss. Sie ist ihre Assistentin und vertritt sie oft bei öffentlichen Auftritten. Aber die Miss selbst hab ich nie gesehen. Ich weiß weder ihren richtigen Namen, noch wie sie aussieht. Ich weiß nicht einmal, ob sie überhaupt eine ‚Miss‘ ist. Niemand weiß das.“

„Wenn K.R.O.S.S. und der Rat jedenfalls über solche Mittel verfügen, dann sollten wir wirklich vorsichtig sein. Wie’s aussieht, könnte uns sogar etwas noch schlimmeres passieren, als einfach nur ermordet zu werden.“ überlegte Ryu laut.

„Sie sind wirklich skrupellos. Dieser Einäugige von K.R.O.S.S. hat Ryami erschossen, ohne mit der Wimper zu zucken. Genauso eiskalt hat Adoy Mika ermordet und sogar Pierre hat nicht gezögert, den Va-“ Lan unterbrach seinen Satz abrupt. Er hielt sich die Hand vor den Mund, als wollte er sich selbst zum Schweigen bringen.

„Was hat Pierre - versucht dich umzubringen? Das hast du schon gesagt.“ wollte Ryu ihm auf die Sprünge helfen. Doch Lan schüttelte geistesabwesend den Kopf.

„Das auch, aber… Ryu, es tut mir leid. Wirklich… Ich weiß nicht, wie ich dir das sagen soll. Es… Ich hab es auch erst letzte Nacht erfahren, weil es Pierre so rausgerutscht ist.“ Lan atmete einfach tief durch.

„Was meinst du…?“ trotz aller Mühe konnte Ryu die Unsicherheit in seiner Stimme nicht mehr verbergen.

„Pierre hat Taro ermordet. Dein Vater ist schon seit mehreren Monaten nicht mehr am Leben. Es tut mir echt leid.“



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück