Was genau den Jungen dazu brachte den Worten des Wächters und somit auch Miako Glauben zu schenken, wusste er nicht. Vielleicht war es der peinliche Zusammenbruch vor einen Fremden der ihn zu kennen schien, aber vielleicht war es auch die Verletzung am Kopf.
Egal was es war, Lee hatte sich den Trainingsanzug seines Teams angezogen und war aus dem Krankenflügel des WWM Stadiums geschlichen.
Und das nur um Aven, der in dem Turnier einer seiner Feinde war, aufzusuchen.
Wo sein Wegbegleiter war, das wusste der Chinese sich, aber er selbst lebte und somit konnte es Ying nicht schlechter gehen als ihn. Auch wenn sie sich überhaupt nicht mochten, so waren sie als Mensch und Wegbegleiter mit einem gemeinsamen Band verbunden, der sich erst im Tode auflösen würde. Diese Verbindung ließ körperliche, sowie seelische Schmerzen des einen auch sofort die Schmerzen des anderen werden. Vielleicht mochte Ying ihm deswegen nicht so gerne, weil Lee einfach viel zu oft mit seinen Probleme zu kämpfen hatte und Kentau nicht.
Sein großer Bruder war ja schon immer der Starke gewesen, der alles besser konnte und ein Ziel vor Augen sah.
So zumindest hatte der Chinese seinen Bruder als kleines Kind immer gesehen. Kentau war ja immer so erwachsen und wusste was gemacht werden sollte, er selbst dagegen war nur ein Träumer, ein Verlierer, der stetig auf die Nase viel und sowieso erst alles sehr viel später erlernt hatte als normale Kinder.
Allerdings konnte der große Bruder doch gar nicht so intelligent sein, in seinem tiefsten Inneren musste er sehr verzweifelt und ängstlich sein, wenn er sein Leben dem Anführer einer Sekte verschrieb und sich deren Willen aufzwingen ließe.
„Lee! Warum zur Hölle noch mal hast du dich aus den Krankenzimmer geschlichen, hast du eigentlich eine Ahnung was Miako und ich uns für Sorgen gemacht haben?“, hörte der Schwarzhaarige die tadelnde Stimme seiner Teamkameradin direkt hinter sich. Er wünschte sich, nur ein einziges Mal seine Ruhe zu haben, warum meinte eigentlich jeder ihn bevormunden zu müssen?
Er war vielleicht arm und besaß nicht viel, aber er war keineswegs dumm und unselbstständig.
„Weil ich das Team WV Amerika suche“, war die einzige Antwort des Jungen, der nur widerstrebend stehen geblieben war und sich zu seiner Freundin umgedreht hatte. Sofort zog er die Augenbrauen in die Höhe, als er in der Hand des Mädchens ihr Handy erblickte. Warum suchte sie ihn eigentlich, wenn sie sowieso schon besseres vor hatte? Sollte sie doch weiter mit dem Deutschen telefonieren, ihm war es inzwischen völlig egal.
„Du solltest diesen Phillip oder wie der auch heißt nicht länger warten lassen, sicherlich vermisst er dich schon und die ihn offensichtlich auch, wenn du schon dein Handy in der Hand hast und eigentlich mich dabei gesucht hast“. Die Worte des Schwarzhaarigen klangen nicht so gleichgültig wie er es sich selbst gewünscht hatte und auch wenn er sich immer versuchte einzureden, dass es ihm egal wäre, so war es ihm keinesfalls egal.
„Ja, ich habe gerade mit Phillip gesprochen, du warst ja schließlich nicht da und da habe ich mir Sorgen gemacht, er sich übrigens auch“.
„Oh nein wie gnädig, er macht sich Sorgen“, spottete Lee, spürte sogleich aber auch einen Stich in seinem Herzen.
„Lee jetzt hör endlich auf mit dem Mist, du kannst nicht auf jeden meiner Freunde eifersüchtig sein. Du bleibst mein bester Freund, aber es gibt auch noch andere nette Menschen, auch wenn du es nicht wahrhaben willst, du bist einfach…“.
Oh ja, das stimmte, er war auf jeden von Phungs Freunde eifersüchtig, auch wenn es nur flüchtige Bekanntschaften waren mit denen sie sich einige Male traf und danach nicht mehr.
Die restlichen Worte der Schwarzhaarigen bekam er nicht mit, er sah nur wie sich ihr Mund noch weiter bewegte, wie sich die fein geschwungenen Augenbrauen ärgerlich zusammen zogen und wie sie mit ihren Armen und Händen wild gestikulierte. Sie war sauer, Phung war aber allgemein schnell auf 180 und regte sich auf.
Eigentlich konnte er sich doch noch glücklich schätzen, dass sie in ihrem Alter noch keinen festen Freund hatte, eigentlich, so meinte er, hatte sich Phung noch nie verliebt. Sie war zwar ein offenherziges Wesen, so voller Lebensfreude und Tatendrang, aber verliebt hatte sie sich noch nie. Klar, durch ihre offene Art, dass sie einen gern umarmte, an der Hand mit sich zog, an ihn lehnte und die ganzen anderen kleinen und freundschaftlichen Berührungen gab es viele die das als ein Zeichen deutete, aber sie wies jeden Verehrer ab. Und dabei war sie ein wirklich schönes Mädchen. Die geschmeidigen Bewegungen, ihre vornehme, blasse Haut, die dunklen Augen, das kinnlange schwarze Haar, die exotischen Gesichtszüge, die an eine Katze erinnerten, all das verleitete andere Jungen und Männer sie zu begehren.
Es war vielleicht ihre Lebensrichtung und wie extravagant sie sich kleidete, denn Phung war ein bekennender Punk, dass sich viele Männer nicht trauten sie anzusprechen.
„Sah mal hörst du mir überhaupt zu?“, fuhr sie Lee mit saurer Stimme an und schreckte den Schwarzhaarigen aus seiner gedanklichen Schwärmerei.
Er war eifersüchtig, ganz klar, er fürchtete sich davor, dass Phung Freunde finden würde, mit denen sie sich besser verstand als mit ihm, auch wenn sie immer zu Lee hielt und ihn von allen am meisten mochte. Aber die Angst, sie zu verlieren, war in ihm einfach zu groß, er konnte dagegen nichts machen, er fürchtete sich auch davor, dass sie irgendwann an einen Jungen geraten würde, der sie nur ausnutzt um seine Liste an Frauen, die er rumgekriegt hat, zu erweitern.
„J… ja, ich höre dir wohl noch zu“, stotterte Lee und sah seiner Freundin dabei aber nicht in die Augen, sondern wandte seinen Blick ab. Er war ein schlechter Lügner, man sah es ihm immer an wenn er nicht die Wahrheit sagte.
„Was geht hier eigentlich vor?“, fragte Miako, der der wütende Ton von Phung nicht entgangen war, doch vorher hielt sie Lee, wie ihr Schützling zuvor, eine Strafpredigt:„ Sag Mal Lee, was fällt dir eigentlich ein das Zimmer zu verlassen ohne jemanden Bescheid zu sagen. Du weißt doch gar nicht wie schwer du verletzt bist und ob du überhaupt schon aufstehen durftest. Noch bist du nicht volljährig, du musst dich also an die Anweisungen des Arztes halten. Aber nun gut, jetzt sagt erst Mal was hier los ist!“.
„Ich suche WV Amerika“, antwortete der Angesprochene, ohne auf die Predigt seiner Trainerin einzugehen.
„WV Amerika?“.
„Ja, das habe ich doch gerade gesagt“, antwortete Lee, der inzwischen ärgerlich wurde, weil er endlich wissen wollte, wo er sie fand.
„Ach natürlich, das kannst du ja gar nicht mitbekommen haben. Das Team aus Amerika ist weg. Der Trainer hatte gestern bekannt gegeben, dass sie für die Zeit, in der sie keine Kämpfe mehr führen müssen, in ein Trainingslager ziehen. Wo es ist hat er nicht gesagt, es gibt allein in Amerika sehr viele, die meisten befinden sich auch irgendwo in der Wildnis. Es muss wirklich große Probleme mit den Team geben, wenn er mitten in dem Turnier, in ein Trainingslager geht“.
Fassungslos und mit offen stehendem Mund sah Lee seine Trainerin an, nachdem er den Worten gelauscht hatte.
„Sag Mal“, begann die Trainerin und sah ihren Schützling dabei misstrauisch an. „Warum suchst du dieses Team eigentlich? Was willst du von WV Amerika?“.
Schweigen war die einzige Reaktion von Lee, die er auf diese Frage brachte. Lanson hatte nicht gesagt ob er es geheim halten sollte, dass der Wächter ihn aufgesucht hatte. Zwar erwähnte der Mann, dass er bereits auch schon Miako aufgesucht hatte um mit ihr zu sprechen und die zwei schienen sich zu kennen, soweit das bei diesen seltsamen Wesen möglich war, doch was wenn sie davon nichts wissen sollte?
„Lee?“, fragte Miako nach, die mit jeder Sekunde des Schweigens unruhiger wurde.
Na schön, der Mann war nicht dumm, sicherlich hätte er gesagt, wenn es niemand anderer wissen durfte, weswegen er zu WV Amerika sollte um Aven zu finden. Schließlich hatte er ihn doch auch schon vor der Sonne gewarnt, auch wenn dem Schwarzhaarigen immer noch schleierhaft war, weswegen ausgerechnet er sich vor der Sonne in Acht nehmen sollte.
„Ich suche WV Amerika, weil ich Aven finden soll, so zumindest hatte der Wächter Lanson es mir aufgetragen“.
Die Besorgnis sank mit dieser Antwort kein bisschen, im Gegenteil, Miako war beunruhigter als zuvor, dies zu hören.
„Aber… warum denn jetzt schon?“, flüsterte die besorgte Trainerin viel mehr zu sich selbst als zu ihrem Schützling.- Nie im Leben hätte die Frau gedacht, dass es für den Jungen schon so früh an der Zeit sein wird das Schicksal, welches ihm aufgetragen wurde, anzunehmen. Er hatte doch gerade erst entdeckt, was er mit seiner Magie bewirken konnte, es lagen noch so viele Lektionen vor ihm, die er lernen musste, bevor er seiner Aufgabe gerecht werden konnte. Wie konnte der Wächter nur jetzt schon kommen und ihn aufsuchen?
Hatte sie etwa die ganzen Zeichen blind übersehen, hatte sie Lee viel zu zart im Training angefasst, müsste er vielleicht schon auf einen viel weiteren Level sein?
„WV Amerika wird bald zurück kommen, sie dürften nicht lange dort verweilen, vielleicht zwei Wochen, ich weiß es nicht genau“, wie in Trance sprach die Japanerin monoton jedes einzelne Wort.
Niedergeschlagen von der Nachricht ließ Lee seinen Kopf hängen. Zwei Wochen also durfte er warten, bis er das Gespräch mit Aven führen konnte. Ob der Amerikaner denn schon wusste, dass er bald Besuch von einen seiner Feinde bekommen würde? Zumindest Feinde während des Turniers.
Der Junge ließ sein Team im Gang des Stadiums stehen, sollten sie doch bleiben wo sie waren, Mitleidige Blicke waren das Letzte, was er je gebrauchen würde. Warum konnten sie nicht auch aufhören ihn so anzusehen, welchen Grund gab es denn jetzt schon wieder mit ihm Mitleid zu haben?
’Ich werde einer der Letzten sein, der um dich weint’
Lansons Worte von vorhin durchzuckten seine trüben Gedanken so plötzlich wie ein Blitz am Himmel.
Rasch hob der Schwarzhaarige seinen Kopf und blickte zu dem klaren blauen Himmel, der sich über New York spannte. Ein warmer Wind zerzauste seine Haare und spielte mit den kurzen Strähnen, die in sein Gesicht fielen.
Es war Ende Mai und so warm, als wäre der Sommer bereits ausgebrochen. Es war ungewöhnlich für die Jahreszeit, doch keinesfalls unangenehm. Im Gegenteil, der kurzärmlige Trainingsanzug, der wie ein typisch chinesischer Anzug geschnitten war, passte hervorragend zu den Temperaturen.
Viele der Zuschauer hatten sich auf den großen Platz vor dem Stadium versammelt und gingen mit ihren Liebsten spazieren, unternahmen was mit der Familie oder trafen sich in Fangemeinden um über die nächsten Kämpfe zu sprechen und Wetten abzuschließen.
Lee traute sich in die Menge und tauchte perfekt ohne Ying und den viel beschäftigten Zuschauern, die sowohl aus Menschen und Wegbegleiterin bestanden, unter. Er erreichte einen großen Brunnen mitten auf dem Platz, deren weiße Steine das Sonnenlicht reflektierten. Das Wasser sprudelte aus den Öffnungen der Statuen heraus und fiel glitzernd wie flüssige Diamanten in das große Becken.
Der Schwarzhaarige setzte sich auf den breiten Rand des Brunnen und betrachtete die Skulpturen.
Es waren vor allem Meerestiere, die dort abgebildet waren.
Auf einer großen steinernen Welle erhoben sie sich und bäumten sich auf, als wollten sie jede Sekunde sich aus dem harten Material befreien und als echte Wesen in das Wasser hinab tauchen.
Der Bildhauer hatte nicht nur hervorragende Arbeit geleistet was die Skulpturen anging, er hatte auch eine große Fantasie. Keines der Meerestiere, wie sie dort abgebildet waren, existierte so, zumindest war keines dieser Wesen bekannt. Es waren seltsame Schlangen, die Flossen besaßen, Wale mit langen Hälsen, Fische, die lange Flüssen und säugetierähnliche Köpfe, Haie mit Flügeln und Menschen, dessen Unterkörper der eines Fisches ähnelte.
„Es ist kein Wunder, dass die WWM so eine Faszination auf die Menschen ausübt, wenn man sie in den Glauben lässt, dass es solche Wesen wirklich gibt“, sagte der Chinese zu sich selbst und schmunzelte seinen Spiegelbild im Wasser zu.
Er wollte gerade aufstehen, als eine weitere, große Skulptur auf den Platz, seine Aufmerksamkeit erregte.
Lee erschrak als er in das Antlitz eines Fabelwesens blickte, dessen Ohren länger waren als es bei Menschen üblich war. Außerdem waren die Eckzähne länger und auch die Gesichtszüge waren mehr der einer Katze ähnlich als einen Menschen. Aus seinem Hinterteil wuchs eine Rute wie sein Wegbegleiter neben ihn die hatte und auch seine Hände und Füße waren mehr tigerähnliche Klauen als das, was sie eigentlich sein müssten.
Auch wenn die Skulptur ein wenig übertrieben war, um den offensichtlichen Unterschied zwischen einen normalen und einen unnormalen Menschen darzustellen, so erkannte Lee wichtige Merkmale mit sich, die übereinstimmten.
Nahm man die übertrieben Andeutungen der Klauen und die Rute weg, so hatte man auf den ersten Blick einen völlig normalen Menschen, doch wenige, die ein bestimmtes Wissen besaßen, erkannten darin trotzdem noch das Fabelwesen.
Lee aber erkannte darin noch viel mehr, er erkannte sich selbst, sich und Ying.