Zum Inhalt der Seite

Snowdrops and Chocolate

Die Fortsetzung des gleichnamigen Doujinshi
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Trennung, Verbindung und Bruch

Kapitel 23 – Trennung, Verbindung und Bruch
 

Ganz den Musterschüler mimend übte Kei diesen Nachmittag sogar mehr als zwei Stunden mit Robin im Garten. Yuki beobachtete ihn wieder von der Terrasse aus, diesmal aber ohne Buch. Er schenkte Kei heute seine ungeteilte Aufmerksamkeit. Am Anfang war es etwas ungewohnt für Kei, den achtsamen Blick seines Lehrers die ganze Zeit über im Nacken zu spüren. Manchmal schaute Kei unauffällig über die Schulter zu ihm hinüber und fühlte sich sofort ertappt, wenn sich ihre Blicke trafen. Manchmal legte sich ein leichter Rotton auf seine Wangen. Manchmal spürte er sogar die berühmten Schmetterlinge im Bauch.

Um ehrlich zu sein, war Keis Übungsstunde nur deshalb länger als sonst, weil er total unkonzentriert war. Nachdem seine Gedanken ständig in Richtung der Terrasse abschweiften, gelang ihm kaum etwas, was er versuchte. Letztendlich wurde es sogar Robin zu bunt und der Fuchs widmete sich lieber einem Blumenbeet als seinem Zalei.
 

Draußen war es schon nachtdunkel geworden, da suchte Kei nach seinem Freund. Yuki als seinen Freund zu bezeichnen, wenn auch nur in seinen Gedanken, war immer noch mehr als gewöhnungsbedürftig für ihn. Kei seufzte resignierend. Nach ein paar Stunden konnte er ja wohl auch kaum erwarten, dass es sich irgendwie anders anfühlte.

Jedenfalls fand Kei seinen Freund wie schon zwei Abende zuvor auf der Terrasse. Yuki saß auf einem der inzwischen zwei nach vorne gezogenen Stühle. In einem Windlicht an seiner Seite flackerte eine Kerze, die sein Gesicht in warmes Licht tauchte. Yuki trug seinen Mantel, aber als hätte Kei es geahnt, natürlich auch diesmal keine Handschuhe. Kei konnte gerade noch sehen wie die schneeweiße Fledermaus Minuit im Nachthimmel verschwand. Auf Yukis Knien lag diesmal allerdings kein Handtuch für sie.

Es vergingen wohl mehrere Minuten, in denen Kei regungslos in der Terrassentür stehen blieb und Yuki beobachtete. Irgendwie wurde er das Gefühl nicht los, dass irgendetwas nicht in Ordnung war. Yuki wirkte irgendwie niedergeschlagen. Zuerst dachte Kei, dass er vielleicht einfach müde war, oder dass seine Kopfschmerzen schlimmer geworden waren. Doch das schien es nicht zu sein. Yuki war einfach… traurig. Allerdings eine andere Art von traurig als wenn Ryu ihn vom Tod ihres Vaters in Kenntnis gesetzt hätte, mutmaßte Kei. Die Euphorie, die Yuki den ganzen Tag über trotz Kopfschmerzen und Schwindelgefühl ausgestrahlt hatte, war komplett verschwunden. Schlaff war er gegen die Lehne seines Stuhls gesunken und schaute gedankenverloren in den sternenbesetzten Himmel. Seine Augen waren halb geschlossen, wenn er blinzelte, dann wie in Zeitlupe. Ein kaum hörbares, missmutiges Seufzen kam über Yukis Lippen.

Als er das Knarzen der Terrassentür hörte, drehte er sich nur so weit um wie unbedingt nötig, um erkennen zu können, wer sie bewegt hatte. Obwohl er sich über Keis Gesellschaft freute und ihn auch gleich mit einem freundlichen „Hey“ begrüßte, verharrte er doch in seiner lustlosen Haltung. Er versuchte zwar, Kei anzulächeln wie immer, aber er musste sich sehr dazu zwingen. Außerdem erkannte Kei sofort, dass das Lächeln nicht echt war. Yukis Mundwinkel wanderten zwar nach oben, und seine Lippen gaben sogar die Sicht auf ein paar seiner Zähne frei, aber Yukis Augen lächelten nicht mit. Keine niedlichen Lachfältchen diesmal.

Kei setzte sich auf den freien Stuhl neben Yuki. Er warf ihm einen langen, sorgenvollen Blick zu, dem Yuki nur einen Moment standhielt. Um ihm auszuweichen, blickte er wieder in den Himmel, als ob er nach irgendetwas Ausschau hielt.

„Was ist los?“ fragte Kei geradeheraus.

Yuki schien kurz zu überlegen, dann seufzte er leise, bevor er sich auf die Unterlippe biss als wolle er sich selbst zum Schweigen bringen. Langsam schüttelte er den Kopf.

„Erzähl schon. Ich merk doch, dass du irgendwas hast.“

Wieder ein leises Seufzen, bevor Yuki im Flüsterton zu sprechen begann. Was auch immer er drauf und dran war zu sagen, fiel ihm sichtlich schwer.

„Ich bin kein Zalei mehr.“

„Was?! So ein Blödsinn. Du… Du kannst nicht kein Zalei mehr sein.“

Nicht dass Kei einfach nur gegen den bloßen Gedanken protestieren wollte, er verstand es auch gar nicht. So viel er wusste, war das Talent eines Zalei angeboren, wenn auch nicht von Geburt an ausgebildet. Es war eine Verbindung zwischen dem Zalei und seinem Carn. Dass man diese einfach so verlieren konnte, konnte sich Kei nicht vorstellen.

„Es scheint aber so. Dieses Mittel, das sie mir gespritzt haben, wirkt nicht nur vorübergehend.“ Yuki legte eine Hand auf seine Brust. „Ich spüre, dass ich in meinem Körper eingeschlossen wurde, endgültig. Da ist keine telepathische Verbindung mehr zu Minuit.“

„Das… Das kann nicht sein.“

„Ich kann den Körpertausch nicht mehr.“

Yukis Stimme war kaum noch mehr als ein Hauchen. Diese traurige Wahrheit konnte er nur mit großer Mühe aussprechen. Allein unter der Vorstellung litt Yuki erkennbar.

Kei verfiel in mitfühlendes Schweigen und senkte den Blick auf den Boden. Yuki liebte Minuit, sie war viel mehr als ein Haustier für ihn. Sie war seine Partnerin, die beiden waren ein perfekt eingespieltes Team. Oft schon hatte Kei das Gefühl gehabt, dass die beiden die Gedanken des anderen lesen konnten. Sie waren immer unzertrennlich gewesen. Kei weigerte sich zu glauben, dass irgendein blödes Mittelchen so eine feste Bindung einfach komplett kappen konnte. Das durfte einfach nicht wahr sein.

„Ich bin kein Zalei mehr. Deshalb hab ich Minuit fliegen lassen. Sie ist weg.“ murmelte Yuki geistesabwesend.

Seine Stimme war noch leiser als vorhin und zitterte. Kei sah Yuki an und bemerkte eine Träne, die im Licht der Sterne auf seiner Wange glitzerte.
 

„Weißt du, was mein Lehrer mir die letzten acht Monate immer wieder für eine Predigt gehalten hat?“

Kei erhielt weder eine Antwort, noch irgendeine andere Reaktion von Yuki. Also begann er einfach zu erzählen.

„Am Anfang dachte ich, ein Zalei zu sein bedeutet, dass man sich in den Körper seines Haustiers versetzen kann. Aber mein Lehrer hat mir immer wieder und wieder erklärt, dass ich auf dem Holzweg bin, wenn ich das glaube. Immer wieder hat er mir eingebläut, es ist ein uralter Schamanismus, der sich zwischen dem Menschen und der Natur abspielt. Es geht um das Leben und das Verständnis für die Natur und alle Lebewesen, bla bla. Im Zentrum der ganzen Philosophie steht nicht die Fähigkeit, sich in ein Tier versetzen zu können, sondern die Verbindung mit diesem Tier und der Natur im Allgemeinen. Und dieses Tier ist auch kein Haustier, das man zu seinem persönlichen Vergnügen hält. Sondern es ist ein gleichwertiger Partner, mit dem der Zalei von seiner Geburt bis zu seinem Tod verbunden ist, und zwar enger als mit jedem anderen Lebewesen auf der ganzen weiten Welt, und untrennbar. Der Körpertausch ist nur ein klitzekleines Steinchen im ganzen Mosaik, das einen Zalei ausmacht. Demzufolge bist du nicht kein Zalei mehr, nur weil du den Körpertausch nicht mehr kannst. Und ich glaub auch nicht, dass Minuit das so sieht. Oder dass sie dich deswegen verlässt.“

Jetzt drehte sich Yuki ganz langsam zu Kei um. Er hatte vor Überraschung seine leicht zitternden Lippen ein wenig geöffnet. Seine Augen sahen Kei durch einen Schleier aus Tränen hindurch an. Yuki versuchte nicht einmal seine Tränen zurückzuhalten. Wie kleine Glasperlen glitzerten sie auf seinen geröteten Wangen im schwachen Licht der Kerze.

Kei konnte nicht widerstehen. Er beugte sich ein Stück weit vor und sah Yuki lange und tief in die Augen. Eine Weile brach Yuki nicht aus ihrem Blickkontakt aus. Zögerlich legte Kei seine rechte Hand auf Yukis Wange. Bei ihrem Kontakt schließlich schloss Yuki die Augen. Er atmete einmal tief durch und lehnte sich trostsuchend in Keis Hand. Mit dem Daumen fing Kei eine der letzten Tränenperlen ab, die ihren Weg aus Yukis Augenwinkel gefunden hatte.

Im selben Moment, in dem Yuki die Augen wieder öffnete, legte er seine Hand über die von Kei. Er strich sachte über Keis Handrücken, bevor sich seine Finger um die seinen legten. Sanft nahm Yuki Keis Hand von seiner Wange und führte sie bis an seinen Mund. Er streifte den Hauch eines Kusses auf Keis Fingerspitzen. Dann legte sich ein schwaches, immer noch trauriges, aber diesmal ehrliches Lächeln auf Yukis Lippen.

„Dein Lehrer sollte nicht immer so gefühlsduseliges Zeug daherreden.“

„Das kann er aber so gut.“

Wie an einer magischen, unsichtbaren Schnur gezogen, lehnten sich beide noch weiter nach vorne. Yukis freie rechte Hand legte sich zunächst auf Keis Schulterblatt. Sowie Kei näherkam, glitt sie aber in aller Langsamkeit über Keis Schulter, seinen Hals, schließlich zu seinem Hinterkopf und über diesen zurück zu Keis Nacken.

Wie von selbst schlossen sich Keis Augen zeitgleich mit seiner Bewegung nach vorne. Bis zuletzt konnte er den Blick nicht losreißen von Yukis Lippen. Sie hatten ein ungewohnt intensives Rot angenommen, sei es von der nächtlichen Kälte, weil Yuki vorhin auf seine Lippe gebissen hatte oder wegen der Tränen. Kei konnte Yukis Atem spüren, er glaubte sogar schon fast die Wärme seiner Lippen auf den seinen fühlen zu können.

Doch ihr Fastkuss endete - Kei konnte sich unter den gegebenen Umständen nicht einmal darüber ärgern - genauso wie der Fastkuss vor zwei Tagen an derselben Stelle. Wie aus dem Nichts war plötzlich Minuit unbemerkt zurückgekehrt. Ganz in fledermaustypischer Geschwindigkeit flatterte sie eine Runde lautlos um ihren Zalei und Kei, bevor sie sich unvermittelt auf ihren üblichen Landeplatz in Yukis Schoß fallen ließ.

Yuki und Kei erschraken gleichermaßen. Als sie die Situation aber erfasst hatten, konnten sich beide das Lachen nicht verkneifen. Mehr als die spontane Belustigung war dafür wohl die große Erleichterung auslösend.

Kei ließ sich in seinen Stuhl zurückfallen. Währenddessen hob Yuki seine Fledermaus vorsichtig auf. Er streichelte vorsichtig mit zwei Fingern über ihren Kopf und ihren kleinen, vor Kälte zitternden Körper. Minuit streckte ihm ihren Kopf förmlich entgegen, um sich ihre Streicheleinheiten abzuholen. Mit ihren hakenförmigen Daumen krallte sie sich in den Verband am Gelenk der Hand, auf der sie saß, fast so als wollte sie Yuki festhalten und ihn ermahnen, sie ja nie wieder wegzuschicken. Sie starrte ihn aus ihren dunklen Augen an, als würde sie ihn nie wieder aus dem Auge lassen wollen. Schließlich hielt Yuki sie ganz dicht an seinen Körper, um sie zu wärmen.

„Siehst du? Ich hab mir gleich gedacht, dass die Verbindung zwischen dir und Minuit nicht wirklich erloschen sein kann. Du bist und bleibst ein Zalei, Körpertausch hin oder her.“

Mit beiden Händen stützte Kei sich auf den Armlehnen seines Stuhls ab und stand auf. Bevor er sich zur Terrassentür umdrehte, pustete er noch die Kerze aus.

„Und jetzt komm lieber rein und wärm Minuit auf… Können sich Fledermäuse eigentlich erkälten?“
 

Kei drückte die Terrassentür auf und trat über die kleine Stufe in die Wohnung. Hinter sich hörte er wie Yuki sich erhob und sich seine Schritte näherten. Kei wartete den Türgriff haltend auf Yuki, um hinter ihm abzuschließen. Nachdem er die Stufe ebenfalls hinter sich gelassen hatte, blieb Yuki auf derselben Höhe stehen wie Kei. Ihre Augen trafen sich und hielten den Kontakt. Ohne diesen abzubrechen, neigte sich Yuki ein kleines Stück zu Kei herunter, so dass seine Stirn die von Kei berührte.

„Danke.“ flüsterte er bewegt.

„Gern geschehen.“

Kei nickte lächelnd. Yuki ließ sich anstecken. Zwar konnte Kei seine Lippen nicht sehen, aber seine Augen dafür umso näher. Die kleinen Lachfältchen an Yukis Augenwinkeln bezeugten eindeutig, dass er Keis Lächeln erwiderte.

Im nächsten Moment löste Yuki die Berührung ihrer Stirne. Kei glaubte, er würde sich umdrehen und an ihm vorbei ins Esszimmer gehen. So wollte auch er schon aus der Tür treten, um diese schließen zu können. Umso überrumpelter war Kei, als Yukis Lippen die seinen direkt in seiner Bewegung abfingen. Instinktiv wollte Kei vor Schreck zurückweichen, stieß aber sofort mit dem Hinterkopf an die Tür, vor der er stand. Sein Mund öffnete sich zu einem Stöhnen, das vielleicht ein „Autsch“ hätte werden können, hätte Yuki nicht sofort die Gelegenheit ergriffen und ihren Kuss vertieft. Kei hatte sein Gleichgewicht noch nicht wiedergefunden, da begegneten sich schon ihre Zungen in seinem Mund. Um nicht umzufallen, griff Kei mit der Rechten nach Yukis Schulter. Mit zunehmender Heftigkeit ihres Kusses bohrten sich seine Fingerspitzen regelrecht in Yukis Haut.

Als ihr Kuss endlich endete und sich beide atemlos trennten, legte Yuki erneut seine Stirn gegen Keis. Beide teilten einen langen, intensiven Blick.

„Ist dein Kopf ok?“

„Mhm-hmh… Deine Schulter auch?“

„Alles ok… Tut mir leid, dass ich dich erschreckt hab. Ich wollte aber auf keinen Fall nochmal bereuen, dich nicht geküsst zu haben.“

Kei nickte langsam und nur ein paar Zentimeter. Durch die Berührung ihrer Stirne genügte es, Yuki sein Beipflichten nur anzudeuten. Gedankenverloren fuhr er mit der rechten Hand über Yukis Schulter als könnte er eventuellen Schmerz einfach von ihr fegen. Auch Kei hatte der ungenutzten Gelegenheit von vor zwei Tagen nachgetrauert, musste er gestehen.
 

Zwei Tage später war es so weit. Die große Enthüllung im Zaleirat stand kurz bevor. Kei hatte Ryu in den letzten zwei Tagen kaum zu Gesicht bekommen, weil dieser sich praktisch in seinem Zimmer einkaserniert hatte, um sich gründlich vorzubereiten. Er hatte wieder und wieder das vollständige Material gesichtet, das er mit Lan und seinem Vater zusammengetragen hatte. Als er seine Mitbewohner vor ihrem Aufbruch im Flur traf, trug er eine gut gefüllte Mappe bei sich, in der Kei Notizen und Beweise vermutete.

Kiku knöpfte gerade ihren Mantel zu. Sie war sichtlich nervös, so dass ihr der oberste Knopf direkt vor dem Knopfloch immer wieder aus den zitternden Fingern schlüpfte. Fast als ob ihr Äffchen Jack ihre Anspannung spüren konnte, turnte auch er noch unruhiger als sonst am Treppengeländer.

Das Verhältnis zu ihren Mitbewohnern hatte sich zumindest wieder so weit normalisiert, dass sie ihre Tränen unter Kontrolle bekommen hatte. Von Freundschaft wie vorher konnte zwar nicht mehr die Rede sein, aber sie kamen zumindest im Alltag miteinander aus. Kiku hatte dennoch Angst vor der Reaktion des Rats auf ihre Rolle in der ganzen Geschichte. Dass ihre Mitbewohner sie nicht verstoßen hatten, bedeutete noch lange nicht, dass der Rat ähnlich entscheiden würde.

„Und was glaubst du, dass du da tust?“

Ryu hatte eine Hand in die Seite gestützt und warf Yuki einen kritischen Blick zu. Yuki dagegen schnürte völlig gleichgültig seine Schuhe weiter zu.

„Meine Schuhe anziehen natürlich. Sonst werden doch meine Socken schmutzig.“

„Du kommst nicht mit.“

„Doch, natürlich komm ich mit.“

Kaum dass er seine Schleife fertig gebunden hatte, stand Yuki auf und nahm seinen Mantel vom Kleiderhaken. Ganz und gar unbeeindruckt von Ryu schlüpfte er in die Ärmel. Erst als dieser ihn an beiden Schultern packte, um sich Gehör zu verschaffen, sah Yuki ihn überhaupt direkt an.

„Ich will, dass du hier zu Hause bleibst und dich raushältst. Und Kei übrigens auch. Du hast schon genug abgekriegt.“

„Ryu…“ Yuki lächelte mild. Für einen Moment schloss er die Augen und schüttelte gedankenverloren den Kopf. Dann legte er seine Hände auf die von Ryu, um sich aus seinem Griff zu befreien. „Ich freu mich, dass du dir Sorgen machst. Aber das ist wirklich ein ungünstiger Zeitpunkt, um deinen brüderlichen Beschützerinstinkt wiederzuentdecken.“

„Es tut mir sehr leid, dass ich den in letzter Zeit so vernachlässigt hab. Du bringst dich nur unnötig in Gefahr. Bitte bleib hier.“

„Kommt nicht in Frage. Ich bin nicht nur ein Augenzeuge, sondern auch der lebende Beweis für die fragwürdigen Forschungen von K.R.O.S.S.. Ich denke überhaupt nicht daran, hier Däumchen zu drehen.“

„Mir wäre wesentlich wohler, wenn du hier Däumchen drehen würdest.“ Langsam sah Ryu seine Niederlage ein. Er würde seinen kleinen Bruder wirklich am liebsten außerhalb der Gefahrenzone wissen, aber er konnte ihn doch verstehen.

„Mir wäre auch wesentlich wohler, wenn Kei hier Däumchen drehen würde. Aber ich glaub, dazu müsste ich ihn wohl im Wandschrank einsperren. Und selbst daraus würde er sich irgendwie befreien und nachkommen.“ lachte Yuki und zwinkerte Kei unauffällig zu.

Kei sah ein bisschen ertappt auf seine Schuhe. Ja, natürlich hatte er seine Schuhe an. Es stand doch völlig außer Frage, dass er mitkommen würde! Auch musste er zugeben, dass Yuki vermutlich recht hatte. Kei würde sich nicht aufhalten lassen, um ihm zu folgen.

„Heute kriegen wir beide nicht unseren Willen. Scheint in der Familie zu liegen.“ schloss Yuki die Diskussion.

Ohne weitere Umschweife öffnete er die Haustür und trat ins Freie. Ganz selbstverständlich flatterte seine Fledermaus Minuit über seinem Kopf mit. Sie brauchte weder ein Kommando, noch eine Geste oder auch nur einen Blick, um jedem Schritt ihres Zalei zu folgen. Die Verbindung zwischen den beiden war mehr als offensichtlich auch ohne Körpertausch noch intakt. Kei war erleichtert.
 

Im Ratsgebäude angekommen führte Ryu seine drei Begleiter sowie deren Carn in eine Nische am Ende des Gangs, in dessen Mitte der Eingang zum großen Sitzungssaal lag. Die Nische war bestuhlt und vor einer Fensterfront stand ein niedriger Beistelltisch, auf denen einige Zeitschriften lagen. Durch die Fenster sah man in den Innenhof des Ratsgebäudes. Auf den kahlen Zweigen der Bäume und Büsche saßen allerlei bunte Vögel, von denen Kei vermutete, dass ein guter Teil Carn von Beschäftigen des Ratsgebäudes waren. Hätten die Pflanzen nicht den Blick versperrt, hätte er vielleicht sogar auch die Wiese sehen können, auf der Sleipnir wartete, bis sein Zalei ihn nach der Sitzung abholen würde.

Ryu erklärte ihnen, dass sie einen Moment hier warten sollten. Sobald der Rat zugestimmt hätte, sie anzuhören, würde er sie in die Sitzung holen. Inzwischen nahmen Kei, Yuki und Kiku Platz. Robin setzte sich brav neben Keis Stuhl und beobachtete mit scharfem Blick wie Jack auf den Tisch sprang und anfing, die Zeitschriften zu zerreißen. Kiku gelang es nur bedingt, ihren Carn zu beruhigen.

Nachdem Ryu kurz mit Lan telefoniert hatte, wandte er sich zum Gehen.

„Lan ist gleich hier. Ich geh ihm entgegen und klär noch paar Details mit ihm. Die Sitzung fängt in einer Viertelstunde an, ihr habt also noch ein bisschen Zeit.“

Damit hatte Ryu sich auch schon verabschiedet und sich auf den Weg zur Eingangshalle gemacht. Diese lag schon am anderen Ende des langen Ganges. Es war eine große, helle Halle, an deren Stirnseite eine monumentale Treppe, die sich in der Mitte in zwei Flügel teilte, in den ersten Stock führte. Dieser gegenüber befand sich das große Eingangstor, durch das Lan bald spazieren musste.

Ryu trat gerade am Ende des Gangs in die Halle ein, da hörte er seinen Namen. Als er sich umdrehte, sah er ausgerechnet Meister Adoy. Der alte Zaleimeister ließ gerade die letzten Treppenstufen hinter sich und kam mit gemächlichen, kurzen Schritten auf ihn zu. Auf seinem linken Arm trug er seine Schildkröte, während er mit der rechten Hand über ihren Panzer streichelte.

„Ryu. Sehr schön, dass vor der Sitzung ich dich noch treffe. Mit dir sprechen, das wollte ich.“

„Ja, Meister?“

Ryu blieb stoisch ernst und antwortete mit nüchternem Ton. Gleichzeitig überlegte er, was der alte Meister wohl mit ihm zu besprechen hatte. Sein ehemaliger Lehrer sollte wissen, dass er und Lan nach den jüngsten Entwicklungen planten, dem Rat heute alles offenzulegen, was er hinter dessen Rücken angestellt hatte und immer noch anstellte.

„Ein guter Schüler du mir warst, sehr gelehrig und aufmerksam. Du hast stets hart an dir gearbeitet, um zu verbessern dein Können. Große Macht du hast, und was mindestens genauso wichtig, auch Köpfchen.“

„Ihr Kompliment ehrt mich Meister. Aber darf ich fragen, warum Sie mir so schmeicheln?“

„Ein Zalei des vierten Rangs du bist. Eine Schande. Viel besser du hättest immer sein können, wenn nicht die falschen Freunde du dir hättest gesucht. Höherstufen, das ich dich könnte. Du würdest haben mehr Einfluss, mehr Macht und mehr Rechte. Auch im großen Rat der Zalei dein Einfluss würde wachsen.“

„Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht folgen, Meister. Die Ränge sind nicht einfach so zu verschieben, sondern ergeben sich aus den Fähigkeiten eines Zalei. Ein Aufstieg ist nur gerechtfertigt, wenn die Kraft eines Zalei gestiegen ist.“ entgegnete Ryu kühl.

„Natürlich, natürlich.“ winkte der alte Meister ab. „Viel von mir du gelernt hast als Schüler. Noch mehr du lernen kannst auch jetzt noch. Deine Fähigkeiten werden steigen, dein Rang auch. Mit ihnen dein Ansehen. Du wirst weiterkommen, wenn an meiner Seite du stehst.“

„Aha. Daher weht der Wind.“

„Schließ dich mir an, Ryu, und du kannst es noch weit bringen. Dieser Verräter Lan kein Umgang ist für dich.“

Ryu senkte den Blick nachdenklich auf den Boden vor sich. Gleichzeitig verschränkte er die Arme vor der Brust. Der Meister witterte seine Chance und setzte seine Argumentation fort.

„Den Rat will Lan absetzen. Chaos und Anarchie herrschen werden, wenn kein Kontrollorgan aufpasst auf die Zalei. Du weißt, dass viel Gefahr und Leid sich wird daraus ergeben. Wie in früheren Zeiten Zalei werden ausgebeutet, und werden ausbeuten selbst. Viel Missbrauch ihrer Fähigkeiten ist gewiss, wenn nicht mehr der Rat kontrolliert die Zalei. Lass nicht zu, dass den Rat absetzt Lan. Deine Geltung auch du wirst verlieren sonst.“

Ryu schüttelte geistesabwesend den Kopf ohne seinen Blick vom Boden vor sich zu lösen. Einen Moment schwieg er noch weiter, bis er schließlich einmal tief durchatmete. Dann sah er den Meister wieder direkt an.

„Ich kann nicht glauben, dass Sie mir so einen Vorschlag machen, Meister. Sie versprechen mir eine Beförderung, wenn ich mich auf Ihre Seite stelle? Mir fehlen die Worte.“

„Bevor du antwortest, denk daran, dass der älteste, erfahrenste und einflussreichste Zalei des Landes ich bin. Nicht nur den höchsten Rang und die größte Macht als Zalei habe ich, sondern auch große Autorität im Rat und außerhalb. Wer entgegen sich mir stellt, einen mächtigen Feind sich schafft.“

Eiskalt, nein, eigentlich sogar noch viel kälter als nur eiskalt, war der Blick, mit dem Ryu seinen ehemaligen Lehrer bedachte. Er hatte die Brauen tief ins Gesicht gezogen und musste sich sehr beherrschen, um nicht die Stimme zu erheben. Dennoch blieb der alte Meisterzalei fast ungerührt.

„Ich weiß wirklich nicht, was ich dazu sagen soll. Ein einfaches Nein würde nicht ansatzweise ausdrücken, was ich davon halte. Wie können Sie glauben, dass Sie mich so einfach bestechen und auf Ihre Seite ziehen können? Sie wollen mich dafür bezahlen, dass ich die Augen vor allen Missständen verschließe. Und Sie drohen mir gleichzeitig, wenn ich ablehne. Ich bin schockiert und stinksauer, wenn Sie geglaubt haben, dass ich auch nur in Erwägung ziehen könnte, dem zuzustimmen.“

Das war Ryus letztes Wort, bevor er den Meister einfach stehen ließ und die Eingangshalle zum Tor hin überquerte, um Lan in Empfang zu nehmen. Nach außen hin wirkte er eiskalt, insbesondere sein Blick, der den Meister schon fast befürchten ließ, gleich von Eiszapfen erdolcht zu werden, die Ryu mit seinen Augen schoss. Aber innerlich kochte er vor Wut.

Niemals hätte er auch nur die Möglichkeit in Betracht gezogen, die Fronten zu wechseln. Er wusste, dass er das Richtige tat und würde sich nie davon abbringen lassen. Umso weniger natürlich, nachdem der Meister seinen Vater und seinen besten Freund ermorden lassen wollte und seinen kleinen Bruder als Versuchsobjekt geopfert hatte. Dass der Meister glaubte, ihn ködern zu können, indem er ihm mehr Macht versprach, verletzte Ryu nicht nur, sondern verärgerte ihn maßlos.

Genauso wütend machte ihn der Versuch des Meisters, ihn zu erpressen. Viel mehr als die Repressalien des alten Meisters fürchtete Ryu das, was passieren konnte, wenn ihm niemand Einhalt gebot.

Was der Meister über die Gefahr von Chaos und Missbrauch gesagt hatte, falls kein Kontrollorgan über die Ausübung der Zaleifähigkeiten und ihre Ausbildung wachte, stimmte allerdings. Ryu kannte viele schlimme Geschichten aus der Zeit vor der Gründung des Rats. Er wusste, dass es eine kontrollierende Instanz geben musste. Aber diese durfte nicht ein Rat sein, der seine Macht für illegale Machenschaften missbrauchte und die Zalei, für die er verantwortlich war, schamlos ausnutzte und in Gefahr brachte.
 

„Irgendwie hab ich das Gefühl, dass du ein bisschen gereizt bist.“

Lan konnte mit dieser Feststellung kaum mehr untertreiben. Ryus Wut war noch nicht nennenswert abgeklungen, als er sich an Lans Seite auf den Weg zurück zum Sitzungssaal machte. Es war ziemlich lange her, dass Lan seinen besten Freund so böse erlebt hatte. Das letzte Mal war wohl vor ungefähr zwei Jahren gewesen, als Ryus kleiner Bruder von seiner ersten Mission für den Rat mit einem langen Kratzer quer über den Rücken zurückgekehrt war. Ryu war eigentlich die Besonnenheit in Person. Aber wenn seinen Freunden oder seinem Bruder etwas zustieß, sah er rot.

„Du wirst mir nicht glauben, was eben passiert ist. Ich erzähl’s dir später mal.“

Ryu atmete ein paarmal tief durch, um sich abzuregen. Bevor er und Lan den Sitzungssaal erreicht hatten, hatte er zumindest nach außen hin seine typische Ruhe wiedergefunden.

„Lan, bitte versprich mir zwei Sachen, bevor wir reingehen.“

„Was denn?“

„Erstens: Überlass mir das Reden. Und zweitens: Lass dich auf keinen Fall provozieren. Ich weiß genau, dass du sehr anfällig bist für Adoys Provokationen.“

„Wow…“

„Was ist?“

„Das war das erste Mal, dass du ihn nicht respektvoll mit ‚Meister‘ angesprochen hast. Ich bin beeindruckt.“

„Möglich. Der Respekt ist Geschichte. Also?“

„Ich tu mein Bestes.“ zuckte Lan mit den Schultern.

Dann öffnete Ryu die Tür zum großen Sitzungssaal und die beiden Rebellen traten dem Rat der Zalei gegenüber.
 

****

O~h, diese Spannung!

Mit dem nächsten Kapitel beginnt endlich der große Showdown. Soll ich so unerwartet nett sein und ab dann die Upload-Intervalle verkürzen? ;D



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (1)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Anevor
2011-04-22T20:37:08+00:00 22.04.2011 22:37
*~*
also dann meld ich mich mal zu wort...
relativ neu erst hergefunden ... über den Doji... und ich muss sagen ich mag die Story ><
*schnell wissen will wies weiter geht*


Zurück