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Chronik des Feuers

von

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Ein Licht in dunkler Nacht

Siehst du die Sterne am Himmel? Ihr Licht erfreut unser Herz und schenkt uns Hoffnung und den Glauben an unsere Träume…

Die Seelen der Verstorbenen leuchten auf uns herab und wachen über uns.

Doch nicht nur die Seelen der Rechtschaffenen strahlen von dort oben, sondern auch die derjenigen, die wir die „Bösen“ nennen.

Denn letzten Endes sind wir vor dem Tod alle gleich…

Sind wir das denn nicht auch vor dem Leben?
 

Leises Stimmengemurmel drang durch die laue, mondlose Sommernacht. Das Heerlager war dunkel bis auf das kleine Fenster eines Zeltes.

Die Männer und Frauen der Rebellenarmee waren müde und erschöpft vom Tag, denn es war eine große Schlacht geschlagen worden.

Eine harte Schlacht, eine siegreiche Schlacht.

Eine Schlacht voller Blut und Schmerz, voller Tränen und Leid, doch auch voller Hoffen und Entschlossenheit.

Gute Freunde waren gestorben doch auch alte gerächt worden. Noch immer zog der süßliche, leicht metallische Geruch von Blut mit dem Wind über die Ebene und noch immer starben inmitten der Leichen einzelne Verwundete der feindlichen Armee.

Sie würden nicht alleine bleiben, dass wussten die Sieger. Viele Freunde, Verwandte und vertraute Seelen würden ihre Lichter heute Nacht noch gen Himmel schicken um in die Reihen der funkelnden Sterne aufgenommen zu werden und über ihre Lieben zu wachen, bis sie irgendwann in neuer Gestalt wieder geboren wurden.

Doch bis zum Morgen konnte man nur abwarten, wer die Nacht nicht überleben würde und beten…
 

Viele wachten in der lauen Sommernacht und richteten ihre Augen zum Himmel, hoch zu den glitzernden Seelen ihrer Vorväter und baten um Schonung ihrer selbst oder ihrer Liebsten.

Die Zelte waren verdunkelt worden, so dass die befreiten Seelen besser ihren Weg an den Himmel finden konnten.

Nur das eine Fenster leuchtete durch die Dunkelheit, denn der einzelnen Seele im Inneren des Zeltes war es noch nicht erlaubt zu gehen.

Ein hagerer, braunhaariger Mann mit milden, aber auch entschlossenen Gesichtszügen schlug die Eingangsplane zurück und trat in die stickige, schwach erleuchtete Kammer. Dunkle Augenringe zeichneten sein Gesicht, auf dem Kummer, Sorge und Verlust unauslöschliche Spuren hinterlassen hatten.

Doch der Blick, den er auf die schwach atmende Gestalt, die auf dem einfachen Lager ruhte, richtete, war klar und aufmerksam, so als ob weder Not noch Kampf ihn jemals getrübt hätten.

Mit einer bedächtigen Bewegung stellte er einen Krug Wasser und zwei Becher auf einem niedrigen Tisch ab, dann zog er sich einen Schemel heran und ließ sich darauf nieder, um das blasse, von Verbänden halb bedeckte Gesicht des Schlafenden genauer zu betrachten.

Hellgraues Haar fiel in die noch recht kindlichen Züge des Verwundeten und dunkle Wimpern hoben sich scharf von der wächsernen Haut ab.

Die Chancen, dass der Verletzte die Nacht überstand, waren gering – doch zuvor wollte der dunkelhaarige Mann noch etwas wissen. Zum einen, weil es in seinem Volk so Brauch war, die Geschichte eines Sterbenden anzuhören, zum anderen, weil er verstehen wollte.

Vorsichtig streckte er die eine Hand aus und berührte den Schlafenden sanft an der Schulter. Das eine, blasse Auge, dass nicht von den Verbänden bedeckt wurde, öffnete sich beinahe mechanisch und sah ihn an.

„Du hast mir etwas versprochen, erinnerst du dich?“, sagte der Mann leise und sah den Verwundeten aufmerksam an. Dieser nickte schwach und öffnete den Mund um etwas zu sagen, doch nur ein heiseres Husten war zu hören.

Der Dunkelhaarige griff nach einem der Becher und füllte ihn aus dem mitgebrachten Krug. Er hielt ihm dem Anderen an die Lippen und ließ ihn trinken, dann stellte er den Becher zurück und wartete ab.

„Ich habe dir versprochen, dir meine Geschichte zu erzählen“, begann eine, für die alten, blassen Augen viel zu junge Stimme, leise und schleppend.

„So höre denn…

Wo ich geboren wurde, weiß ich nicht… Doch ich weiß, bei wem mein Leben begann…“

Das fremde Kind

Wer ist der Fremde?

Derjenige, der in ein unbekanntes Land kommt?

Oder derjenige, der sich selbst fremd wird und ihn wieder davonjagt?
 

Ein kleiner Tross bunter Wagen zog rumpelnd und Staubfahnen hinter sich herziehend über eine einsame Landstraße. Kleine Glöckchen klirrten im Geschirr der Zugtiere und dann und wann stimmte einer der Reisenden ein kehliges Lied an.

Die Kleidung der Fahrenden war bunt und oft geflickt, doch ihre bronzefarbenen Gesichter mit den dunklen, schalkhaft blitzenden Augen, waren glücklich und voller Tatendrang.

Es waren Zigeuner, drei oder vier Familien, auf dem Zug in ein besseres Leben – wie immer, wenn sie wieder einmal auf Wanderschaft waren.

Jedem, der es hören wollte, erzählten sie mit einem breiten, zukunftsfrohen Lächeln, dass irgendwo ihr ganz persönliches, kleines Stückchen Glück auf sie warten würde, und dass sie umherziehen würden, um es zu finden.

Doch jeder, der sie ansah, wusste, dass sie ihr Glück bereits gefunden hatten: Ihm ruhelosen Reisen mit ihren Freunden und ihrer Familie.

Oft war das Leben hart und gnadenlos, doch die Gemeinschaft der Zigeuner, angeführt von einer kleinen, verhutzelten Matriarchin, der die Weisheit in die Wiege gelegt worden zu sein schien, meisterte jede Schwierigkeit mit Bravour und ließ sich ihre Freude am Leben nicht nehmen.

Ihre kleine Viehherde war wohlgenährt und trottete brav und willig über die sandige Straße, behütet von ein paar Jungen und Mädchen, um die drei große, zottige Hunde herumsprangen und kläfften.

Plötzlich brach einer der Hunde aus und rannte aufgeregt nach vorne, an den ersten Wagen vorbei und auf einen großen Busch zu, der am Fuß eines mit Moos überwachsenen Hügelgrabs stand. Die braunen Blätter und dichten Zweige begannen sich ruckartig zu bewegen und ein heiseres Fauchen brachte den Hund dazu mit eingeklemmtem Schwanz zurück zu kriechen.

Die Männer des Wagenzuges sprangen von den haltenden Fahrzeugen und gingen vorsichtig und mit erhobenen Stöcken und Messern auf den Busch zu, von dem inzwischen dünne Rauchfahnen aufstiegen. Ihre dunklen Augen waren aufmerksam auf eine einzelne Lücke im Blätterwerk gerichtet, hinter der sich eindeutig etwas bewegte. Der Hund zu ihren Füßen knurrte aufgeregt und bewegte den Kopf von einer Seite zur anderen.

Plötzlich ging der Busch in Flammen auf und die Männer wichen erschrocken zurück. Gelbe und rote Lohen verschlangen das trockene Holz innerhalb einer Minute und entwickelten eine beinahe unnatürliche Hitze.

Die Zigeuner sahen einander an und schüttelten stumm die Köpfe. Was auch immer hinter den Blättern Zuflucht gesucht hatte, diese Flammen hatte es nicht überlebt.

Einige vermuteten ein Raubtier, das sich in einer Falle verfangen hatte, einige andere eine Elster, die Glassplitter in ihrem Nest gesammelt und sich so ihren eigenen Tod zusammen gesucht hatte.

Das Kläffen und Knurren des Hundes richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Brand. Etwas bewegte sich darin. Etwas Großes, zu groß für einen Marder oder Fuchs…

Und viel zu groß für eine Elster.

Wieder erhoben die Männer wachsam ihre Waffen und kniffen die Augen zusammen um sie vor der Hitze und dem Qualm zu schützen.

Die Gestalt bewegte sich weiterhin im Feuer, schien sich darin zu aalen und es zu genießen. Erst als es schwächer wurde richtete das Wesen seine Aufmerksamkeit auf die Zuschauer und trat langsam aus Rauch, Asche und Glut. Wie auf Kommando wichen die Männer einen Schritt zurück und beobachteten das Geschehen voller Furcht und Faszination.

Das Feuer schien dem Wesen zu folgen, an ihm zu kleben wie eine Art lebendig wirkender Pelz oder eine sichtbar gewordene Aura. Die Silhouette hinter den Flammen zeichnete sich nur wenige Nuancen dunkler und sehr verschwommen ab.

Als das Wesen ihnen den Kopf zuwandte und sie genauer ansah, wurden sich die Zigeuner ihres Irrtums bewusst: Es wurde nicht vom Feuer begleitet und umspielt, es war Feuer.

Es bestand gänzlich aus flackernden, züngelnden, lodernden, gelben oder orangeroten Flammen, die an zwei mandelförmigen, beinahe schlitzartigen Stellen ihre Farbe auf Smaragdgrün änderten.

Die Silhouette hinter dem Feuer veränderte sich stetig, bekam Hörner und Flügel, Klauen und Tentakel, nur um sie dann wieder zurück zu bilden. Aber sie blieb klein genug, um sich hinter einem Busch verstecken zu können.

Das Wesen kam den abwartenden Zigeunern und ihren Wagen immer näher. Die Hunde hatten sich inzwischen zur unruhigen Herde geflüchtet und winselten nur noch leise, den Blick abwechselnd auf die wandelnde Feuersäule und auf ihre Herren gerichtet.

Der Kopf der Gestalt, falls es tatsächlich ihr Kopf war, richtete sich auf die Hunde und betrachtete sie eine Zeit lang aus glühenden Augen. Dann stieß es ein seltsam knackendes und zugleich fauchendes Geräusch aus und lief auf die Hunde zu, die jaulend und mit eingekniffenem Schwanz davonrannten.

Die Gestalt blieb stehen und ließ das hängen, was sein Kopf zu sein schien. Aus dem dürren Gras zu seinen „Füßen“ stiegen kleine Rauchsäulen auf und kreiselten um seine Silhouette. Nach und nach verflüchtigte sich das Feuer und das Wesen schmolz immer weiter zu einer festen, schlankeren Form zusammen, die immer menschenähnlicher wurde.

Schließlich stand ein kleiner Junge im immer noch kokelnden Gras und starrte aus leuchtend grünen Augen sehnsüchtig zu den inzwischen sehr weit entfernten Hunden. Sein Haar, so hell und in denselben Farben wie das Feuer, dass er bis kurzem noch gewesen war, ringelte sich um sein Gesicht und in der Luft und schien ständig in Bewegung.

Die Zigeuner beäugten den Jungen voller Misstrauen, die Waffen noch immer erhoben.

Ihre Matriarchin, die alte Enna, kletterte von ihrem Karren und humpelte nach vorne. Ihre Augen waren bereits schwach, doch die ungewöhnlichen Ereignisse hatte sie trotz der Entfernung erkennen können.

Sie musterte das Kind, dass sich inzwischen hingesetzt hatte und die um es herumstehenden Männer aus großen Augen neugierig ansah, und schüttelte dann erstaunt den Kopf.

In ihrem gesamten, langen Leben hatte sie noch nie so ein Wesen gesehen und hatte auch niemals geglaubt es jemals zu erblicken – sie hätte es sich unter normalen Umständen auch niemals gewünscht – doch von diesem Jungen und seiner Art hatte sie gehört…

In Sagen und Legenden aus den entlegensten Winkeln der Welt, die sie auf der langen Reise ihrer Familie besucht hatte – und die sie an ihre Kinder und Kindeskinder weitergegeben hatte, abends, am Lagerfeuer, wenn der Mond hell und rund am Nachthimmel stand und die alten Erzählungen unendlich fern schienen.

„Was sollen mit diesem… diesem Wesen machen? Es töten?“, fragte einer der Zigeuner leise. Seine beinahe geflüsterten Worte zogen den Blick des Jungen auf sich, der das Gesicht zu einem fröhlichen Lächeln verzog.

Enna sah in die klaren, grünen Augen, die von innen her zu glühen schienen – und lächelte zurück. „Nein“, knarrte sie mit kräftiger Stimme und lächelte noch einmal zahnlos, was ihre unzähligen Falten und Runzeln noch weiter vertiefte.

„Nein… Er ist ein Kind. Ein kleines Kind, kaum älter als fünf Jahre… Und völlig allein auf dieser großen, weiten Welt, nicht wahr, mein Kleiner? Wir wissen, wie es ist fremd zu sein… Fremd in einer Stadt, in einem Land… in… dieser Welt… Wir nehmen ihn mit und geben ihm ein Zuhause.“
 

Die Zigeuner nahmen das brennende Kind mit sich, obwohl sich viele gegen Ennas Entscheidung aussprachen.

Doch die Mehrheit der Gruppe reiste schon ihr ganzes Leben unter der Führung der weisen Frau und vertraute ihrem Urteilsspruch.

Mit der Zeit gewöhnten sie sich an den Anblick einer lodernden Gestalt in ihrer Mitte und verloren die Angst für Rauch und Hitze. Sie begannen offener und freundlicher mit dem immer neugierigeren Jungen umzugehen, hatten ein Auge auf ihn und lehrten ihn, dass nicht alles, was brennen konnte, auch unbedingt brennen musste.

Es wurde alltäglich, dass sich das Kind in der Glut des sterbenden Lagerfeuers zusammenrollte um zu schlafen und das es sich bei Regen unter die Wagen oder eine schützende Plane verkroch, während sein Körper, ob nun in menschlicher oder in wahrer Gestalt, rauchte und grau wurde.

Doch mit den Jahren wurden diese Augenblicke immer seltener, denn auch wenn sein menschlicher Körper kaum zu altern und demzufolge auch nicht zu wachsen schien, wurde seine wahre Kraft immer größer. Der Regen störte ihn nicht mehr und er nutzte nicht länger jede Wärmequelle, die er finden konnte.

Er ließ das Lagerfeuer in Ruhe und interessierte sich stattdessen mehr für die Gespräche seiner „Familie“ und ihre kehligen, manchmal traurigen und sehnsuchtsvollen Lieder. Eines Tages begann er ihre Lippenbewegungen nachzuahmen und begann zu sprechen. Fauchend zunächst, wie das Auflodern von Flammen, dann immer klarer und menschenähnlicher, mit einer dünnen, aufgeregten Kinderstimme.

Er begann sich Roike zu nennen und die Zigeuner übernahmen diesen Namen für ihr „brennendes Kind“ innerhalb einer Woche. Von diesem Moment an, wurde er wahrhaft Teil ihrer Gruppe…

Auf ewig.
 


 

Erst zwei Kapitel und schon würde ich euch gerne um eure Meinung bitten:

Wie gefallen euch die Sprüche am Anfang jedes Abschnittes?

Wie gefällt euch die Geschichte bis jetzt? Auch wenn noch nicht allzu viel passiert ist...

Das Antlitz des Bösen

Es war einmal ein Kind, das fragte seinen Großvater nach der Farbe des Bösen. Der alte Mann lächelte es voller Güte an und fragte zurück: „Was glaubst du denn?“

Das Kind überlegte nur kurz, dann runzelte es die winzige Stirn und nickte: „Schwarz!“ „Warum?“, fragte sein Großvater mit einem geheimnisvollen Lächeln.

„Weil das Gute weiß ist“, sagte das Kind und lachte.

Der alte Mann seufzte, legte den Kopf schief und lächelte: „Aber der Schnee ist auch weiß und wunderschön, doch siehst du zulange hinein, wirst du blind. Und die Nacht ist schwarz, doch sie bringt dir deine wundervollen Träume und schenkt dir Frieden… Also, welche Farbe hat das Böse?“

Das Kind sah seinen Großvater lange an, dann schüttelte es ernst den Kopf und ging spielen, im Wissen, wieder etwas mehr über das Leben gelernt zu haben…
 

Noch immer glitzerten die Sterne über dem dunklen Zeltlager und begrüßten ihre neuen Gefährten, die vom Schlachtfeld des Tages nach oben schwebten.

Nur das eine Zelt, war noch immer erleuchtet.

„Das klingt wie ein gutes Leben“, sagte der dunkelhaarige Mann und trank einen Schluck Wasser aus seinem eigenen Becher. „Warum hast du es aufgegeben, Roike?“

Der Junge sah ihn mit seinem einen, blassen Augen traurig an: „Weil jede schöne Zeit irgendwann einmal endet… Und weil ich keine Wahl hatte.“
 


 

Roike wurde ein Teil der Zigeunergruppe und zog mit ihnen durch die Welt.

Enna und ihre zehnjährige Urenkelin Mirja wurden seine Familie, die Männer und Frauen des Trosses seine Freunde und die Hunde, die sich schnell an seinen mit Asche und Rauch getränkten Geruch gewöhnten, seine Spielgefährten.

Die Zeit verging und die kleine Mirja, die wie eine Schwester für ihn wahr, wuchs und überholte ihn in Körpergröße und Reife. Auch Roike wurde älter, doch wesentlich langsamer als jeder Mensch.

Er sah mit an, wie seine Freunde älter wurden und schließlich starben, doch Enna, die inzwischen gar keine Zähne mehr hatte, lächelte über seine Traurigkeit und seine Angst, irgendwann ganz alleine zurück zu bleiben, und erzählte ihm von den Sternen, die alle Seelen waren, die über ihre Lieben wachten und irgendwann wieder geboren wurden.

Mirja wurde immer größer und schöner und irgendwann verliebte sie sich in Zarik, den Wagenbauer und die Beiden heirateten. Zarik behandelte Roike wie einen kleinen Bruder und erlaubte ihm bei seiner neuen, kleinen Familie zu leben.

Schon bald bekam Mirja einen Sohn, den sie Keetann nannte, und zwei Jahre später eine Tochter namens Arla. Zarik sah, wie Roike seinen neugeborenen Sohn bestaunte und bekam Angst, dass er ihm etwas antun könnte, ob nun aus Eifersucht oder aus Versehen.

Doch Roike akzeptierte dieses kleine, zerbrechliche Wesen sofort als seinen eigenen kleinen Bruder und bewachte jede seiner Bewegungen. Auch Arla wurde schnell Teil seiner Welt und er half ihnen, wann immer er konnte.

Er hielt sie vom Lagerfeuer fern, wenn sie kreischend und lachend die Funken fangen wollten. Er brachte sie zum Lager zurück, wenn sie zwischen das Vieh rannten.

Er tötete die Schlangen mit seinem Feuer, die im Morgennebel unter den Brombeersträuchern lagen und drohten, in die tapsenden Kleinkinderfüße seiner beiden Geschwister zu beißen, wenn diese sich arglos näherten um ihre Mägen mit den süßen Beeren zu füllen und ihre Münder und Kleider mit dem blutroten Saft zu verschmieren.

Doch auch sie wurden älter und holten Roike bald im Alter ein, was ihn irgendwie betrübte. Seine Geschwister, die er schon sein ganzes Leben kannte, würden sich von ihm entfernen, ihr eigenes Leben ohne ihn leben – und sterben, während er allein zurückblieb.
 

Jeden Abend lag er aufs Neue wach und lauschte dem Atem seiner Geschwister, die nun nur noch ein Jahr jünger aussahen als er. Oder drei Jahre in Arlas Fall.

Er beobachtete, wie sich Keetann in sein Kissen kuschelte, das halblange, rabenschwarze Haar wie eine Wolke um seinen Kopf herum ausgebreitet. Arla, die neben ihm lag, seufzte leise im Schlaf und drehte sich herum, wobei sich eine Strähne ihres braunen, mit bunten Bändern durchwirkten Haares an ihrer Hand verfing. Sie murrte und bewegte sich ein paar Mal, dann war die Strähne wieder frei und legte sich sanft über ihr noch leicht kindliches Gesicht und verdeckte die geschlossenen Augen mit den langen, dunklen Wimpern.

Er seufzte und kuschelte sich unter seine Decke, doch der Schlaf wollte nicht kommen. Draußen saßen die Erwachsenen noch am Lagerfeuer und unterhielten sich.

Leise Schritte näherten sich und die Plane vor dem niedrigen Zelt, das ihnen als Schlafplatz diente, wurde zurückgeschlagen. Mirja kroch ins stickige Innere und setzte sich neben ihre Kinder. Sie strich Keetann und Arla übers Haar, dann sah sie zu Roike, wobei das Weiße ihrer Augen schwach glitzerte.

Er konnte förmlich fühlen, wie sie lächelte, dann strich ihre Hand auch über sein Haar und er schmiegte sich noch tiefer in sein Kissen.
 

Der Mond ist aufgegangen

Sein Licht scheint hell und klar

Ein Stern wird dich bewachen

Deine Träume werden wahr
 

Roike schloss die Augen und lauschte auf Mirjas klare, leise Stimme, die sanft ein Schaflied sang, das sie bereits für ihn gemacht hatte, noch bevor ihre Kinder geboren wurden.
 

Gutes Kind

Liebes Kind

Husch jetzt ins Bett geschwind

Hör nur der Nachtwind singt

Leis deinen Namen
 

Weil die Nacht Träume bringt

Schließ jetzt die Aug geschwind

Denn nur wer träumt, gewinnt

Und folgt seinen Sternen
 

Roike spürte ihre Hand auf seinem Haar und hörte den ruhigen Atem seiner Geschwister. Endlich umfing der Schlaf ihn auch mit seinen sanften Fingern und nahm ihm die Sorgen. Mirjas Stimme nahm er nur noch wie aus weiter Ferne wahr.
 

Gutes Kind

Liebes Kind

Sieh nur der Nebel spinnt

Fäden, die Silber sind

Um dich zu decken
 

Wenn der Tag Wärme bringt

Flammenherz hell erklingt

Singt mit dem Morgenwind

Um dich zu wecken
 


 

„Flammenherz… Das war damals mein Name… Viele nannten mich so, auch meine Geschwister, obwohl sie damals gar nicht wussten, was ich wirklich war… Sie wussten nur, dass ich anders war als sie und nicht zu altern schien. Doch auch das übersahen sie schnell… Wir waren ja noch Kinder…“, der bittere Ton in der Stimme des Verletzten war dem Zuhörer nicht entgangen.

„Doch alle Kinder werden irgendwann erwachsen, einige schneller als andere… Wir gehörten zu denen, die es schnell werden mussten…“
 


 


 

Es war ein lauer, klarer Abend gewesen, der einen glitzernden Teppich aus Sternen wie einen Baldachin über die Welt spannte und die Zigeuner mit seinen fernen Liedern von Weite und Freiheit in den Schlaf wiegte...

Und es waren Rauch und Feuer, die sie morgens wieder weckten!

Schreie gellten durch das Lager als eine Horde Räuber aus dem nahen Wald stürmte und sich grölend auf die noch halb schlafenden, wehrlosen Reisenden stürzte. Die Hunde, die die Schlafenden eigentlich hatten bewachen sollen, lagen regungslos und von den ersten Fliegen umschwirrt am Waldrand, während das Vieh überall herumrannte, die Augen in den Höhlen rollend und Schaum um die Mäuler.

Die Männer sprangen auf und griffen nach ihren Waffen oder anderen Dingen, die sie zu ihrer Verteidigung nutzen konnten. Mutig, aber voller Sorge für ihre Familie, stellten sie sich den Angreifern entgegen, die den Wald um das Lager herum in Brand gesetzt hatten, um den Zigeunern jegliche Fluchtmöglichkeit zu nehmen. Auch einige Wagen brannten bereits und dunkler, beißender Qualm waberte über die Lichtung und brachte die Augen der Verteidiger zum Tränen. Die Räuber hatten sich feuchte Tücher und Lappen um die Gesichter geschlungen, die nur schmale Schlitze für die Augen freiließen und den giftigen Rauch filterten.

Roike und seine Geschwister waren ebenfalls durch den Lärm erwacht und flüchteten aus ihrem Zelt, kurz bevor es durch einen Schwerthieb zerstört wurde. Keetann und Arla husteten und hatten Schwierigkeiten sich zu orientieren, doch Roike führte sie sicher zu Mirja und Enna, die sich hinter einem Wagen versteckten und mit ängstlichen Blicken die Kämpfe beobachteten. Mirja zog ihre beiden Kinder sofort an sich und flüsterte ihnen beruhigende Worte ins Ohr. Beide drückten sich zitternd an sie und verbargen ihre Gesichter in den Falten ihrer Kleidung.

Roike wandte sich ab und sah auf die Lichtung: Noch immer tobte dort eine kleine Schlacht zwischen Gier und Verzweiflung. Viele Zigeuner waren bereits verletzt, einige schwer, doch hielten sie sich noch tapfer aufrecht und wehrten sich so gut es ging. Ein Schrei gellte über die Lichtung, begleitet vom triumphierenden Gebrüll eines Räubers, und Zarik fiel blutüberströmt zu Boden und atmete nicht mehr.

Mirja hatte die Stimme erkannt und schluchzte wimmernd auf.

Enna legte ihr beruhigend eine Hand auf die bebende Schulter, dann sah sie aus ihren blassen Augen den Rotschopf neben ihrer Urenkelin an: „Du kannst nichts tun, nicht wahr?“

Sie hatte Roike noch nie zuvor um so etwas gebeten…

Schon oft hatte er wilde Tiere mit Feuer und Rauch vertrieben und ab und zu auch schon mal getötet, aber Menschen…?

„Bitte… Zwinge mich nicht dazu. Das kann ich nicht…“, flüsterte er leise und starrte sie flehend an. Er wollte helfen – aber nicht so.

Enna lächelte sanft und ihr Gesicht erschien ihm älter als jemals zuvor. All die Runzeln und Falten wurden zu dunklen Schatten im flackernden Schein der Flammen und wirkten wie ein uraltes Relief aus längst vergangenen Zeiten.

Wieder schrien ein paar Zigeuner auf und hauchten ihr Leben unter den Klingen ihrer Angreifer aus.

Eine einzelne Träne bahnte sich seinen Wag über Ennas Gesicht, das mit einem Mal völlig leblos erschien. „Ich werde dich nicht dazu zwingen… Auch wenn wir nun verloren sind, bin ich doch froh, dass wir dich diese Einstellung gelehrt haben, mein Junge.“

Sie seufzte und sah auf die Kämpfe: Nur noch wenige Zigeuner standen aufrecht.

„Geh, Roike! Und nimm meine Kinder mit! Flieht von hier!“, sagte Mirja plötzlich und schob Keetann und Arla von sich. Arla weinte und versuchte sich wieder an ihre Mutter zu drängen, doch diese schüttelte den Kopf und schob sie wieder zu ihrem großen Bruder und Roike.

„Das Feuer tut dir nichts. Und du kannst sicherlich auch zwei kleine Menschen vor ihm beschützen. Bitte, nimm meine Kinder mit dir und bring sie in Sicherheit.“

Der Junge zögerte. Er wollte Mirja und Enna, die sein ganzes Leben lang bei ihm gewesen waren, nicht allein zwischen Räubern und Feuer zurücklassen. Er schüttelte bleich den Kopf und spürte kaum, wie Keetann sich neben ihn stellte und Arla ihre kleinen Finger um seine Hand schloss. Sie gehorchten ihrer Mutter und vertrauten auf ihren großen Bruder.

„Geh!“, bat Mirja noch einmal und sah ihn aus tränenfeuchten Augen an.

Roike zögerte noch einen kurzen Moment, dann wandte er sich um und zog seine Schützlinge mit sich, auf die gierig züngelnden Flammen am Waldrand zu. Arla verbarg ihr Gesicht an seinem Rücken und Keetann rückte unwillkürlich näher heran. Er suchte verzweifelt eine Lücke in den Flammen und hatte die Hände zu Fäusten geballt. Unbemerkt von ihm hob Roike eine Hand und das Feuer bildete widerstrebend eine Gasse, gerade groß genug für drei Kinder.

Keetann zuckte zusammen und drehte sich aufgeregt zu ihm um, mit einer Hand auf die Lücke deutend. Er packte die andere Hand seiner Schwester und zog sie auf die Flammen zu. Arla weinte leise und hatte die Augen fest zugekniffen, doch sie vertraute den beiden Jungen und ließ sich von ihnen in den Tunnel aus Feuer führen.

Der Lärm der Schlacht verblasste und machte einer unheimlichen Stille Platz, die ab und zu von leisem Knacken und Flüstern durchbrochen war. Um sie herum war nur Gelb, Rot und Weiß, durchbrochen von einzelnen dunklen Schatten, die sich andauernd veränderten und vom Feuer aufgesogen wurden.

In der Nähe krachte es und ein brennender Baumstamm stürzte knapp neben dem Gang zu Boden und ließ einen Funkenregen auf die schreienden Kinder herabprasseln. Roike zog seine Geschwister an sich und löschte die Flammen in ihren Haaren und auf ihrer Kleidung. Dann trieb er sie noch schneller weiter.

Nach einer Zeitspanne, die zumindest den Menschenkindern wie eine kleine Ewigkeit erschien, angefüllt mit Rauch und Hitze, erreichten sie das Ende das höllischen Tunnels und traten auf eine Lichtung hinaus, die wie zum Trotz von einer goldenen, freundlich strahlenden Sonne beschienen wurde. Ein einsames Hügelgrab thronte in der Mitte der Grasfläche und wurde von einem kleinen Wasserlauf umspült, der erfrischend und verlockend zu glitzern schien.

Keetann und Arla stürmte auf das Wasser zu und versenkten gleich die ganzen Gesichter im köstlichen Nass, dass ihre überreizten Kehlen kühlte und die brennenden Augen von ihrem Schmerz befreite.

Roike blieb am Waldrand zurück und drehte sich um. Hinter ihm tanzten die Flammen und lockten ihn zurück in ihre – nein, seine – Welt. Zurück…

Zurück zur Lichtung, zu seiner Familie, seinen Freunden, seinem Leben…

Und doch wusste er, dass er nicht mehr zurück konnte.

Langsam ging er zum Bach und ließ sich daneben nieder. Seine Geschwister brauchten eine Pause und Wasser. Hier, obwohl die Feuer noch so nah waren, erschien es ihm sicher. Über ihm schien die Sonne und der Schatten des Hügelgrabs lag kühl auf seinem Rücken und schien seine Gestalt zu umspielen.

Immer wieder warf er kurze, prüfende Blicke auf den brennenden Wald, doch die Flammen breiteten sich nicht aus.

Keetann und Arla hatten sich erschöpft neben dem Bach ins Gras gelegt und schliefen. Ihre Träume waren wider Erwarten ruhig, vielleicht waren sie einfach zu müde um die durchgestandenen Schrecken wieder und wieder zu erleben.

Der Schatten des Grabes kroch über die Erde und berührte die schlafenden Kinder flüchtig an der Stirn. Roike seufzte und fühlte auch seine Augen schwer werden. Seine Gedanken waren noch immer wach, doch sie kreisten nur um seine Familie und den Schmerz, den ihr Tod hinterlassen hatte – in ihm und in seinen Geschwistern…

Was er nicht bemerkte war, dass die Flammen nicht nur durch Glück und einen günstigen Wind von der Lichtung ferngehalten wurden.

Keine Glut fiel ins Gras, keine Funken stoben in den Himmel und suchten zwischen Blumen und Kräutern nach Nahrung. Das Feuer endete wie abgeschnitten am Rand der Lichtung.

Roikes Körper wurde immer schwerer und seine Gedanken begannen träge Kreise zu ziehen. Es schien dunkler geworden zu sein auf der Lichtung…

Aber das bekamen die schlafenden Kinder, zwei Menschen und ein Wesen aus Feuer, nicht mehr mit…
 

Als Roike erwachte, war er nicht länger auf der Lichtung.

Unter seinen tastenden Finger fühlte er weder Gras noch Erde, nur Stein. Kühlen, feuchten Stein, mit Moos bewachsen oder roh und unbehauen.

Der Geruch von Moder, Pech und Eisen lag in der Luft und seine Ohren fingen das leise, schwache Knistern von Flammen auf. Fackelflammen.

Nur seine Augen schienen ihm den Dienst zu verweigern.

Blind stand er auf und suchte mit seinen Fingern nach halt. Sie fanden eine Wand aus Stein, genauso feucht wie der Boden. Zitternd drückte er sich an sie und lauschte in die Dunkelheit. Waren dort Stimmen? Flüsternde Stimmen? Lachen…?

„Keetann?“, seine eigene Stimme klang gedämpft, aber erschreckend schrill in der Finsternis. Dünn und ängstlich, ohne Kraft. „Arla?“

Waren sie hier, spielten sie mit ihm?

„Tut mir Leid, aber sie schlafen noch!“, diese Stimme, seidenweich und dunkel wie alles an diesem Ort, kam von einem Platz hinter Roike. Er fuhr herum und wurde vom Schwung seiner eigenen Bewegung zu Boden gerissen. Ängstlich zitternd sah er auf.

Eine blasse Gestalt schälte sich aus der ewigen Nacht dieses Ortes, in der einen Hand eine bläulich schimmernde Fackel, in der anderen eine seltsam schimmernde Münze. Licht und Schatten malten ein Muster auf das sich stetig verändernde Gesicht. Mal erschien es alt, dann jung, jünger als Keetann und Arla es waren. Die Haare waren mal lang, mal kurz, mal hell, mal dunkel und hingen kurze Zeit glatt nach unten, nur um sich im nächsten Moment wieder zu kräuseln.

Der Mann oder Junge, zumindest schien es in den meisten Gestalten männlich zu sein, lächelte spöttisch, hielt die Münze aus blauem Glas hoch und schaute mit einem Auge durch das schimmernde Material auf Roike.

„Ein Balrog… Blutjung… Und freiwillig in menschlicher Gestalt mit menschlichen Begleitern. Erstaunlich“, er lächelte und seine samtige Stimme hatte einen schnarrenden, misstönenden Klang angenommen.

Balrog… Dieses Wort hatte Roike noch nie zuvor gehört, doch tief in seinem Inneren schlug es eine Seite an, die nie wieder verklingen sollte.

Endlich schien sich der Mann für eine Gestalt entschieden zu haben: Ein junger Mann mit hellen Augen und blassem Haar, das Gesicht schön, aber kalt und ausdruckslos, mit einem Lächeln wie Frost im Frühjahr. Er ließ sich auf die Knie nieder und sah Roike an: „Es ist brav von dir, vor deinem neuen Herrn zu knien, mein junger Balrog. Wie ist dein Name?“

Nun war seine Stimme wieder leise und sanft wie eine Schneeflocke.

Trotzdem flößte sie Roike mehr Angst ein als jede andere Stimme, die er jemals zuvor gehört hatte. Und sie brachte ihn dazu, zu antworten: „Roike…“

Wie schwach allein dieses eine Wort für ihn klang. Misstönend, schrill, zu laut. Trotzdem zwang er sich dazu noch einen weiteren Satz zu sagen: „Ich bin nicht euer Diener!“

Der Mann lächelte ihn milde an, wie einen jungen Hund, der in seinem Eifer über seine eigenen Füße gestolperte war und nun zu den Füßen seines Herrn lag und unsicher winselte.

„Oh doch… Das bist du…“, er stand auf und hob seine Fackel etwas, so dass ihr Licht, diese winzige, schwache Flamme aus blauem Feuer, plötzlich den gesamten Raum, eine Kammer aus Stein und Metall, erleuchtete. Und zwei kleine Gestalten, die reglos in ihrer Mitte lagen.

„Es sei denn, du willst sie tot sehen!“

Rote Linien glühten im Licht der Fackel auf und formten zwei identische Symbole auf der jeweils linken Hand der kleinen Menschen, die Roike voller Schrecken als Keetann und Arla erkannte. Die Linien begannen zu pulsieren und krochen über die Körper der Kinder, woraufhin diese zu wimmern und zu schreien begannen.

Roike schrie ebenfalls, sprang auf die Beine und eilte zu seinen Geschwistern. Sie wanden sich unter Qualen und zuckten wie in Krämpfen. Der Junge konnte nur neben ihnen knien und zusehen – bis die Linien plötzlich erloschen und die beiden Kinder wieder ruhig dalagen, so als ob nie etwas geschehen wäre.

Roike, mit heißen, dampfenden Tränen in den grünen Augen, drehte sich halb um und sah zu dem Mann, der leicht lächelnd näher gekommen war. Er legte eine Hand auf Roikes Haar, wie man es bei einem Hund tat und beugte sich zu ihm herab: „Wirst du nun gehorsam sein, mein neuer Diener?“ Obwohl er dem jungen Balrog so nah war, spürte er keinen Atemzug in seinem Nacken oder an seinem Ohr – doch die Schmerzen seiner Geschwister waren eindeutig real gewesen.

Roike schluckte und nickte. Er musste gehorchen. Für Keetann und Arla.

„Bitte, lasst sie gehen…“, wisperte er und eine schimmernde Träne tropfte auf den Steinboden und fraß ein Loch hinein. Für einen kurzen Moment dachte er daran seine Flammen zu wecken und den Mann zu töten, doch der Impuls erlosch schnell wieder. Wenn der Mann seine Geschwister nicht tötete, würden die schmelzenden Steine es tun.

Der Mann richtete sich wieder auf und nickte lächelnd: „Das werde ich… Aber die Runen bleiben. Ich muss mich doch deiner Dienste versichern, Roike. Balrogs sind schließlich sehr mächtig, sogar so junge und unerfahrende wie du…“

Eine kurze Handbewegung und Roike fühlte sich von eine unbekannten Kraft auf die Beine gezogen und von seinen Geschwistern weggeführt. Er wehrte sich erst, dann gab er es auf. Sie durften gehen und würden leben, nur das war wichtig.

Er wischte sich mit einem Ärmel übe die Augen und versuchte weitere Tränen zu unterdrücken, dann folgte er dem Mann, dem Magier ohne feste Gestalt, seinem neuen Herrn in die Dunkelheit.

„Mein Name ist übrigens Largon…“
 


 


 

Wir ihr seht, geht es endlich voran...

Ein Balrog... Ich hoffe, ihr wisst, was das ist, wenn nciht, erkläre ich das gerne ^^"

Nun aber noch etwas in eigener Sache: Ihr habt nun die bestimmt nicht einmalige Gelegenheit aktiv an dieser Story mitzuarbeiten... Naja, nciht wirklich, aber ich kann mich einfach nicht für den nächsten Kapiteltitel entscheiden...

Ihr habt die Wahl zwischen:

1) In den Armen der Hölle

2) In Feindeshand

3) Jenseits der Finsternis
 

Also, ich erwarte Kommentare und Vorschläge...

In den Armen der Hölle

Ohne Licht, gibt es keinen Schatten…

Und ohne Schatten, könnte man das Licht nicht erkennen…

Zwei Seiten einer Medaille, der Welt – und der Seelen der darauf lebenden Wesen.

Untrennbar auf ewig miteinander verbunden.

Und doch gibt es manchmal Momente im Leben, in denen man am liebsten einfach nur blind wäre…
 

Largon, der Herr der tausend Gestalten, der Mann ohne Gesicht, ein Wesen, dessen Alter vor Urzeiten vergessen wurde und das sich doch in jedem Moment neu erfand.

Ausgestattet mit magischen Kräften vergangener Epochen und einem Wissen, das nicht länger aus dieser Welt stammte, hatte er lange Zeit unter der Erde geruht, mitsamt seinen mächtigsten Dienern. Viele der Hügelgräber waren seiner Macht zum Opfer gefallen und seine Augen und Ohren zur Außenwelt geworden. Dort, wo die Menschen und andere Kreaturen früher ihre Helden und Könige begraben hatten, zog er nun seine Diener heran und schickte sie von dort aus in die Gefilde der Völker der Oberwelt.

Doch auch für ihn und seine Macht gab es Grenzen und Wesen, die selbst er weder beherrschen, noch zähmen, noch kaufen konnte…

Wie die Balrogs, die flammenden Herren des Erdinneren, die zu seiner Jugend, die nur noch in Legenden existierte, die Welt wie eine Geißel beherrscht und gequält hatten. Später waren sie verschwunden und hatten sich in die tausend Reihen mythologischer Gestalten eingereiht. Sie hatten sich von der Oberwelt abgewendet und waren so tief in den Erdkern verschwunden, dass niemand ihnen hatte folgen können – wenn man es gewollt hätte…
 

Doch nun hatte er ein Kind dieser uralten Rasse in seine Gewalt gebracht. Einen Jungen, der nichts über sich und seine wahre Kraft wusste – und der verletzbar und kontrollierbar war ohne ihn sofort töten zu müssen.

Das kam seinen Plänen sehr gelegen…
 

Largon führte seinen neuesten Diener tief in die Unterwelt, in das Höhlensystem, das von einem Hügelgrab zum nächsten führte.

Lange Treppen musste sie hinabsteigen, geführt vom schwachen Schein der blauen Fackel. Und um sie herum, nichts als Dunkelheit und die ewige Stille des Todes.

Roike wagte es nicht etwas zu sagen oder einen Schritt von der Seite Largons zu machen. Die ganze Atmosphäre schüchterte ihn beinah noch mehr ein als der Mann selbst und all seine Drohungen. Ihm war kalt, kälter als jemals zuvor in seinem Leben und er wusste, dass selbst sein Feuer diese Dunkelheit nicht würden erhellen können.

Doch irgendwann endeten selbst diese Treppen und beide Wesen traten in eine große Halle. Roike spürte sofort, wie ihm wieder wärmer wurde und schüttelte sich reflexartig, um die letzte Kälte aus seinen Gliedern zu vertreiben.

„Manchmal muss man durch den Tod gehen, um den nächsten Abschnitt seines Weges zu erreichen…“, säuselte Largon nahe an seinem Ohr.

Durch den Tod?

Roike wollte sich umdrehen, einen letzten Blick zurückwerfen – doch sein neuer Herr fasste blitzschnell nach seinem Kinn und hielt es eisern fest. „Wer dem Tod einmal entkommen ist, darf nicht mehr zurückblicken… Der Tod wird dir schon früh genug wieder begegnen, da musst du ihn nicht noch herausfordern“, dieses Mal war die Stimme schneidend kalt und zischend. Roike starrte ihn an, die grünen Augen weit aufgerissen, dann nickte er zaghaft und Largon lockerte seinen Griff.

„Komm…“, der Magier ging weiter und Roike folgte ihm und sah sich um. Große Säulen stützten die Decke dieser Halle, nur zu erahnen im Schein der blauen Fackel. Nach einigen Minuten der Wanderung durch die Schatten, beschwor Roike eine Feuerkugel und hob sie hoch über seinen Kopf. Endlich konnte er die Säulen sehen, die vollkommen schwarz, aber glatt und schmucklos in die Höhe ragten. Unter seinen Füßen lag eine Staubschicht aus tausenden von Jahren auf dunklen Fliesen.

Der helle, rote Schein seiner winzig anmutenden Feuerkugel neben diesen uralten Riesen, breitete sich immer weiter aus und erfüllte den Saal mit der Anmut und der Erinnerung längst vergessener Tage. Halbdurchsichtige, farblose Gestalten ohne Gesichter begannen zwischen den Säulen zu tanzen, gehüllt in blasse, einstmals kostbare Gewänder. Die Flammen weckten die Geister längst vergessener Feste zum Leben, die unter dieser gewaltigen Steinkuppel ihren letzten Tanz getanzt hatten. Roike sah Königreiche, die sich aus Staub und Stein erhoben, Kriege, die zwischen Wesen geführt wurden, deren Aussehen jeder vergessen hatte, Städte, die in Asche zerfallen und im Meer verschwunden waren und Kinder, die lachten obwohl ihre Welt in Trümmer fiel…

Und all diese Erinnerungen sammelten sich hier, in der dunklen Halle, in die ein kleiner, junger Balrog seit tausenden von Jahren das erste Mal wieder Licht gebracht hatte.

Still wanderte Roike durch die Halle, die Hand mit dem enthüllenden Licht hoch erhoben, den neugierigen Blick auf den immer neuen Erinnerungen ruhend, die an ihm vorbeizogen.

Er würde niemals sagen können, wie lange er in der steinernen Halle hinter Largon her gegangen war, so gebannt war er von den Geschehnissen vergangener Epochen.

Doch irgendwann traten sie in einen dunklen Gang und die nun wieder dunkle, leere Halle blieb hinter ihnen zurück. Roike sollte sie nie wieder zu Gesicht bekommen…
 

Der junge Balrog versuchte die Gänge zu zählen, durch die Largon ihn führte, doch immer wieder verhaspelte er sich oder hatte das Gefühl eine Abzweigung mehrere Male zu passieren. Schließlich säumten immer mehr Fackeln den Weg und leise Geräusche schwebten ihnen entgegen: Stimmengewirr, das ehrfürchtig verstummte, als Largon in eine etwas kleinere Halle trat.

Eingeschüchtert starrte Roike auf die unterschiedlichen Wesen, die sich um eine Art Thron versammelt hatten. Sie alle verneigten sich vor Largon und das leise Rascheln vielfältiger Stoffe und Federn wehte durch den Raum.

Largon ging durch die Reihen, die sich respektvoll vor ihm teilten und nahm auf dem Thron aus dunklem Holz Platz. Der Stuhl wirkte auf den ersten Blick schlicht und leblos, doch die rückwärtige Lehne zierte ein großes, geschlossenes Auge, das sich in Gegenwart seines Herrn öffnete und bläulich glühend und pupillenlos nach hinten starrte um dessen Rücken zu sichern.

Roike blieb unsicher vor dem Gang, durch den sie gekommen waren, stehen und starrte zu Largon hinauf, der mit einem Nicken alle im Saal dazu brachte, sich wieder aufzurichten. Das alles hier war ihm mehr als unheimlich.

Es gab vogelähnliche Wesen mit bunten Federn und langen Schnäbeln, Menschen in fremdartigen Gewändern, aufrecht gehende Wölfe, Orks in schäbigen Lumpen und vor Waffen starrend, Schlangen mit einem menschlichen Oberkörper, halb durchsichtige Frauen mit schönen, aber leidvollen Gesichtern und dunklen Augen, winzige Lichtkugeln, die in einem seltsamen Muster durch die Luft tanzten und Soldaten, überall Soldaten.

Männer und Frauen in schimmerndem Metall, mit Lanzen und Speeren, die sie um mehr als einen Kopf überragten, mit Schwertern verschiedenster Machart und Dolchen, die tödlich im Fackelschein glitzerten.

Und doch hatten all diese Wesen etwas gemeinsam: Sie wirkten nicht wirklich lebendig. Sie atmeten, zwinkerten, bewegten sich, hatten zuvor sogar noch miteinander geredet – und doch wirkten sie wie von einem feinen, grauen Nebel oder Schleier bedeckt und marionettenhaft.

Roike sah auf seine eigenen Hände herab und bemerkte erleichtert, dass sie noch ihre normale Farbe aufwiesen. Auch Largon schien von diesem seltsamen Schauspiel verschont zu werden, denn er saß hell schimmernd auf seinem Thron und musterte Roike mit einem belustigten Lächeln.

Er winkte ihn heran und der Junge folgte der Aufforderung zögernd. Ihm war als ginge er durch ein Meer aus Schatten ohne wirkliche Gesichter um das einzige andere, lebendige Wesen in diesem Raum zu treffen. Vor dem Thron aus schwarzem Holz sank er zu Boden und kniete nieder, das Haupt demütig gesenkt und begab sich vollends in die Hände seines neuen Herrn…
 

Roike wankte in die Kammer, die man ihm damals, bei seiner Ankunft, zugewiesen hatte und ließ sich auf sein Bett fallen.

Wie lange war das schon her?

Stunden? Tage? Monate? Jahre…?

Hier unten, in der ewig scheinenden Finsternis, die er seit jenem schicksalhaften Tag seine Heimat nannte, gab es so etwas wie Zeit nicht. Sie verlor an Bedeutung und schrumpfte zu einer unnützen Größe zusammen.

Doch seitdem er hier war und Largon seine Treue geschworen hatte um Keetanns und Arlas Leben zu retten, musste er trainieren.

Schwertkampf, Speerkampf, Axtkampf, Dolchkampf, Bogenschießen, Armbrustschießen, unbewaffneter Nahkampf, Strategie…

Für seine Lehrmeister, alte Veteranen mit zerfurchten Gesichtern und leeren Augen, schienen solche Begriffe wie Gnade, Müdigkeit und Schmerzen nicht zu existieren. Und egal wie oft er auch trainierte, immer fanden sie Fehler, kannten sie neue Tricks und Manöver, waren sie schneller als er…

Nur Largon zeigte Ansätze von Zufriedenheit, doch Roike glaubte in seinen Augen, diesen Kristallen ohne Wärme, erkennen zu können, dass er auf etwas ganz Bestimmtes wartete.
 

Ein leises, lebendiges Geräusch in dieser Welt aus Stein, Metall und Dunkelheit, ließ ihn aus seinen Gedanken erwachen und er richtete sich mit schmerzenden Knochen auf.

Neben dem Kopfende seines Bettes hing ein kleiner Käfig aus Draht und dünnen Eisenstangen. Ein winziger, gelber Vogel saß darin auf einer hölzernen Stange und tschilpte leise.

Am Boden des Käfigs stand ein Schälchen mit Körnern und Nussstückchen, daneben eine kleiner Wasserschale. Zwischen den Stäben klemmte ein Stück Apfel.

Der Vogel tschilpte noch einmal, legte den Kopf schief und sah Roike aus flinken, klugen Knopfaugen an, was den Jungen zum Lächeln brachte. Selbst in tiefster Dunkelheit gab es noch einen Lichtschimmer…

Und wenn er so klein war, wie dieser Piepmatz, der ein Geschenk eines südländischen Stammesfürsten an Largon gewesen war, bevor Roikes Herr ihn an seinen Diener weitergeben hatte.

Roike streckte einen Finger zwischen das Drahtgeflecht und der Vogel schmiegte sich an ihn und ließ sich sanft übers Gefieder streichen. In dieser so lebensfeindlichen Welt waren sie einander die einzigen Freunde, die sie hatten und erinnerten einander an das, was auf der Oberwelt alltäglich war. „Bitte sing“, flüsterte Roike und lehnte seinen Kopf an das kühle Metall.

Der kleine gelbe Vogel zwitscherte leise, dann erhob er eine Stimme, zart und weich wie ein Sonnenstrahl, die den ganzen Raum zu erhellen schien. Die Finsternis wich furchtsam zurück und sammelte sich zitternd in den entferntesten Ecken, während Roike verzückt der klaren Stimme lauschte, die ihn an früher erinnerte und sein jetziges Leben zumindest etwas erleichterte. Er war überglücklich, dass Largon ihm erlaubt hatte, dieses winzige Wesen zu behalten. Warum, war ihm immer noch ein Rätsel.

Er lächelte schwach und schloss die Augen um sich für einen Moment ganz in den leisen Tönen zu verlieren. Helle, glühend heiße Tränen fielen wie kleine Sterne strahlend zu Boden und brannten sich tief in den Stein, der schon tausende solcher Spuren aufwies.

Wie sehr er sich doch zurück wünschte…

Ins Lager der Zigeuner, während die Hunde fröhlich kläfften und Zarik pfeifend Holz schlug. Mirja würde am Fluss Wäsche waschen und Enna den Kindern Geschichten erzählen. Er konnte Keetanns und Arlas staunende Gesichter förmlich vor sich sehen, ihre dunklen Haare, die Augen weit vor Verwunderung aufgerissen…

„Ich will wieder zurück“, wisperte er dem Vogel leise zu. „Ich will sie wieder sehen…“

Der Vogel verstummte und sah ihn aus seinen dunklen Augen an. Dann flog er auf den Boden seines Käfigs und pickte ein paar Körner auf. Roike seufzte und ein paar letzte Tränen fielen zu Boden, dann straffte sich seine Gestalt wieder und er wischte sich mit dem Handrücken über die Augen.

Wenigstens waren seine Geschwister noch am Leben.

Und wenn er sie nie wieder sehen sollte…
 

Eine weitere Trainingseinheit in den Tiefen der Erde…

„Monate“ nachdem Roike von seinem Herrn hierher geführt worden war.

Oder „Jahre“?

Wie schon unzählige Male zuvor trainierte Roike mit einem seiner Lehrer den Schwertkampf. Immer wieder sausten die Schwerter aufeinander zu, durchschnitten mit einem singenden Ton die Luft, trafen klirrend aufeinander und verkeilten sich schließlich mit einem hässlichen Knirschen, nur um gleich darauf wieder voneinander gelöst zu werden.

Es war immer das Gleiche: Parade, Angriff, Verteidigung, Angriff, Konter, Parade…

Roike spürte das Gewicht des Schwertes, das inzwischen wie eine Verlängerung sowohl seines rechten als auch seines linken Armes geworden war, kaum noch und reagierte wie in Trance auf alles, was sein Lehrer tat.

Er bemerkte nicht wie sein Herr an den Rand des Übungsplatzes trat und eine Hand hob, die Finger zur Faust geballt. Er sah lächelnd zu Roike und seine Züge veränderten sich. Das Gesicht des Jünglings verschwand und machte den scharf geschnittenen Zügen eines kahlköpfigen Mannes Platz, dessen Augen pechschwarz waren. Mit dem jugendlichen Aussehen, verschwand auch das Lächeln, stattdessen zog sich eine ölig schimmernde Tätowierung über die rechte Gesichtshälfte.

Largon sah zu seiner Faust und flüsterte tonlos einige Worte, dann öffnete er sie und etwas dunkles, unvorstellbar Hässliches wuchs heran. Bald überragte es den Mann um mehrere Köpfe.

Erst als sein Herr die Hand wieder herunter nahm, begann es sich zu regen. Blinde Augen schienen sich direkt auf den feurigen Schopf des jungen Balrogs zu richten und eine Art zackiger Schnabel öffnete sich zu einem leisen, drohenden Schnarren, dann wankte das nackte, faltige Wesen ein paar Schritte vor. Überlange Klauen mit dreckigen Krallen öffneten und schlossen sich ohne Unterlass, während ein langer, schuppiger Schwanz beinahe lautlos über den Boden schleifte und eine dunkle Spur hinterließ.

Selbst als sich das Wesen hinter Roike aufbaute und sich eine Art Kamm aus armlangen Stacheln auf seinem Kopf rasselnd aufstellte, bemerkte der Junge die Gefahr nicht. Zu versunken war er in den immer gleich erscheinenden Ablauf des Kampfes.

Sein Lehrer achtete wesentlich besser auf seine Umgebung. Mit einem schnellen Blick erfasste er die Situation und auch seinen Herrn am Rand des Platzes und wich dann zurück.

Das Wesen zischte und Roike fuhr endlich herum. Sein Gesicht verzerrte sich vor Grauen und er wich stolpernd einige Schritte zurück.

Seine Schwerthand fühlte sich plötzlich taub an und die Finger schlangen sich so fest um den Griff, dass die Knöchel weiß hervortraten.

Das Wesen zischte noch einmal, dann riss es den gewaltigen Schnabel auf und enthüllte eine hornige, mehrfach gespaltene Zunge. Mit einer Schnelligkeit, die niemand diesem massigen Koloss zugetraut hätte, schoss es auf den Jungen zu und schnappte nach ihm.

Roike fiel nach hinten und konnte so gerade noch ausweichen. Über ihm schloss sich der Schnabel mit dem Geräusch einer Stahltür und Geifer tropfte auf ihn herab. Blindlings schlug er mit dem Schwert nach dem Wesen, doch er verfehlte es, als es den Hals schnell zurückzog und mit einer Klaue nach ihm schlug. Die Krallen rissen seine Seite auf und brennendes Blut spritzte über den Boden. Rauchend begannen sich die Steine zu zersetzen und das Wesen wich mit einem klagenden Schrei zurück, nur um dann noch wütender und wilder anzugreifen.

Der junge Balrog schaffte es irgendwie unter dem Ansturm von Klauen und Schnabel wieder auf die Füße zu kommen und die Attacken halbwegs abzuwehren, doch die Wunde in seiner Seite schmerzte höllisch und behinderte ihn.

Ihm kam eine Idee und bei der nächsten Attacke des Biestes wich er nur ein kleines Stück zurück, presste dann seine Hand erst auf die Wunde und dann auf den Kopf des Wesens.

Ein grauenvoller Schrei erfüllte die Höhle als das feurige, säureartige Blut sich tief in den Schädel der Bestie fraß und einen erstickenden Gestank freisetzte.

Der riesige Koloss stürzte in sich zusammen und begrub den jungen Balrog halb unter sich, was Roike zum Aufschreien brachte. Mit einer gewaltigen Kraftanstrengung gelang es ihm, sich unter dem Wesen hervor zu arbeiten und wieder aufzustehen, das Schwert wachsam erhoben.

Doch die Bestie, von deren Kopf noch immer Rauch aufstieg, rührte sich nicht mehr. Nur ihr Körper erzitterte bei jedem Atemzug etwas.

„Töte sie!“, verlangte der Lehrer des Jungen. Roike hob sein Schwert und wollte diese Gefahr für immer ausschalten. Es war vollkommen logisch es zu tun, schließlich könnte sich das Wesen immer noch ein letztes Mal erheben und ihn angreifen…

Aber…

Er konnte es einfach nicht.

Egal wie sehr diese hässliche, mörderische Bestie ihm auch Furcht einflößte, egal wie sehr sein Verstand nach dem Tod verlangte – sein Herz sträubte sich dagegen.

Zögernd ließ er das Schwert wieder sinken und wandte sich wie betäubt ab.

Sein Lehrer sah ihn wütend an, dann weiteten sich seine Augen und er zog den Jungen schnell zu sich, so dass Roike nach vorne stolperte. Noch während er fiel hörte der Balrog hinter sich einen markerschütternden Schrei.

Als er sich wieder aufrappelte und umdrehte, zog sein Lehrmeister gerade das Schwert aus dem Kadaver der Bestie, die sich noch kurz vor dem Tod wieder halb aufgerichtet und nach Roike geschnappt hatte.

Noch während der letzte Funken Leben aus dem stinkenden Leib des Scheusals wich, wurde es immer kleiner und zierlicher. Klauen wurden zu Flügeln, die blinden Augen wurden klein und mattschwarz, der nackte Körper bedeckte sich mit hellgelben Federn und der Schwanz schrumpfte zusammen.

Zurück blieb nur ein winziger, gelber Vogel, der nie wieder für Roike singen würde.

Der junge Balrog starrte eine für ihn ewig erscheinende Zeit auf den Leichnam, dann spürte er, wie eine Flamme tief in seinem Inneren entstand und an die Oberfläche drängte. Sie schien sein Fleisch zu zerfetzen und seine Eingeweide zu quälen und nach Blut und Rache zu verlangen.

Ohne wirklich zu wissen, was er da tat, streckte er seine Hand aus und formte eine Kugel aus Feuer, deren Flammen sich über seine Arme und Schultern ausbreiteten, während seine Augen zu lodern schienen.

Eine werfende Bewegung und der Lehrmeister, der nichts ahnend neben dem toten Vogel stand, ging mit einem grässlichen Schrei in Flammen auf und zerfiel innerhalb von Sekunden zu Asche.

Zurück blieb ein kleiner Junge, der sich so kalt und leer fühlte wie noch nie zuvor in seinem Leben und ein Magier, der vollends zufrieden in sich hinein lächelte…

Roike, auch wenn er noch kaum verstand, was geschehen war – was er getan hatte – hatte seine Lektion gelernt…
 


 


 

Ich hoffe, ihr versteht welche Lektion ich meine...
 

Wir sehen und im nächsten Kapitel "Die rote Garde"

Die rote Garde

Tausend Ziele…

Tausend Wege…

Und doch gelingt es uns immer wieder genau den Weg zu wählen, der am meisten Leiden schafft – ob nun für uns oder für unsere Mitmenschen.

Oder wählt der Weg uns?
 

„Er hat dein Leben gerettet, dich jahrelang trainiert… Und du hast ihm umgebracht?“, man konnte dem dunkelhaarigen Mann ansehen, wie sehr ihn diese Vorstellung abstieß. Er war aufgesprungen und stand nun vor dem einfachen Feldbett. Sein anklagender Blick ruhte fest auf dem blassen Gesicht des in ihm ruhenden Jungen.

In seinem Volk galten Ehre und Lebensschulden sehr viel und zudem war es für ihn undenkbar einen Menschen oder irgendein anderes, denkendes Wesen wegen einem toten Vogel zu ermorden.

„Ich weiß, dass es nicht Recht war… Inzwischen weiß ich es“, meinte Roike matt. „Aber… dieser Vogel war mein Freund, der einzige Freund, den ich dort hatte. Ich konnte es einfach nicht ertragen ihn auch noch zu verlieren und…“, er brach ab und hustete gequält.

Der Mann beobachtete mit einem undeutbaren Gesichtsausdruck, wie der Junge die Augen schloss und ein paar Mal versuchte tief durchzuatmen.

„Ich bereue es…“, murmelte er nach einiger Zeit tonlos. „Ich verstehe selbst nicht genau, warum ich das damals tat… Aber ich bereue es!“

Er schlug die Augen wieder auf und blickte zur Zeltdecke ohne sie wirklich zu sehen. In Gedanken durchlebte er noch einmal das Geschehen:

Die Wut, den Schmerz, den Hass – die Verzweiflung und die Leere…

„Es war eine Lektion… Largon wollte mich lehren zu töten. Zuerst versagte ich, doch dann…“, er brach ab und zögerte weiter zu sprechen. „Ich weiß nicht wie lange ich diesen Mann schon kannte und ob er mich mochte oder nur aus Pflichtgefühl rettete. Ich werde es nie erfahren… Doch was Largon mit all dem bezweckte, dass er den Tod meines Lehrmeisters einfach mit einkalkulierte, das weiß ich inzwischen. Und es gab noch mehr solche Lektionen…“, sein Blick wurde eine Spur dunkler.

„Doch es sind zu viele gewesen, um sie jetzt aufzuzählen. Wichtig ist nur, dass ich sie alle irgendwann meisterte…“
 


 

Leere…

Irgendwann, im Laufe der Zeit, hatte sich ein schleichendes, eisiges Gefühl in Roikes Inneren breit gemacht, dass man schlicht und einfach nur als „Leere“ bezeichnen konnte. Es nagte an seiner Kraft, riss an seinem Herzen und fraß seine Seele auf.

Jede Übungseinheit, jede Stunde, jeder Tag – Monat – Jahr – in dieser dunklen Hölle ohne Leben und Wärme verbrachte, ließ die „Leere“ in ihm anwachsen und lieferte ihn ihr aus wie ein Opferlamm einer wartenden Bestie.

„Morgens“, Zeit war so relativ geworden in der ewigen Finsternis, stand er von seinem Lager auf, „Abends“ fiel er wieder darauf zurück und starrte wie ein Blinder zur Decke. Immer seltener dachte er an Keetann und Arla, doch ganz verschwanden sie nie aus seinen Gedanken.

Für sie, für ihre Leben und ihre Zukunft, atmete er weiter, kämpfte er weiter, stellte er sich tagtäglich seinen Lehrmeistern und indirekt auch jenem Mann, der ihr Schicksal zwischen seinen Fingern hielt.

Und ohne dass er es bemerkte, wurde er grau…

Es war nicht der seltsame, staubige Nebel, der sich in Largons Thronsaal wie ein unfühlbarer Schleier über jedes lebendige Wesen legte und wie Statuen wirken ließ.

Es war reine Kälte, geboren aus der Finsternis, die Roikes flammendes Herz erstickte und seine Kraft in sich aufsaugte. Sein Haar wurde strähnenweise grau und weißlich, vom Ton feiner Ascheflocken, seine Haut war blass und durchscheinend und seine Augen fahl und stumpfes wie blindes, hellgrünes Glas.

Er starb ohne es selbst zu bemerken…
 

Doch Largon wusste es und begann seine Pläne dementsprechend umzugestalten. Im Geheimen schickte er seine Häscher und Schergen in die größten Universitäten und Schulen der bekannten Welt und ließ sie nach einer Lösung suchen, wie er sich seinen Diener erhalten konnte. Zumindest solange, bis dieser seine ihm zugedachte Aufgabe erfüllt hatte.

Und in den Katakomben der alten Bibliothek des versunkenen Varna, fand einer seiner Leute eine Schriftrolle aus der Zeit als die Balrogs noch die Herren der Welt gewesen waren und alle Wesen unter ihrer feurigen Präsenz gelitten hatten.

In diesem alten Pergament fand sich neben einigen haarsträubenden Geschichten eine Lösung für Largons Problem, die so profan und lächerlich simpel war, dass man das Lachen des Magiers bis in die tiefsten Winkel seines unterirdischen Reiches hören konnte.

Irgendwann, nach einer Zeit, die ihm wie eine halbe Ewigkeit vorkam, war Roikes Ausbildung beendet. Wie lange sie wirklich gedauert hatte, wusste er nicht, aber es musste lange gewesen sein, denn seine menschliche Gestalt war gealtert. Nicht allzu viel, aber genug um deutlich zu sein.

Noch immer war er weder nach menschlichen Maßstäben, noch nach denen seines eigenen Volkes erwachsen, doch er war in der Lage die in ihn gesetzten Erwartungen vollends zu erfüllen.
 

Als Schatten seiner selbst trat Roike wieder hinaus ins Sonnenlicht und ließ die Eingeweide der Erde vielleicht für immer hinter sich.

Es war ein betörend schöner Sommertag mit hellen, weichen Federwölkchen an einem strahlend blauen Himmel und einem lauen, duftdurchtränkten Wind, der sanft über die grünen Blätter und Gräser streichelte. Als ob die ganze Welt dieses Wesen, diesen Geist, der nach Jahren wieder auf ihrem Antlitz erschien, verhöhnen und ihm ein für alle mal deutlich machen wollte, dass er auf ewig ein fremder in dieser Welt bleiben würde.

Roike achtete nicht darauf und folgte seinem Herrn in den Wald. Es war dasselbe Waldstück, durch das er Jahre zuvor mit seinen Geschwistern geflohen war. Die Schneise, die die von den Räubern verursachten Brände damals geschlagen hatten, war bereits wieder von einem gnädigen Mantel aus frischem Grün verdeckt.

Largon führte seinen Diener bis zum Waldrand, wo sie eine Truppe schwer bewaffneter Reiter erwartete. Ihre massigen, kräftigen Pferde wieherten dröhnend als ihnen der Geruch von Asche und Rauch in die Nase stieg und warfen unruhig die Köpfe zurück.

Ein einzelnes Pferd stand ohne Reiter neben einem staubbedecktem Haufen Rüstzeug, der in ein rötliches Tuch eingeschlagen war.

„Deine Rüstung. Lege sie an, Roike, dann erkläre ich dir deine Aufgabe!“, befahl Largon und wies erst auf den Haufen, dann auf den Wald.

Der Junge gehorchte stumm. Die skeptischen Blicke der wartenden Reiter folgten ihm als er in den Wald ging. Largon wartete mit einem geheimnisvollen Lächeln auf den blassen Zügen bis sein Diener zwischen den Bäumen verschwunden war, dann hob er die Arme, spreizte die Finger und wandte Gesicht und Handflächen zum Himmel.

Er schloss die Augen und verharrte in dieser Position, während seine Haare immer länger und pechschwarz wurden. Sein Gesicht verlor noch mehr an Farbe, wurde älter und strenger, während sich eine breite Narbe vom Kinn bis hin zur Augenbraue ausbreitete. Er ähnelte immer mehr einem Priester, der seine Götter anrief um ihren himmlischen Zorn auf all seine Feinde herab zu rufen…

Und die Götter schienen seinen lautlosen Ruf zu erhören:

Zuerst war nur ein leises, kaum wahrnehmbares Summen zu hören, dann steigerte es sich zu einem aggressiven Sirren und über Largons Haupt bildete sich ein Feuerrad. Es drehte sich immer schneller und die züngelnden Flammen fauchten wie hungrige Raubtiere als sie von Magie in die Luft gehoben und auf Zweigen, Ästen und Blättern wieder abgesetzt wurden. Gierig fraßen sich die Lohen tief in die Stämme der Bäume und breiteten sich innerhalb weniger Wimpernschläge im gesamten Wald aus. Es dauerte nur ein paar Minuten, dann stand alles in Flammen, die sich wie greifende, flehende Hände gen Himmel reckten und um Erlösung flehten.

Und inmitten dieser irdischen Hölle stand Roike – und saugte die Hitze des Brandes gierig in sich auf. Die Flammen umspielten ihn, streichelten über seinen Körper und brachten das Leben in ihn zurück. Sein eisiges Herz sang mit dem Fauchen der Lohen und antwortete dem Ächzen der ersterbenden Bäume. Wie pulsierende, glühende Lava jagte das Blut durch seine Adern und sprengte den kalten, tödlichen Panzer einfach hinweg.

Einen Moment zögerte der junge Balrog noch, dann gab er seine menschliche Gestalt auf und verband sich völlig mit dem tosenden, fauchenden Feuersturm.

Angeheizt und verstärkt durch die Anwesenheit ihrer lebenden Verkörperung verbrannte das Feuer innerhalb weniger Minuten mehrere Hektar Land zu kleinen Häufchen feiner, grauer Asche. Durch die letzte Glut schritt Roike zurück zu Largon und den wartenden Reitern, die inzwischen Mühe hatten ihre panischen Pferde zu bändigen.

Die Haare des jungen Balrogs loderten wieder in der Farbe neu entflammten Feuers in die Höhe und seine Augen strahlten stechend grün. Er trug nun die Rüstung, die die Flammen dank Magie überstanden hatte und jetzt, in Verbindung mit Roikes innerer Hitze rot und golden glühte. Er hob eine behandschuhte Hand und das Glühen sprang auf die Reiter über: Waffen und Rüstungen, sowie die Metallteile am Schutz und Zaumzeug der Pferde, begannen die gleichen Farben anzunehmen.

„Deine Untergebenen, mein junger General“, verkündete Largon und breitete lächelnd die Arme aus. Zwischen all den feuerroten Gestalten wirkte er in seiner hellblauen und weißen Robe und in der gewohnt blassen Gestalt wie ein strahlender Engel.

Roike schwang sich auf das wartende Pferd, das als einziges der Tiere völlig ruhig geblieben war, und spürte sofort das schwache Kribbeln von Magie unter seiner Berührung aufflammen und das Pferd bäumte sich jäh auf:

Mähne und Schweif fingen Feuer, das ganze Wesen schien bis auf die blanken Knochen nur noch aus formgebenden Flammen zu bestehen. Als es wieder ruhig stand, die Erde dampfte unter seinen Hufen, wandte es seinem Reiter wartend den Kopf zu. Die dunklen Augen waren leer und leblos, bis auf ein paar überirdische, glitzernde Punkte, letzte Spuren der Magie, die dieses Wesen erschaffen hatten.

„Was soll ich tun, Herr?“, Roike spürte wie sein Blut glühend heiß durch seine Adern schoss und reine Macht mit sich brachte.

Macht, die die Trauer über das tote Ding, das man ihm als Reittier anvertraut hatte, einfach wegspülte.

Macht, genug um sich von Largon zu befreien – oder zumindest den Versuch zu wagen…

Aber wenn er starb, wären auch Keetanns und Arlas Leben verwirkt.

„Nicht weit von hier liegt ein Dorf. Seine Bewohner sollen die Nachricht meiner Ankunft an alle Völker überbringen.“

Roike entging der spöttische Unterton in der Stimme seines Herrn nicht und er musterte ihn prüfend. Er sah die zu einem grausamen Lächeln verzogenen Lippen und das abwartende, berechnende Funkeln in den blassen Augen und wandte sich unglücklich ab. Doch er wusste, dass er keine Wahl hatte und nahm den Helm entgegen, den ihm einer der Reiter hinhielt.

Schweigend, einen Stich im Herzen spürend, betrachtete er das fein gearbeitete Visier:

Eine Dämonenfratze starrte ihm entgegen, wie eines jener Scheusale, von denen Enna immer abends am Feuer erzählt hatte, wenn Keetann und Arla wieder einmal eine Geschichte hatten hören wollen. Doch diese Dämonen waren kalt und aus Stein gewesen, dunkle Wesen, denen Feuer geschadet hatte.

Doch nun wurde Roike plötzlich bewusst, dass all diese Dämonen aus Ennas Geschichten nur wegen ihm keine Macht über das Wildeste aller Elemente besessen hatten.

Bin ich das? , fragte sich Roike und ein kleiner Teil von ihm krümmte sich zusammen und weinte, während er in einen rotgoldenen Spiegel zu blicken schien.

Bin ich ein Dämon?

Mit ein paar zögernden Handgriffen setzte er den Helm auf und klappte das Visier herunter. Largon legte ihm eine Hand auf die Schulter: „Mache deine Sache gut, mein feuriger Bote!“

Roike nickte, alles was er fühlte, hinter einer Maske verborgen, die härter und undurchdringlicher als Stahl war, dann saß er auf und preschte davon, gefolgt von seinen Leuten.

Zurück blieben nur Wolken aus Asche und Rauch.
 

Leuchtend gelb strahlten die riedgedeckten Dächer der Häuser im hellen Schein der Sonne. Das Dorf, das außer Sichtweite des zerstörten Waldes lag, war weitaus größer als Roike es sich vorgestellt hatte.

Hinter zugespitzten Palisaden aus dunklem Eichenholz, erhob sich eine kleine, mit Liebe gefertigte Steinmauer, auf der ein paar freiwillige Wachen patrouillierten, lagen gut vier Dutzend einfache, aber saubere und gepflegte und Katen, zwischen denen Männer, Frauen und Kinder umherliefen.

In der Mitte des Dorfes, oder der kleinen Stadt, wie Roike voller Schmerz beschloss, befand sich ein kleiner, runder Platz mit einem winzigen Brunnen in der Mitte. Bunte Planen glitzerten im Sonnenschein und die lockenden Stimmen der Marktschreier drangen bis zu der rotgewandeten Armee, die auf einer Anhöhe angehalten hatte.

Außerhalb der Mauern lagen große Gemeinschaftsfelder, die von einigen Männern aus einem schmalen Fluss bewässert wurden. In einiger Entfernung zum frischen Grün der Schösslinge weideten ein paar Kinder die Rinder, Pferde und Schafe des Dorfes. Der ferne Gesang eines Mädchens erklang dünn durch die Rufe des Marktes.

Der junge Balrog sah auf das friedliche Bild hinab und krallte die Finger um die Zügel. Sein ganzes Selbst sträubte sich gegen das, was er im Auftrag Largons tun sollte – und doch hatte er keine Wahl.

Er warf einen Blick über die Schulter zu den wartenden Reihen seiner Krieger, dann hob er die Hand hoch über den Kopf und ließe eine Kugel aus Feuer darin entstehen. Wie eine Sphäre aus flüssigen Flammen legte sie sich um seine Finger und drehte sich in schillernden Schlieren. Wofür Largon Beschwörungen und Gesten benötigte, brauchte er nur seinen bloßen Willen.

Ein letztes Mal wandte er seinen Blick auf das nichtsahnende Dorf – die leuchtenden Dächer, das Treiben auf dem Markt, die Bauern auf den Feldern, die Kinder auf den Weiden – und brannte sich jedes einzelne Detail dieses idyllischen Bildes auf ewig ins Gedächtnis ein.

Dann entließ er den glühenden Ball, der lautlos auf das größte Haus des Dorfes zuschoss und irgendwo im Rieddach verschwand.

Sekundenlang geschah nichts, dann explodierte das gesamte Gebäude und verteilte brennende Bruchstücke sowie einen Schwall flüssigen Feuers auf die umliegenden Häuser. Der eigentliche Knall erreichte die wartenden Reiter erst einen Augenblick später und führte eine Druckwelle mit sich, die deutlich in allen Knochen spürbar war. Die Pferde schrien panisch auf und stiegen. Alles in ihnen drängte zur Flucht.

Roike, auf seinem völlig ruhigen, magischen Reittier, schenkte den Versuchen seiner Leute, die Tiere zu beruhigen keine Beachtung und sah zu, wie der pechschwarze Rauch anklagend zum strahlendblauen Himmel emporstieg.

Eine knappe Handbewegung später und das große Tor zur Stadt stand ebenfalls in Flammen, die nach allem griffen, was sich ihnen näherte.

Roike senkte seine Hand langsam, während seine Leute, die ihre Pferde wieder unter Kontrolle gebracht hatten, an ihm vorbei und runter ins Dorf preschten.

Als die ersten Schreie ihren Weg den Hügel hinauf fanden, drehte er sich weg und wollte davon reiten, doch dann zwang er sich, wieder hinzu sehen und zu bleiben. Dies war sein Werk, seine Schuld. Er musste hier bleiben und sehen, was er angerichtet hatte.

Meine Schuld…

Ohne das Treiben seiner Männer auch nur einen Augenblick aus den Augen zu lassen, fasste er tief im Inneren einen Beschluss: Sollte er jemals aus Largons Fängen entkommen können, würde er so weit fortgehen, wie es ihm möglich war. Keetann und Arla sollten niemals erfahren, dass ihr Bruder ein Mörder war…
 

Später, viel später, sollte sich niemand mehr erinnern, wer die ersten Opfer der Männer und Frauen waren, die wie ein Fluch über das ganze Land kamen: Die rote Garde.

Angeführt von einem Dämon mit dem Segen des Feuers, überrannten sie innerhalb weniger Wochen mehrere Dörfer und Städte, während ihnen Diebe, Mörder und Plünderer wie ein Fliegenschwarm folgten und in dem verbrannten Aas wühlten, dass sie hinterließen. Sie waren eine Seuche, die ganze Regionen in eine menschenleere, schwelende Einöde verwandeln konnten und denen sich immer mehr Gesetzlose anschlossen.

Mit jedem Sieg wurde ihre Zahl größer, mit jedem Schrecken schloss sich ihnen eine weitere Scheußlichkeit an.

Sie machten keinerlei Unterschiede zwischen arm und reich, Mann oder Frau, Zwerg, Mensch oder Elf, Erwachsenem oder Kind. Jedes Volk kämpfte für sich um seine Rettung und gegen die Versuche der anderen Lebewesen, sich gegen die rote Garde zu behaupten, doch sie waren schlecht organisiert und zu sehr in Streitereien untereinander und miteinander verwickelt, dass sie leichte Beute waren.

Dennoch gab es selbst in dieser dunklen Stunde einige Wenige, die den blassen Stern der Hoffnung nicht gänzlich aus den Augen verloren. Durch die finsteren Nebel des Krieges strahlte er auf sie herab und zeigte ihnen eine letzte Chance.

Diese Männer und Frauen waren es, die Söldner aus anderen, kampferfahreneren Reichen anwarben und von Einigung und Einheit sprachen, um wenigstens etwas Widerstand leisten zu können.
 


 

„Und so kreuzten sich schließlich unsere Wege, Lieard…“
 


 

>>> Der Krieg hat also begonnen, nun müssen wir nur noch die Fronten klären. Auf ein Wiedersehen im nächsten Kapitel: "Und die Welt ist schlecht!" <<<

Und die Welt ist schlecht!

Die Welt ist grausam – und macht grundsätzlich keine Gefangenen!
 

Lieard, der zu Beginn seines Lebens niemals damit gerechnet hätte, was er noch alles erleben würde, war in einem kleinen Dorf am Rande einer großen Schlucht, die man das Höllentor nannte, geboren worden, fernab des Landes, wo er später auf Roike und seinen Herrn treffen sollte.

Das Leben in diesem Dorf war nicht immer einfach gewesen, denn die Erde war karg und das Klima rau und unbeständig. Man sagte dort, dass das Land seine Bewohner formte und tatsächlich waren die meisten Leute dort genauso knorrig und eisig wie ihre Umgebung und verbrachten ihre Zeit lieber auf Raubzügen und in Tavernen anstatt die wenige fruchtbare Erde zu bestellen.

Auch Lieards Heimatdorf schrumpfte von Jahr zu Jahr und viele der dicht an die Erde gedrängten Hütten standen leer und verfielen. Nur die Alten und die Kinder blieben zurück und wehrten sich verzweifelt gegen den immer schneller voranschreitenden Prozess.

Doch während sich die Alten bis zum Ende an ihr sterbendes Land klammerten, gaben die Kinder ihre Illusionen bald auf und suchten ihr Glück in der Fremde…

So auch Lieard.

Als ungelernter Krieger mit nicht mehr bewaffnet als mit einem alten, halb stumpfen Messer und einem Speer, machte er sich auf in die Welt und folgte der Straße nach Süden. In seinen Vorstellungen warteten Länder voller Reichtum und Abenteuer auf ihn, Prinzessinnen mit einem bezaubernden Lächeln und Ritter in strahlenden Rüstungen, die ihn als ihresgleichen annahmen.

Doch die Realität sah anders aus: Die anderen Länder bestanden aus Felswüsten und bitterer Erde, genau wie seine eigene Heimat und die Adligen lebten fernab der einfachen Menschen und bewahrten sich ihre falsche Freundlichkeit für schillernde Feste voller Dekadenz und Intrigen. Lieard fand nur Hunger, Tod und Kampf.

Auf seiner Wanderung lernte er, ob er nun wollte oder nicht, mit einem Schwert umzugehen und mit einem Pfeil selbst die beweglichsten Ziele zu treffen. Ein alter Söldner hatte Mitleid mit dem Jungen, der das Herz voller Träume, aus dem toten Land gekommen war und nichts weiter vorgefunden hatte als das, was er hatte hinter sich lassen wollen. Er lehrte ihn die Tricks und Kniffe, die Lieard später oft das Leben retten sollten und unterwies ihn in der Führung jeder Waffe, die er finden konnte.

Doch was noch wichtiger war als jede Waffenkunst, war die Einstellung, die er an seinen Schüler weitergab: Er brachte ihm bei über das Leben zu lachen, Ideale zu entwickeln und daran festzuhalten und einen Kampf niemals aufzugeben.

Zwei Jahre später starb er im Krieg zweier verfeindeter Reiche und ließ Lieard allein zurück.

Der junge Mann trauerte drei Tage am Grab seines Freundes und Lehrers, dann machte er sich auf den Ort seines Schmerzes hinter sich zu lassen, um endlich wieder nach vorn sehen zu können. Sein Beschluss stand fest: Er wollte eine Zukunft für sich finden, eine Zukunft in einem lebenden Land, mit Bewohnern, die sich noch nicht aufgegeben hatten und gegen alles wehrten, was ihnen diese Zukunft nehmen könnte.

Lieard streifte über den ganzen Kontinent ohne seine Zukunft zu finden. Schließlich gab er seine sterbende Heimat endgültig auf und wandte sich neuen Gefilden zu. Während man munkelte, dass aus dem Höllentor seltsame Wesen an die Oberfläche krochen und sich immer weiter vergrößerte, heuerte er auf einem Schiff an und überquerte ohne noch einmal zurück zu blicken die große, graue See.

Und tatsächlich wurde sein Mut belohnt: Hinter den Stürmen und dem Tosen der ewigen Brandung fand er einen Kontinent, der so frisch wirkte wie gerade erst dem Meer entstiegen, obwohl auch er bereits eine Geschichte aufwies, an die sich nie wieder jemand vollständig erinnern würde. Diese Welt, die Feuer und Schatten überlebt hatte und zahlreichen Völkern das Leben ermöglichte, war grün und weit.

Und trotzdem brauchte man auch hier Leute, die sich auf das Kämpfen verstanden. Je weiter er in diese schöne, neue Welt vorstieß, desto öfter erblickte er auch ihre Schattenseiten. Und doch erschien ihm alles besser als seine Heimat.

Jahre gingen ins Land, wie viele, wusste Lieard nicht, denn es erschien ihm unwichtig sie zu zählen. So konnte er auch niemals genau sagen, wann er das erste Mal von der roten Garde hörte.

Ihre Gräueltaten waren bald in aller Munde und ihr Anführer, ein Dämon, wie es hieß, wurde bald nur noch flüsternd erwähnt. Lieard achtete nicht auf den Aberglauben der Leute, die Zeichen zum Abwehr des Bösen machte, sobald man laut über die Schrecken sprach und folgte dem Ruf, als man kampferfahrene Söldner zur Organisation eines Heeres suchte.

Zusammen mit einigen anderen seines Schlages stellte er die bestmögliche Armee zusammen, derer sie fähig waren. Einige Tests gegen herumstreifende Banden bestand das Heer und die Völker schöpften wieder Hoffnung.

Als sie dann auch ein paar Späher der roten Garde schlugen, war die Euphorie der gepeinigten Leute unbeschreiblich. In Scharen kamen Freiwillige aus allen Ecken und Enden des Reiches und schlossen sich dem Heer voller Vertrauen auf eine bessere Zukunft an.

Lieard wusste, dass nicht einmal die Hälfte das erste Gefecht überleben würde, doch er zwang sich jeden Neuankömmling mit einem Lächeln und einem Handschlag zu empfangen, denn all das waren nun einmal die ungeschriebenen Regeln eines jeden Krieges…
 

Der Sieg in einem Krieg hing nicht nur von der Stärke der gegnerischen Heere ab, das hatte Lieard fast als Erstes von seinem Lehrer gelernt.

Es war vor allem auch wichtig die Umgebung zu kennen und eine Strategie zu entwickeln. Mit einigen der neuen Anwärter war er dabei die Landschaft auszuspähen und einen Plan für einen möglichen Kampf zu entwickeln. Den Erfahreneren war klar, dass es nicht mehr allzu lange bis zu einer richtigen Schlacht dauern würde. Sie würde also hier in der Nähe stattfinden – nur das Schlachtfeld war noch zu wählen.

Während sich Lieard umsah, drangen plötzlich Kampfgeräusche an sein Ohr: Das charakteristische Klirren von Schwertern und die Schreie von Sterbenden. Der Geruch von Blut wurde vom Wind in seine Richtung getragen und er gab seinen Leuten ein Zeichen, sich dem Ort des Geschehens langsam und vorsichtig zu nähern.

Die Kämpfenden waren eine kleine Gruppe Zigeuner und einige Räuber, die im wohlwollenden Schatten der roten Garde ihr Dasein fristeten. Zunächst schien es ihm als ob der kleine Haufen Verteidiger, der zwischen den Wagen eingepfercht war, keine Chance hatte, doch dann wurde er eines Besseren belehrt: Sie wussten sich durchaus zu wehren und machten aus ihrer Lage innerhalb kürzester Zeit einen Vorteil.

Die Räuber kamen nicht mehr an sie heran und stießen beim Ausholen mit ihren Schwertern andauernd an die Wagen, während die Zigeuner diesen kurzen, ungeschützten Moment nutzten um sie mit gezielten Dolchstößen zu töten.

Trotzdem gab Lieard seinen Leuten das Zeichen anzugreifen. Er wollte diese tapferen Menschen nicht unnötig in Gefahr bringen. Innerhalb kürzester Zeit waren die Räuber überwältigt und die Anführer beider Gruppen trafen sich zwischen den Wagen.

Eine alte Frau und zwei junge Zigeuner um die Zwanzig verbeugten sich vor Lieard und bedankten sich damit bei ihm für die Hilfe. Das alte runzlige Gesicht der Matriarchin erinnerte Lieard flüchtig an seine Heimat, doch diese Falten schienen nicht nur durch Wut und Gram entstanden zu sein, sondern auch durch Freude und würdevolles Altern. Trotzdem erschien sie ihm, nach allem, was er über die Zigeuner wusste, noch viel zu jung für diesen ehrenvollen Rang. Ihr Haar war noch dunkle und kräftig, die Augen scharf und voller Leben und Übermut. Ihre Stimme ließ den früheren seidenweichen Klang noch erahnen: „Ich danke euch, Herr. Ich, Alissa, danke euch im Namen meines Clans.“

Sie verbeugte sich erneut und ihre Gefährten taten es ihr gleich. Dann begannen sie ihre Wagen notdürftig zu reparieren und ihr Vieh wieder zusammen zu treiben. Sie schienen schnell weiterziehen zu wollen. Alissa verabschiedete sich von Lieard ohne ihm anzubieten ihr Gast zu sein, wie es normalerweise Brauch war und kümmerte sich wieder um ihre Leute, die zwar dankbar, aber auch misstrauisch zu den Fremden hinüberschauten. Lieard bedauerte, dass selbst dieser Menschenschlag so sehr unter dem Krieg litt und sich wegen der roten Garde verändert hatte.

Anders als ihre Anführerin blieben die beiden jüngeren Zigeuner stehen und machten keine Anstalten zu ihren Leuten zurück zu gehen. Lieard musterte sie: Noch zwei neue Rekruten?

Es waren eine Junge und ein Mädchen, Geschwister, wie ihm schien, der Junge etwas älter als seine Schwester. Er hatte schwarze Haare bis zu dem Schultern, die ihm von einem einfachen Band aus dem gebräunten Gesicht mit den kohlefarbenen Augen gehalten wurden. Eine gezackte Narbe verlief von der Nasenwurzel bis zur linken Schläfe, sein Gesichtsausdruck war entschlossen. Er trug einfache Kleidung und ein abgenutztes Schwert.

Sie war etwas kleiner als er, hatte dieselben dunklen Augen aber lange, leicht gewellte braune Haare, die mit bunten Bändern durchwirkt waren. Sie trug ebenfalls Hosen und ein Schwert, dass sie durchaus zu benutzen wusste. Von einem der Baumwipfel flatterte ein pechschwarzer Rabe auf sie zu und landete krächzend auf ihrer Schulter, die dunklen Augen seltsam traurig auf Lieard gerichtet, als ob er etwas wüsste, dass dem Söldner nicht gefallen würde.

Auffällig waren die roten Handschuhe, die sie beide an der linken Hand trugen.

„Bitte verzeiht ihnen“, sagte der Junge in einem seltsam leichten Tonfall, der unbekümmerter schien als er aussah. „Wir hatten es nicht leicht und haben viele Verwandte durch Fremde verloren. Das ist zwar bereits zehn Jahre her, aber wir Zigeuner vergessen nur schwer.“

Das Mädchen nickte und lächelte traurig. Offensichtlich schmerzte sie der damalige Verlust stärker als ihren Bruder – oder er verbarg es geschickt.

„Wir würden gerne mit euch kommen und in eurem Heer dienen… Zumindest eine Zeit lang.“

Lieard war überrascht. Bisher hatten alle Freiwilligen sich bis zum Ende des Krieges verpflichten wollen, dass, ihren Hoffnungen zufolge, nur noch ein paar kleine Schlachten entfernt war.

„Eine Zeit lang? Wie lange?“, wollte er wissen. Die Geschwister sahen einander an, dann antwortete die Schwester in einem singenden Tonfall: „Bis wir jemanden gefunden haben. Unseren älteren Bruder. Wir verloren ihn damals nach dem Überfall aus den Augen, obwohl uns gemeinsam die Flucht gelang. Wir glauben, dass er noch lebt… Wir spüren es einfach. Und bei euch haben wir eine größere Chance ihn zu finden als bei unserem Clan. Vielleicht kämpft er ja in eurem Heer.“

„Und wenn ihr ihn findet, wollt ihr wieder zu eurem Clan zurückgehen?“, es war mehr Feststellung als Frage. Woher wollten diese Beiden nur so genau wissen, dass ihr Bruder noch lebte? Weil er „noch nicht als Stern am Himmel über seine Lieben wachte“? Er kannte den Glauben der Bewohner dieses Kontinents und er gefiel ihm besser als das schlichte Eingehen in schwarze Bedeutungslosigkeit. Aber wenn sie nur auf Grund ihrer Religion bereit waren in den Krieg zu ziehen und sich an einem Strohhalm festklammerten, ging ihm dieser Glaube doch zu weit.

Doch in ihren Augen sah er denselben Enthusiasmus und die gleiche Entschlossenheit wie in denen aller anderer Freiwilliger, ach wenn sie sich aus einer anderen Quelle speiste und ein anderes Ziel hatte.

„Wie heißt ihr?“, fragte er sich in sein Schicksal fügend. „Keetann und Arla, wir sind froh euch unterstützen zu dürfen,…“ „Lieard… Lieard vom nördlichen Kontinent“, er bemühte sich zu lächeln und reichte ihnen die Hand. Die Regeln des Krieges hatten zwei neue Opfer gefunden…
 

Die Regeln des Krieges…

Ungeschriebene Gesetze, derer sich nur die wenigsten bewusst sind und die doch für jeden Krieg gelten.

Sie waren gnadenlos und unaufhebbar. Wer sich einmal in ihre Fänge begab, musste oft miterleben, dass sie ihn nie wieder freigaben, denn der Krieg lebte auch nach seinem Ende in den Köpfen der Beteiligten fort und brachte sie dazu sich selbst zu zerstören.

Als die rote Garde und das Heer der vereinten Völker das erst Mal richtig aufeinander trafen, behielt Lieard Recht: Rund die Hälfte aller neuen Rekruten wurden entweder getötet oder verletzt, der Rest verlor seine Siegesgewissheit und begann zu zweifeln.

Viele der Söldner verloren ebenfalls ihre Leben, denn in dem Versuch ihre Leute zu retten und die besser ausgebildeten Feinde Stand zu halten, versuchten sie wirklich alles und opferten sich selbst.

Die Regeln des Krieges galten eben auch für sie…

Keetann und Arla überlebten sie erste Schlacht und zu Lieards Erstaunen nahm ihre Entschlossenheit nicht ab, sondern sogar noch zu, als sie in einigen der Angreifer die Räuber erkannten, die sie vor zehn Jahren angegriffen hatten. In ihnen keimte der Glauben, dass ihr älterer Bruder ein Gefangener sein könnte.

Sie waren entschlossen ihn zu befreien und zu retten um sich für all die vielen Male, die er sie früher beschützt hatte, zu revanchieren und ihn endlich wieder in ihre Arme schließen zu können.

Lieard war ohne es zu wollen von ihnen beeindruckt. Von ihrer Einstellung, ihren Glauben an das Überleben ihres Bruders und eine glückliche Zukunft, in der sie wieder vereint sein würden, und er begann sich mit ihnen anzufreunden.

Sie waren ein Lichtblick in den dunklen Zeiten des Krieges, denn sie kämpften nicht nur, sondern unterhielten auch die trübsinnigen Kämpfer mit ihren Taschenspielertricks, ihren Geschichten und Gesängen. Die Schlachten schienen sie unberührt zu lassen, denn, wie Arla einmal meinte, das Bild, dass sich ihnen nach dem Überfall geboten hatte, war weitaus schlimmer gewesen als es alles andere jemals sein könnte.

Sie lachten viel, spendeten ihrer Umgebung Trost und Stärke und erleichterten den überarbeiteten Offizieren mit ihren klugen Köpfen ihre Arbeit.

Als Lieard letztendlich von den Anführern der einzelnen Völker zum obersten Heerführer ernannt wurde, berief er sie zu seinen Beratern…
 

Gemeinsam standen sie auf einer Höhe über dem voraussichtlichen Schlachtfeld.

In den letzten Tagen hatten die Späher berichtet, dass die rote Garde sich sammelte und immer mehr Räuber, Diebe und Halunken, sowie Söldner in ihre Reihen aufnahmen. Ihr Heerführer führte sie in Richtung der vereinten Armee und schien auf dem Weg sogar noch monströse Verstärkung zu erhalten.

Nun wartete das gesamte Heer der Völker darauf, dass die finale Schlacht, Lieard rechnete eher mit Schlachten, letztendlich beginnen würde. Ihre gesamte Zukunft würde entschieden werden…

Lieard hob den Kopf als Kumm, Arlas Rabe, leise krächzte. Er saß immer auf ihrer Schulter, es sei denn, sie kämpfte, und musterte alles aus weisen, traurigen Augen. Als Lieard ihr gegenüber mal die Tradition seines Volkes erwähnt hatte, die Geschichte eines jeden Sterbenden anzuhören um ihm Frieden zu geben und ihr Andenken zu bewahren, hatte sie mit einem traurigen Lächeln angedeutet, dass das ja vielleicht auch Kumms Aufgabe war.

Vielleicht merkte sich dieser seltsame Vogel alles, was um ihn herum geschah, damit auch nichts verloren ging. Vielleicht wusste er ja mehr als alle anderen und würde die Geschichte dieses Krieges bewahren und an seine Nachfahren weitergeben, wenn die Namen der Beteiligten längst vergessen und selbst ihre Asche im Wind verweht war.

Über den gegenüberliegenden Hügelkamm wogte Staub.

Das Tal, das man auf Grund seiner Abgeschiedenheit und seines, auf der Seite der roten Garde, stark sumpfigen Bodens ausgewählt hatte, lag still und verlassen da. Ungehindert rollte die Staubwolke den Hügel hinunter und wallte über Schlamm und Moor.

Dann war die Stille vorbei und leise Trommeln, sowie das Geräusch hunderter, wenn nicht tausender Hufe war zu hören.

Lieard wusste, dass sie im Tal würden lagern müssen, denn die Ebene hinter dem Hügel war noch feuchter als im inneren des natürlichen Kessels. Das Heer der vereinten Völker dagegen konnte hinter ihrem Hügel lagern und war somit vor einem direkten Angriff und neugierigen Blicken von strategisch denken Köpfen geschützt.

Dieser Ort war eine gute Wahl gewesen.

Endlich blitzte der erste rotgoldene Helm am Rand der Anhöhe auf. Ein klarer Hornton erklang, dann erschienen immer mehr Helme samt zugehöriger Körper und Reittiere und blieben am Rand der Anhöhe stehen. Eine einzelne Gestalt löste sich von den Reihen und trieb sein Pferd halb vom Hügel. Er musterte den trügerischen Boden, dann wanderte sein Blick hoch zu seinen Gegnern: Sein Gesicht war hinter einer Dämonenmaske verborgen.

Eine weitere Gestalt, gewandet in eine Robe aus weißen und blauen Tüchern, erschien aus dem Nichts auf dem Hügelkamm und rief dem Heerführer, den um jemand anderen konnte es sich nicht handeln, etwas zu.

Die goldene Fratze nickte und hob eine Hand: Auf der flachen Hand sammelte sich Glut und die Luft geriet in Bewegung.

Die Hand wurde gesenkt und eine Hitzewelle, so stark, dass man sie selbst noch auf dem gegenüberliegenden Hügelkamm spüren konnte, breitete sich aus und trocknete den Boden innerhalb von Sekunden aus. Risse und Spalten bildeten sich und die Pflanzen zerfielen zu Asche. Ihre Schlacht würde auf einer Wüste stattfinden.

Die rote Garde setzte sich wieder in Bewegung, doch der Mann in Blau war verschwunden, wie vom Antlitz der Erde gewischt.

Schweigend beobachtete Lieard wie immer mehr Krieger und Scheusale über den Rand des Hügels wanderten und sich wie eine rote Welle in den staubigen Talkessel ergossen um dort ein Lager aufzuschlagen.

Hinter ihm hörte er die leise Stimme eines anderen Söldners: „Wir sind verloren…“
 


 

Hiermit wären also die Fronten geklärt...

Und keiner weiß etwas davon.

Drei Hoffnungen treffen aufeinander:

Die Völker wollen überleben.

Largon die Welt.
 

Und Roike und seine Geschwister wollen einander nur retten - und treten dafür gegeneinander an...

Am Abgrund

Manch einer freut sich, wenn er auf der Erde liegt, denn er glaubt, dass es nicht mehr schlimmer werden kann. Dabei kann doch immer noch der Boden wegbrechen.
 

„Das ist also der berühmte Anführer der roten Garde. Wer war der Mann in blau?“, Keetann saß auf dem Boden eines der wenigen Zelte und lockte Kumm mit einem Stück Käse, doch der Rabe blieb still auf einem niedrigen Schemel sitzen und sah ihn nur traurig an.

Lieard nickte und lief von der Eingangsplane zu seinem Lager und wieder zurück. Immer im Kreis, ohne Ziel und Sinn…

„Der wahre Herr der roten Garde, der Marionettenspieler, der im Hintergrund die Fäden zieht. Er scheint Macht über den Heerführer zu besitzen. Und er war plötzlich weg“, meinte Arla, die auf dem schmalen Feldbett saß und faltete die Hände in ihrem Schoß. Sie dachte an den heutigen Nachmittag zurück und schauderte. So viel Macht…

„Ein Magier, denke ich… Oder irgendetwas in der Art, was genau, ist mir und meinen Brüdern allerdings schleierhaft. Es tut uns Leid“, der oberste Druide der Elben, aufrecht und kühl wie eine Birke im Frost, klang tatsächlich leicht bedauernd. Keetann drehte sich überrascht zu ihm um und musterte ihn. Wann zeigte eines dieser uralten, allzeit beherrschten Wesen schon einmal Gefühle?

„Zumindest wissen wir inzwischen, was der Heerführer ist“, der Druide hielt eine Hand hoch und eine durchsichtige Perle hob sich in die Lüfte. Man schien ein Bild darin gebannt zu haben. Lieard stoppte mitten in der Bewegung und wandte sich neugierig der schimmernden Kugel zu.

„Wir kamen auf die Idee ihn durch einen in einer Vollmondnacht durch Eis gehärteten Türkis auf ihn zu sehen und konnten so seine wahre Gestalt erfassen. Er ist ein Wesen aus den alten Legenden. Ein mächtiges Wesen jenseits unserer Vorstellungskraft. Er ist die Essenz des Feuers, ein Balrog!“, eine gewisse Bewunderung schwang in seiner Stimme mit und zeigte den Menschen, dass es selbst für einen langlebigen Elben keine Alltäglichkeit war einen Balrog zu treffen.

Sie starrten auf die Perle, die sich mit einer einzigen, riesigen Flamme füllte, die immer mehr an Gestalt gewann. Dort, wo vor wenigen Stunden noch ein gerüsteter Krieger auf einem Pferd gesessen hatte, ritt nun eine einzige große Lohe auf einem Haufen funkelnder Sterne, die die Silhouette eines Pferdes formten.

Funken und Glut tanzten um einen nur um wenige Nuancen dunkleren Körper in hellrot und glühendweiß. Muskel, wo kein Fleisch bestehen könnte, Adern, durch die Lava rann und die sanft zu pulsieren schienen, ein gleißendes Leuchten dort, wo die Organe liegen sollten und stechend grüne Schlitze als eine Art Augen.

Weder Ohren, noch Mund, noch Nase waren erkennbar.

Der Elbendruide ließ die Kugel schweben und erklärte den sowohl faszinierten als auch zutiefst besorgten Menschen, was er selbst nur aus Legenden über diese lange vergessenen Wesen wusste…
 

Roike stand am Rand seines Lagers und blickte hinüber zum Rand des Talkessels. Über dem Hügelkamm leuchtete der Horizont blassrosa vom Licht der vielen Lagerfeuer und dutzende Rauchschwaden schlängelten sich in die sternenlose Nacht.

Kein Mond stand am Himmel und doch erschien zumindest Roike die Nacht heller als jemals zuvor. Irgendetwas lag in der Luft, noch nicht greifbar, aber so endgültig wie der Tod. Etwas würde geschehen – und er hatte Angst davor…
 

Nicht weit von seinem Standpunkt beobachtete ihn Largon aus dem Schatten eines Zeltes heraus. Dunkle Augen folgten jeder seine Bewegungen und wurden dann geschlossen. Unbemerkt von jedem anderen in diesem und dem gegnerischen Lager, streckte Largon sein Bewusstsein aus und erspürte jede noch so kleine Erschütterung im Netz der Magie. Da war er selbst, ein strahlende Ansammlung von Fäden, die mit vielen anderen innerhalb dieses Lagers verbunden waren. Roike gehörte nicht dazu: Wie eine rote Sonne, gebildet aus einem durch die immense Leuchtkraft kaum noch wahrnehmbaren Knoten, hätte er jeden anderen Magiefaden an sich gerissen und ebenfalls in Brand gesteckt…

Unkontrollierbar.

Jenseits der Hügel fanden sich zahlreiche schwache und mittelmäßige Magier, sowie ein Druidenring der Elben, großartige Magier ihrer Zeit – und in den Epochen, aus denen Largon stammte, nicht mehr als naive Stümper. Und doch waren sie nicht zu unterschätzen.

Doch was den blau gewandeten Herrn der roten Garde tatsächlich interessierte waren zwei Fäden, die von ihm in direkter Linie zu zwei etwa zwanzigjährigen Zigeunern führten. Sie waren intakt und von großer Leuchtkraft, allseits bereit ihren Zweck zu erfüllen und die beiden Menschen zu töten, sollte Roike einen zu großen Fehler machen.

Der junge Balrog war noch ahnungslos, wem er vielleicht gegenüberstehen würde und Largon hatte auch nicht vor das zu ändern. Allerdings musste er zugeben, dass diese Entwicklung alles andere als in seine Pläne passte. Wenn die Beiden starben, würde er sein Druckmittel gegenüber Roike verlieren und der Balrog war inzwischen ein ernstzunehmender Gegner, auch wenn er sein volles Potential noch immer nicht auch nur im Ansatz entfaltet hatte.

Er musste also Vorsorge treffen…
 

Kurz vor Morgengrauen erwachten beide Heere zu stillem, fieberndem Leben. Rüstungen wurden angelegt, Pferde gesattelt und die Aufstellung noch einmal durchgegangen. Während die rote Garde sich knapp vor ihrem Lager sammelte, zogen die Soldaten der vereinten Völker über den Hügel und postierten sich am Fuß.
 

Roike stand allein im Inneren seines Zeltes und schloss die letzten Schnallen seines Brustharnischs. Die Bewegungen wirkten langsam und widerwillig. Er wäre am liebsten weit weg, fernab des Kampfes, der so ganz gegen das verstieß, was ihn die Zigeuner vor Jahren gelehrt hatten.

Jeder im Lager der roten Garde war vollkommen davon überzeugt auf der richtigen Seite zu stehen und wenn auch nur, weil diese Seite mehr Gewinn versprach.

Nur er wusste genau, dass er hier falsch war. Wenn überhaupt gehörte er ins Lager der vereinten Völker.

‚Du machst das für Keetann und Arla! Sie werden sterben, wenn du dich weigerst! Vergiss das nicht! Du rettest sie!“, beschwor er sich selbst und setzte sich den golden schimmernden Helm auf.
 

Lieard schritt vor seinen Leuten auf und ab und stimmte sie mit teils tröstenden, teils versprechenden Worten über Mut und Ehre, die er selbst nicht einmal im Ansatz glaubte, auf die kommende Schlacht ein.

‚Jeder Krieg beginnt mit Verrat’, hatte sein alter Lehrer einmal gesagt. ‚Und wenn es nur der unbewusste Verrat an dir selbst, deinen Wünschen, Idealen und Vorstellungen ist.’
 

Arla umarmte ihren Bruder noch einmal und wischte sich ein paar letzte, sorgenvolle Tränen aus den Augenwinkeln. Dann versuchte sie ihn anzulächeln und die kommende Gefahr zu verdrängen.

Lieard und Keetann hatten sie dazu überredet als Bogenschützin an der Schlacht teilzunehmen und, wenn ihr die Pfeile ausgehen sollten, bei den Katapulten und Ballisten der Zwerge zu helfen. Das hielten sie für sicherer als eine Schlacht an vorderster Front.

Arla hatte zwar letzten Endes zugestimmt, doch die Vorstellung von ihrem Bruder getrennt zu werden und ihn vielleicht nie wieder zu sehen, schmerzte sie sehr.

„Komm ja wieder, ja? Lass dich nicht töten, wir müssen am Ende des Krieges aus einem der Gefangene herauspressen, wo sie Roike versteckt halten! Vergiss das nicht!“, die Worte sollten gespielt streng klingen, wirkten aber mehr flehend.

Keetann zog sie noch einmal zu sich.

„Ich werde nicht sterben. Wir finden unseren Bruder und leben wieder wie früher bei unserem Clan. Alles wird gut werden! Versprochen“, flüsterte er ihr zu und drückte sie.

Dann ließ er sie los, strich Kumm noch einmal über das Gefieder, und verschwand zwischen den Kriegern.
 

Eine bedrückende Stille lag über dem Talkessel.

Die Luft war schwer und es war heiß. Der matte Wind brachte Staub und den Geruch von Feuer mit sich.

Niemand bewegte sich und die Anspannung schien fast greifbar zu sein. Selbst die Tiere verhielten sich still und warteten auf das alles entscheidende Signal.

Der Heerführer der roten Garde saß auf seinem großen, magiegeschaffenen Fuchs und ließ seinen Blick über die Reihen seiner Gegner schweifen. Es waren mehr als angenommen, aber immer noch weniger als seine eigenen Leute. Aber sie waren entschlossen.

Sie wollten jene schützen, die ihnen etwas bedeuteten, genauso wie er.

Langsam hob er den Arm und hinter den Fußtruppen wurden Bögen gespannt.

Lieard tat es ihm, hunderte Meter entfernt, gleich.

Auch Arla legte einen hell gefiederten Pfeil auf die Sehne, zog an und spähte am Schaft entlang auf die Reihen der Feinde.

Keetann packte sein Schwert fester.

Beide Arme wurden zeitgleich gesenkt und zwei Wolken von Pfeilen ergossen sich über beide Heere und tränkten den ausgetrockneten Boden mit dem ersten Blut des Tages.

Die unsichtbare Schwelle war überschritten: Beide Heere setzen sich brüllend und Waffen schwingend in Bewegung.

Während sich Lieard und Keetann in die Schlacht stürzten, blieb Roike zurück und ritt den Hügel sogar noch ein Stück hinauf um alles besser im Blick zu haben: Largon wollte seinen Trumpf noch nicht ausspielen und die gegnerische Armee erstmal in Sicherheit wiegen.

Von oben hatte er einen guten Blick über das Schlachtfeld und die sich immer weiter ineinander verkeilenden Heere.

Wie seltsam das von fern aussah: Die Zugehörigkeit der Einzelnen war nur noch aufgrund immer weiter verwischender und von Staub verschluckt werdender Farben zu erkennen. Nur die Monster und Scheusale, die Largon aus ihren Verstecken gelockt hatte, stachen deutlich heraus und ihre Schreie überlagerten alles.

Die Staubschwaden stiegen immer höher und tauchten das Licht der Sonne in einen milchigen Dunst, der Roike sofort an den unterirdischen Hof Largons erinnerte. Nichts schien hier mehr echt zu sein. Alles wirkte wie durch einen schmutzigen Film verzerrt und irgendwie unecht.

Und doch war alles Realität…

Die funkelnden Schwerter, gut geputzt, geschärft und so oft voller Hoffnung und Sorge angesehen, dass ihre Besitzer sie inzwischen in- und auswendig kennen müssten, färbten sich blutig rot und ihr helles Strahlen wurde durch ein trübes, zufälliges Glitzern ersetzt. Die vereinten Völker stürzten sich gemeinsam auf die Monster: Elben, Zwerge, Menschen, Baumgeister, Elfen und was sonst noch auf ein Recht in Freiheit zu leben beharrte und dafür kämpfen wollte, vergaßen ihre alten Streitigkeiten und fochten gemeinsam für ihre Zukunft.

Lieard kämpfte an der Flanke, einige Leute um sich gescharrt.

Der Schweiß lief seine Stirn und seinen Rücken herab und machte seine Handflächen gefährlich feucht. Sein Atem ging flach, doch noch hatte er Reserven, das wusste er. Die Leute an seiner Seite nicht:

Es waren junge Männer und Frauen ohne viel Erfahrung und riesig erscheinenden, furchtsamen Augen. Ihr Atem klang hohl und schwer, Blut lief aus zahlreichen kleineren Verletzungen und ihre Hände zitterten. Sie würden nicht mehr lange durchhalten.

Er zwang sich fort zu sehen und die Gesamtsituation zu überblicken. Er hatte leider auf mehr zu achten als nur auf zehn Halbwüchsige. Doch bisher schien die Schlacht ganz gut zu laufen. Der roten Garde war es nicht gelungen schwere Kriegsgeräte über die Hügel zu bringen und ihr Anführer hatte dafür ebenfalls keine Kraft verschwendet. Vermutlich hatte er gedacht, dass die Untiere vollkommen ausreichen würden.

Doch inzwischen schien die Armee der vereinten Völker die meisten Untiere niedergezwungen zu haben. Selbst der Himmel war von den fliegenden Schatten gesäubert worden. Überall lagen die massigen Kadaver herum und wurden bereits von den ersten Fliegen umschwärmt. Doch neben ihnen türmten sich auch ihre Opfer…

Lieard ließ seinen Blick schnell weiter wandern und fand Keetann mitten im Gewühl wieder. Er schlug sich gut, auch wenn er bereits einen stark blutenden Schnitt an der Wange hatte einstecken müssen. Um ihn schien sich Lieard keine Sorgen machen zu müssen.

Ein schneller Blick noch, dann wandte er den Blick zu den Kriegsmaschinen, die etwas den Hügel hinauf standen um Salve um Salve ihrer todbringenden Geschosse auf das feindliche Heer abschossen.

Er meinte eine Wolke brauner Haare im Wind wehen zu sehen, der über dem Schlachtfeld zu wehen schien. Hier unten, zwischen Eisen und Tod, schien sich kein Lüftchen zu rühren und nichts verschaffte Erleichterung vor dem Blutdunst, der über allem hing und dem grausig-süßen Odem des Todes, der sich in den Staub gemischt hatte.

Lieard war froh, dass er Arla das alles erspart hatte, auch wenn die Aussicht vom Hügel aus vermutlich auch nicht schön war.

Ein großer, stumpf wirkender Pfeil wurde von einer der Ballisten abgefeuert und flog weiter als jeder andere zuvor. Er überwand die gesamte Breite des Schlachtfeldes und begann erst kurz vor dem Hügel auf der feindlichen Seite sich zu senken – direkt auf die Brust des wartenden Heerführers zu.

Hoffnungsvolles Gebrüll war aus den Reihen der Verteidiger zu hören und für einen Moment schienen alle Kämpfe stillzustehen…
 

Roike sah den Pfeil – eigentlich erinnerte ihn das Geschoss mehr an einen gigantischen Bolzen – auf sich zu fliegen und hob eine Hand. Kaum berührte die trügerisch stumpf wirkende Spitze das rote Metall der Handschuhe, zerfiel der hölzerne Schaft zu Asche und wehte dem junge Heerführer entgegen. Seine Rüstung hellte sich kurz auf, dann gingen die Ascheflocken endgültig in Rauch auf und vermischten sich mit dem dunklen Qualm, der von dem verdampfenden Metall der Pfeilspitze ausging, die eine Feuer umhüllte Hand aufgefangen hatte.

Der junge Balrog folgte den ekelerregend stinkenden Schwaden auf ihrem Weg zum wolkenlosen Himmel, dann blickte er wieder auf seine Hand und konzentrierte sich. Ein winziger schimmernder Punkt schwebte knapp über seiner Handfläche und wuchs schnell auf die gut zehnfache Größe, ohne die Rüstung jemals zu berühren.

Doch erst, als die feurig schimmernde Kugel den Durchmesser eines Kürbis erreicht hatte, hörte das Wachstum auf und sie begann sich langsam um sich selbst zu drehen. Immer wieder brachen flammende Bänder und Funkenschübe aus der ansonsten perfekten Form.

Roike führte die Hand mit dem Feuerball an die Lippen und holte tief Luft.

Kurz zögerte er, dann hauchte er sanft, beinahe zärtlich, auf die Feuerkugel: Wie ein Geschoss raste sie davon, überwand das Schlachtfeld in Sekunden und schlug in einem der Katapulte ein, das in tausend winzige, brennende Splitter explodierte.

Noch bevor die Schreie der Helfer an den Belagerungswaffen über das Tal hallten, schlug ein zweiter Feuerball in eine der Ballisten ein.

Die Verteidiger sahen mit Grauen zu wie immer mehr Stützen ihrer Hoffnung in Flammen und Splitter aufgingen. Zwischen den Lohen torkelten Brandopfer umher und mehrere Aschehaufen lagen am Boden.

Lieard war kreidebleich geworden und zeitgleich mit Keetann, der mitten in der Schlacht inne gehalten hatte und von einem Pfeil gestreift wurde, durchzuckte ihn ein einzelner Gedanke:

Arla!

Sie richteten ihre Blicke dorthin, wo sie noch vor wenigen Minuten ihre braunen Haare zu sehen geglaubt hatten.

Das Katapult stand noch, doch eine Kugel aus Feuer raste bereits darauf zu.

Lieard glaubte Keetanns verzweifelten Schrei bis zu seinem Standpunkt aus hören zu können…

Wie in Zeitlupe schien die Kugel auf das Holz zu treffen und sich kurz anzuschmiegen, dann wurde alles in einem Umkreis von mehreren Metern von dem Inferno ergriffen, mit dem der flammende Ball zerplatzte.

Lieard glaubte noch einen brennenden Haarschopf und ein helles, schmerzhaft bekanntes Gesicht zu sehen, vom Glutfunken umkränzt wie ein Albtraum, dann hallte ein Schrei über das Schlachtfeld, wie ihn keines der kämpfenden Wesen jemals zuvor vernommen hatte.

Der Herr der roten Garde zeigte erstmals seine wahre Gestalt, so schien es:

Er hatte die Fäuste geballt und den Rücken überdehnt, während Feuer um seine Gestalt leckte und seine Silhouette immer mehr zu verschwimmen schien. Rauch stieg auf und die Flammen wurden immer deutlicher, während der gerüstete Heerführer in den Lohen verschwand.

Sein Gebrüll war grauenhaft, tief und hoch zugleich, und erfüllte die Herzen der Verteidiger mit Furcht und Schrecken.

Sie wichen zurück und suchten ihr Heil in der Flucht.

Doch auch ihre Gegner waren von Angst erfüllt und scheuten die Verfolgung. Wie gelähmt blieben sie stehen und starrten zu ihrem Herrn, die Gesichter bleich, die Augen voller grauenerfüllter Erkenntnis, was sie da seit Monaten anführte.

Für heute war die Schlacht beendet…
 

Kurz zuvor, Sekunden bevor der Feuerball explodierte, hatte Roike sie erkannt…

Das Gesicht, von dem er seit Jahren träumte, war etwas älter geworden und die Mähne braunen Haares wesentlich länger, doch die Bewegungen, die bunten Bänder, das Gefühl, das er mit ihr verband…

Seine Schwester stand an dem Katapult – das in einem Meer von Flammen verging.

Der junge Balrog sah das vertraute Gesicht blass im Feuer verschwinden und schrie seinen Schmerz heraus:

Das durfte nicht sein!

Nicht das!

Nicht, nach all den Jahren, die er in Leere, Kälte und Dunkelheit verbracht hatte, nur um sie zu schützen!

Sein Herz schien zu zerspringen und mit Arla zu sterben. Er wollte sterben!

Er wollte mit ihr in den Tod gehen und gab seine menschenähnliche Gestalt auf um mit ihr zu verbrennen, doch es gab kein Feuer, das seinem Wesen gefährlich werden konnte, und so blieb ihm nichts anderes übrig als seinen Schmerz hinauszuschreien und zu spüren, wie flammende Tränen seiner Schwester dorthin folgten, wohin er sie nicht begleiten durfte:

In den Tod, den ihr großer Bruder ihr gebracht hatte…



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Kommentare zu dieser Fanfic (55)
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Von:  Nochnoi
2007-05-13T12:00:03+00:00 13.05.2007 14:00
Habe deine Story jetzt binnen kürzester Zeit durchgelesen und wollte dir jetzt mal meine bescheidene Meinung verkünden XD

Also mit einem Wort: Genial!!

Dein Schreibstil ist wundervoll und kann einen richtig neidisch machen ^.~ Besonders die kursiven Sätze am Anfang gefallen mir immer, das gibt dem Ganzen eine zusätzlich poetische Note ^.^ Ich bin echt begeistert!
Und auch die Geschichte gefällt mir ausgesprochen gut. Besonders der Schluss dieses Kapitels jetzt ... eine wirklich schwierige Situation! Du lässt deine Charas ganz schön leiden, was? ^.~
Fehler hab ich auch keine gefunden. Vielleicht hier und da mal ein kleiner Tippfehler, aber davon geht die Welt nicht unter XDD

Also wie du merkst, hat es mir bis jetzt sehr gut gefallen ^.^ Und es interessiert mich brennend zu erfahren, wie es nun weitergeht!

LG
Nochnoi
Von: abgemeldet
2007-05-11T20:52:47+00:00 11.05.2007 22:52
>>Jeder Krieg beginnt mit Verrat«

Der Satz hat mich sehr beeindruckt. irgendwie voll wahr. Es gab kaum Kriege, die einfach so geführt wurden, zumindest damals nicht, doch so zusammengtefasst in diese Worte. das haut einen echt um. irgendwie... faszinierend. Da denkt man mal drüber nach, warum Kriege eigentlich geführt werden. *sfz*
Aber Roike tut mir leid. Dieser Flammenmensch, der kämpfen muss, doch seine eigene Schwester tötet. Kein schönber Gedanke und sicherlich wird er noch lange daran zu knabbern haben.
Sehr beeindruckend fand ich auch die beschriebenen kampfszenen. Sind dir echt geilo gelungen. Wirklich toll~
Mach weiter so~

jenki
Von:  Yosephia
2007-05-11T13:55:43+00:00 11.05.2007 15:55
das... du!
deine Kapitel machen mich andauernd sprachlos, du Sumpfhuhn, du! *grummel*
wie kannst du nur auf so eine grausame Idee kommen?! Largon hat dich verhext, gib´s zu! *sich zum trampeln bereit mach* (oder brauchst du den etwa immer noch^^")
geheult hab ich noch nicht, aber ich war echt... geschockt...
da wird sie extra zu den Katapulten geschickt, damit sie sicher (na ja, bei so ner Schlacht ist man ja nie sicher, aber zumindest war sie da etwas sicherer als auf dem direkten Schlachtfeld... Betonung liegt auf 'war') ist und dann...
also dein Problem mit der Schlacht hast du doch prima gemeistert! *dir auf die schulter klopf*
wirklich 1A! Perfekto! Phänomenalo!
hoffentlich bringt Roike Largon richtig qualvoll langsam um... (*da einige sehr 'gute' foltermethoden kennt*)
ich bin mal gespannt, wie´s weiter geht..^^
Yo^.^
Von:  Findemaxa
2007-05-10T18:42:26+00:00 10.05.2007 20:42
O.o Toll des Kapi, echt super. Und der Schluss, dass er Arla noch erkannt hat. Find ich toll! =D Und wie ihn dann die Erkenntnis trifft...bin ja mal neugierig, ob sie wirklich tot ist.
Aber du hast es wirklich gut beschrieben, vor allem der Schluss als Roike gemerkt hat, wen er da wohl getötet hat...echt super, hat mich richtig gefesselt.
Bin jetzt schon neugierig wie es weiter geht und vor allem wie dann auch noch Largon drauf reagiert ^^ Und was dann mit Keetann ist, ob er halt Roike dann trifft und wie die Bewegnung dann ist...
Wir bestimmt super!

Weiter so!

Glg Nayoko =D
Von:  shinu
2007-05-10T16:43:35+00:00 10.05.2007 18:43
;-; armer roike! auch wenn es denkbar war, das so etwas passieren würde, so wie du es beschrieben hast ;-; kann ich einfach nicht anders als trauern...die stimmung, roike ;-; es ist einfach so gut, dass mir ein kalter schauer über den rücken lief. am anfang fand ich spannendund konnte gar nciht genug bekommen, aber andererseits wollte ich, dass es endlcih beginnt^^° die sichtwechsel waren sehr gut eingesetzt^^ roike ;-;
ob keetan ihn aufzuhalten versucht?
Von: abgemeldet
2007-05-10T11:53:55+00:00 10.05.2007 13:53
wow, ein besseres wort find ich glaube ich nicht um das kapitel zu beschreiben. durch die wechselnden perspektiven vor der schlacht bringst du richtig gut die spannung in der luft rüber. hast des echt super hinbekommen, vorallem am schluss mit roikes schmerzen über den verlust seiner schwester.
Von:  Callisto
2007-05-10T09:19:23+00:00 10.05.2007 11:19
Voll die Trauerstimmung!
Passend zu meiner Laune....
Wie dem auch sei das Kapitel hat mir sehr gut gefallen, besonders der Schluss hats mir dieses Mal angetan.

Falls Arla wirklich tot ist konnte es ja nicht anders kommen, der Tragik wegen, Roike tut mir voll leid.
Ich finds nur schade das er seinen 'Geschwistern' nicht gegenübergetreten ist bzw, es keine Begegnung gab oder gibt es die noch mit Keetann?

Calli
Von:  Tomasu
2007-05-10T06:23:54+00:00 10.05.2007 08:23
Armes kleines Flammenkind. Ich hoffe doch für dich und uns das deises Be..scheidende Mist.. von einem Monster das Mädchen vor seinem Tode gerettet hat, um es weiter als Druckmittel zu verwenden.
Bi zum nächsten Pitel
Tomasu
Von:  Fossil
2007-04-09T08:13:53+00:00 09.04.2007 10:13
Du schreibst toll! *staun*
Werde auf jeden Fall noch weiterlesen^^
Von: abgemeldet
2007-04-05T21:02:12+00:00 05.04.2007 23:02
Wieder einmal sehr beeindruckend. Sorry, dass mein Kommie so lange gebraucht hat. hab zur zeit viel um die Ohren~
Joa....
Ich fands sehr beeindruckend, wie du den Lebensweg von Lieard geschildert hast und seine Ausfassung von krieg und Frieden, Leben und Tod~
Sehr faszinierend. Gefällt mir. Zu deinem Stil muss ich auch nicht viel sagen. Du hälst das von dir vorgegebene Niveau^^ Find ich toll^^
Und ich freu mich auf die Fortsetzung. Die letzten Sätze machen auf alle Fälle lust auf mehr~

jenki


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