Die Erweckung
Miako erhob sich ruckartig von der Bank und warf, bildlich gesprochen, das Handtuch. Sie beendete den Kampf für ihren Schützling aus der Mannschaft, der zu stur und unvernünftig war um es selbst zu machen.
Der Schiedsrichter erkannte die Geste früh genug und hob die Flagge der afrikanischen Mannschaft.
Ein summender Ton ertönte und auf der Anzeige erschien der erste Punkt bei der gegnerischen Mannschaft.
WV Afrika hatte somit die erste Runde in diesem Match gewonnen.
„Trainerin wie können Sie nur, ich war so kurz davor zu gewinnen, warum haben Sie…“.
„Schweig!“, unterbrach die Frau den jungen Mann harsch und funkelte ihn mit ihren blauen Augen wütend an. „Wie oft noch, ihr habt keine Widerworte mir gegenüber zu bringen, es wird gemacht was ich sage“.
Die Stimme von Miako war ungewöhnlich streng, weder Phung noch Lee hatten sie so erlebt. Irgendwas verunsicherte die amtierende Vizemeisterin, aber sie wussten nicht was es war.
Die junge Japanerin dagegen schon.
Sie wusste warum sie sich so seltsam benahm, es war seine Anwesenheit, diese bohrenden Blicke und die Gedanken. Er wartete auf ihren Untergang, darauf, dass sie versagen würde und ihm verfiel.
’Dieser Teufel, ich bringe ihn um’, zischte sie in Gedanken und wandte sich mit einer ruckartigen Bewegung zu ihrem Team um, welches auf der Bank saß. Ihr Kimono raschelte leise bei dieser plötzlichen Bewegung. Nacheinander musterte sie die vier Kämpfer. Lee und Phung kannte sie schon lange, die anderen beiden waren durch das Auswahlverfahren der Vorrunden in das Team gekommen. Einer von den beiden hatte bereits versagt und Miako ließ nicht zu, dass dies noch Mal passieren würde. WV Afrika hatte etwas mit dem Mann zu tun und Caligo war kein anständiger Mann, sicherlich würde dann auch das gegnerische Team irgendwelche miesen Tricks anwenden so wie bei WV Amerika.
„Phung, du wirst gehen“, verkündete die Trainerin nach einigen Minuten Bedenkzeit. Der warnende Blick ihres Freundes entging ihr nicht, dennoch konnte sie auf so was keine Rücksicht nehmen. Es ging hier um wesentlich mehr als nur ein par läppische Siege zu kassieren. Außerdem war die Schwarzhaarige stark und klug, Lee misstraute ihr viel zu sehr, er müsste mehr Vertrauen in sie stecken und seine Sorgen zumindest für einen Moment einfach Mal wegschließen.
Die Angesprochene erhob sich von der hölzernen Bank und strich ihre Kleidung zurecht.
Wie alle anderen Teilnehmer der WWM, trug auch Phung einen hautengen Anzug, der in einem feurigen Rot glänzte. Über diesen trug sie einen Kimono, der an beiden Seiten bis hin zu den Oberschenkeln geschlitzt war um ihr genügend Bewegungsfreiheit zu sichern. Flache Schuhe garantierten einen sicheren Halt auf den Boden, während der rot – gelbe Helm, er hatte die gleichen Farben wie der Kimono und somit die Nationalflagge, sie aus den Blickwinkeln ihres Wegbegleiters sehen ließ.
Lotus, der Albinofpau, lief an seinen Menschen vorbei und blieb in der Mitte der Kampfarena stehen.
Sie ließ den Blick schweifen und betrachtete das Feld aus dem Blickwinkel des Pfaus. Der einzige Vorteil, den sie gegenüber ihren Gegner hatten, war die Umgebung. Eigens für die zweite Runde der WWM hatte man den Untergrund so gestaltet, dass der Kampfplatz eine Nachbildung einer hügeligen Landschaft war. Felsbrocken, Büsche, Sträucher und auch die ständig wechselnden Ebenen von Tal und Berg, erschwerten es dem Büffel mit seiner ganzen Stärke angreifen zu können.
Das Signal ertönte.
Phung lockerte noch Mal kurz ihre Muskeln, bevor sie ihren ganzen Körper anspannte und in eine Abwehrhaltung einging.
Johnny, dessen Wegbegleiter der Büffel war und der auch schon gegen Jennifer, gewonnen hatte, ließ sich keine Zeit, er griff sofort an und wollte einen schnellen und vernichtenden Sieg.
Doch da hatte er die Rechnung ohne die junge Chinesin gemacht!
Phung wich geschickt dem Angriff aus und ließ Lotus hinter einem Strauch verschwinden. Seine aufgestellten Schwanzfedern, die ein Rad schlugen, wirkten hinter dem dichten Busch wie die Blüten der Pflanze. Der Büffel war nicht sonderlich klug und wäre Johnny nicht, so hätte sich das Tier noch müde gesucht. Nur dank seinen Anweisungen wusste er wo sich der Vogel versteckte und rannte somit auf das Gebüsch zu. Lotus schlug hektisch mit den Flügeln um den vorher sicheren Platz zu verlassen, während der Büffel blindlings in das Gestrüpp hinein rannte, mit dem Kopf voran. Seine Hörner verfingen sich für einen Moment in dem Astgeflecht, sodass Phung genug Zeit hatte sich ein neues Versteck zu suchen. Es war schwer mit einem zierlichen Vogel einen so massigen Gegner zu besiegen, jeder unüberlegte Angriff würde ihr aus bedeuten. Der schwere Leib des Tieres musste zuerst müde und unkonzentriert werden, bevor sie einen Angriff wagen konnte.
Eine Niederlage kam für sie keinesfalls in Frage, sie würde gewinnen.
Alles andere als erfreut, beobachtete Lee diesen Kampf. Er hatte seine kurzen, roten Handschuhe ausgezogen, die ein Pfotenmuster auf der Handinnenseite besaßen. Nervös kaute er an seinem Fingernagel herum und wünschte sich, dass Miako den Kampf wieder beenden würden. Schön, somit hätten sie verloren, aber was war wichtiger?
Der Sieg der Mannschaft oder das Wohlergehen des Mädchens?
Für Lee stand schon längst klar wie er auf diese Frage antworten würde, dies bedarf seinerseits keine Bedenkzeit mehr.
Sie hatten doch die erste Runde schon gewonnen, die zweite konnten sie durchaus auch verlieren. Irgendwann würde WV Afrika auch eine Niederlage erleiden, spätestens bei dem europäischen und russischen Team. Selbst für den Elefanten sähe es schlecht aus, wenn sie gegen den Wolf von Alexander antreten müssen. In der normalen Fauna würde sich selbst eine Gruppe von starken Löwinnen nicht an einen ausgewachsenen Elefantenbullen heranwagen, aber der weiße Wolf war kein normales Tier, er und sein Mensch waren alles das, was man mit dem Wort normal nicht mehr beschreiben konnte.
Er sah in die Zuschauermenge und betrachtete die gespannten Gesichter.
Jeder war gefesselt von diesem Anblick, wie der elegante Albinopfau, immer wieder dieser geballten Kraft des Bullen auswich. Fast wie eine Fee tänzelte er leichtfüßig über den unebenen Boden der Arena und verschwand hinter den Sträuchern und Felsen. Wie ein Geist blieb er unsichtbar für den Büffel und schlug immer dann zu, wenn das große Tier ihm den Rücken zuwandte. Frech wie ein Irrlicht wagte sich Lotus auch immer wieder direkt von vorne heran, sprang dann aus dem Gebüsch und hackte auf die Augen ein.
Lee entdeckte unter den Zuschauern, in der ersten Reihe natürlich, auch einige Teilnehmer der WWM. Das australische Team sah von allen anderen Teilnehmern am meisten zu Phung, sie schienen ihre Bewegungen und ihre Taktik studieren zu wollen. Tatsächlich schrieben sie auf einem Notizzettel einige Dinge auf.
Aus der Entfernung konnte Lee allerdings nicht erkennen was sie schrieben.
Ein Chinese, gerade in den Zwanzigern, erweckte mit einem Mal seine gesamte Aufmerksamkeit.
Der Mann hatte das dunkle Haar kurz geschnitten und trug die schwarze Kleidung der Sekte, er war noch nicht aufgestiegen in der Hierarchie der Widergeborenen. Neben ihn saß Caligo, dessen Gesicht wieder mit einer verspiegelten Sonnenbrille und einer Kapuze bedeckt wurde.
Die Anwesenheit des Chinesen, ließ Lees Magen zusammenkrampfen. Wut, Enttäuschung und Angst loderten in den Jungen auf, der von der Welle der Emotionen überwältigt wurde.
Was zur Hölle machte sein Bruder Kentau in der Arena, wollte er etwa wirklich sehen wie Lee sich in den Meisterschaften schlug?
Der Büffel rannte erneut in einen Busch hinein, wild schnaubend schlug er mit seinen Hörnern um sich um den Pfau zu erwischen. Das Einzige was er aber zu fassen bekam, waren die weißen Beeren der Pflanze, die aufplatzen und eine weiße Flüssigkeit absonderten. Die Wolfsmilch tröpfelte in die großen Augen des Tieres.
Ein lautes Brüllen, welches schmerzerfüllt klang, stieß der Büffel aus und taumelte rückwärts aus dem Busch hinaus.
Blinzelnd versuchte der Wegbegleiter etwas zu erkennen, während die Flüssigkeit in seinen Augen brannte und seinen Sehnerv angriff. Auch Johnny verspürte diese Schmerzen und schlug die Hände vor die Augen, bekam allerdings nur den Helm zu fassen.
Phung war eine faire Sportlerin, sie wollte keinen leichten Sieg, weswegen sie wartete und verschnaufte. Ihr Atem ging schnell, keuchend schnappte sie nach Luft und wünschte sich jetzt selbst einen schnellen Sieg herbei.
Johnny und sein Wegbegleiter hoben beide gleichzeitig den Kopf und fixierten sie und Lotus. Ein letztes Aufbäumen ihrer Kräfte brachte den Büffel dazu anzugreifen. Die geröteten Augen waren auf seinen Gegner gerichtete, der völlig regungslos und ohne Furch da stand.
Bleib stehen…!
Etwas in der Chinesin regte sich, sie wusste nicht was es war, aber eine innere Stimme zwang sie stehen zu bleiben und zu vertrauen, so würde sie gewinnen.
Der Boden erzitterte unter dem gewaltigen Gewicht des Wegbegleiters, der auf den weißen Vogel zu galoppierte. Die Muskeln waren zum zerreißen gespannt, einige wenige Striemen zierten seinen massigen Leib, an denen in kleinen Rinnsälen das Blut hinunter floss.
Wenige Meter vor dem Albino scheuchte der Büffel und warf seinen Kopf schnaubend in den Nacken, er stieß einen angsterfüllten Schrei aus. Etwas verwirrte seine Sinne und täuschte seine Augen. Nebel schien den Vogel einzuhüllen und mit seinen tentakelartigen Armen nach ihm zu greifen.
Der Büffel hatte Angst.
Wie Rauch breitete sich der Nebel um den Vogel aus und wirkte wie ein alter Geist, von denen die Schamanen immer wieder erzählten.
In seiner Unachtsamkeit der Furch, war der Büffel vom Weg abgekommen und knallte in seiner Geschwindigkeit mit dem Kopf gegen einen Felsbrocken. Bewusstlos sank der schwere Leib in den grasbedeckten Boden.
Der Kampf war vorbei, das dröhnende Signal ertönte und der Schiedsrichter hob die Fahne von WV China.
Noch immer konnte Phung ihr Glück kaum fassen, dabei hatte sie nichts gemacht. Für sie sah es so aus als hätte der Büffel plötzlich gescheut und wäre aus einen unerklärlichen Grund in den Felsbrocken hinein gekracht. Nur Lotus wirkte nicht verwirrt, der Albino sah sie mit einem sicheren Blick an.
Jetzt war es also für Lee an der Reihe das 2:1 für sie rauszuholen. Noch stand es unentschieden und erst der dritte und letzte Kampf würde die Entscheidung fällen, welches der beiden Teams einen Sieg für sich beanspruchen durfte.
Die Anwesenheit von Kentau verwirrte den jüngeren sehr, seine Konzentration und seine Ruhe litten darunter.
Er nestelte an seinen kurzen Kimono und der Hose herum, während er auf seinen Platz ging. Ying lief völlig ruhig neben ihn her, trotz der Aussicht, dass ihr Gegner die gefürchtete Samira mit ihren Geparden war. Auch sie sah zu den selben Platz hinüber wie Lee, nur dass sie nicht Kentau ansah, sondern seinen Begleiter – Caligo.
„Das hast du sehr schön gemacht meine Liebe, ich bin stolz auf dich. Du hast geschafft das zu wirken, wovon ich gesprochen habe“, verkündete Miako mit hörbarem Stolz in der Stimme, während sie Phung ansah. Doch das Mädchen schien nicht zu wissen wovon die Trainerin sprach, ihr Blick schien nicht mehr als nur große Verwirrung zu zeigen.
„Phung, weißt du etwa nicht mehr wovon ich immer wieder die letzte Zeit gesprochen habe? Lee hat es als Spinnerei abgetan, weißt du es jetzt wieder?“, versuchte die Frau die Erinnerung der Schwarzhaarigen zu wecken und es schien zu klappen. Erstaunt und doch sehr skeptisch sah Phung sie an.
„Du meinst etwa ich…“, begann sie, traute sich aber aus irgendeinem Grund nicht das Wort in den Mund zu nehmen. Es schien ihr suspekt und doch wäre sie auch stolz wenn es denn so wäre.
„Doch, genau DAS hast du!“.
Ungläubig starrte sie ihre Trainerin an und sah zu Lee. Sein Kampf hatte bereits begonnen, ohne dass sie es mitbekommen hatte.
Lee sprang mit einem Satz zurück und ging in die Hocke, mit einer Hand versuchte er halt am unebenen Boden zu finden um das Schlittern zu stoppen. Der Gepard war schnell, noch während Ying zurück rutschte, sprang Samira mit ausgestreckten Armen und Beinen, wie ein Löwe, der auf seine Beute sprang, auf ihn zu und vergrub ihre Finger in den Boden. Der Angriff des Geparden hatte den Tiger nur um eine haaresbreite verfehlt, wäre Lee nicht in letzter Sekunde zur Seite gerollt und aufgesprungen. Mit seiner großen Pranke schlug Ying nach dem Wegbegleiter und kratzte mit den langen Krallen über die Wange des Tieres. Samira wurde der Kopf zur Seite gerissen, doch sie taumelte bei diesem Angriff nur und fing sich recht schnell.
Die Frau war aus einem anderen Holz geschnitzt als die restlichen Teilnehmerinnen, sie konnte unwahrscheinlich viel einstecken, Lee war beeindruckt!
„Du verdammter Chinese, eine Frau schlägt man nicht ins Gesicht“, fauchte sie und holte mit geballter Faust aus und schlug zu. Ying wurde von den Geparden umgeworfen, mit dem leichten Gewicht schaffte der Wegbegleiter es trotzdem den Tiger auf den Boden zu drücken und seine Krallen in den Hals zu drücken.
Lee raubte der Aufprall der Atem, jegliche Luft wurde aus seiner Lunge gedrückt, schmerzend bohrten sich die Krallen in seinen Hals.
Durch den Helm und der Sichtweise seines Wegbegleiters erblickte er Kentau. Selbst aus der Entfernung sah er, wie sein Bruder missmutig und von oben herab auf ihn sah, er wartete nur auf sein Versagen.
Wütend über sein eigenes Blut bäumte sich der Chinese auf und trat mit dem Fuß nach oben, die Hinterpfoten des Tigers trafen in die Bauchhöhle und stießen den Geparden zurück. Ein wenig schwerfällig erhob sich der Tiger, Lee kämpfte unterdessen nach Atem und gegen das Schwindelgefühl an. Kleine Funken tanzten vor seinen Augen und schienen sich über ihn lustig zu machen.
Genau wie Kentau!
Sein Bruder war auch nur gekommen um seine Niederlage zu erleben, mehr nicht. Er wollte ihm vorwerfen, dass sein jüngerer Bruder nur eine Last war und das gesparte Geld seiner Eltern verschwendete, dass nur er, Kentau, den richtigen Weg ging, indem er dieser Sekte diente.
Aber das war falsch, Lee wusste es.
Wieder griff der Gepard an, schlug hacken wie ein Hase und setzte zum Sprung an. Die Klauen und auch die scharfen Zähne bohrten sich in den Leib des Tigers, durchstachen seine Haut und stießen ins Fleisch hinein. Ying bäumte sich auf und versuchte den Gegner von sich zu werfen, dabei zerrte er die Wunden, die die Krallen und Zähne verursacht hatten, nur noch größer. Das warme Blut rann über das weiße Fell und beschmutzte dieses, auch Lee erlitt diese Verletzungen und spürte das Blut an seiner nackten Haut.
Diese Freude würde er Kentau nicht gönnen, er sollte nicht die Genugtuung haben seinen kleinen Bruder beim verlieren zu zusehen. Lee war stark, er hatte sich wohl überlegt wie er der Familie helfen könnte. Auch wenn er alles auf eine Karte gesetzt hatte, dies war der richtige Weg. Seine Mutter sollten nicht mehr diese unwürdige Arbeit verrichten, sein Vater endlich eine richtige Behandlung gegen sein chronisches Leiden und seine kleine Schwester sollte die Chance erhalten eine richtige Schulbildung zu erhalten.
Nur dafür kämpfte er.
Nicht für den Sieg der Mannschaft, nicht für Miako und auch nicht für den Rum, sondern für seine Familie.
Ying sprang auf die Hinterbeine und warf sich auf den Rücken. Der Gepard, Samira und Lee schrieen auf, nur Ying blieb ruhig, obwohl sich die Klauen des Geparden noch tiefer in seinem Leib bohrten. Das Gewicht des Tigers erdrückte den leichteren Wegbegleiter und zwang ihn so die Krallen zurück zu ziehen um sich zu befreien.
Obwohl dieser Angriff einiges an Überwindung und Schmerzen gekostet hatte, war er gut.
Gnadenlos schlug Ying nach seinen Gegner, versetzte ihn einen Schlag nach den anderen und biss immer wieder zu. Lee zeigte all das, was er von seiner Trainerin gelernt hatte. Gegen diese unaufhörliche Reihenfolge von Angriffen wie Tritte, Schläge und Kontern, ließ er Samira keine Möglichkeit zum Angriff, ihr blieb nichts anderes übrig als in die Defensive zu wechseln.
Die Afrikanerin hob schützend ihre Arme vor sich und rannte weg, sie wollte ausweichen um erneut angreifen zu können, doch setzte Lee ihr nach und verfolgte seine Beute wie ein Raubtier.
Erinnerungen und Bilder übermannten sein inneres Auge und gaukelten ihm vor, wie er verlieren würde. Bilder einer Zukunft, die so sein könnte, es aber nicht sein muss. Anders als bei Johnny, verspürte Lee keine Furcht vor dem Unbekannten, sondern die Angst vor dem Versagen, der Schmerz der letzten Jahre und das Verzweifeln seiner Lage. Gefühle, die der Chinese schon längst verdrängt hatte, kamen nun wieder hoch. Wie ein unsichtbarer Gegner griffen sie seinen Verstand an und zwangen ihn psychisch auf den Boden.
Als er noch kleiner war, schien alles noch in Ordnung zu sein, sie hatten zwar kaum Geld und ihre Hütte war nicht die Beste, aber zu dem Zeitpunkt war sein Bruder noch da und er war glücklich. Kentau war für ihn ein Vorbild, bis zu jenem Tag, an dem er den Streit seiner Eltern mit ihrem Erstgeborenen mitbekommen hatte. All die Anschuldigen, die Verleugnungen und bösen Worte hallten noch immer in Lee Gedächtnis wieder, als wären sie erst gestern ausgesprochen worden. Es war die Art von Worten, die man nicht vergessen konnte und es bedarf sehr viel Nächstenliebe um so etwas überhaupt verzeihen zu können.
„Lee!“. Der Schrei seiner Freundin riss den jungen Chinesen wieder in die Gegenwart zurück. Er hatte sich täuschen lassen von der Vergangenheit und den Bildern in seinen Kopf. Der kurze Einblick in seiner Zukunft, die ihm gezeigt wurde, dass er versagen würde, durfte nicht wahr werden und dafür würde er sorgen und zwar jetzt!
Die unbändige Wut in ihn loderte auf, fraß wie ein ungeheures Monster die negativen Gefühle wie Verzweiflung auf und ließ keine andere Emotion außer der unendlichen Wut zu. Der Chinese ballte seine Hände zu Fäusten und spürte wie sich die Nackenhärchen aufrichteten, eine innere Spannung baute sich in ihn auf und drohte wie ein Gewitter in ihn zu werden.
Samira bekam einen elektrischen Schlag ab als sie nach ihrem Gegner schlug. Vor Schmerz zog sie ihre Hand rasch zurück und schüttelte diese wie ein verletztes Tier.
Kleine, bläuliche Blitze sprangen über Lees Finger und entluden ihre elektrische Spannung, fieberhaft suchten sie nach einem geeigneten Leiter um sich vollkommen entladen zu können.
Zum ersten Mal wich Kentaus verachtender Blick der Überraschung, die ihm sein Bruder da bot.
Aus einer Drehung heraus holte der junge Chinese Schwung und schlug mit der angespannten Handfläche frontal auf den Brustknochen der Frau. Samira konnte sich zwar halten, aber ihr Herz krampfte sich zusammen und setzte für einen Moment aus. Ein Knistern, welches selbst die Zuschauer spürten und welches für gewöhnlich nur bei starken Gewittern zu spüren war, lag in der Luft, elektrische Funken sprangen von Lee auf Samira über und ließen sie zusammensacken.
Überrascht und vor Schmerzen, schrie der Chinese auf und zog seine Hand wieder zurück. Als er seine Handfläche betrachtete sah er, wie der Handschuh nur an der Innenfläche verbrannt war, so groß war die Spannung.
Ungläubig hob er seinen Blick und sah zu Kentau.
Sein Bruder war weg.
Doch in diesem Moment war es Lee egal, seine Kräfte schwanden, diese gewaltige Energie und die innere Spannung waren mit einem Mal weg. Die Schmerzen der Verletzungen und die Erschöpfung griffen auf ihn über.
Dem Jungen wurde schwarz vor Augen.
Noch bevor er auf den Boden aufschlug und sein Team entsetzt von der Bank aufsprang, ertönte das dröhnende Signal, die Flagge der chinesischen Mannschaft wurde gehoben, WV China hatte gewonnen.