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Honey - The Summers Story

Ein Hauch von Freiheit
von

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Honey - The Summers Story

The Summers Story.

Große Träume und was daraus wurde.

Oder: Ein Hauch von Freiheit.
 

September 2060, Seattle, ein Privatkrankenhaus.
 

Honey stand am Fenster, blickte hinaus auf die Lichter des Sprawls unter ihr. Sie hatte keine Ahnung, wo sie hier genau war. Und selbst wenn sie es gewusst hätte, es hätte wahrscheinlich keinen Unterschied gemacht. Mister Ellis und Mister Cassady verstanden ihren Job. Wahrscheinlich führte keine Spur von diesem Krankenhaus zu ihnen, oder zu der Organisation, die sie repräsentierten.

Sie hatte keine Ahnung, auf was sie sich da eingelassen hatte, aber sie wusste, dass sie so leicht nicht mehr herauskommen würde. Und erneut fragte sie sich: Wie hatte es soweit kommen können?
 

Angefangen hatte alles im Jahre 2040, im Megasprawl Marseille-Toulon. Dort war sie zur Welt gekommen, als das dritte von vier Kindern. Felicitas Summers – so hatte sie geheißen. Oh, wie sie in den ersten Jahren bewundert worden war: Eine Elfe. Schlank, grazil, anmutig, geschickt. Sie war der Star im Kindergarten gewesen, in ihrer Gymnastikgruppe, und anfangs auch zuhause. Sie konnte sich noch gut an die neidischen Blicke ihrer beiden älteren Brüder erinnern. Sie war die Lieblingstochter, das Nesthäkchen, der Star der Familie. Und dann kam Carrie, ihre jüngere Schwester. Sie war ein gewöhnlicher Mensch, ein Homo Sapiens Sapiens, wie man heute dazu sagte. Und sie war genauso süß und hübsch wie ihre älter Schwester, und genauso klug, und plötzlich stand sie im Mittelpunkt und Honey musste genauso um die Aufmerksamkeit ihrer Mutter kämpfen wie zuvor ihre beiden Brüder. Bei ihrem Vater war das anders. Sie war nach wie vor sein ein und alles. Sie war sein Liebling, sein Favorit.

Irgendwann erfuhr sie auch warum. Sie lag mal wieder wach, konnte wie so oft nicht einschlafen, und hörte etwas, das sie nie wieder vergessen würde:

"Du liebst Carrie nicht!", hatte ihre Mutter ihm wütend vorgeworfen. "Sie hatte heute ihr großes Turnier, und du bist nicht einmal aufgetaucht, obwohl du deinen freien Tag hattest!"

"Und warum sollte ich sie lieben?", hatte ihr Vater gereizt zurückgeworfen. "Sie ist doch nicht mal von mir!"

Darauf hatte ihre Mutter nicht mehr erwidert. Das einzige das Honey in dieser Nacht noch hörte war die Schlafzimmertüre, und dann die Türe des Gästezimmers, und dann – ganz leise – das Schluchzen ihrer Mutter aus dem Schlafzimmer nebenan.

Das war eine der wenigen Erinnerungen, die Honey an ihren Vater hatte. Er nahm sich immer so viel Zeit für sie wie er nur konnte, aber das war nie viel. Er arbeitete bei einem Megakonzern. Mit anderen Worten: Er verkaufte seine Seele für ein gesichertes Einkommen, eine Konzernwohnung und die Möglichkeit, seinen Kindern mal eine bessere Zukunft bieten zu können. Zwei freie Tage im Monat, mehr hatte er nicht. Und die Abende natürlich, aber meistens kam er sowieso erst gegen Mitternacht nach Hause, und musste am nächsten Tag um sechs schon wieder raus. Und dann, nach diesem einen Streit, hörte er irgendwann auf abends nach Hause zu kommen. Honey bekam davon zuerst gar nichts mit. Es war ein schleichender Prozess. Irgendwann wurde ihr einfach klar, dass ihr Vater nicht mehr da war. Ihre Mutter blockte alle Fragen zu dem Thema ab. Honey hatte bis heute nicht begriffen, was damals im Kopf ihrer Mutter vor sich ging. Es war als ob sie glaubte die Realität ändern zu können, indem sie sie einfach nicht akzeptiert. Und so verschwand der wichtigste Mensch den sie je gehabt hatte praktisch übernacht aus Honeys Leben. Sie war damals dreizehn.

Irgendwann zog die ganze Familie dann in ein kleines Drecksloch irgendwo in den Slums. Honeys Mutter kümmerte sich mittlerweile um gar nichts mehr. Sie rauchte nur noch, die ganze Zeit, bestimmt vier Schachteln am Tag, und nachts konnte man sie oft schluchzen hören. Honey und die anderen mussten natürlich auch die Schule wechseln. Aus der behüteten Welt der Konzern-Primatura kam sie unvorbereitet an das Institute Decentrale, einer schmutzigen und verwahrlosten Getto High School. Hier lernte sie auch erstmals was es wirklich bedeutete, Homo Sapiens Mutens zu sein. "Dreckiger Meta", wurde sie beschimpft, und: "Langohriger Mutant". Woher hätte sie mit vierzehn auch wissen sollen, dass die bessere Gesellschaft Frankreichs sich gerade mitten in der Elfonese befangen, einer Phase in der Elfen romantisch verklärt und zum Ideal erklärt wurden. Sie hatte sich in den letzten Jahren intensiv mit dem Thema beschäftigt, und verstand jetzt auch, wie es zu dieser Bewegung gekommen war, und dass die Aufmerksamkeit, die sie in ihrer Kindheit geschenkt bekommen hatte einzig und alleine darauf zurückging. Aber damals, mit dem Eintritt ans Institute Decentrale begann die zweite Phase ihres Lebens. Und es war keine angenehme Phase. Ihr Vater war spurlos verschwunden, ihre Mutter hatte sie schon lange aufgegebene, und ihre alten Freunde waren alle unerreichbar hinter den Mauern des Konzerngeländes am anderen Ende der Stadt. Stattdessen sah sie sich wilden Rüpeln gegenüber, denen es Freude machte, die Neue zu piesacken. Sie war das perfekte Opfer: Zart, verletzlich, schwach, schüchtern. Und so begann sie nach einer Weile, sich ganz bewusst zu ändern. Sie wurde tough, hart, abgebrüht. Sie fing mit Kampfsport an, begann in Lederjacke und Nieten rumzulaufen. Sie begann Bands wie Wacked War und Ceylon Days zu hören, und ohne es richtig mitzubekommen fand sie plötzlich wieder Freunde. Sie nannten sich Liberte Neon, verstanden sich als die Kinder der Punkbewegung, die sich ihrerseits wiederum auf die französische Revolution berief, und die nach den Krawallen von 2005 und 2006 erst richtig an Bedeutung gewann.

Und plötzlich war sie wieder da, die Bewunderung, die man ihr schon immer entgegengebracht hatte. Nachdem sie einmal ihren Platz am Institute Decentrale gefunden hatte wurde sie plötzlich wieder bewundert. Nicht von den Rechten, und den Faschos und den Haarknoten, aber von den Anderen aus ihrer Subkultur. Eine zurückhaltende, wehleidige Konzernelfe, das konnte hier keiner abhaben, aber eine toughe Biker-Elfe, mit Lederjacke, Piercings und langen, gefärbten Haaren – das kam an!

Und dann war es eines Tages einfach vorbei. Sie schrieb ihre letzten Prüfungen, kam widerwillig nochmal zur Abschlussfeier, feierte den Abend darauf mit allen ihren Freundinnen auf dem Duran Retro Konzert durch – und dann war es einfach vorbei. Die Anderen fingen an zu arbeiten, andere gingen ganz weg, und man verlor sich einfach aus den Augen. Und eines Abends, als Honey alleine auf ihrer Yamaha den Strand abfuhr wurde ihr plötzlich klar, dass sie die Letzte war, die noch übrig war. Der Traum war tot.

Tage vergingen während sie versuchte mit der Leere in ihrem Leben klar zu kommen. Wer war sie? Was wollte sie tun? Was war der Sinn ihres Lebens? Sie hatte keine Antworten. Sie wusste nur eines sicher: Sie wollte nicht für drei Euro fünfzig die Stunde malochen, so wie ihre ehemaligen Freundinnen. Sie wollte mehr vom Leben. Sie wollte ganz einfach leben!

Und da war es, dass sie erneut anfing an ihren inzwischen halb vergessenen Vater zurückzudenken. Er hatte ihr früher immer von seiner Jugend erzählt, damals in Seattle, bevor er seine Seele verkauft hatte, bevor er in einen Konzern eingetreten war, der ihn gegen seinen Willen nach Europa geschickt hatte. Die Raving Twenties wurde die Zeit später genannt, die Zeit in der Seattle das Zentrum der Welt war, zumindest was Musik anging. Die Black Cravens, und die Eagleheads, und nicht zuletzt die Mormon Sisters. Ihr Vater hatte sie alle gekannt, damals in seiner Zeit als Türsteher und Barkeeper. Und fast hätte er es selbst geschafft, zumindest hatte er das früher immer erzählt. Die Flyguys – wahrscheinlich erinnerte sich heute niemand mehr an den Namen, außer ihnen selbst, aber sie hätten fast den großen Durchbruch geschafft. Fast.

Und ohne dass sie selbst genau sagen konnte warum wusste Honey plötzlich, dass sie auch nach Seattle musste. Es war die Stadt, die ihr Vater sein ganzes Leben lang geliebt hatte. Der Mensch, der ihr in ihrem ganzen Leben am meisten bedeutet hatte, hatte dieser Stadt sein Herz geschenkt. Sie wollte sehen was er gesehen hatte. Sie wollte erleben was er erlebt hatte. Sie wollte einmal selbst mit dem Bike durch die Redmond Barrens brettern, wollte einmal im Schatten der Wizard Towers wandeln, wollte einmal aufwachen und die Sonne über die Aztec Pyramide steigen sehen. Und dann wollte dort einfach bleiben, und den Traum ihres Vaters für ihn weiterleben. Seattle: die Stadt der Freiheit. So dachte sie zumindest damals, vor drei Jahren, in jenen langen, lauen Sommernächten, in denen sie mit ihrem bisherigen Leben endgültig abschloss.

Sie konnte sich noch zu gut erinnern, wie aufgeregt sie in den Flieger stieg. Und dann erst die Landung! In den frühen Morgenstunden sanken sie auf Seattle nieder, und sie konnte tatsächlich vom Flieger aus den Sonnenaufgang hinter der Aztec Pyramide sehen. Es war als wären alle Träume die sie je gehabt hatte wahr geworden!

Aber die Realität holte sie viel zu schnell wieder ein. Nach vier Wochen war sie froh, als sie in einem drittklassigen Waschsalon irgendwo am Rande der Zivilisation in der Nachtschicht putzen durfte. Metamensch, Ausländer, ohne in Amerika gültigem Schulabschluss – es sah schlecht aus. Und ohne festen Job brauchte sie sich auch gar nicht um eine Green Card zu bewerben, das wusste sie. Sie hatte sich vorab ausgiebig informiert, auch wenn sie sich alles irgendwie leichter vorgestellt hatte. Und so putzte sie Nacht um Nacht alte, verrostete Waschmaschinen in einem Laden, der wahrscheinlich weder irgendwo gemeldet war noch Steuern oder Versicherung bezahlte. Es war der einzige Ort, an dem sie sin-los wie sie war unterkommen konnte.

Es war der absolute Tiefpunkt in Honeys bisherigem Leben. Aber sie wollte nicht mehr zurück, konnte nicht mehr zurück. Es gab nichts in Frankreich, zu dem sie zurückkehren könnte. Sie hatte dort niemanden mehr, und nichts mehr. Seattle oder Tod – mehr Optionen hatte sie nicht mehr. Und so biss sie die Zähne zusammen und kämpfte sich durch.

Der entscheidende Impuls, der sie aus der Sackgasse zog und ihr wieder Freude am Leben gab kam absolut unerwartet. "Hey Honey", schnauzte sie jemand auf der Arbeit an, "was sind das für fucking beschissene Maschinen? Schau dir mal die Flecken hier an!"

Wie hätte Honey auch ahnen können, dass diese Stimme der Frau gehörte, die bald ihre beste Freundin werden würde? Es war wirklich nicht mehr als ein Zufall. Honey schnauzte unhöflich zurück, dass sie hier nur putzen würde, und dass die Maschinen sie nichts angingen. Und dann bemerkte die Andere den kleinen Duran Retro-Sticker an Honeys Kragen. Duran Retro hatte es nie über den großen Teich geschafft. Die einzige französische Band, die sich in den letzten zehn Jahren überhaupt mit Erfolg diesseits des Atlantiks verkauft hatte war Smile on You, und darüber brauchte man wirklich kein weiteres Wort zu verlieren. Jedenfalls war Honey einem von vielleicht dreihundert Duran Retro Fans in ganz Seattle begegnet, und sie kamen sofort ins Gespräch. "Ich bin übrigens die Scarlet Spider", stellte die andere sich vor und zeigte zur Erklärung das Tattoo auf ihrem linken Oberarm. Es war eine riesige, den ganzen Oberarm umfassende rotschwarze Spinne.

"Und du, honey?", fragte sie dann. Und irgendwie blieb der Name hängen. Erst war Honey ein Spitzname, dann stellte Spider sie so ihren Freundinnen vor, und irgendwann fing Honey an, sich mit diesem Namen zu identifizieren. "Honey" – in Frankreich wäre sie noch jedem an die Gurgel gegangen, der sie so genannt hätte, aber hier – es war einfach ein anderes Leben mit anderen Regeln. Und so wurde Honey Teil der Spider Murphy Gang. Angeblich hieß früher mal so eine bekannte Band, und Spider hatte ihre Gang ursprünglich im Scherz so genannt, aber niemand außer ihr verstand den Witz, und der Name hatte sich verselbstständigt.

Honey passte aber genau rein. Sie mochte die selbe Musik wie die Anderen, hatte die selbe Lebenseinstellung, das selbe Feeling. Und es fiel ihr auch nicht weiter schwer, bei den Raids der Gang mitzumachen. Anfangs glaubte sie noch, dass sie einfach nur ihren Frust abreagieren wollten, wenn sie wieder einmal Scheiben einschlugen, oder jemanden verprügelten. Aber nach ein paar Wochen warf Spider ihr plötzlich einen Cred-Stab hin und meinte: "Dein Anteil, Schwester!"

Honey verstand erst gar nicht, worum es ging. Aber Spider erklärte es ihr: Was nach beliebigen Gewalttaten aussah waren in Wirklichkeit gezielte Aktionen, geordert und bezahlt vom organisierten Verbrechen. Jedes mal wenn irgendjemand mit dem Schutzgeld im Rückstand war, oder wenn jemand auf fremden Gebiet Drogen vertickte riefen die Kartelle nach Fists for Hire – bezahlten Muskeln. Und sie bezahlten wirklich. Genug um den Job im Waschsalon endgültig an den Nagel zu hängen. Ohne dass sie es selbst richtig mitbekam rutschte Honey auf die schiefe Bahn. Oder vielleicht war es ihr auch ganz einfach egal gewesen, sie wusste es nicht mehr. Die Hoffnung auf eine Sin konnte sie so ganz aufgeben, aber das hatte sie eigentlich schon lange zuvor. Was war sie schon? Eine illegale Einwanderin ohne Schulabschluss, ein Meta ohne Bleiberecht! Was für andere Möglichkeiten hatte sie noch gehabt, außer der in die Schatten einzutauchen?!

Und so tauchte Honey in die Schatten ein. Sie wurde eine echte Spider Murphy, eine Straßenamazone. Gewalt gehörte bald zu ihrem Leben, kurze und zunehmend blutigere Konfrontationen waren an der Tagesordnung, unterbrochen von Konzerten, Raves und wilden Partys zusammen mit "ihren Mädels", dem Rest der Gang. Irgendwann kam der Tag, an dem sie sich ihre ersten Cyber-Implantate einbauen lies – billige Kunstmuskeln, wahrscheinlich vom Vorbesitzer weggeworfen. Die Vorstellung, dass man ihr ihre Arme aufschneiden und sie für den Rest ihres Lebens verstümmeln würde lies sie Nächte lang nicht mehr schlafen, aber sie tat es schließlich doch. Und weitere Körperteile folgten. Als sie sich schließlich dazu entschied, sich ein Spinnennetz auf den Rücken tätowieren zu lassen, existierte ein ganzer Teil des darunter liegenden Körpers schon gar nicht mehr. Er war ersetzt worden durch Plastik und Stahl und Kabel.

Und was für Dreck sie sich hatte einbauen lassen. Die halbe Zeit spürte sie ihre eigenen Finger nicht mehr, weil die Wetware mal wieder elektrische Schocks durch ihr halbes Nervensystem jagte. Und dann waren da die Aussetzer: Immer wieder brach einfach das ganze System sekundenlang zusammen. Ihr Körper reagierte nicht mehr auf die Befehle ihres Gehirns, er zitterte nur noch und verbog sich bisweilen ruckartig. Und was die Ästhetik anging – nun, sie wusste schon, warum sie sich nicht mehr nackt vor einen Spiegel stellte. Die Kunsthaut an ihren Armen alleine – ihr schauderte.

Und dann änderte sich plötzlich alles. Eigentlich war es ein Tag wie jeder andere. Sie stand mittags auf, gingen abends zusammen mit den Anderen auf irgendein Konzert – Indian Shark, soweit sie sich erinnern konnte; irgendeine unbekannte Lokalband halt – und dann machten sie sich auf den Weg, um ein paar Wise Guys aufzumischen, die auf fremden Territorium Slack verkauften. Was ihnen niemand gesagt hatte war: Die Gang bestand zur Hälfte aus Trollen. Es wurde ein ziemlich blutiger Kampf, und das Letzte das Honey spürte bevor es ihr schwarz vor Augen wurde was das Splittern ihrer Wirbelsäule.

Dann war da nur noch Schwärze.

Und irgendwann war sie wieder zu sich gekommen, hier, in diesem Krankenzimmer.

"Schön dass Sie wieder wach sind, Miss Summers", hörte sie eine kalte, emotionslose Stimme durch den Nebel, der ihre Sinne betäubte. Sie ignorierte die Stimme, konzentrierte sich lieber erst einmal auf ihren eigenen Körper. Sie versuchte vergeblich, irgendetwas zu spüren. Von den Schulterblättern abwärts war alles taub. Sie versuchte ihre Arme zu bewegen, aber sie reagierten nicht. Als ihr Blick langsam klarer wurde begriff sie auch warum. Man hatte die Kunstmuskeln entfernt. Alles was noch übrig war, waren Hautlappen, die blanken Knochen bedeckten, mit ein paar Nervenbahnen und Blutgefäßen dazwischen. Ihre Finger reagierten. Das war das bizarrste an der ganzen Situation: Ihre Arme lagen aufgeschnitten und ausgehöhlt vor ihr, aber ihre Hände bewegten sich als sei alles wie immer.

"Kein sehr schöner Anblick, Miss Summer, nicht wahr?", erklang da wieder die Stimme von zuvor. Sie war Honey auf Anhieb unsympathisch. Ungeachtet dessen, dass sie beim besten Willen nicht wusste, woher man ihren echten Namen kannte. Sie hatte ihn nicht mehr benutzt, seit sie Spider vor achtzehn Monaten das erste Mal begegnet war. Sie blickte hoch, und sah sich zwei durch und durch unsympathischen Typen gegenüber. Ihre Gesichter und ihre ganze Haltung schienen zu sagen: Wir sind besser als du; dein Schicksal liegt in unserer Hand; dein Schicksal und dein Leben.

Ihre Kleidung machte es nicht besser: Schwarze Anzüge, schwarze Krawatten, schwarze Sonnebrillen. Dazu kamen bei beiden noch mehrere Buchsen am Hals, aus denen ganze Bündel von Lichtfaserkabeln rannen und unter ihren Anzügen verschwanden. Jetzt da sie bewusst auf Cyberware achtete bemerkte sie auch die typischen Bewegungen der Servomotoren, die die Köpfe in regelmäßigen Abständen zur Seite rucken und dann langsam wieder in ihre Ausgangsstellung zurückschwenken ließen.

"Wer seid Ihr?", fragte Honey und ließ ihren Blick noch einmal über die Schläuche und Kabel gleiten, die ihren Körper mit allen möglichen Maschinen verbanden, ehe sie sich ganz auf die beiden Cyborgs konzentrierte.

"Ich bin Mister Ellis und das ist Mister Cassady", sagte der linke Anzug.

"Wir sind Ihre Glücksfee", sagte der andere darauf, mit dem herzlosesten und abstoßendsten Lächeln, das Honey je gesehen hatte.

"Und woher kennt Ihr meinen Namen?", fragte sie. Rückwirkend gesehen war das vielleicht nicht gerade die dringlichste Frage, aber es war ganz einfach das Erste, das ihr in den Sinn kam.

"Wir beobachten sie schon eine ganze Weile", antwortete Mister Ellis. "Ihr Name ist nicht das Einzige, das wir über Sie wissen, Miss Summers. Und das ist Ihr großes Glück!"

"Und wieso das?", fragte Honey skeptisch.

"Weil die Gruppe, die wir vertreten sich entschlossen hat in Sie zu investieren", antwortete Mister Cassady. "Das ist Ihnen wahrscheinlich nicht klar, aber die Maschinen, die Sie hier in diesem Raum sehen sind das Einzige, das Sie noch am Leben hält. Ihr Körper ist so wie er jetzt ist nicht mehr lebensfähig, und Ihre finanziellen Rücklagen reichen bei weitem nicht aus, auch nur die notwendigsten Operationen zu bezahlen."

Honey musste schlucken. Die beiden sprachen über ihren Körper als wäre es eine Maschine, die abgeschaltet werden soll, weil die Kosten den Nutzen überstiegen.

"An diesem Punkt kommt Planetary ins Spiel", fuhr Mister Cassady fort.

"Planetary?", hakte Honey nach.

"Ja, Planetary", sagte Mister Ellis. "Das ist die Organisation, die wir vertreten. Wir sind bereit, alle Kosten zu übernehmen. Sie werden wieder hergestellt, und zwar weit effektiver als bisher. Hochwertige Kunstmuskulatur, frisch aus der Retorte. Elektronik nach neuestem Stand der Forschung. High Tech vom Feinsten. Wenn wir fertig sind werden Sie nicht humpeln, Sie werden fliegen."

"Und warum machen Sie das? Was wollen Sie dafür?", fragte Honey bitter, sicher den Preis nicht bezahlen zu wollen.

"Nichts", entgegnete Mister Cassady. "Wir betrachten Sie als Investition in die Zukunft."

"Einfach so?", fragte Honey sarkastisch. "Ihr schraubt mich wieder zusammen und lasst mich einfach gehen, ohne irgendeine Gegenleistung?"

"Exakt", erwiderte Mister Ellis. "Zumindest für den Moment. Was die Zukunft angeht – nun, alles ist möglich. Aber bedenken Sie, Miss Summers: Ohne uns haben Sie keine Zukunft..."

Und diesem Argument hatte Honey nichts entgegensetzen können. So sehr sie sich innerlich dagegen sträubte, sie musste das Angebot der beiden Anzüge annehmen. Sie hatte keine andere Wahl. Und so tat sie es, obwohl alles in ihr schrie: Du verrätst alles, deinen großen Traum, das Ideal deines Vaters. Du verkaufst deine Freiheit!

Mister Ellis und Mister Cassady hatten sich daraufhin verabschiedet und waren gegangen. Ärzte kamen an ihrer Stelle und versetzten Honey erneut ins Koma. Sue wusste nicht wie viel Zeit verging, aber als sie wieder zu sich kam besaß sie wieder einen intakten Körper – zumindest von außen. Sie lag immer noch im selben Zimmer wie bei ihrem letzten Gespräch. Und hier verbrachte sie auch die nächsten Wochen, in denen unentwegt Messungen an ihr durchgeführt und Feinjustierungen vorgenommen wurden. Einzelne Tech wurde aus unerfindlichen Gründen wieder ausgebaut, neu justiert oder ganz ersetzt. Es war ein langer, aufwendiger und vor allem kostspieliger Prozess, bis die Arbeit an Honey endlich abgeschlossen war. Immerhin durfte sie nach einer Weile wieder aufstehen. Und da merkte sie erst, wie lange sie gelegen war. Ihre Beine trugen sie zuerst gar nicht mehr. Sie knickte einfach ein, wäre fast gestürzt, ohne die Hilfe der Pfleger. Rehabilitation nannte man das.

Zwei Monate ging das so. Und morgen war es endlich soweit: Sie wurde entlassen.

Sie blickte heute Abend das letzte mal aus diesem Fenster. Sie würde wahrscheinlich nicht nochmal hierher zurückkommen. Sie wüsste auch nicht wozu. Die Ärzte wussten genauso wenig über die beiden Männer von Planetary wie sie selbst. Sie waren mit ihr aus dem Nichts aufgetaucht, hatten anonyme Kredsticks auf den Tisch gelegt und die Cyberware persönlich geliefert. Sie hatten genaue Instruktionen gegeben, wie damit zu verfahren sei. Und dann waren sie einfach wieder untergetaucht.

Morgen Mittag würde Honey wieder da unten sein, in den Straßen, in der echten Welt. Sie wusste, wozu ihre neuen Cybersysteme in der Lage waren, und sie überlegte schon seit Tagen, was sie damit am besten anfangen sollte. Und wie es aussah war sie wieder auf sich alleine gestellt. Sie versuchte schon seit Wochen vergeblich, Spider oder irgend jemanden aus der Gang telefonisch zu erreichen. "Currently not available" – immer wieder, immerzu.

Und wieder einmal stand sie am Ende eines Lebensabschnitts und am Beginn eines neuen. Die Welt lag ihr zu Füßen. Die Frage war nur: Sollte sie sich freuen, oder sollte sie sich fürchten?



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  yui_hatake
2008-06-14T08:52:15+00:00 14.06.2008 10:52
huay xD
ich finde deine Story auch super! Ich spiele auch Shadowrun und liebe es. x3
Ich mag zudem auch noch deinen Schreibstil! ;3 Mach weiter so!
Von: abgemeldet
2008-06-08T17:31:00+00:00 08.06.2008 19:31
Hey, ich finde die Story auch super! Nicht zu vergleichen mit den ganzen Romantik-Fanfics *lach* Spiel auch Shadowrun und du hast die Welt super dargestellt! Viel Erfolg weiterhin!
Von: abgemeldet
2007-02-06T15:59:13+00:00 06.02.2007 16:59
Eine wirklich gute Story!
Man taucht wirklich super in das Shadowrun-Universum ein.
Das ist auch mal eine ziemlich gute Hintergrund-Story für einen Charakter ^^.

Grüße
Eris


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