Altes Leid
15. Sanji Altes Leid
Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten soll. Auf der einen Seite möchte ich helfen, auf der anderen aber nichts falsches tun. Mein Bruder ist kein einfacher Mensch, kein leicht zufriedenzustellender Charakter. Ihm gar eine Freude zu bereiten erscheint mir manchmal unmöglich. Materieller Besitz ist in seinen Augen unnötig und Geburtstage eine mehrstellige Zahl im Kalender des Lebens.
Aber er ist und bleibt nun mal mein Bruder, weshalb ich es noch immer nicht aufgegeben habe mich um ihn zu bemühen. Na ja, mit Alkohol kann man ihn oft gnädig stimmen, aber ich wage zu bezweifeln, dass ein gehaltvolles Getränk in diesem Moment dienlich wäre.
Ein weiterer Mord ist geschehen und katapultierte Zorro an einen Ort in seinen Erinnerungen, den er sicherlich nie vergessen wird. Man sagt, die Zeit heilt alle Wunden, doch ich weiß, dass diesbezüglich für meinen Bruder noch nicht genug Zeit vergangen ist. Wir waren zwar noch Kinder, aber zu diesem Zeitpunkt war unsere Kindheit bereits vorbei.
Als die einzigen beiden Chimären, die dieses Experiment überlebten, lag es an uns den eigentlichen Plan unserer Schöpfer zu verwirklichen. Sie bildeten uns zu Kämpfern aus, denn wir sollten auf alle Eventualitäten vorbereitet sein, hieß es. Was auch immer das bedeuten mochte, denn soweit kam es zum Glück nie, denn Ruffy befreite uns aus dieser Hölle. Doch so dankbar ich ihm dafür auch bin, manchmal wünschte ich, er wäre ein paar Tage eher gekommen.
Zorro liebte den Kampf mit dem Schwert und zeigte unglaubliches Interesse an jeder Facette dieser Kampfkunst. Er bekam sogar Einzelunterricht, denn sein kämpferisches Talent sollte gefördert werden. Es dauerte auch nicht lange und er bezwang seinen Meister mit einer Leichtigkeit, die mich gleichermaßen erschreckte wie freute. Nur an dessen Tochter biss er sich die Zähne aus.
Aber obwohl die Niederlage ihn jedes Mal wurmte, an aufgeben war für ihn nicht zu denken. Zudem probierten die beiden immer neue Techniken aus, animierten sich gegenseitig und spornten sich zu neuen Höchstleistungen an. Und auch wenn wir noch jung waren, so hatte ich damals dennoch den Eindruck, dass mein Bruder ein wenig verschossen war in dieses Mädchen. Leider, muss man fast sagen, denn wäre dem nicht so gewesen, wäre meinem Bruder sicherlich eine weitere schreckliche Erinnerung erspart geblieben.
„Gefühle stehen einem guten Kämpfer nur im Weg.“
Diese Worte hallen noch immer in meinem Kopf, ebenso der Schuss, der ihr junges, unschuldiges Leben auslöschte.
Zorro war ihr in einem Kampf, mal wieder, unterlegen gewesen, was ihn unheimlich wütend auf sich selbst werden ließ, aber in seinen Augen konnte ich den Ehrgeiz erkennen, der mich wissen ließ, dass er niemals aufgeben würde, nicht bevor er sie nicht besiegt hätte. Doch an diesem Tag endete die Freundschaft dieser ewigen Kontrahenten auf tragische Weise. Und wie die Kugel Kuina’s Herz durchbohrte, hörte Zorro’s auf zu schlagen.
Ich glaube, es war auch dieses einschneidende Erlebnis, dass ihn seinen Respekt vor den Frauen verlieren ließ, denn es war die Wissenschaftlerin, die Kuina tötete und meinen Bruder dadurch bewusst werden ließ, dass Frauen keinen Deut besser sind als Männer und auch nicht mehr Skrupel besitzen als diese.
Doch heute Abend hat Zorro es wieder gespürt, das Schlagen seines Herzens.
Die Angst um eine geliebte Person, dass er wieder verdammt war dabei zuzusehen wie ein unschuldiges Leben vor seinen Augen ausgelöscht wird.
Doch inzwischen ist viel Zeit vergangen. Aus dem kleinen Jungen der er war, ist ein erwachsener Mann geworden und ein starker Kämpfer dazu. Für ihn dürfte der Eindringling kein allzu schwieriger Gegner gewesen sein, aber ich könnte mir vorstellen, dass ihn die Gesamtsituation auf eine harte Probe stellt.
Schon seit einiger Zeit beobachte ich mit wachsendem Interesse Robin und Zorro, wie viel Zuneigung sie inzwischen für einander entwickelt haben und auf welche Art und Weise sie diese auch zeigen.
Zwar weiß auch ich, dass Robin’s Zuneigung der tierischen Seite meines Bruders gilt, aber selbst für diese hat auf all unseren Reisen kaum jemand etwas übrig gehabt. Ein schwarzer, widerspenstiger Kater lässt eben selten Menschenherzen höher schlagen, zumal Zorro sich noch nie die Mühe gemacht hat irgendjemandem gefallen zu wollen. Ihm reichte stets ein ruhiger, trockener Schlafplatz, Streicheleinheiten waren etwas für Schwächlinge.
Und auch Robin, die anfänglich überhaupt nicht von der Idee begeistert schien plötzlich ein Haustier zu haben, hat ihn tief in ihr Herz geschlossen. Es vergeht inzwischen wohl keine Nacht mehr, in der die beiden nicht zusammen in Robin’s Bett liegen, eng aneinander gekuschelt, und friedlich schlafen. Selbst wenn Zorro und ich auf Streifzug gehen, das Fenster zu ihrem Zimmer ist immer einen Spalt breit für ihn geöffnet.
Doch heute Nacht konnte Robin von Glück reden, dass ihr kleiner Gefährte eben doch mehr ist als ein harmloser Straßenkater. Wüsste sie über sein wahres Ich Bescheid, nun ich wage zu bezweifeln, dass er dann noch eine Nacht bei ihr verbringen dürfte.
Wortlos trete ich meinem Bruder gegenüber, der noch immer damit beschäftigt ist die Spuren dieser Bluttat zu entfernen. Robin’s Bett, ein einfaches Drahtgestell mit Matratze, hat er zur Seite geschoben um den halb darunterliegenden Teppich zusammenrollen zu können, die Leiche des Eindringlings darin verborgen. Eifrig ist er in seine Arbeit vertieft und die Verbissenheit, die ich dabei in seinem Gesicht erkennen kann, bestätigt nur wieder meinen Verdacht, dass er stärker emotional betroffen ist, als er zuzugeben bereit ist.
In so einem Fall darf man sich auf keinerlei Diskussionen mit ihm einlassen, ihm gar die Möglichkeit bieten, sich aus der Affäre zu ziehen. Hat er sich erst einmal in sein Schneckenhaus verkrochen, kann es mitunter sehr lange dauern, bis er daraus wieder hervorkommt.
Wortlos buckle ich mir das Teppichpaket auf den Rücken, kämpfe dabei ein wenig mit dem Gleichgewicht, ist es doch alles andere als leicht mit dieser Last beladen meinen Bruder mit einem Bein in Schach zu halten. Aber was tut man nicht alles für diesen störrischen Esel? Ich bin eben einfach zu gutmütig.
„Was soll der Scheiß, Sanji?“ knurrt er und in seinen Augen kann ich seinen Unmut darüber erkennen, dass ich ihn nicht einfach weiter vor sich hin habe werkeln lassen. Aber dafür habe ich kein Verständnis und das zeige ich ihm auch deutlich.
„Ich entsorge bloß die Leiche.“
„Seit wann brauche ich dafür deine Hilfe? Ich hab dich nicht darum gebeten!“ wettert er los, doch ich lasse mich nicht unterkriegen.
„Unterwegs habe ich einen netten Kanalschacht gefunden der gerade zugeschüttet wird, dort werde ich den Kerl hinbringen.“
„Das kann ich selbst!“
„Als ob du ohne Navigationsgerät den Weg dorthin finden würdest!“ Selbst mit hätte ich so meine Bedenken. „Außerdem sollte einer bei Robin bleiben und da sie mich nicht kennt, wird dir diese ehrenvolle Aufgabe zu Teil werden.“
Ich grinse zufrieden und wende mich zum Gehen. Es wird nicht einfach werden mit der Teppichrolle auf dem Rücken unbemerkt durch dieses Viertel zu laufen, aber heute Nacht hat wohl jeder sein Päckchen zu tragen.