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Lost Boys

Well, if you wanted honesty, that's all you have to say
von

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Well, if you wanted honesty, that's all you have to say!

PROLOG

Everybody knows you’re lost
 

„Niemals, glaubt mir, er wird sich niemals verlieben!“ Brian Moore sah seine Tischnachbarn bedeutungsschwer an. „Schaut doch mal wie er immer versucht alles zu kontrollieren! Er ist Schülersprecher, er ist Vorsitzender des Mathematikzirkels, er ist … Spitzenschüler auf allen Gebieten, aber er wird sich niemals verlieben. Ich bin fest davon überzeugt, dass er zwischenmenschliche Beziehungen gar nicht für wichtig hält. Er ist eines von diesen Superhirnen; nicht anders als ein Autist.“

Die anderen am Tisch zuckten arglos mit den Schultern. Eigentlich war er doch ein ganz netter Kerl, aber das mit dem Verlieben … wer konnte das schon einschätzen? Sie steckten schließlich alle nicht in seiner Haut.

„Also, ich weiß nicht“, fing Billy Molko als erster der Runde an und alle starrten gemeinsam auf den Jungen über den sie die ganze Zeit redeten. Sehr unauffällig. „Vielleicht braucht er eben länger und sucht nach dem absolut Richtigen. Mr. Perfect, wisst ihr?“

Jetzt sahen alle Billy an und der begann unangenehm berührt auf seinem Stuhl herum zu rutschen. Das Essen, das hübsch vor ihnen auf weißen Tellern serviert stand, hatte noch niemand angerührt, denn es war nicht halb so interessant wie die Gefühlswelt eines Mitschülers, den man nicht verstehen konnte.

„Wisst ihr was ich glaube?“ sagte Tovey Way langsam, während er gedankenverloren sein dunkles Haar um den rechten Zeigefinger wickelte. „Vielleicht ist er gar nicht schwul.“

Irritiertes Schweigen. Sie sahen sich an, starrten auf ihre Teller, tauschten wieder Blicke. Das konnte nun wirklich nicht sein, oder? Sonny Iero sollte nicht schwul sein? Unmöglich. Alle hier, auf dem Liberty Internat und auf dieser verdrehten Schule waren mehr oder weniger schwul. Man hatte es sich zum Spaß gemacht nach Jungen zu suchen, die es nicht waren, aber auf Sonny wäre zu keinem Zeitpunkt irgendjemand gekommen. Er war einfach der beste, vorbildlichste, perfekteste …

„Meinst du wirklich, Tovey?“ fragte Brian ungläubig und zog eine Augenbraue hoch, sodass sie fast unter seinem rabenschwarzen Haar verschwand. „Gerade der? Niemals.“
 


 

Kapitel 1

Well, if you wanted honesty

That’s all you have to say
 

Es war Punkt sieben Uhr. Im ganzen Internat begannen die Wecker Alarm zu schlagen und prügelten die verschlafenen Jungen unsanft aus den Betten. Aufstehen, anziehen, Zähne putzen (wer die Zeit dazu hatte, traute es sich sogar noch zu duschen) und dann bloß schnell rüber zum Frühstück. Etwas zu essen gab es nur in der Kantine, die das kleinste der drei großen Gebäude ausmachte, die zur Liberty Jungenschule gehörten. Eines davon war das Internat selbst. Das andere war natürlich das Unterrichtsgebäude. Zwischen den drei Bauten lag ein schier unendlich großer Hof, bespickt mit ein paar Bänken, sowie Mülleimern und einigen Tischtennisplatten. Die Freunde Brian Moore, Billy Molko und Tovey Way kamen gleichzeitig aus dem Internatsgebäude geschlittert. Sie waren wie immer fünf Minuten im Verzug.

„Dabei hab ich so verdammten Hunger“, beschwerte Billy sich und rannte mit den anderen beiden Jungen hastig hinüber in die vollbesetzte Kantine. Jeder hatte dort seinen Stammplatz, damit es nicht zu Rangeleien um die ohnehin knappen Stühle kam. Sonny Iero saß bereits auf seinem Platz, trank Kaffee mit Milch und hatte eine Zeitung über seinem leeren Teller ausgebreitet. Die anderen Jungs setzten sich dazu. Billy kam sich doof vor und er war leider der Einzige, dem es so ging. Ihm war als hätten sie noch gestern über Sonny gelästert und nun saß er hier mit ihnen an einem Tisch. Sonny Iero war ihr Freund. Doch gestern, als sie sich so darüber ausgelassen hatten, dass er ein Autist und Fachidiot wäre, war er gerade von ihrem allseits gehassten Schulleiter Ronald Blecket beiseite genommen worden, um über irgendetwas Wichtiges zu reden. Wie dem auch sei, Billy hatte ein schlechtes Gewissen.

„Morgen Sonny. Wie geht’s dir?“

Sonny blickte hoch und schenkte jedem der Jungen ein kleines, irgendwie gönnerhaftes Lächeln.

„Guten Morgen. Beeilt euch, ihr seid spät dran.“

„Wie immer“, sagte Brian seufzend und schnappte zwei leere Teller vom Tisch um sich Brötchen und Marmelade zu holen.

„Was wollte denn Blecket gestern von dir, Sonny?“ fragte Tovey und setzte sich neben seinen Klassenkameraden. Auch Billy machte sich auf jagt nach Essbarem und so blieben Sonny und Tovey allein zurück.

„Wir bekommen einen neuen Schüler. Er wird bei mir einziehen“, sagte Sonny und faltete die Zeitung ordentlich zusammen, um sie dann neben seinem Frühstücksteller abzulegen.

„Einen Neuen? Mitten im Jahr?“ Tovey strich sich mit den Fingerkuppen über die Augenbrauen, sodass diese wieder eine absolut perfekte geschwungene Linie bildeten.

„Ja, mitten im Jahr. Ich habe keine Ahnung wie das zustande gekommen ist. Vielleicht ist er mit Herr Blecket verwandt, wer weiß?“

„Hoffentlich ist er süß“, Tovey grinste Brian lasziv entgegen, der mit den zwei Tellern wiederkam. Einen stellte er nun vor Tovey ab und den anderen reservierte er für sich selbst.

„Danke, Brian“, sagte Tovey fröhlich und auch Billy kehrte in die morgendliche Runde zurück.

„Ich hab so einen Hunger“, murmelte er wieder und machte sich gleich über seinen Toast und die Marmelade her, ohne wenigstens den anderen einen Guten Appetit oder etwas Ähnliches zu wünschen.

„Wisst ihr schon das Neuste?“ fragte Tovey in die Runde, ohne sein Essen wirklich zu beachten. „Wir bekommen einen neuen Schüler.“

Brian zog beide Augenbrauen hoch, so dass sie völlig unter seinem Pony verschwanden und setzte seine Tasse mit dem heißen Cappuccino ab. Dabei sah er belustigend doof aus.

„Wieso das?“ fragte er, während er sich mit dem Handrücken über den Mund wischte um seinen Milchschaumbart wieder loszuwerden. „Ist jemand gestorben?“

Billy sah sie alle mit vollem Mund gespannt an, darauf wartend was es mit dem neuen Schüler wirklich auf sich hatte. Sonny meldete sich zu Wort, wie immer in seinem ruhigen, fast akademischen Ton.

„Herr Blecket hat mir gestern gesagt, dass wir einen Neuen bekommen, obwohl unsere Schule es ja eigentlich nicht vorsieht neue Schüler mitten im Semester aufzunehmen. Seine Gründe hat er nicht genannt.“

„Das ist ja spannend“, sagte Brian und beschmierte großzügig sein Brötchen mit Nutella. „Bei wem zieht er ein? Ich meine, fast alle Zimmer sind voll. Ich weiß gar nicht wo wirklich was frei wäre …“, er ließ das mit Nutella beschmierte Messer auf seinen Teller sinken und sah Sonny an. Der würde es schon wissen …

„Ja, genau: fast alle sind voll“, sagte Sonny und seufzte. „Bei mir ist noch ein Bett frei. Ihr wisst ja, eigentlich ist mein Zimmer für zwei Leute vorgesehen.“

„Stimmt“, sagte Billy mit vollem Mund und handelte sich dafür einen strafenden Blick von Tovey ein, der noch immer keinen Bissen angerührt hatte.

„Das heißt also“, fuhr Sonny fort und starrte auf die Tischplatte, als wolle er sein Unbehagen vor den anderen verbergen, „dass ich bald einen Zimmernachbarn haben werde.“

Brian grinste schief. Tovey stupste ihn mit einem ebenso schiefen Grinsen an.

„Was denkst du wieder, Herr Moore?“ Er schaffte es kaum sein beinahe mädchenhaftes Kichern zu unterdrücken.

„Ich denke gar nichts“, Brian prustete in seinen Cappuccino und sprühte dabei einige Tropfen des heißen Getränks über den Tisch. „Ich meine nur, dass der werte Herr Iero nun … nicht mehr die Freuden des allein Wohnens genießen kann.“

„Genauer gesagt meinst du, dass er nicht mehr in Ruhe wichsen kann, stimmt es?“ sagte Tovey trocken, aber seine Augen glänzten verdächtig. Er würde jeden Moment in schallendes Gelächter ausbrechen.

„Wisst ihr, meine Herren“, nahm Sonny die pseudo-höfliche Anrede auf und beugte sich zu ihnen hinüber über den Tisch. „Mein Leben hat auch noch andere Nuancen als nur Sex.“

„Wirklich?“ fragte Brian gespannt und beugte sich ebenfalls zu Sonny rüber, so das es aussah, als wollten sie sich küssen. Tovey kicherte leise in sich hinein.

„Wirklich.“

„Das ist erstaunlich“, sagte Brian leise, fasziniert, als hätte man ihm ein unwiderstehliches Angebot gemacht. Um sie herum erstand Unruhe, Stühle wurden über den Holzboden geschoben. Bald würde der Unterricht beginnen. „Aber glaub mir, du musst nur erst richtig auf den Geschmack kommen.“
 

Der Unterricht war für Sonny schnell beendet, doch er blieb noch ein paar Sekunden länger sitzen als alle anderen. Ihm war in einer seiner Physikaufgaben ein Fehler aufgefallen und den wollte er lieber gleich beheben. Nachher würde er sicher nicht mehr dazu kommen, denn der neue Schüler wollte bestimmt im Gebäude herumgeführt werden. Brian und Tovey hatten sich längst verkrümelt, dabei waren sie an diesem Morgen doch noch so interessiert an dem neuen Schüler gewesen.

„Wie lange brauchen Sie noch, Sonny?“ fragte Ronald Blecket, der Schulleiter und einschlägig gehasster Mathe- sowie Physiklehrer, während er seine Sachen in einen schwarzen Aktenkoffer packte, der unübersehbar teuer und edel wirkte. Blecket war groß und dunkelhaarig. Sein ständiger Aufzug bestand aus einem maßgeschneiderten Anzug und einem weißen Hemd ohne Krawatte. Sonny vergötterte seinen Kleidungsstil und ahmte ihn in Perfektion nach.

„Nur noch ein paar Sekunden“, sagte Sonny abwesend und suchte ohne hinzusehen in seiner Federtasche nach einem Bleistift.

„Schließen Sie bitte die Klassenraumtür, wenn Sie gehen.“

Sonny nickte und strich etwas durch. Gleich hatte er es… Herr Blecket verließ den Raum. Seine Schritte hallten im Gang. Sonny blickte zufrieden auf. Fertig. Ein latenter Schmerz in seinem Kopf sagte ihm, dass es für heute auch wirklich genug war. Er mochte Physik, aber Bleckets Unterricht war ziemlich anspruchsvoll.

„Sonny Iero ist noch im Raum. Ja, genau dort. Er wird Sie dann zu Ihrem gemeinsamen Zimmer führen. Schön Sie hier begrüßen zu dürfen.“

Sonny lehnte sich zurück und warf einen Blick zur Tür. Schüchtern und vorsichtig trat ein Junge vor. Er hatte tiefschwarzes Haar. Er war geschminkt, trug dunkle Kleidung, weiße Vans und eine graue Jacke. Sonny blinzelte, sah ihn noch einmal an und bemerkte wie sich sein Kopfschmerz auflöste wie Rauchschwaden, die vom Wind verweht wurden. Das war also der Neue. Etwas ganz Ungewöhnliches machte sich in seinem Kopf breit. Es war angenehm, aber es ließ seinen Blick verschwimmen. Eigenartig. Der Junge trat in den Raum.

„Bist du Sonny?“ fragte er vorsichtig. Seine Stimme war sehr angenehm, irgendwie beruhigend.

„Ja“, sagte Sonny und erhob sich. „Ich bin hier fertig, wir können zu unserem Zimmer gehen, wenn du möchtest.“

Schnell packte er seine Sachen ein und bemerkte dabei, dass sein Herz etwas zu schnell schlug. Hastig warf er seinen Rucksack über eine Schulter und trat zu dem Jungen in den Gang.

„Man hat gesagt, meine Koffer würden hochgebracht werden“, sagte er und sah sich ängstlich um.

„Ja, na klar, mach dir keine Sorgen. Wie heißt du?“

„Aron Wayne.“

„Willkommen bei uns, Aron“, sagte Sonny fast etwas feierlich und brachte Aron damit zum Lächeln.

Sie verließen gemeinsam das Schulgebäude und Sonny begann Aron fröhlich alles zu erklären. Er nannte ihm die Namen aller Lehrer die an ihnen vorbeiliefen und ihre Fächer. Er erklärte die festgesetzten Essenszeiten, wann die Nachtruhe begann und auch welcher aufsichtshabende Schüler ein Arschloch war und welcher nicht. All diese kleinen Dinge, die man eben wusste, wenn man diese Schule schon länger besuchte. Aron hörte sich das alles genau an, während sie nun endlich das Internatsgebäude erreichten und betraten. Alles war mit dunklem Holz ausgelegt. Das vermittelte zwar eine relativ warme, aber nicht wirklich angenehme Atmosphäre.

„Unser Zimmer ist ganz oben“, sagte Sonny, „und wir haben Ausblick in die Freiheit.“

Aron grinste schüchtern.

„Wie meinst du das?“

„Das Fenster zeigt nicht auf den Schulhof sondern auf die Felder. Man kann nicht viel sehen. Außer manchmal den Kirchturm der nächstgelegenen Stadt. Aber ab und zu, wenn alles ruhig ist und der Wind günstig steht, dann kannst du sogar die Kirchenglocke hören. Und der Sonnenuntergang ist atemberaubend.“

Während sie ein paar Gänge abliefen und scheinbar alle Treppen mitnahmen die es gab, zog Sonny seine Schlüssel aus der Hosentasche und sie kamen vor der Nummer 120 zu stehen.

„So, hier ist es.“

„Ich glaube, ich finde es allein nie und nimmer wieder“, sagte Aron und sah sich verzweifelt um. So viele Gänge, Treppen und Türen.

„Macht nichts, wenn du was suchst, dann helfe ich dir gern. Und sonst gehen wir morgens immer zusammen zum Frühstück und abends zum Abendbrot, bis du den Weg auswendig kennst. Das geht schneller als du denkst.“

Aron lächelte wieder und trat durch die Tür, die Sonny ihm ganz gentlemanlike aufhielt. Hinter ihnen fiel diese dann aber mit einem weniger eleganten Knall zurück ins Schloss. Sonny grinste entschuldigend. Das Zimmer war dämmrig, denn die Sonne ging bereits unter, ein eindeutiges Zeichen dafür, dass es langsam Winter wurde. Sonny fröstelte, stellte seinen Rucksack ab und drehte die Heizung auf. Aron sah sich schüchtern um und entdeckte seine Koffer am Fuße eines frisch bezogenen Bettes.

„Oh, da sind sie ja!“ sagte er leise und Sonny grinste, während er das Licht anmachte und die Vorhänge zuzog.
 

Brian saß falsch herum auf seinem Stuhl. Er hatte die Arme auf der Lehne verschränkt und den Kopf darauf gelegt. Billy betrachtete ihn mit einem dicken Physikbuch in der Hand und legte den Kopf schief. Brian schien ganz, ganz weit weg zu sein mit seinen Gedanken. Vorsichtig klappte Billy das Buch zu und setzte sich auf sein Bett. Dabei ließ er Brian nicht aus den Augen, doch der registrierte scheinbar gar nichts. Billy zog die Augenbrauen zusammen und legte den Kopf auf die andere Seite.

„Brian?“ Keine Reaktion.

„Brian?“ sagte Billy etwas lauter und Brian fuhr erschrocken hoch.

„Was … was denn?“ fragte er zerstreut und rieb sich die Brust als hätte sein Herz kurzzeitig aufgehört zu schlagen.

„An was denkst du?“ fragte Billy und strich sich durch die Haare. Sie blieben einen Moment fast senkrecht stehen und fielen dann Strähne für Strähne wieder zusammen, wie ein Kartenhaus.

„An Tovey“, gab Brian zu und nahm wieder seine alte Stellung ein, aber jetzt wirkte er nicht mehr so zerstreut, vielmehr ernst und besorgt.

„Warum?“ Billy stand wieder auf und begann in seinem Kleiderschrank zu kramen. Er legte sich seine Sachen für den nächsten Tag immer am Abend vorher zurecht. Sie waren ohnehin jeden Morgen im Verzug, da zählte jede Sekunde.

„Er hat den ganzen Tag nichts gegessen“, murmelte Brian, „Sowohl heute, als auch gestern. Ich meine, gestern war es nur ein Toast zum Frühstück …“

Billy ließ von seinem Schrank ab und sah Brian fragend an.

„Wie? Nichts gegessen?“

„Na, er hat nichts gegessen“, wiederholte Brian und sah zu Billy auf. „So gut wie gar nichts. Nicht mal einen Corny Riegel.“

„Oh je“, Billy rieb sich seinen kleinen Bauchansatz. „Ohne Essen einen Tag zu überleben. Das geht doch gar nicht.“

„Nein, das geht nicht. Vor allem nicht mehrere Tage hintereinander. Ich hab das dumme Gefühl, er tut das schon länger.“

Es herrschte einen Moment Schweigen, dann fragte Billy: „Wo ist Tovey grad? Ich meine, sein Volleyball Training ist seit einer Stunde vorbei. Er müsste längst wieder da sein …“

Brian sah ihn an, als würde er Chinesisch reden.

„Ich habe keine Ahnung.“
 

Tovey zuckte zusammen, als der Volleyball neben ihm auf den Hallenboden klatschte. Das Geräusch kam ihm unangenehm laut vor und klang in seinen Ohren nach.

„Was machst du denn?“ rief jemand aus seinem Team ihm zu und Tovey hob entschuldigen die Hände.

„Sorry“, murmelte er und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Vor seinen Augen tanzten schwarze Punkte. Als er sich bückte, um den Ball aufzuheben und eine neue Angabe zu machen, hatte er das Gefühl sich nicht wieder aufrichten zu können, ohne das Bewusstsein zu verlieren.

„Alles klar mit dir?“ hörte er dieselbe Stimme von vorhin noch einmal fragen, und jemand hockte sich neben ihn. „Du bist echt blass, Tovey. Geh lieber auf dein Zimmer und lass es für heute gut sein.“

Tovey schüttelte mit dem Kopf.

„Es geht schon“, murmelte er und raffte sich wieder auf.

Nach der Pause zog Tovey es dann doch vor, das Training abzubrechen. Er konnte nicht mehr. Was war nur mit ihm los? War er schon so fett und unbeweglich geworden? Er sollte weniger essen, denn so konnte das nicht weitergehen. Bald würde er aussehen wie ein Ballon. Gestern der Toast … die ganzen Kalorien … er musste aufhören so viel zu essen. Tovey wurde schlecht. Mit zittrigen Beinen und Händen zog er sich um, packte seine Sachen fahrig zusammen und verließ die Sporthalle, ohne noch einmal jemandem bescheid zu geben. Als er den alten Kiesweg betrat, der rüber zum Internat führte, war es bereits dunkel geworden. Der Winter rückte immer näher, das spürte man auch an den Temperaturen. Tovey hasste die kalte Jahreszeit. Im Dezember war man immer gezwungen so viel Schokolade zu essen. Wenn er sich vorstellte wie er dabei zunehmen würde. Unmöglich, das durfte nicht geschehen. Er wanderte langsam den Kiesweg entlang, jeder Schritt eine Qual, jeder Atemzug ein Brennen in seiner Brust. Die Sporthalle lag etwa einen guten Kilometer vom Internatsgebäude entfernt und gehörte nicht mehr wirklich zum Schulkomplex. Ronald Blecket hatte etwas Land zum ursprünglichen Schulgelände dazugekauft und dort die moderne Halle bauen lassen.

Müde fuhr Tovey sich über die Stirn. Ihm war so schlecht. Seine Augen tränten. Er musste schlafen und durfte nicht ständig ans Essen denken. Irgendwie würde er seine Fettleibigkeit schon in den Griff kriegen. 60 Kilo waren einfach zu viel. 50 wären schön, oder noch weniger. Vielleicht würde …

Tovey schüttelte den Kopf. Die erste Träne lief heiß seine Wange herunter und hinterließ eine eisige Spur auf seiner warmen Haut. Er stellte seine Tasche auf den Weg und kramte eine Packung Taschentücher heraus. Das würde schon irgendwie werden. Vorsichtig tupfte er sich die Wangen ab. Dann griff er zu seiner Trinkflasche, die bereits halb leer war. Nur Wasser, reines Wasser. Das war das einzige wovon er sich ohne Gewissensbisse ernähren konnte. Tovey trank die Flasche leer und ihm wurde ein klein wenig wohler. Sein Magen gab etwas Ruhe. Nur in seinem Kopf pochte noch ein leiser Schmerz, ebenso wie in seinen Handgelenken. Das Training war heute wirklich nicht gut gewesen. Er steckte die leere Flasche wieder ein und setzte seinen Weg fort. Bald wäre er wieder bei Billy und Brian. Dann war er abgelenkt und musste nicht ans Essen denken. Das war gut. Und auch wenn Brian da war, war es gut. Er wäre auch gern so schlank wie Brian gewesen. Nur sah er nicht, dass er es schon längst war.
 

„Vielleicht sollten wir …“, Brian sprang von seinem Stuhl hoch und durchmaß mit wenigen Schritten das Zimmer, „Tovey suchen gehen. Ich mache mir Sorgen.“

Billy stand auf, doch Brian verschwand bereits durch die Tür. Vielleicht sollte er Brian das allein machen lassen. Billy fühlte sich nicht besonders mutig im Moment und es war schon so dunkel …

Hastig lief Brian die Treppe hinunter, auf den Haupteingang zu und trat in die kühle Abendluft. Er hatte völlig vergessen sich eine Jacke mitzunehmen. Dummer Junge. Aber er würde nicht noch einmal hoch laufen. Immerhin könnte Tovey etwas zugestoßen sein. Zitternd zog er seinen Pullover enger um sich und lief in Richtung des Kiesweges, der zur Sporthalle führte.

„Tovey?“ rief er etwas halbherzig und wie erwartet bekam er keine Antwort. Brian fluchte leise. Warum musste sich Tovey unbedingt so einen kalten Abend zum Verschwinden aussuchen? Wenn er diesen Spinner in die Finger bekam.

„Tovey?“ dieses Mal hallte seine Stimme leicht wieder. So weit konnte Tovey doch gar nicht sein …
 

Während sich Brian frierend durch die Dunkelheit kämpfte, machte es sich Aron Wayne in seinem neuen zu Hause gemütlich. Er packte seine Sachen aus, natürlich unter Sonnys neugierigen Blicken, und erzählte von seinem richtigen zu Hause.

„Meine Mutter hat von der Schule gehört. Es hieß sie würde nur homosexuelle Jungen aufnehmen. Sie war echt begeistert und hat es sofort meiner Stiefmutter erzählt…“

Sonny zog die Augenbrauen zusammen. Ein Ausdruck von Verwirrung trat auf sein Gesicht.

„Wie war das?“

Aron drehte sich grinsend zu Sonny um.

„Meine Mütter sind lesbisch.“

Sonny lachte.

„Ach so, verdammt so weit habe ich eben gar nicht gedacht!“ Er lachte entschuldigend.

„Man wird hier wohl etwas kleinkariert?“ fragte Aron belustigt und wandte sich wieder seinen Sachen zu.

„Vielleicht“, Sonny grinste verlegen und beobachtete wie Aron seine Koffer absuchte, ob er auch nichts vergessen hatte.

„Hat Blecket dich deswegen aufgenommen? Weil du schon aus einer homosexuellen Familie stammst?“ fragte er neugierig weiter.

„Ich weiß nicht“, sagte Aron langsam und ließ die Koffer kurz Koffer sein. „Meine Bewerbung muss ihn überzeugt haben.“ Er lächelte schief.

„Wieso, was stand denn da drin, was einen Mann wie diesen überzeugen kann? Blecket ist wirklich wählerisch. Manchmal ein richtiger Drecksack. Aber man bekommt ihn auch nicht oft zu sehen, wenn man nicht Physik oder Mathe mit ihm hat. Ich hab Physik und Mathe mit ihm.“

Sonny machte es sich auf seinem Bett gemütlich und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Die Decke, an die er jetzt starrte, war einmal weiß gewesen, wirkte jetzt aber eher grau.

„Wonach wählt er denn seine Schüler aus?“ fragte Aron interessiert.

„Also, ich glaube nach dem Passbild auf der Bewerbung“, sagte Sonny nachdenklich. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Rest ihn wirklich interessiert. Na ja, und natürlich musst du schwul sein. Sonst hast du gar keine Chance.“

„Wenn ich wirklich eine Hete wäre, dann würde ich hier doch auch nicht her wollen, oder?“ gab Aron zu bedenken. Sonny zuckte leicht mit den Schultern, so gut es im Liegen eben ging.

„Es soll schon Leute gegeben haben, die es versucht haben.“ behauptete er ernst.

„Kann ich mir gar nicht vorstellen“, sagte Aron nachdenklich. „Manche Leute sind so homophob. Zum Beispiel die Leute aus meiner ehemaligen Klasse, die sind fast durchgedreht, als ich ihnen zum Abschied klargemacht habe, dass ich schwul bin. Es war so scheiße bei denen neu anfangen zu müssen, nachdem ich endlich einen besten Freund gefunden hatte.“

Sonny raffte sich wieder hoch und setzte sich mit gekreuzten Beinen hin. Dabei fand sein Blick Aron, der mittlerweile auf dem Boden saß und etwas traurig dreinblickte.

„Darf man fragen, warum dieser Junge jetzt nicht mehr dein bester Freund ist?“

Aron seufzte traurig und fuhr sich unbehaglich durch die Haare.

„Das ist eine total dumme Geschichte. Ich bin mit meiner Mutter und Anna umgezogen, ich hatte aber damals noch kein Handy oder sowas. Ich hab ihm deshalb meine neue Adresse gegeben. Wahrscheinlich hat er den Zettel verloren. Ich weiß es nicht. Ich habe ihn auch nicht mehr erreicht, weil er kurz nach uns auch weggezogen ist. Sein Handy ist wahrscheinlich kaputt gegangen. Wenn ich versucht habe anzurufen kam nur noch, dass die Nummer nicht bekannt sei. Ich bin fast wahnsinnig geworden.“

Sonny schwieg betreten. Das war ja tatsächlich eine blöde Geschichte und Aron wirkte nicht gerade, als wäre er wirklich darüber hinweg.

„Das tut mir echt leid“, er legte nachdenklich den Kopf schief und strich sich über seinen Bartansatz. Er war nicht zu sehen, aber Sonny bemerkte peinlich berührt, dass man ihn genau spüren konnte.

Aron seufzte verdächtig und wischte sich mit dem Ärmel seines Pullovers über das Gesicht.

„Warum gehen wir nicht zu meinen Freunden rüber? Tovey, Brian und Billy würden dich sicher sehr gern kennen lernen“, lenkte Sonny ein. Er wollte nicht, dass Aron jetzt in Tränen ausbrach. Etwas Ablenkung konnte nicht schaden.

Aron willigte erfreut ein.
 

Es klopfte sanft an der Zimmertür. Billy hob den Kopf und riss den Blick dankbar von seinen Physikaufgaben los. Ob Brian Tovey gefunden hatte? Wieso klopfte er? Verwirrt stand Billy auf und öffnete die Tür. Vor ihm standen Sonny und ein fremder, sehr hübscher Junge. Bestimmt der Neue. Billy grinste.

„Hi!“ sagte er heiter und ließ die beiden rein.

„Billy, das ist Aron, Aron, Billy“, sagte Sonny schnell und Billy hielt Aron fröhlich seine Hand hin.

„Herzlich Willkommen!“

Bevor Aron sich bedanken konnte, begann Sonny wieder zu sprechen.

„Wo sind Brian und Tovey?“ fragte er in, einem für Aron ungewohnt, schneidenden Ton. Billy sah ihn verwirrt an und verstand dann endlich. Sonny war ihr Freund, aber Sonny war auch Schülersprecher und damit hatte er einen fiesen Bund mit der Obrigkeit.

„Die sind - ähm - ja …“, Billy hasste es lügen zu müssen. Er konnte das einfach nicht. Na ja … nicht wirklich. „Tovey ist nicht nach Hause gekommen vom Training und jetzt ist Brian los um ihn zu suchen. Er ist erst seit 10 Minuten weg.“

„Dieser Typ ist so unmöglich. Warum kommt er nicht zu mir?“ ärgerte Sonny sich. Aron biss sich leicht auf die Lippen. Er wollte jetzt nicht loslachen, vielleicht hätte das Sonny verärgert. Dieser Brian schien ein kleiner Rebell zu sein und irgendwie fand Aron das unheimlich sympathisch.
 

„Tovey?“ Brian rannte ziellos den Kiesweg entlang. „Mensch Tovey, es ist arschkalt hier draußen. Wo bist du denn?“

Das konnte doch wirklich nicht wahr sein! Was veranstaltete dieser Verrückte denn neuerdings? Erst verweigerte er seine Mahlzeiten und dann verschwand er spurlos. Herrlich! Brian hatte tausend Ideen, was mit Tovey passiert sein könnte, aber er wollte sich keine davon wirklich ausmalen. Seine Nervosität hatte ohnehin fast ihren Siedepunkt erreicht.

„Tovey! Hey! Tovey!“

Er lauschte. Da waren Schritte. Viele Schritte, schnelle Schritte. Brians Herz begann laut zu pochen. Seine These von der Mörderbande musste sich bewahrheitet haben. Jetzt hatten sie Tovey umgebracht und gleich würden sie auch ihn … Die Schritte kamen näher.

„BRIAN MOORE du kleiner verdammter Wichser, du weißt genau, dass wir nach zehn Uhr das Gebäude …!“

Brian atmete auf. Das war nur Sonny. Aber wieso hörte er auf zu reden? Brian legte den Kopf schief und lauschte in die Dunkelheit. Sonny war stehen geblieben, aber der Lichtkegel der nächsten Laterne erreichte ihn nicht ganz. Angestrengt kniff Brian die Augen zusammen. Was war denn jetzt wieder? Doch noch ein irrer Vergewaltiger?

„Aron? Bist du okay?“ Sonnys Stimme klang unsicher. Brian konnte sich nicht im Geringsten erklären, was da vor sich ging.

„Was hast du eben gesagt?“ fragte jemand etwas atemlos.

Brian überkam das angenehme Gefühl eines déja-vu. Das musste an der Stimme liegen. Wer begleitete Sonny denn da?

„Was meinst du?“ fragte Sonny. Seine Stimme klang, als würde er mit einem geisteskranken Kind reden. Brian zog eine Augenbraue hoch. Erklärung bitte.

„Wie heißt er?“

Woher verdammt kannte er diese Stimme?

„Brian Moore habe …“

„OH MEIN GOTT!“

Der Schrei durchriss das Dunkel bevor etwas aus dem Schatten hervorgeschossen kam und auf Brian zuhielt. Vielleicht eine überdimensionale Fledermaus. Brian beschloss seine Horrorfilm Abende abzustellen. Das Etwas kam auf ihn zu und rannte ihn dann fast um. Brian fühlte einen heftigen Aufprall, den er gerade noch abfangen konnte bevor sich zwei Arme um seinen Hals schlangen. Wieder überkam ihn dieses süße déja-vu Gefühl. Ein bekannter Duft wehte ihm entgegen. Automatisch schloss er die Arme um das Etwas und identifizierte es sogleich als Menschen. Keine überdimensionale Fledermaus. Nein, etwas viel, viel Schöneres.

„Aron?“ Sonnys Stimme troff vor Verwirrung.

„Oh, m e i n G o t t . Brian, Brian, Brian! Was machst du hier? Ich kann es gar nicht fassen. Was machst du hier?“

Brian betrachtete das kleine Etwas (das er als Mensch identifiziert hatte) mit großen staunenden Augen. Das war nicht zu fassen.

„Aron!“ sagte er gelinde überrascht. Dann lächelte er. Sonny schien es, als hätte Brian ein paar gute Drogen genommen - was nichts weiter Ungewöhnliches gewesen wäre - dieser Blick erinnerte stark an eine schöne Halluzination. Einen Moment herrschte Stille. Dann fing Brian plötzlich an zu schreien.

„ARON! M E I N G O T T! Scheiße, wie kommst du hier her? Das ist ja GEIL!“

Aron lachte, als Brian ihn so heftig umarmte, dass sie beide auf dem Boden landeten. Jetzt war es Sonny, der eine Augenbraue hochzog. What the f***?

„Ich hab dich so wahnsinnig vermisst!“ verkündete Brian überschwänglich. Sonny meinte ihn fast heulen zu sehen vor Freude.

Niemand bemerkte den Schatten der unter den nahe stehenden Bäumen hervorkam. Niemand bemerkte, wie er an der nächsten Laterne stehen blieb und sie beobachtete.

In alles überragender Freude nahm Brian Arons Gesicht in die Hände und küsste ihn auf den Mund. Einmal, zweimal und noch viel öfter. Viele kleine hastige Küsse. Wie tanzende Schmetterlinge.

Niemand bemerkte, wie der Schatten erstarrte.

Niemand bemerkte, wie Sonnys Gesicht erbleichte.
 

Brians Augen leuchteten Aron glücklich an.

„Du bist noch schöner als damals, du bist noch viel, viel schöner. Du bist einfach unglaublich …“

Aron kicherte.

„Hör auf. Du lügst ja immer noch.“

„Wie könnte ich?!“ rief Brian empört, klang aber eher belustigt. Er zog Aron fest in seine Arme und seufzte zufrieden. „Endlich wieder meiner. Und schön warm bist du auch noch. Ich friere mir hier den verdammten Arsch ab.“

Sonny gelang es durch irgendein Wunder die Augen von dieser Szene zu reißen. Und er war es, der den Schatten als erster bemerkte.

„Brian? Aron?“ sagte er halblaut und fasste Tovey fest ins Auge. „Wir haben ihn gefunden.“

Toveys Gesichtsausdruck, als er in den Lichtkegel trat, gefiel Sonny überhaupt nicht.

We are in this together now ...

Kapitel 2

We are in this together now

None of them can stop us now

We will make it through somehow
 

„Ein Glück“, Brian fiel ein Stein vom Herzen, als er den Kopf drehte und Tovey registrierte. „Ich hab mir schon total Sorgen gemacht.“

Er raffte sich vom Boden auf und half Aron hoch. Fast wie automatisch fanden sich seine und Arons Hand. Sie verhakten die kleinen Finger ineinander. Als wäre es nie anders gewesen. Tovey fühlte seinen Magen rebellieren. Was zum Teufel ging hier ab? Wer war dieses Püppchen an Brians Hand? Wo kam dieser Abschaum her?

„Tovey was machst du?“ fing Brian an. „Was ist denn passiert? Wieso kommst du nicht nach Hause?“

„Mir war schlecht“, sagte Tovey tonlos und starrte an Brian vorbei. „Mir IST schlecht.“ Er trat noch ein paar Schritte vor und starrte weiter an Brian vorbei. Seine Hand hatte Tovey auf seinen Magen gepresst. Brian suchte verzweifelt seinen Blick. Tovey erreichte ihn und blieb vor Aron stehen, der ängstlich etwas zurückwich. Brian folgte der Bewegung unwillkürlich.

„Wer bist du?“ fragte Tovey und jetzt war seine Stimme nicht mehr tonlos, sie war regelrecht eisig.

„Aron Wayne“, sagte Aron unsicher und ergriff Brians Hand jetzt vollständig. Ein Zeichen von Angst. Sonny trat einen Schritt an seine Freunde heran.

„Kommt sofort mit zurück ins Internat. Ich werde mal drüber hinwegsehen heute, aber das ist die absolute Ausnahme.“

Brian zog Aron von Tovey weg und berührte dann vorsichtig dessen Arm.

„Komm Tovey, es ist spät.“

„Nein“, sagte Tovey. Er kniff die Augen zusammen, als würde er schlecht sehen. „Ich will wissen, was der da hier zu suchen hat.“ Dabei deutete er auf Aron.

„Er ist unser neuer Schüler“, sagte Sonny ruhig, ergriff sanft Tovey Oberarm und zog ihn bedächtig von Aron weg. Die ganze Szene entfachte in ihm ein Gefühl des Unbehagens und er wusste, dass sein Gefühl ihn nur selten trog. Das hier musste beendet werden und zwar schnell.

„Wir gehen jetzt zurück. Kommt.“
 

Sie erreichten nervös das Internatsgebäude und hofften, dass kein Lehrer sie erwischte. Für den Fall der Fälle aber legte sich Sonny einige Ausreden zurecht.

„Sofort ab ins Bett mit euch“, sagte er scharf während er immer noch Toveys Arm festhielt.

„Ja, Chef“, sagte Brian und schenkte Aron einen schmachtenden Blick. „Wir sehen uns morgen beim Frühstück.“

„Ich kann es kaum erwarten“, sagte Aron und lächelte ihn an. Dieser Tovey machte ihm Angst, aber Aron versuchte sich das nicht anmerken zu lassen.

„Bis dann.“

Brian erschnorrte sich noch einen flüchtigen Kuss, bevor er die Zimmertür aufschloss und Tovey ansah.

„Kommst du?“

Tovey schwieg verbissen, wand sich aus Sonnys Griff und trat vor Brian in das Zimmer. Brian winkte Aron noch einmal zu und verschwand dann auch. Sonny gab Aron einen kleinen Schubser, damit er sich in Bewegung setzte.

„Das ist er also“, sagte Sonny mit gedämpfter Stimme. „Der verflossene beste Freund. Sah eher aus, als wäret ihr beide ein Paar.“

„Sind wir aber nicht“, sagte Aron ebenso leise.

„Hattet ihr Sex?“ fragte Sonny gerade heraus und war dankbar, dass es fast dunkel im Gang war. Er wurde rot. Aron zögerte.

„Eventuell“, sagte er dann vage.

„Vielleicht solltest du darüber nachdenken mit ihm zu gehen.“

Wenn Aron sich nicht verhörte, dann klang das sehr, sehr eifersüchtig. Er presste die Lippen zusammen um nicht grinsen zu müssen.
 

Der Wecker klingelte. Brian wurde unsanft aus einem schönen Traum gerissen und vergaß diesen daraufhin sofort. Laut stöhnend drehte er sich in seinem Bett um.

„Billy, mach das verdammte, scheiß Ding aus!“

Sofort verstummte der Wecker. Jetzt seufzte Brian erleichtert. Mit trägen Gliedern arbeitete er sich durch seine Decken und setzte sich auf.

„Scheiß Nachtwanderung“, murmelte er, während er sich mit den Händen das Gesicht rieb. Sein Kopf wollte nicht wirklich wach werden. Alles in ihm strebte dagegen an. Am liebsten hätte er sich sofort wieder hingelegt. Müde blinzelte er ins Zimmer. Es war dämmrig, kaum hell. Der Herbst kam unaufhaltsam. Brian entdeckte Tovey, der sich missmutig an seine Decke klammerte. Billy war schon aufgestanden und marschierte mit einem Handtuch über der Schulter aus dem Zimmer. Brian gähnte demonstrativ und streckte sich, dass seine Knochen knackten.

„Ich will nicht“, quengelte er, fast die perfekte Imitation eines kleinen Kindes.

Tovey antwortete nicht. Er schlug fröstelnd die Decke zurück und torkelte hinüber zu seinem Kleiderschrank. Brian sah ihn an. Blind tastete Tovey nach einem Lichtschalter. Die Helligkeit schmerzte in seinen Augen. Brian gab einen Protestlaut von sich und wollte sich gerade bei Tovey dafür bedanken, dass er seine Photosynthese wieder angeregt hatte, als er merkte, dass er seine Sprüche lieber stecken lassen sollte. Wie am Abend zuvor presste Tovey seine rechte Hand gegen seinen Magen. Mit dem linken Arm stützte er sich gegen den Schrank. Brian war jetzt recht schnell auf den Beinen.

„Bist du okay, Toto?“ Vorsichtig legte er Tovey eine Hand auf den Rücken. „Soll ich jemanden holen? Oder soll ich dich krank melden?“

Tovey schüttelte den Kopf. Er presste die Lippen so fest zusammen, dass sie ganz weiß wurden und in seinen Augen standen Tränen. Brian bekam es mit der Angst zu tun.

„Was hast du denn?“

„Nichts“, es war mehr ein Seufzen als ein Wort.

„To …“, begann Brian, als Tovey plötzlich zusammensackte. Geistesgegenwärtig fing er seinen Freund auf. Er war unheimlich leicht.

„Tovey“, sagte Brian und versuchte seinen hastigen Atem zu beruhigen, „ich werde dich krank melden und dann den Arzt zu dir schicken. Keine Widerrede. Du bleibst im Bett. Es ist nur zu deinem Besten.“

Mit zitternden Fingern strich sich Tovey über die Stirn. Ob er Fieber hatte? Brian vermutete das.

„Ich muss nicht zu Hause bleiben“, sagte Tovey dann unsicher und versuchte wieder auf eigenen Beinen zu stehen. „Ich muss nicht hier bleiben. Ich muss einfach nur essen.“

„Du hast wirklich gehungert“, stellte Brian etwas fassungslos fest. Tovey nickte und senkte schnell den Kopf. „Bist du denn verrückt? Tovey, du machst dich doch nur kaputt! Du kannst doch nicht mir nichts dir nichts anfangen zu hungern.“

„Was hätte ich denn tun sollen?!“

Brian erfasste wieder schnell Toveys Schultern, damit er nicht umfiel. Sein Freund hatte angefangen zu zittern. Er schluchzte.

„Was hätte ich denn tun sollen?“ wie anders derselbe Satz klingen konnte. Eben noch laut und hysterisch, jetzt gebrochen und reumütig. „Ich will doch einfach genauso schön sein wie …“

Brian schüttelte verständnislos den Kopf und nahm Tovey in die Arme. Was redete er sich denn ein?

„Was ist los mit dir? Willst du es mir nicht sagen?“

„Ich fühl mich so verdammt hässlich“, sagte Tovey mit weinerlicher Stimme. Aber leider war das nur die halbe Wahrheit.

„Das ist doch totaler Unsinn“, sagte Brian in seinem einfühlsamsten Ton und strich tröstend über Toveys Rücken. „Wirklicher vollkommener Schwachsinn. Du bist doch voll hübsch, du Dummchen.“

Tovey lehnte den Kopf an Brians Schulter. Ob er das ernst meinte? Ob er es wieder sagen würde?

„Wirklich?“ fragte er langsam, während die Tränen versiegten. Nur die Übelkeit und der Hunger blieben zurück.

„Wirklich“, sagte Brian bestimmt. „Aber vielleicht solltest du dich trotzdem krank melden. Gleich nach dem Frühstück.“
 

Zur Abwechslung waren sie pünktlich. Brian kam das fast unheimlich vor. Ihr Tisch war noch unbesetzt. Kein Sonny, der bereits seit 5 Minuten mit dem Frühstück fertig war. Sie waren die ersten an ihrem Tisch.

„Ich bring dir was mit“, sagte Brian zu Tovey, der sich bereits hinsetzte. Irgendwie schien es Brian heute wichtig, das zu erwähnen. Obwohl er es ja schon sehr lange tat. Toveys Gesicht war noch immer etwas zu blass, aber das würden sie schon wieder hin bekommen. Brian schenkte Tovey ein unsicheres Lächeln und als der es erwiderte fiel Brian ein großer Stein vom Herzen. Bald wäre alles wieder im Lot.

Gerade als Brian das große Frühstücksbuffet erreicht hatte betraten Sonny und ein recht verschlafener Aron die Kantine. Aron gähnte hinter vorgehaltener Hand und fuhr sich müde über die Stirn. Sonny wirkte wenig beeindruckt. Aber trotzdem sah man ihm an, dass ihm innerlich irgendetwas zu schaffen machte. Brian konnte nicht genau sagen, warum er das dachte. Es war einfach da.

„Morgen, ihr beiden!“ rief er zu ihnen hinüber und ein Strahlen breitete sich auf Arons Gesicht aus.

„Morgen!“

Sonny grüßte Brian kurz mit einem Handzeichen und verzog sich zu Tovey an den Tisch. Seine Laune schien heute Morgen sehr schlecht zu sein. Nicht so neutral wie sonst immer.

„Guten Morgen, Sonny“, sagte Tovey und versuchte keinen Blick auf Aron zu werfen, der auf Brian zugelaufen war nur um ihm wieder um den Hals zu fallen.

„Morgen“, murmelte Sonny und starrte auf seinen Teller.

„Ich … werde mich für heute krank melden“, sagte Tovey, nur um sie beide irgendwie von Brian und Aron abzulenken.

„Warum?“ fragte Sonny und sah nun endlich hoch. Sein Blick war wachsam wie eh und je. Wenn es um seinen „Job“ ging, zeigte Sonny nur selten Schwäche.

„Ich … ähm … ich fühle mich nicht wohl … mein Magen, weißt du? Nur ne kleine Verstimmung, denke ich, aber …“

Sonny trippelte ungeduldig mit den Fingern auf dem Tisch herum.

„Was hast du wirklich?“ fragte er und sein Blick bohrte sich praktisch in Toveys Augen.

„Ich fühl mich einfach nicht gut“, sagte Tovey und versuchte seiner Stimme einen etwas glaubwürdigeren Klang zu verleihen. „Vielleicht … habe ich die letzten Tage einfach zu wenig gegessen.“

Sonny beugte sich über den Tisch, ohne seinen stechenden Blick abzustellen. Tovey schauderte leicht.

„Eins kann ich dir sagen, wenn du Magersüchtig bist, dann werde ich nicht lange fackeln und sofort zur Schulleitung gehen. Nur zu deinem Besten, natürlich.“

Tovey wurde scharlachrot und senkte schnell den Kopf. So weit war es doch noch lange nicht! Oder?

Brian und Aron kehrten an den Tisch zurück. Aron hatte etwas für Sonny mitgebracht und erntete dafür ein dankbares, wenn auch müdes Lächeln.

„Du hast schlecht geschlafen, oder?“ fragte Aron vorsichtig. Sein Stuhl stand ziemlich dicht an Brians.

„Ja“, gab Sonny zwischen zwei Schlucken Kaffee zu. „Ja, das habe ich. Wir alle hätten von der Schule fliegen können, für die gestrige Aktion.“

„Ist doch nichts passiert“, sagte Brian munter und klopfte Tovey sanft auf die Schulter. „Unser lieber Tovey ist ja heil wieder zurückgekommen.“

„So richtig heil wohl nicht“, meinte Sonny mürrisch. „Wer sich krank meldet, ist meiner Meinung nach nicht ganz heil.“

Er zog einen Block aus der Innenseite seines Jacketts (Ja, immer ganz elegant gekleidet; als Autoritätsperson musste man sich schließlich Respekt verschaffen) und schrieb etwas darauf. Er setzte seine Unterschrift darunter und reichte den Zettel dann Tovey.

„Zum Sekretariat kommst du noch allein?“

„Ja“, murmelte Tovey und faltete den Zettel sorgsam zusammen. Er wirkte ziemlich elend. Brian empfand Mitleid mit ihm.

„Was war das?“ fragte Aron vorsichtig und sah erst Brian dann Sonny an.

„Ein Krankenschein, sozusagen“, meinte Sonny missmutig und schlürfte wieder etwas Kaffee. „Ich stelle Tovey damit für die ersten zwei Stunden frei. In der Zeit ist er verpflichtet zum Schularzt zu gehen. Der setzt seine Unterschrift unter dieses Pamphlet und gestattet Tovey entweder ein oder zwei Tage Sonderurlaub, oder stempelt ihn als Simulanten ab. Sobald Tovey seine ärztliche Bestätigung hat, muss er damit zum Sekretariat und der Schein wird kopiert und in seine Schulakte geheftet. Und so weiter und so fort …“

„Klingt irgendwie kompliziert, oder?“ fragte Aron und wandte sich jetzt ganz an Brian, der sich gemütlich zurückgelehnt hatte. Er spielte mit seinem Lippen Piercing und schien zu überlegen.

„Ja, mag sein“, sagte er langsam. „Allerdings habe ich mir bis jetzt vom Chef noch keinen Schein holen müssen.“

„Durchaus“, sagte Sonny trocken. „Du schwänzt auch ohne Bescheinigung.“

Brian wirkte etwas pikiert.

„Du weißt genau, dass ich nicht schwänze.“

„Ach, komm schon, wenn du nicht schwänzt, dann erklär mir mal, wo deine 3 Fehltage vom letzten Zeugnis herkamen. Ich habe für dich nie irgendetwas unterschrieben.“

Sonny stand auf, ließ sein Frühstück und seine leere Kaffeetasse stehen und verschwand.

„Was hat er denn!?“ fing Brian an zu wettern, nachdem Sonny die Kantine verlassen hatte. „Geht’s eigentlich noch?“

„Deine fünf Fehltage sind ganz legitim auf deinem Zeugnis erschienen?“ fragte Tovey. „Dabei hast du doch Sonnys Unterschriften nur gefälscht. Ist das keinem aufgefallen?“

„Fang du nicht auch noch an!“

Als Billy schließlich in die Runde kam, schwiegen sich alle verbissen an.
 

Es klingelte. Brian lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Die ersten Raucher sprinteten bereits aus dem Raum um genug Zeit für ihre Zigarette draußen zu haben. Gelangweilt legte er den Kopf auf den Tisch. Was für ein scheiß Tag. Erst brach Tovey zusammen und dann zickte Sonny ihn auch noch an.

„Hey, Brian!“ jemand schubste ihn etwas unsanft an. Brian fuhr hoch.

„Was denn?“ Im letzten Moment schaffte er es nicht so gemein zu klingen, wie Sonny an diesem Morgen, aber es fiel ihm unheimlich schwer. Der Junge der ihn angeschubst hatte, deutete auf die Klassenzimmertür. Brians Blick folgte ihm und sein Gesicht hellte sich auf.

„Aron!“

Er warf dem anderen Jungen ein kurzes Danke zu und huschte dann nach draußen, als hätte er den Zug der Raucher verpasst.

„Naaaa?“ sagte er gedehnt und schloss Aron in die Arme. Es tat so gut wieder einen Freund zu haben, den man in und auswendig kannte. Tovey war so kompliziert, auch wenn Brian ihn wirklich unheimlich gern hatte.

„Was hast du grad?“ fragte Aron und schlang die Arme um Brians Taille.

„Chemie“, sagte Brian und gähnte.

„Igitt“, sagte Aron und lachte. „Ich hab Philosophie.“

Er grinste etwas schief und Brian wusste genau woran er dachte.

„Hast du schon mal gefragt, ob eine Erbse umfallen kann?“

„Heute noch nicht“, gab Aron zu und grinste dabei.

Sie schwiegen einen Moment. Brian gähnte wieder herzhaft und legte dabei seinen Kopf an Arons Schulter.

„Mami, ich will schlafen“, sagte er und Aron kicherte. Wieder diese perfekte Imitation einer Kinderstimme.
 

Sonny verließ gemächlich seinen Matheraum. Er wollte zum Klo, denn sein Kaffee hatte die Angewohnheit, dass er nach der ersten Stunde immer gerne seinen Körper wieder verließ. Er bog um eine Ecke und hörte dabei überall das Murmeln vieler Stimmen. Sonny hatte festgestellt, dass, wenn man sich zu sehr auf dieses Gemurmel konzentrierte, einem fast der Schädel platzen konnte. So viele wirre, nicht zusammenpassende Sätze. Er ging weiter und bog um eine Ecke.

„… mein Schatz!“

Sonny blickte verwirrt hoch und erkannte Brian und Aron die vor einem der Chemieräume standen. Ein kleiner Schock durchfuhr Sonny und er blieb abrupt stehen. Von wegen kein Paar! Sonny wusste nicht, dass dieses Gefühl, das gerade in ihm aufbrandete schwarze Eifersucht war.

But I can't help the way I feel ...

Kapitel 3

But I can’t help the way I feel

I know it’s time to be strong

Now when all hope is gone
 

Etwa zur gleichen Zeit verließ Tovey die kleine Krankenstation. Der Arzt hatte ihm eröffnet, dass er laut Akte stark an Gewicht verloren hatte, sehr ungesund stark. Außerdem hatte er Tovey angedroht, das zu beobachten und ihn verdonnert jede zweite Woche nach dem Unterricht einmal aufzutauchen. Tovey hatte das missmutig gebilligt. Jetzt hatten sie ihn im Auge und das nur, weil es ihm etwas schlecht ging. Er fühlte sich beobachtet und unwohl. Er hatte das Gefühl, dass man ihn jetzt nur noch aufmerksam anstarren würde und das wollte er nicht. Nervös schlug er den Weg zurück zu seinem Zimmer ein. Er musste jetzt im Bett bleiben, sonst wäre die Entschuldigung nichtig, wenn ihn jemand außerhalb des Zimmers antraf. Ausgenommen einen Gang zum Klo natürlich. Tovey spürte leichte Übelkeit in sich aufsteigen und überlegte unwillkürlich, wie viel er eigentlich zum Frühstück gegessen hatte. Ein Brötchen, etwas Müsli sogar. Die Übelkeit verstärkte sich. So viel? Wieso hatte er so viel zu sich genommen? Aron hatte kein ganzes Brötchen gegessen, nur ein halbes. Kein Wunder, wenn er fett wurde und Aron sich Brian ins Bett angelte. Wer hatte schließlich die bessere Starposition? Tovey knüllte seinen Entschuldigungszettel in die Hosentasche, presste die Hand vor den Mund und begann zu rennen. Vor seinen Augen flimmerte es und er rannte schmerzhaft mit der Schulter gehen den Türrahmen der Gemeinschaftstoiletten. Hastig stolperte er in eine Kabine, fiel auf die Knie und übergab sich. Die Schmerzen in seinen Knien wurden von seinem schwindenden Bewusstsein übertüncht. Er konnte noch erfühlen wo er war. Er nahm Geräusche wahr, aber er sah nichts mehr, als lauter weiße Punkte, ähnlich einem kaputten Fernseher. Tovey übergab sich, bis sein Magen restlos leer war. Er hatte die ganze Zeit auch nicht den Drang verspürt, sich dagegen zu wehren. Es musste alles raus. Die ganzen Kalorien, wieder musste er an Aron denken. Wie schlank er war, eine göttliche Taille … Tovey würgte wieder. Nichts, absolute Leere. Zitternd ließ er sich auf dem Boden nieder. Die Fliesen waren eiskalt. Sein Gesicht hingegen schien zu brennen. Und in ihm brannte Angst. Das hier, durfte niemand erfahren. Absolut niemand. Sie würden nur wieder denken, dass er krank war, aber Tovey war nicht krank. Gestern Nacht im Wald, hatte er gedacht, dass er an seinem Würgreiz sterben würde. Die Luft war ihm knapp geworden. Aber jetzt war es gut. Er konnte essen, kein Problem. Niemand würde sich Sorgen machen müssen.

Mit zitternden und schmerzenden Knien verließ er die Toilette und wusch sich Gesicht, Hände und Mund. Jetzt bloß schnell zurück ins Zimmer. Er hatte keine Ahnung wie viel Zeit verloren gegangen war.
 

Die erste große Pause war angebrochen, als Tovey zurück in die 76 torkelte. Brian und Aron trafen sich draußen am Haupteingang. Sie suchten sich ein gemütliches Plätzchen in der Sonne. Langsam wurde es selbst am Tag sehr frisch, aber die Sonne wärmte noch angenehm.

„Hat Sonny irgendwie schlecht geschlafen?“ fragte Brian und angelte jetzt eine Schachtel Zigaretten aus seiner Tasche. Aron zuckte mit den Schultern. Brian kramte sein Feuerzeug aus der schwarzen Jacke und zog an dem Glimmstengel.

„Ich glaube, er ist eifersüchtig“, sagte Aron.

„Worauf?“

„Auf dich.“

Brian zog die Augenbrauen hoch und die Zigarette baumelte einen Moment zwischen seinen Fingern. Er rauchte eher selten, aber heute war ein guter Tag dazu etwas Ungesundes zu tun. Aron erzählte ihm von der eher kurzen Konversation des letzten Abends. Brian grinste schief, als Aron erzählte, wie er die Frage nach dem Sex beantwortet hatte.

„War dir das peinlich?“ stichelte er und ließ sich auf einer Bank in der Sonne nieder. Aron schüttelte mit dem Kopf.

„Nein, aber man muss doch nicht alles breittreten. Sonny ist für mich immer noch ein Fremder.“

„Stimmt wohl“, Brian betrachtete seine Zigarette etwas angewidert und zog dann doch noch einmal daran. Etwas verträumt starrte er den Rauch an, der aus seinem Mund strömte. „Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass Sonny eifersüchtig ist. Er ist einfach nicht der Typ dafür. Sonny ist so cool, hinter ihm schneit es!“

Aron lachte.

„Ich denke, auch er wird eine sehr einfühlsame Seite haben.“

„Du glaubst immer an das Gute im Menschen“, sagte Brian amüsiert und trat seine Zigarette aus. Der Gestank war einfach eklig. Wie konnte man sich das im Dauertakt antun? Nachdenklich fuhr er mit den Fingerkuppen über sein Piercing und blickte dann schelmisch zu Aron auf, der sich fest in seinen schwarzen Mantel gewickelt hatte und die Bank nur kritisch betrachtete.

„Ich muss mir gerade vorstellen, was passiert wäre, wenn du gesagt hättest: ‚Klar hab ich, und es war so geil, dass mir jetzt noch ganz heiß wird!’“ Brian lachte über seine eigene Stimmenimitation.

„Er wäre umgedreht, hätte dich aus dem Zimmer gezerrt und dir eine rüber gehauen, oder? Was meinst du?“

„Mh“, Brian schien nachzudenken. Sein Blick wanderte über den Schulhof, rüber zum Internatsgebäude und er fand das Fenster des Dreierzimmers, dass er mit Billy und Tovey bewohnte. Insgeheim hoffte er, dass Tovey jetzt in seinem Bett hockte und Pausenlos Milka Schokolade futterte. Eine bessere Beschäftigung konnte er sich gar nicht suchen. Nur hatte Brian das ungute Gefühl, das niemand von ihnen Milka Schokolade da hatte. Nicht einmal mehr einen abgelaufenen Corny Riegel.

„Brian?“ Arons Stimme holte ihn aus seinen Gedanken.

„Ähm - ja, ähm keine Ahnung. Vielleicht wäre er zu Blecket gelaufen und hätte ihm erzählt, dass ich seine Unterschriften gefälscht habe. Wer weiß?“

„Weiß Sonny davon?“ fragte Aron und ließ sich jetzt doch auf der Bank nieder.

„Ich könnte drauf wetten“, sagte Brian und betrachtete jetzt die zertretene Zigarette. Aron legte den Kopf auf seine Schulter. Sie schwiegen einen Moment. Aron betrachtete die anderen Jungen und Brian starrte den Kies an. Die Jungen kannte er alle schon. Was da lecker war, hatte er sich schon geholt. Langsam war es eher langweilig geworden, aber jetzt hatte er ja Aron wieder. Die Langeweile war heimtückisch erstochen worden. Muhaha …

Brian grinste in sich hinein. Dass er einmal so viel Glück haben würde. Dass Aron ausgerechnet hier auftauchte. Brian hätte nicht mal seine dreckige Unterwäsche darauf gesetzt, dass er Aron jemals wieder sehen würde. Im Endeffekt ärgerte er sich, weil er keinen Goldbarren darauf verwettet hatte. Dann wäre er jetzt zusätzlich noch reich geworden.

„Wie ist es eigentlich so, mit einem Autisten in einem Raum zu leben?“ fragte er und sah Aron an, der ob dieser Frage verwirrt war.

„Autist?“

„Sonny“, sagte Brian, als hätte er damit das Wort Autist ins Deutsche übersetzt.

„Ich weiß nicht“, sagte Aron langsam. „Also … ich mag ihn. Er ist ziemlich süß. Meinst du nicht?“

Brian sah Aron vorwurfsvoll an.

„Süß?“

„Ich finde schon“, Aron grinste als er Brians Gesichtsausdruck bemerkte.

„Würdest du ihn mir vorziehen?“

„Hab ich noch nicht getestet!“

Brian nickte resignierend und fasste wieder das Fenster ins Auge. Süß also, ja da kannte er noch jemanden.

„Er ist schwer zu knacken“, sagte Brian leichthin. „Hab ich mir sagen lassen.“

„Schwer, oder gar nicht?“ fragte Aron gespannt und hob seinen Kopf jetzt von Brians Schulter. Brian zuckte die Achseln. Woher sollte er das wissen? Sonnys Bett hatte ihn nie gelockt. Er stand nicht auf Typen im Anzug. Aron stupste Brian an und der fuhr sofort aus seinen Gedanken hoch.

„Der!“ sagte Aron leise und deutete auf einen Typen, der in einer kleinen Truppe Raucher auf dem Hof stand.

„Justin, 17, mh … nicht schlecht“, sagte Brian und sah dann Aron an. Er grinste wieder. „Schau mal, der daneben, in der grauen Jacke. Ja, genau der. Er heißt Elya. Den kann ich dir empfehlen.“

Aron lachte. In diesem Moment trat Sonny aus dem Schulgebäude. Er ließ einen langen missmutigen Blick über seine Mitschüler schweifen und betrachtete dann Aron und Brian.

„Ist der heiß!“ hörte Brian von hinten jemanden in gebrülltem Flüstern sagen. Aron kicherte leise. Er hatte es wohl auch gehört.

„Wenn du den schaffst“, sagte Brian so leise, dass nur Aron ihn verstand. „Dann darfst du dir irgendwas von mir wünschen. Egal was. Aber lass es bitte unter 100 Euro teuer sein.“

Aron schüttelte grinsend mit dem Kopf und hob die Hand um Sonny ranzuwinken.

„Dann spar schon mal. Ich habe da schon eine wunderbare Idee, was ich von dir haben möchte.“

„Das schaffst du nicht!“

„Und ob!“

Sonny betrachtete Aron noch einen Augenblick, schien zu seufzen und setzte sich dann in Bewegung. Aron stand auf und ging ihm ein paar Schritte entgegen. Brian traute seinen Augen nicht, als Aron Sonny völlig ungezwungen umarmte. Und er dachte, dass er spinnen müsse, als er erkannte, dass Sonny leicht errötete. Vorsichtig erwiderte er die Umarmung.

„Geht es dir jetzt schon besser?“ fragte Aron einfühlsam und Brian versenkte kopfschüttelnd das Gesicht in seinen Händen. Nicht zu fassen.
 

Vor seinen Augen flimmerte es immer noch leicht. Er musste es nur bis ins Zimmer schaffen, dann war er aus dem Gröbsten heraus. Doch auf halber Strecke begann Tovey daran zu zweifeln, dass er es schaffte. Er stützte sich mit dem rechten Arm an der nächsten Wand ab. Ihm war unerträglich heiß. Nur noch ein paar Meter und dann würde er sich einfach auf sein Bett fallen lassen. Komisch dass es ihm so schlecht ging.

Ich hab doch gegessen, was soll ich denn noch tun? Wenn es einfach nicht drin bleibt.

Er blinzelte und bewegte sich wieder ein paar Schritte vor. Die Tür zur 76 schien plötzlich in weite Ferne zu rücken. Tovey kniff die Augen zusammen. Alles schwankte. Vielleicht sollte er sich einfach einen Moment auf dem Boden niederlassen. Wer sollte ihm etwas anhaben, wenn es ihm nun mal schlecht ging? Müde ließ er sich auf die Knie sinken. Seine Hand hinterließ einen feuchten Streifen auf dem polierten Holz. Nur einen Moment ausruhen, bis es wieder besser war. Tovey lehnte seinen Kopf gegen die Wand. Sein Blick flimmerte verdächtig.

Was tust du dir nur an?

Gar nichts, lass mich in Ruhe.

Du machst dich doch kaputt!

Lass mich in Ruhe, hab ich gesagt.

Wenn du stirbst, kann er dich auch nicht mehr lieben!

Tovey stöhnte. Er war schweißgebadet. Wenn er nur wenigstens in das verdammte Zimmer kommen könnte. Von diesem Wunsch getrieben hievte er sich zurück auf die Beine. Vor seinen Augen wurde es dunkel.
 

„Tovey! Tovey wach doch auf. Mein Gott, er ist total kalt. Er ist doch nicht …“

„Brian!“

„Weißt du es genau? Seine Hand ist eiskalt!“

„Brian werd gefälligst nicht hysterisch!“

„Ich bin nicht hysterisch!“

Tovey stöhnte leise und sofort ließen Sonny und Brian voneinander ab. Müde schlug Tovey die Augen auf und sah zu Brian hoch. Ihm war erbärmlich kalt und er spürte die glühende Wärme von Brians Körper.

„Er braucht Wasser. Wo bleibt Billy mit dem Wasser?“

„Bin schon da!“

Tovey schloss die Augen wieder halb und atmete tief ein. Er fühlte sich elend und schwach. Aber hier zu liegen schien ihm gut. Die ungeteilte Aufmerksamkeit aller galt ihm. Die ungeteilte Aufmerksamkeit von Brian galt ihm.

„Tovey, du musst etwas trinken“, sagte Brian liebevoll und Tovey gehorchte. „Wo ist Aron?“ hörte er Brian in die Runde fragen.

„Den Arzt holen?“ Billy war sich seiner Sache nicht wirklich sicher.

„Kein Arzt!“ sagte Tovey energisch und reichte die halb leere Flasche Wasser zurück, die ihm Brian gegeben hatte. Er versuchte sich etwas auf zu setzten. Der Schwindel steckte ihm immer noch in den Knochen.

„Das ist doch unvernünftig“, sagte Sonny etwas gereizt. „Wieso kein Arzt?“

„Da war ich doch heute schon“, Tovey ließ sich gegen Brians Schulter fallen. Aber wirklich schlecht ging es ihm nicht mehr. Jedenfalls nicht so schlecht, dass er seinen Kopf nicht allein auf seinen Schultern hätte halten können.

„Ich hab doch schon Sonderurlaub“, fügte er an und sah zu Sonny hoch. Die Deckenbeleuchtung blendete ihn. Sonny gab einen Laut des Missfallens von sich und verschränkte die Arme fest vor der Brust.

„Kannst du aufstehen?“ fragte Brian. Tovey sah ihn an und nickte. Das war gut. Brian sorgte sich um ihn ohne gleich nach einem Arzt zu schreien. Das Bild gefiel Tovey. Wie er hier liegen konnte in Brians Armen und kein Aron weit und breit. Brian half ihm auf die Beine. Tovey hob den Kopf und fand einen Fehler in seiner Rechnung. Aron war da. Nur stand er in gebührendem Abstand hinten an der Tür zur Nummer 76.

„Billy, kauf dir ne Brille.“
 

Aron lehnte an der Wand. Wie Sonny hatte er die Arme verschränkt. Als er bemerkte, dass Tovey in seine Richtung sah, senkte er schnell den Blick und starrte den Boden an. Nervös trippelte er mit den Fingern gegen seine Rippen. Irgendwas an dieser Szene passte ihm nicht. Es war nicht, dass er Tovey nicht mochte, nein, Tovey mochte ihn nicht. Da lag der kleine aber feine Unterschied. Doch etwas an Toveys Art, wie er sich von Brian bemuttern ließ und wie er an Brian hing, als könne er jeden Moment ins Koma fallen; das war es, was Aron nicht gefiel. Etwas an Tovey war falsch. Er versuchte irgendetwas zu erreichen und da kam ihm seine Krankheit, wenn er sich die nicht mal noch dazu einbildete, eigentlich ganz recht. Auch wenn Brian nach außen cool wie ein Eisberg wirkte, so war er doch innerlich ein sehr einfühlsamer Typ. Das wusste Tovey sicherlich auch.

Als die anderen näher kamen löste sich Aron von der Wand und sah kurz zu Sonny hoch. Auch in seinem Gesicht spiegelte sich ein gewisser Unmut über diese Situation. Billy hingegen betrachtete alles mit einer Art geschocktem Bedauern. Das gerade die beiden, die mit Tovey in einem Zimmer wohnten, den Braten nicht rochen. Unglaublich. Aron schob die Hände in die Taschen und starrte wieder den Boden an. Sonny gesellte sich zu ihm.

„Wie geht es ihm?“ fragte Aron vorsichtig ohne hoch zu schauen.

„Tss“, machte Sonny, die Arme immer noch vor der Brust verschränkt. Aron blickte zu ihm hoch. Sonnys Gesicht wirkte fast versteinert vor Wut.

„Er hat nichts! Sein Problem ist, dass er seit zwei Jahren nicht an Brian herankommt. Alle anderen Krankheiten redet er sich ein.“

Aron blinzelte, warf einen kurzen Blick ins Zimmer und wollte sich wieder zu Sonny umdrehen. Doch sein Blick hing an Brian und Tovey fest. Tovey saß mit hängendem Kopf auf seinem Bett. Brian hockte vor ihm auf dem Boden und schien tröstend auf ihn einzureden. Ein Bild für die Götter. Brian hob die Hand und schien Toveys Gesicht zu streicheln. Aron wandte sich ab.

„Seit zwei Jahren?“ fragte er etwas zerstreut.

„Seit zwei Jahren“, erwiderte Sonny wie ein Echo.

„Also praktisch …“

„Seit sie unter einem Dach wohnen. Genau.“

Aron seufzte und rieb sich die Stirn. Leichte Kopfschmerzen lenkten ihn ab. Er versuchte sie zur Seite zu schieben und sah wieder zu Sonny hoch.

Er ist so cool, hinter ihm schneit es!

„Es ist komisch“, sagte Aron. „Zwei Jahre sind das schon. Zwei Jahre lang haben wir uns nicht gesehen. Und jetzt komme ich her und er liebt mich immer noch wie vor zwei Jahren. Nein, versteh das nicht falsch. Nicht das lieben. Ich meine nur, dass er mich immer noch so gern hat. Ich denke Tovey wird das furchtbar finden.“

Sonny zuckte mit den Schultern. Er wirkte selbst ziemlich bedrückt und unglücklich.

„Ich gönne Tovey, dass er Brian bekommt“, sagte Aron und sah Sonny dabei unverwandt an. „Ich stelle doch keine Besitzansprüche auf ihn. Aber ich will nicht, dass er versucht mir Brian wieder vollständig wegzunehmen. Zwei Jahre haben mir wirklich gereicht. Ich weiß nicht, ob ich das …“ Aron brach ab und senkte schnell den Kopf.

„Nicht weinen“, sagte Sonny leise und legte einen Arm um ihn. „Ist doch verständlich das du das nicht willst.“ Aron nickte nur an Sonnys Schulter. Sonst war kein Laut zu hören.

Billy streckte den Kopf zur Tür heraus und sah beide einen Moment sprachlos an.

„Alles okay?“ fragte er und Sonny nickte bestimmt.

„Wie sieht es bei Tovey aus? Ist er wieder einigermaßen auf den Beinen?“

„Ich denke schon“, sagte Billy und trat mit einem besorgten Blick auf Aron, der immer noch an Sonnys Schulter hing, aus dem Zimmer.

„Wo genau soll die Show hinlaufen?“ fragte Sonny und streichelte mit der flachen Hand Arons Rücken. Billy verdrehte die Augen, zuckte mit den Schultern und schob dann die Hände in die Hosentaschen.

„Wir wissen doch alle, was er will.“

„Und was sagt der Hauptakteur des Dramas dazu?“

„Brian? Sein Name ist Hase. Er weiß von nichts.“

I've cried enough for you

Nachdem Billy die Tür der 76 wieder hinter sich geschlossen hatte gingen Aron und Sonny zurück zu ihrem Zimmer. Die Vorstellung war zu Ende und die Gäste wurden gebeten die Heimreise anzutreten, damit die Schauspieler sich abschminken konnten. So viel Theater. Sonny seufzte resignierend, als er den Schlüssel zur Nummer 120 aus der Tasche zog und die Tür aufsperrte. Aron folgte ihm wie ein treues, aber sehr trauriges, Hündchen. Brian schien eine richtige Dramaqueen zu sein. Unglaublich wie er zwei Jungs auf einmal aus dem Gleichgewicht bringen konnte. Aron ließ sich auf seinem Bett nieder und fuhr sich vorsichtig über die Haare. Sie hatten nach Haarspray gerochen, erinnerte Sonny sich. Und waren da nicht graue Streifen auf seinem Gesicht? Make-up? Sonny machte die Tür hinter sich zu und ließ den Schlüssel wieder in die Tasche seines Jacketts sinken. Dabei bemerkte er einen nassen Fleck auf demselbigen. Verwirrt starrte er darauf und dann wieder auf Arons Gesicht. Er hatte wirklich geweint! Und das ohne das geringste Geräusch? Ohne das altbewährte Schluchzen und Zittern? Sonny bekam Gänsehaut. Er hatte in den letzten Jahren viele Leute in Tränen ausbrechen sehen. Seine Mutter, als ihre Schwester an Brustkrebs starb. Seinen jüngeren Bruder, als seine Freundin ihm per SMS den Laufpass gab. Brian, als er den ersten Tag hier war. Bis heute wusste Sonny nicht warum. Vielleicht hatte er da noch über Arons Abwesenheit getrauert. Das waren drei von vielen anderen. Aber an diese drei erinnerte sich Sonny am besten. Seine Mutter hatte laut geschluchzt bei der Beerdigung. Sein Bruder hatte vor Wut gezittert. Und Brian? Er hatte versucht beides zu unterdrücken, sich damit aber keinen Gefallen getan.

Und dann kam der heilige Tovey, umstrahlt vom Licht der Sommersonne, mit verliebtem Blick und tröstete ihn. Amen.

Sonny seufzte und setzte sich zu Aron. Er lächelte schief und zeigte auf sein Jackett.

„Wie machst du das?“

Aron schwieg einen Moment. Schuldbewusst wischte er sich über die Wangen und betrachtete seine Hände, die jetzt die grauen Streifen aufwiesen.

„Ich weiß nicht“, sagte er dann und zog ein Taschentuch aus seiner Hosentasche um die Farbe von den Wangen und den Händen zu wischen.

„Kopf hoch“, sagte Sonny. „Wir werden sehen was wir machen. Ich glaube wir sollten unseren lieben Tovey einfach mal an die Wand nageln. Du weißt schon - ihm vielleicht einen wissenden Brian vor die Nase setzten, oder etwas ähnliches. Denk dran, nichts ist unmöglich.“

Aron sah ihn belustigt mit seinen traurigen Augen an.

„Du fährst nicht zufällig Toyota?“
 

Es war dunkel. Tiefste Nacht. Tovey schlug die Augen auf. Er hörte Brian und Billy atmen. Sonst war es still. Müde setzte er sich auf. Der Schlaf würde nicht zurückkommen, das wusste er. Wenn er aufwachte, dann war er wach, egal um welche Zeit. Er stand auf, ging auf Zehenspitzen hinüber zum Fenster und zog die dunklen Vorhänge zurück. Es war Vollmond. Er drehte sich um und betrachtete Brians Bett. Der schwarzhaarige Junge lag halb auf dem Bauch, halb auf der Seite. Sein Haar stand in alle Himmelsrichtungen ab. Tovey lächelte verliebt. Durch den Vollmond wirkte Brians Gesicht ganz weiß. Wie schlafwandelnd drehte Tovey dem Fenster den Rücken zu und trat an Brians Bett. Neben dem Kopfende kniete er sich auf dem kalten Linoleum nieder und betrachtete Brian eine Weile.

Ich wünschte, es würde Aron nicht geben. Ich wünschte, er wäre tot.
 

Brian schlug die Augen auf und schloss sie sofort wieder. Er hatte direkt in die Sonne geblickt. Er fluchte leise und kämpfte sich halb blind aus seiner Decke. Verwirrt blinzelte er und starrte hinüber zum Fenster. Wieso waren die Vorhänge aufgezogen? Er stieg aus dem Bett, richtete seine Boxer Shorts und trat in den hellen Sonnenschein. Der Boden unter seinen Füßen war warm und er merkte auch wie die Sonne seine Haut wärmte. Wer hatte denn gestern die Vorhänge offen gelassen?

Niemand!

Er hatte sie selbstpersönlich zugezogen. Verwirrt sah er sich um. Tovey schlief noch. Billy ebenfalls. Ihnen hatte ja auch die Sonne nicht ins Gesicht geschienen. Brian trat ans Fenster und sah hinaus. Ein schöner Spätsommertag. Er öffnete das Fenster. Selbst die Luft war warm, im Gegensatz zu den letzten Tagen. Perfektes Wetter für das Wochenende. Er hörte Decken rascheln und drehte sich um. Tovey blinzelte ihn an.

„Guten Morgen“, sagte Brian.

„Morgen“, sagte Tovey gähnend. Er zog seine Decke an sich heran und sah Brian fragend an. „Was tust du da?“

„Photosynthese betreiben“, sagte Brian und grinste amüsiert. Tovey grinste zurück. Brians Haare standen immer noch in alle Himmelsrichtungen ab. Genau wie letzte Nacht. Die Sonne verpasste ihm einen Heiligenschein. Tovey streifte seine Decke ab und ging auf Brian zu. Er trug eine Schlafanzughose, aber ein passendes Oberteil dazu hatte Brian bei ihm noch nie beobachtet.

„Das ist ja Wahnsinn. Fast wie in den Sommerferien“, er schloss die Augen und hielt sein Gesicht in die Sonne.

„Wie geht es eigentlich deinem Kater? Du hast gar nichts erzählt von zu Hause.“

Tovey sah ihn fragend an.

„Wirklich nicht? Mh ja, mein Kater, der ist fett geworden. Vielleicht stellt sich heraus, dass er eine Katze ist und ich in den Winterferien ganz viele kleine Kätzchen habe.“ Tovey lachte leise und blickte zu Billy hinüber.

„Und deine Mutter? Hat sie wieder Streit angefangen?“

„Ja, na klar. Aber die meiste Zeit bin ich mit meiner Schwester um die Häuser gezogen. Dann musste ich mir ihr ständiges Geschwafel nicht anhören. Sie hat mich gefragt, ob ich denn nicht endlich eingesehen hätte, dass ich nicht schwul bin; und sie glaubte tatsächlich mir einreden zu können, dass es mir hier gar nicht gefiele. Totaler Unsinn das alles.“

„Immer noch die Alte, also?“

Tovey nickte. Brian hatte das Fenster wieder geschlossen und sie lehnten jetzt beide nebeneinander am Fensterbrett.

„Ich denke, genau genommen hat sie gar nichts dagegen, dass ich schwul bin. Sie weiß bloß noch immer nicht genau, wie sie damit umgehen soll.“

„Sie kann sich ja kleine bunte Fähnchen an die Jacke sticken, so wie meine Tante. Sie ist ganz, ganz stolz auf ihren schwulen Neffen.“

Tovey lachte bei dem Gedanken daran, dass seine Mutter bunte Fahnen schwang.

„Da fällt mir ein. Warst du beim Christopher Street Day in den Ferien?“ fragte Brian und grinste schief.

„Selbstverständlich“, sagte Tovey mit ernster Mine. „Das ist eine Sache der Ehre.“

„Ich war auf dem Pride Weekend“, sagte Brian und lachte. „Ich war doch mit meinen Eltern in den USA.“

„Geil!“

„Psst!“

Beide fingen an zu lachen.

„Wir haben schon seit Ewigkeiten wieder Schule und das erzählst du erst jetzt?“

„Es hat keiner gefragt!“

„Brian Moore!“

Sie sahen sich an, warfen einen Blick auf den immer noch schlafenden Billy und lachten wieder. Um Billy zu wecken mussten sie wohl eine Bombe zünden.

„Wie war es da? Erzähl!“

„Gigantisch“, sagte Brian. „So viele Leute. Bei einigen hätte ich nicht meinen Arsch drauf verwettet, dass sie mal Männer waren, oder noch sind, zumindest biologisch.“

„Wie viele?“ fragte Tovey mit großen Augen.

„Welches ‚wie viele’?“ fragte Brian unschuldig und grinste dabei lasziv.

„Na, nicht wie viele Leute da waren!“

Brian zögerte. Er beugte sich zu Tovey rüber, um ihm ins Ohr flüstern zu können.

„Drei auf einmal!“

Tovey lachte wieder.
 

„Einen wunderschönen, sonnigen Samstagmorgen!“

„Halts Maul.“

„Besonders dir, mein Schnuckelchen“, Brian grinste übers ganze Gesicht und umarmte Aron, der am Buffet stand von hinten. „Wie war deine Nacht?“

„Grauenvoll“, sagte Aron. „Aber ich will nicht drüber reden. Hast du irgendwelche guten Nachrichten?“

„Ja, na klar. Ich habe eine besonders Gute.“

„Die wäre?“ Aron zwang sich ein Lächeln ab. Er hatte die ganze Nacht üble Alpträume gehabt. Ihm war unverständlich warum, aber vielleicht war es einfach nur der Stress der letzten Tage gewesen.

„Jetzt bin ich da! Jetzt wird kein Trübsal mehr geblasen, verstanden?“

Aron schüttelte lächelnd mit dem Kopf.

„Spinner.“

„Für dich doch gern.“

Er drehte sich zu Brian um und umarmte ihn seufzend.

„Was macht man hier so am Wochenende?“ fragte er verschlafen. Brian strich ihm liebevoll die Haare aus dem Gesicht.

„Lernen“, flötete er und lachte als er Arons resignierenden Gesichtsausdruck bemerkte. „Nein, das war natürlich nicht mein Ernst. Wir können Pokern, oder Pornos gucken.“

„Oh Gott, ich lerne lieber“, sagte Aron müde, konnte sich ein Grinsen aber nicht verkneifen.

„Nein, lernen fällt aus“, sagte Brian schnell und schlang schnell die Arme um Arons Schulter bevor der flüchten konnte. „Ich möchte mir einen schönen Abend mit dir machen. Nur wir zwei. Ich meine, wir haben uns zwei ewig lange Jahre nicht gesehen. Bitte.“

„Nur wenn ich einen Kuss bekomme“, sagte Aron gerührt. Das war die beste Idee die Brian hätte vorbringen können.

„So viele du willst“, sagte Brian und strahlte über das ganze Gesicht.

Sonny saß leger auf seinem Stuhl, die Beine übereinander geschlagen und die altbekannte Zeitung vor sich. Den Politikteil aufgeschlagen. Er hätte einen guten Politiker abgegeben, sicher auch einen guten Bundeskanzler. Aber wer wusste, was aus Sonny noch werden würde? Vielleicht Nobelpreisträger.

„Verdammt!“

Sonnys Blick huschte von der Zeitung hoch und fixierte Tovey, der sein Brotmesser hatte fallen lassen.

„Reiß dich gefälligst zusammen“, fauchte Sonny wütend und strich über seine Zeitung. Er konnte sich einfach nicht auf die Texte konzentrieren. Es war schier unmöglich.

„Was willst du denn von mir?“ fauchte Tovey zurück. „Kümmere dich um deinen Kram!“

„Tue ich“, sagte Sonny bestimmt und faltete nun energisch die Zeitung zusammen. „Ich will, dass du damit aufhörst so ekelhaft eifersüchtig zu sein. Außerdem stell gefälligst deine Hypochondrie ab, das nervt! Wenn du Brian unbedingt haben willst, dann geh doch hin und hol ihn dir, verdammt noch mal!“

Toveys Gesicht wurde schneeweiß. Er kniff die Lippen zusammen, unsicher womit er zurück schießen konnte.

„Was weißt du denn schon?“ zischte er, seine Hände zitterten.

„Oh, ich weiß eine ganze Menge“, sagte Sonny wütend und feuerte die gefaltete Zeitung auf seinen leeren Teller. „Ich weiß, dass du Brian wie eine läufige Hündin hinterher rennst. Ich weiß auch, dass Herr Moores Sensoren da nicht wirklich schnell schalten. Deshalb rate ich dir deinen Arsch zu bewegen. Aber wenn du mehr damit zu tun hast dir irgendwelche scheiß Krankheiten einzureden, dann go on! Das nächste Mal, werde ich dich einfach ins nächste Krankenhaus einliefern lassen und so schnell kommst du dann nicht zurück. Das schwöre ich dir!“

Tovey schnappte empört nach Luft. Er stand auf. Sein Stuhl kippte nach hinten um.

„Du weißt überhaupt nichts!“ fauchte er wütend.

Sonny sah ihn noch einen Moment lang an, dann senkte er den Blick auf den Tisch und ignorierte Tovey ganz einfach.

„Wenn du wüsstest“, sagte Tovey leise aber deutlich, „wenn du wüsstest wie sehr ich dich hasse, Sonny.“

Der Schülersprecher reagierte nicht. Es war ihm einfach egal. Tovey sollte endlich merken, dass die Nummer nicht mehr lange ziehen würde und er hoffte, dass auch Brian irgendwann in dieselbe Kerbe schlug. Irgendwann …
 

Es war 20 Uhr. Aron folgte Brian hinunter ins Kellergewölbe des Internatsgebäudes, unsicher wo es wohl hingehen würde. Sie liefen einen Gang entlang, gesäumt mit vielen offenen Türen. Es schienen die verschiedensten Aufenthaltsräume zu sein. Brian grinste Aron an und griff nach seiner Hand. Er wählte die vorletzte Tür rechts im Gang und zog Aron mit hinein. Der Raum war leer. Von irgendwoher hörte Aron Gelächter. Brian schloss die Tür und zog etwas aus der Tasche. Aron erkannte einen Schlüssel.

„Wo hast du den her?“ fragte er.

„Von Sonny geklaut“, sagte Brian leichthin. Er grinste breit und sah sich im Raum um. „Der hier ist oft abgesperrt. Der Himmel weiß warum. Hier haben wir unsere vollkommene Ruhe.“

Aron sah sich um. Der Raum war nicht groß. Er hatte ein kleines Fenster am oberen Rand der Wand, das wohl gerade zum Lüften reichte. Als Lampe baumelte eine vereinsamte Glühbirne über ihnen. Zwei Sofas standen herum. Sie waren beide rot. Lauter Decken stapelten sich hier und dort. Auf einem niedrigen Tisch stand ein Aschenbecher inmitten von reichlich vielen Gravierungen. Liebevoll von den Schülern angefertigt.

„Wozu sind diese Räume?“ fragte Aron. Brian hatte eine Tasche dabei, die er jetzt umsichtig abstellte. Er lachte als Aron die Frage stellte.

„Offiziell, sind es süße kleine Aufenthaltsräume. Allerdings werden sie eher zu anderen Zwecken genutzt. Wir sind ja auch nur Menschen.“ Er zwinkerte Aron zu.

„Schlimmer als ein Puff“, meinte der kichernd und ließ sich auf einer Couch nieder. „Was hast du da?“

„Alkohol“, sagte Brian triumphierend. „Meine Jahresration Schmuggelware.“

Aron schüttelte lachend mit dem Kopf und sah Brian dann wieder an.

„Sag mal. Wenn du den Schlüssel von Sonny geklaut hast, wie können die anderen denn ungestört sein, wenn sie ihren Spaß haben?“

„Ist ganz simpel“, sagte Brian und zog zwei Bierflaschen aus der Tasche. „Sie stemmen diesen Tisch gegen die Tür. Außerdem … geschlossene Tür heißt generell geschlossene Gesellschaft. Wir haben da unsere eigene Sprache.“

„Und warum sind wir genau hier?“ fragte Aron weiter und nahm die Flasche von Brian entgegen.

„Weil das mein Revier ist.“

Von irgendwo kam Musik. Sehr laute Musik.

„Dein Revier also“, sagte Aron. Sie ließen sie Flaschen sanft gegeneinander schlagen. Tranken mit gekreuzten Armen auf Bruderschaft. Brians Flasche war als erstes leer. Aron brauchte etwas länger.

„Braver Junge“, sagte Brian und grinste etwas benebelt. Aron spürte die Wirkung des Alkohols, den er viel zu schnell geschluckt hatte. Die Welt schwankte angenehm. Er kuschelte sich an Brian und genoss das Gefühl. Sie waren allein. Sie waren betrunken, oder würden es auf jeden Fall noch werden und das hatte immer dasselbe Ende.

„Wir sind ganz allein, ja? Niemand kann uns stören?“

„Absolut niemand“, schwor Brian und angelte das zweite Paar Flaschen. Aron setzte sich wieder auf und griff nach einer davon, die Brian ihm reichte. Doch der zog sie zurück.

„Wir haben etwas vergessen“, sagte er und leckte sich über die Lippen. Sie schmeckten nach Bier.

„Haben wir?“ Aron grinste wissend. Natürlich hatten sie. Brian stellte die Flaschen ab. Sie gaben einen klirrenden Laut von sich, als sie auf die Tischplatte trafen. Brian bewegte sich auf Aron zu. Aron wich demonstrativ zurück.

„Ich hab das so vermisst“, sagte er und Aron sah an seinen Augen, dass es nicht nur Bier war, das durch seine Adern raste.

„Was hast du genommen?“ fragte Aron leise, als wolle er die elektrisierende Atmosphäre nicht stören. Er war bis zum Ende der Couch zurückgewichen. Das übliche Spielchen. Er wollte es Brian doch nicht zu leicht machen. Wie sehr sich alles über diese lange Zeit der Trennung gehalten hatte. Es machte ihn schwindelig, wenn er daran dachte.

„Viagra“, log Brian mit einem breiten Grinsen und hievte sich über Aron.

„Gut, dann zeig mir mal ob es wirkt.“

Brian durfte jetzt ran. Vor zwei Jahren noch hatte es zwei, höchstens drei Bier gebraucht Aron zu diesem Punkt kommen zu lassen. Jetzt ging es fast wie von selbst. Brian beugte sich zu Aron herunter und küsste ihn. Erst wieder ganz sachte. Dann fuhr er mit der Zunge über Arons geschlossene Lippen und begehrte Einlass. Es wurde ihm gewährt. Erregung schoss durch Brians Körper. Er schob das nicht nur den Drogen zu. Immerhin war es nicht viel gewesen. Nur so viel, dass er ein paar lästige Hindernisse überwinden konnte. Hindernisse mit leidenden Augen und vielen Problemen.

„Es ist verdammt heiß hier drin, findest du nicht auch?“ hauchte Brian gegen Arons Ohr.

„Oh ja, verdammt heiß“, stimmte Aron ihm zu.

Brians Hände schoben seinen Pullover hoch, und wenig später strichen seine Lippen über Arons Haut. Er küsste seinen Bauch, bevor er Arons Oberteil auszog und seine Zunge mit dessen Brustwarzen spielen ließ. Das entlockte seinem Freund den ein oder anderen süßen Laut, der Brian fast wahnsinnig geil machte. Arons Hände glitten über seine Brust, als Brian sich wieder hochzog um ihn zu küssen. Geschickt öffneten sie Brians Gürtel und seine Rechte fuhr quälend langsam und aufreizend unter den Stoff der Jeans. Jetzt schon war sie Brian viel zu eng geworden und er hoffte, dass er sie bald loswerden würde.

Arons Hände massierten ihn und Brian genoss es. Im Gegenzug widmete er sich noch einmal Arons Brustwarzen. Er fuhr mit der Zungenspitze darüber und beobachtete einen Moment fast fasziniert, wie sie sich aufrichteten.

Aron unterbrach ihn in seinen Gedanken, als er ihm auch sein T-Shirt über den Kopf streifte. Ihre nackte Haut berührte sich beim nächsten Kuss. Aron war im wahrsten Sinne des Wortes heiß. Brian setzte sich auf, ließ einen glühenden Blick über Arons Körper schweifen. Es hatte ihn schon lange niemand mehr so angemacht. Wenn es einen Himmel gab, dann musste er genau hier sein. Brian lächelte etwas benebelt und Aron sah ihn fragend an.

„Alles okay?“ fragte er vorsichtig. Seine warmen Finger fuhren über Brians Brust.

„Ja, ich habe nur grad festgestellt wie verdammt sexy du bist“, sagte Brain wahrheitsgemäß und ein niedliches Lächeln schlich sich auf Arons Lippen. Brian zog ihn zu sich hoch um ihn zu küssen. Die Erregung durchzuckte ihn wie kleine Blitze. Widerwillig löste Brian den Kuss nach kurzer Zeit wieder, womit er Aron einen leisen Protestlaut entlockte.

„Zieh die Jeans aus“, kommandierte er etwas atemlos. Aron gehorchte und Brian nutzte die Zeit um sich selbst aus der zunehmend engen Hose zu befreien, dann ließ er sich zwischen Arons Beinen nieder.
 

Billy saß an seinem Schreibtisch. Er lernte. Tovey thronte missmutig auf seinem Stuhl und starrte Billy böse an. Wie konnte man jetzt lernen? Er war wütend. Wütend auf Billy und seine verdammten Hausaufgaben, wütend auf Sonny und seine verdammte Großkotzigkeit und wütend auf Brian und seine Abwesenheit. Es war zehn Minuten nach acht. Vor ungefähr dreizehn Minuten hatte Tovey Brian aus den Gemeinschaftstoiletten stolpern sehen. Offenbar frisch auf Drogen. Es war nichts Neues, dass sich Brian ab und zu eine Dosis verpasste. Zugegeben, es passierte auch sehr selten. Tovey hatte das im Auge. Wo Brian jetzt wohl war? Bestimmt auf einem nächtlichen Ficktrip mit einem der Typen aus der zehnten Klasse. Brian hatte einen mächtigen Verschleiß, aber in dem Fall wusste Tovey, dass es nichts als ein Spiel war. Brian konnte nicht anders. Jeder hatte seine Triebe. Brians waren nun einmal recht gut ausgeprägt. Trotzdem war Tovey wütend. Wie gern wäre auch er einmal der gewesen, der mit Brian das Bett teilen durfte. In diesem Moment klopfte es an der Tür.

„Ist offen“, sagte Tovey zickig und starrte dann die Tür an. Herein kam Sonny. Tovey schnaubte beleidigt. Billy drehte sich fragend um.

„Hi, was gib es?“ fragte er und legte seinen Stift beiseite.

„Wo ist Brian?“ fragte Sonny, die Hände gegen die Hüften gestemmt, und sah sich im Raum um.

„Ficken“, sagte Tovey durch zusammengebissene Zähne und starrte irgendwo an die Wand, nur nicht zur Tür.

„Er hat den Schlüssel für Aufenthaltsraum elf geklaut. Wenn er hier auftaucht, dann macht ihm Beine, dass er zu mir kommt. Ich könnte ihn erwürgen. Ach ja … hat jemand Aron gesehen?“

Der Schock raste durch Toveys Magen. Ihm wurde erst heiß, dann kalt. Das Brennen in seinem Magen blieb.

„Was?“ er schnappte nach Luft. „Soll das heißen, dass dieses kleine … dieser … dass er nicht bei dir ist?“

Sonny schüttelte bedächtig den Kopf.

„Er ist seit etwa fünfzehn Minuten weg.“

„Scheiße“, alle Wut fiel von Tovey ab. Ein Kloß explodierte in seinem Hals. „Scheiße, verdammt.“ Er sprang von seinem Stuhl auf, stieß Sonny zur Seite und rannte den Gang hinunter. Davor hatte er Angst gehabt. Das hatte er befürchtet. Er stolperte und landete auf den Knien. Tränen verschleierten seinen Blick.

„Tovey!“

Sonny war ihm gefolgt. Er blieb neben Tovey stehen, kniete sich nieder und wollte ihm eine Hand auf die Schulter legen.

„FASS MICH NICHT AN!“

Sonny zuckte erschrocken zurück.

„So eine verdammte Scheiße“, Tovey schluchzte nur noch mehr. „Das wirst du bereuen …“

„Tovey, ganz ruhig“, sagte Sonny eindringlich und erfasste jetzt doch Toveys Arm, ohne dass dieser ihn hysterisch anschrie. „Auf der Stelle zurück ins Zimmer.“

Tovey hörte ihn kaum. Jetzt war der Spaß vorbei. Das war eindeutig zu viel.

„Hörst du? Komm mit zurück!“ sagte Sonny energisch. Er merkte selbst, dass er in letzter Zeit etwas zu reizbar geworden war. Tovey sah ihn an. Seine Wangen waren feucht, seine Augen glasig. Er lächelte.

„Okay, Chef.“

Sonny schauderte.

„Hey, alles okay?“

Sonny fuhr herum und sah den Jungen an der gesprochen hatte: Elya (Den kann ich dir empfehlen). Er stand etwas hilflos im Gang und starrte Sonny und Tovey verständnislos an.

„Ja, ja na klar, alles bestens“, sagte Sonny und half Tovey auf die Beine. „Kannst du mir einen Gefallen tun?“

„Habe ich eine andere Chance?“ witzelte Elya und betrachtete seinen Schülersprecher fragend.

„Geh runter zu Aufenthaltsraum elf und prügele Brian Moore da raus, wenn es sein muss. Er soll gefälligst auf der Stelle zu mir kommen“, sagte Sonny und warf einen unsicheren Seitenblick auf Tovey.

„Ach, lass ihm doch den Spaß“, sagte Tovey und seine Stimme klang ungesund tonlos. Elya verzog das Gesicht.

„Was denn nun? Ihr verschwendet meinen Samstagabend!“

„Geh runter und hol ihn“, sagte Sonny bestimmt. „Bitte.“

Elya machte auf dem Absatz kehrt und verschwand auf der Treppe. Er kannte Brian. Die eine oder andere Nacht war schon zwischen ihnen gelaufen. Und zudem wusste er genau, was abging wenn man Brian und AR 11 in einem Satz erwähnte. Er fragte sich bloß, wer wohl dieses Mal der Glückliche war. Die Antwort kannte er eigentlich schon, doch das dämpfte seine Neugier nicht wirklich. Eine Hand in der Hosentasche und die andere am hölzernen Geländer nahm er eine Stufe nach der anderen hinunter in den Keller. Ihm war kalt. Er trug nur ein T-Shirt. Woher hätte er auch wissen sollen, dass Sonny „King“ Iero ihn in den Keller schickte? Er hörte laute Musik. Madonna, wie es schien. Ein uraltes Klischee, dass er aber auch nur zu gern erfüllte. Er erreichte den Keller und blickte in den Gang. AR 11, Elya grinste. Er steckte seine kalten Hände in die Hosentaschen und marschierte auf den Raum zu. Vor der Tür blieb er stehen. Unwillkürlich fragte er sich, wer wohl hier an seinem Platz gestanden haben mochte, als er dort drin war, mit Brian natürlich. Er lauschte. Drinnen schien es still zu sein, aber wer konnte das schon sagen wenn einem Madonnas Stimme in den Ohren klang? Elya zog die rechte Hand aus der Tasche, ballte sie zur Faust und schlug so fest er konnte gegen die Tür.

„Hey Brian! Drogenfahndung! Kriminalpolizei! Sie sind verhaftet!“
 

Brian, der gerade im Begriff stand in leichten Schlaf hinüber zu gleiten fuhr erschrocken hoch. Sein Herz beschleunigte wie ein Ferrari. Drogenfahndung? Bitte was?! Stöhnend raffte er sich auf und sammelte seine Hose vom Boden. Was war denn jetzt los? Hastig zog er sie über. An Unterwäsche verschwendete er keinen Gedanken. Er ging zur Tür und drehte den Schlüssel im Schloss. Halbherzig zog er die Tür auf und lehnte sich gegen die kalte Wand.

„Was zum Henker willst du?“ fragte er gereizt und blinzelte benommen.

Elya verschränkte belustigt die Arme.

„Sonny will dich hängen.“

„Scheiß auf Sonny“, fluchte Brian. „Sag ihm er soll sich am Arsch lecken.“

„Sag’s ihm selber. Ich bin doch kein Laufbursche. Du solltest wissen, er ist ziemlich sauer. Und dein Freund da … Tovey? … der hat auch einen kleinen …“ Elya machte eine entsprechende Geste indem er mit dem Zeigefinger Kreise um seine Schläfe zog. Brian sah ihn verwirrt an.

„Ihr spinnt doch alle. Ich komm gleich.“

Damit schlug Brian die Tür zu und drehte den Schlüssel wieder im Schloss. Müde streckte er sich und suchte seine Sachen zusammen.

„Was ist denn los?“ fragte Aron schläfrig und angetrunken. Brian lächelte ihn an.

„Sonny ist mir wohl auf die Schliche gekommen. Wir müssen das Feld räumen.“

„Schade“, sagte Aron leise und betrachtete den Kleiderberg. Er streckte die Arme nach Brian aus, der seiner stummen Bitte sogleich nachkam.

„Wir können uns ja vielleicht am Freitag ein stilles Eckchen suchen, was hältst du davon?“

Aron lächelte und Brian schenkte ihm einen letzten Kuss für diesen Abend.
 

Etwa fünf Minuten später betrat Brian die 76 und zog alle Blicke auf sich. Nicht nur weil er auf dem Kopf aussah wie in Besen, sondern auch, weil er ein breites Grinsen im Gesicht hatte und seine Augen verdächtig glasig waren.

„Hey ho“, sagte er gut gelaunt und lehnte sich gegen die geschlossene Tür.

„Wo ist Aron?“ war Sonnys erste Frage.

„Ich weiß nicht“, sagte Brian fröhlich, er wusste es genau, aber aus Rücksicht auf Tovey würde er nichts sagen. Tovey war immer so ungehalten, wenn es um Aron ging.

„Wo ist mein Schlüssel?“ war die zweite Frage.

Brian angelte ihn aus der Tasche und warf ihn Sonny zu.

„Jetzt frag mich aber nicht ob es den Weihnachtsmann gibt“, witzelte Brian, aber Sonny schien gerade nicht zum Scherzen aufgelegt zu sein.

Er stand von seinem Platz auf. Den Schlüssel ließ er in seine Jacketttasche fallen. Vor Brian baute er sich auf. Sonny überragte den Schwarzhaarigen um etwa einen halben Kopf.

„So Kumpel. Ich werde morgen früh zum Schulleiter gehen. Es reicht mir mit dir. Du machst nur Scheiße!“

„Och, das ist nicht wahr“, sagte Brian bescheiden. „Ich tu ja niemandem was.“

Sonny schien der Kragen zu platzen, aber Brian ignorierte das. Sein Blick fiel auf Tovey, der abwesend auf seinem Bett saß, die Beine überkreuzt und ins Leere starrend. Brian huschte an Sonny vorbei, bevor der explodieren konnte und fiel vor Tovey auf die Knie.

„Süßer, guck mich an“, sagte er reumütig und faltete die Hände als wolle er beten. Tovey sah ihm ins Gesicht. Brian lächelte. „Schön“, sagte er dann und richtete sich auf den Knien auf. Er nahm Toveys Gesicht in die Hände und küsste ihn auf den Mund. Sonny riss die Augen auf. Billy fiel die Kinnlade herunter. Als Brian wieder zurück auf den Boden sank schlug Tovey die Hand vor den Mund und starrte Brian ungläubig an. Brian ergriff seine Hände und sah ihn, immer noch mit demselben Lächeln, liebevoll an.

„Sei nicht böse. Bitte, bitte. Ich weiß ich bin ein böser, böser Junge im Engelskostüm. Du bist mir nicht böse, oder? Tovey du hast mich lieb nicht wahr?“

„Du bist high“, sagte Tovey und wieder liefen Tränen über seine blassen Wangen.

„Mag sein“, sagte Brian und leckte sich über die Lippen. „Mag sein, aber nur wenn ich high bin, bin ich mutig weißt du? Hast du mich lieb?“

Tovey nickte verstört unsicher was Brian aus seiner Antwort machen würde.

„Ich dich nicht“, sagte Brian langsam und Sonny glaubte einen Herzkoller erleiden zu müssen. „Weißt du warum?“

Tovey hatte den Kopf weggedreht als könne er das nicht ertragen. Er reagierte nicht auf die Frage. Brian sah ihn wartend an.

„Siehst du mich wieder an, Toto? Bitte.“

Tovey überwand sich und sah Brian mit verstörtem, tränennassem Gesicht an.

„Das ist nicht einfach“, sagte Brian. „Wir kennen uns schon so lange. Und jetzt muss ich dir sagen, dass ich dich nicht lieb hab. Du magst mich bestimmt doch nicht, oder? Weil du weinst jetzt. Magst du mich denn wirklich nicht?“

„Brian!“ fuhr Sonny ihn an und machte einen Schritt auf die beiden zu. „Was redest du für einen Stuss?!“

Brian hob besänftigend eine Hand in Richtung Sonny und sah Tovey weiterhin direkt in die Augen.

„Ich finde das schrecklich, wenn du mich nicht magst“, sagte er zu Tovey. „Das kann ich gar nicht aushalten. Ich hab dich nämlich nicht lieb weißt du?“

Das ergab doch keinen Sinn! Sonny suchte Billys Blick, doch der starrte Brian nur weiterhin mit halb offenem Mund an.

„Was meinst du damit?“ fragte Tovey mit zitternder Stimme. Der Satz war kaum verständlich. Brian betrachtete ihn mit großen Augen, als würde ihm jetzt erst auffallen, dass er etwas Wichtiges vergessen hatte.

„Oh …“, sagte er und klang wieder sehr nach einem kleinen Kind. „Das ist doch ganz einfach. Ich liebe dich.“

Einen Moment herrschte tiefes Schweigen. Sonny meinte Toveys Herzschlag hämmern zu hören, aber vielleicht war es auch nur sein eigener. Dann fiel Tovey, einen undefinierbaren Laut ausstoßend, in Brians Arme und weinte. Und er hörte sehr lange nicht wieder auf zu weinen.

Watching your footprints

Kapitel 5

Watching our footprints,

As we make the same mistakes over again

The ones, we can never erase
 

Es war weit nach Mittag. Brian lag auf seinem Bett, unsicher ob er wach war oder nicht. Er starrte hinüber zu Toveys Schlafplatz, der seinem direkt gegenüber lag. Tovey lag dort wie tot. Sein Gesicht war schneeweiß, aber entspannt und ruhig. Brian blinzelte müde. Billy war schon vor vielen Stunden aufgestanden. Die Vorhänge hatte er zugezogen gelassen. Brian war ihm dankbar dafür. Er fühlte einen seichten Schmerz in seinem Kopf, eine Nachwirkung der Drogen. Die Erinnerungen an den gestrigen Abend waren verschwommen. Er wusste, dass er mit Aron geschlafen hatte. Er wusste auch, dass er zu Tovey gesagt hatte, dass er ihn liebte. Vielleicht, vielleicht auch nicht. Jetzt war nicht mehr alles so klar wie gestern, als die Worte aus seinem Mund geflossen waren. Träge setzte Brian sich auf. Sein Kopf bedankte sich dafür mit einer Ladung weiterer Schmerzen.

Brian stöhnte gepeinigt und vergrub sein Gesicht in den Händen. Was machte er nur? Kein Wunder, wenn Sonny wegen ihm aus der Haut fuhr. Wäre er Sonny, dann brächte er bestimmt nicht solch eine Geduld mit sich auf. Brian sah wieder hinüber zu Tovey. Was hatte er da bloß gesagt? Sicher mochte er Tovey, sicher mochte er ihn auch mehr als gewöhnlich jemanden - ausgenommen Aron natürlich, aber Ausnahmen bestätigten ja bekanntlich die Regel - und noch dazu war Brian nicht der Typ der sich verliebte. Er genoss das Singleleben. Er genoss es jeden haben zu können, wenn er nur wollte. Verlieben, das war einfach nicht seine Art. Er liebte Aron auf eine vielseitige unbestimmte Weise. Einerseits weil er unglaublich sexy war, andererseits weil er der einzige Mensch war der ihn durch und durch verstand. Aber er hätte nie einen Gedanken daran verschwendet mit Aron eine lebenslange Heten-Beziehung einzugehen. No way!

Unsicher und leicht schwankend stand er auf und torkelte zum Fenster. Vorsichtig zog er die Vorhänge etwas zur Seite. Das Licht stach in seine Augen und er fluchte leise. Dabei war es nicht einmal wirklich hell. Der Himmel war überzogen mit Wolken. Es würde bald Regen geben. Brian seufzte, ließ den Vorhang zurückfallen und tappte wieder auf sein Bett zu. Müde ließ er sich nieder und überlegte, ob er vielleicht einfach weiter schlafen sollte, als Tovey sich zu regen begann.

Brian starrte ihn an. Hastig stand er auf. Die Müdigkeit war wie fortgewischt. Er trat an seinen Kleiderschrank, zerrte ein Hemd, eine Hose und ein Paar Socken heraus, warf sich den ganzen Kram über und raste aus dem Zimmer, als wäre er auf der Flucht. Nur eine Sekunde nachdem die Tür hinter Brian ins Schloss glitt schlug Tovey die Augen auf. Er fühlte einen seichten Schmerz in seinem Kopf, eine Nachwirkung der vielen Tränen.
 

Brian hechtete die nächste Treppe hinunter in ein Gemeinschaftsbad und putzte sich hastig die Zähne. Seinen Haaren schenkte er kaum Aufmerksamkeit. Keine Zeit. Er verließ das Bad und rannte ohne Schuhe hinunter zu den Aufenthaltsräumen, wobei er betete irgendwen dort zu finden. Im besten Fall Aron, oder auch Billy, seinetwegen konnte es auch Sonny sein, aber irgendwer, mit dem er über den gestrigen Abend reden konnte. Es war einfach alles schief gelaufen.

Nachdem er den Gang einmal abgelaufen war, blieb er deprimiert genau vor der Wand stehen, die den Gang urplötzlich beendete. Niemand. Wo konnte er die anderen finden? Ein lautes Lachen drang aus einem der Räume. Brian meinte, dass es Elya sein musste, aber sicher konnte er sich nicht sein. Wie sollte er auch einen Menschen gut kennen, mit dem er erst ein paar Mal Sex gehabt hatte? Einen Moment überlegte er noch und starrte die Wand an. Sein Kopf schmerzte im Takt mit dem Pochen seines Herzens.
 

Tovey setzte sich auf und sah sich um. Hatte er eben die Tür zufallen hören? Er wusste es nicht. Es hätte ebenso gut Realität wie Traum sein können. Er sah auf die Uhr und grinste unwillkürlich. So spät schon. Das ihn niemand geweckt hatte. Aber im Grunde war er dankbar dafür. Das einzige, was ihn traurig machte, war, dass Brian auch nicht da war. Niemand war da. Er war allein und Tovey hasste es allein zu sein. Er blickte auf Brians Bett. Es war nicht gemacht. Billys Bett sah aus, wie gebügelt. Unsicher stand Tovey auf und berührte Brians Laken. Es war noch warm. Hatte er die Tür also wirklich gehen hören? Tovey setzte sich auf Brians Bett und zog die Decke an sich heran. Ja, sie war noch warm, wunderbar warm auf seinen kalten Armen. Tovey fror jedes Mal erbärmlich, wenn er sein Bett verließ. Er blieb sitzen, Brians Wärme auf der Haut und sah sich im Zimmer um. Auf Brians Nachttisch lag eine kleine Packung Streichhölzer, gleich neben seinem Handy und der halbleeren Zigarettenschachtel. Tovey lächelte. Brian hatte gestern gesagt, dass er ihn liebte. Vielleicht würde er doch noch ein wenig warten.

Etwas widerwillig kroch er aus Brians Decke und zog sich an, dann verließ er das Zimmer um nach Brian zu suchen. Vielleicht war er irgendwo unten in den Aufenthaltsräumen.
 

Aron lag ausgestreckt auf seinem Bett. Sonny und Billy hatten es sich auf den Stühlen bequem gemacht.

„Die beiden haben Nerven, so lange zu schlafen!“ sagte Sonny mürrisch.

Billy sah ihn amüsiert an.

„Neidisch?“

„Nicht das ich wüsste.“

Es war halb drei am Nachmittag. Billy, Sonny und Aron fühlten sich, als müssten sie sich zu Tode langweilen. Die Aufenthaltsräume waren voll und lärmerfüllt. Dort konnten sie sich nicht in Ruhe unterhalten. Hier im Raum 120 war es besser gewesen, aber nun war die Diskussion seit etwa einer halben Stunde verebbt.

„Brian ist ein Trottel!“ sagte Sonny wütend. Er war im Moment gar nicht gut auf den allseits Begehrten zu sprechen und Billy fragte sich unwillkürlich, warum eigentlich. Klar, Brian machte ständig Mist und das zu gern indem er Sonny beklaute oder anderweitig ärgerte, aber bis jetzt hatte das Sonny auch nie so sehr aufgeregt.

„Hör auf!“ sagte Aron müde von seinem Platz aus und Sonny, der gerade den Mund aufmachen wollte, schloss diesen wieder. „Brian ist kein Trottel. Er ist nur … er übertreibt nur manchmal. Wenn ihr meine ehrliche Meinung hören wollt: er liebt Tovey nicht.“

Billy lachte.

„Komm schon. Du warst gestern mit ihm in der Elf. Dass du jetzt behauptest, dass er Tovey nicht lieben würde ist ja klar. Du willst ihn ja selbst haben.“

Aron setzte sich auf und musterte Billy unverhohlen sauer.

„Ich will Brian nicht haben …“

„Du hast ihn schon, ich weiß“, beendete Billy den Satz und winkte ab. „Das alles ist eine mächtig beschissene Geschichte. Ich mag nicht mitspielen ehrlich gesagt. Auch nicht als Statist. Ich wünschte ihr würdet endlich mal alle mit der verdammten Wahrheit rausrücken und klipp und klar sagen was ihr wollt!“ Sonny sah Billy mit verschränkten Armen von der Seite an. „Ja, du auch!“ sagte Billy darauf und lehnte sich genervt in seinem Stuhl zurück.

„Dann fang du doch schon mal an, Billy“, schoss Sonny zurück. „Was ist denn die Wahrheit?“

„Schwule sind schlimmer als Frauen“, sagte Billy prompt und sehr entschieden. „Alle labern immer nur im Subtext.“

„Einsicht ist der erste Weg zur Besserung“, zitierte Sonny gelangweilt und musterte Billy mit einem vernichtenden Blick.

„Ich muss gar nichts einsehen. Das ist einzig und allein eure Sache.“

„Eins wollen wir mal klarstellen: Wir alle sind schwul und wenn wir schlimmer sind als Frauen - deiner Meinung nach - dann fang du doch damit an besser zu sein!“

„Frauen sind auch nicht schlimm“, murmelte Aron betreten und dachte dabei an seine Mütter.

„Wenn du es genau wissen willst, Herr Obermacker: Ich …“

Die Tür ging auf und schnitt Billy das Wort ab. Es war Tovey. Sein Blick fiel auf Aron und er lächelte schief.

„Hallo Jungs“, sagte er zuckersüß und trat ungefragt ein. Sonny wirkte etwas empört, sagte aber nichts. Tovey ließ sich neben Aron nieder. Aron würdigte ihn keines Blickes. „Wisst ihr wo Brian ist? Ich kann ihn nicht finden, seit er kurz vor mir aus dem Zimmer verschwunden ist.“

„Wir dachten er ist bei dir“, sagte Sonny und zog die Augenbrauen zusammen. Sein Blick streifte Aron. „Wieso sollte er vor seinem neu gewonnenen Liebchen davonlaufen?“

Tovey zuckte die Schultern, während Aron aufstand und das Bett wechselte. Er hatte einfach keine Lust sich diese Show anzutun!

„Vielleicht hat er irgendwas vor“, während Tovey das sagte lächelte er unergründlich. „Vielleicht Schlüssel klauen oder so.“

„Oh, mein Gott!“ platzte es aus Aron heraus. „Das glaubst du doch nicht im Ernst.“

„Schätzchen“, sagte Tovey ruhig und lächelte noch immer wie eine Barbie. „Sei nicht traurig. Es tut mir wirklich leid für dich, dass Brian mich dir vorzieht, aber so ist das Leben.“

Sonny zog nun die Augenbrauen hoch. Billy verzog das Gesicht als hätte er Schmerzen. Dieser Tonfall, diese Wortwahl und das alles, das war nicht der Tovey den er vor 2 Jahren kennen gelernt hatte.

Es klopfte. Sonny stöhnte gequält. Ihr Zimmer würde zu einem Schlachtfeld werden.

„Ist offen“, murmelte er verdrießlich. Ihm war ohne hinzusehen klar, wer der neue Besucher sein würde.

Tovey sprang auf. Brian der gerade die Tür geöffnet hatte wich unwillkürlich ein kleines Stück zurück. Doch schon war Tovey auf ihn zugelaufen und umarmte ihn glücklich.

Sonny sah hoch in Brians Gesicht.

Hilfe!
 

Aron saß ganz ruhig. Unbewegt und schweigend, als Sonny aufstand und sich zu ihm gesellte. Aron fühlte sich gleich viel ruhiger. Sonny setzte sich näher an ihn, als es eigentlich nötig wäre. Müde legte er seinen Kopf auf Sonnys Schulter. Einfach so, weil er es wollte. Sonny atmete einmal tief durch. Aron spürte das von seinem Platz aus. Er blickte hoch zu Brian. Tovey hing an seinem Hals und hatte sich eng an ihn geschmiegt. Doch Brians Gesicht zeigte nur Unsicherheit und Angst.

Willst du ihn? Oder willst du ihn nicht? Eins … Zwei … Drei … Letzte Chance.

„Tovey“, fing Brian vorsichtig an und Tovey blickte sofort erwartungsvoll zu ihm auf.

„Was gibt es denn? Scheu dich nicht es zu sagen. Aron wird darüber hinwegkommen“, er lächelte wieder dieses Puppenlächeln und Sonny schüttelte den Kopf. Aron auf seiner Schulter zuckte kaum merklich zusammen.

Liebst du ihn?

„Ja, das wird er sicherlich“, sagte Brian vorsichtig und warf einen traurigen Blick auf seinen besten Freund. „Ich mache mir eher Sorgen, dass du nicht darüber hinwegkommst.“

Verwirrung schlich sich in Toveys maskenhaftes Lächeln.

„Warum?“

„Das klingt jetzt vielleicht doof … aber ich … das was ich gestern gesagt habe, dass … war voreilig. Ich will damit nicht sagen, dass ich dich nicht mag, verstehst du, aber ich würde nicht soweit gehen, dass ich … dass ich dich liebe, okay?“

Meine Damen und Herren! ICH NEHME ALLES ZURÜCK UND BEHAUPTE DAS GEGENTEIL!

Toveys Gesicht schien zu zerfallen. Aron kniff die Lippen zusammen, senkte den Blick und tastete unwillkürlich nach Sonnys Hand. Er spürte praktisch wie Toveys Blick auf ihm lastete.

Du bist schuld, du bist an allem schuld!

„Brian, du bist ein Idiot“, sagte Sonny tonlos. Er fühlte Arons tastende, zitternde Hand und hielt sie fest.

„Ich weiß“, Brian wirkte wie ein geschlagener Hund. Doch Tovey schien nicht die Absicht zu haben Brian zu einem geschlagenen Hund zu machen. Obwohl er es verdient hätte. Toveys Blick ruhte auf Aron.
 

Anm. v. A:
 

Okai ... ähm. Ich weiß ich bin böse, bitte schlagt mich nicht!! Vielleicht wird ja alles wieder gut? O.O
 

Ziemlich kurz das Kapitel ... O.o

Should I be afraid of, when all the beauty seems so cruel?

Kapitel 6

Should I be afraid of

When all the Beauty seems so cruel

Always somehow

I turn all my fears on you
 

Es war dunkel. Es war Nacht. Zeit zum Schlafen. Zumindest für die meisten. Immerhin war Morgen wieder Schule. Es kümmerte ihn nicht. Er wartete, bis sie eingeschlafen sein mussten. Dann erhob er sich aus seinem Bett und warf sich seine dunkle Strickjacke über. Vom Nachttisch nahm er die Streichhölzer. Er wandte sich um und zog den Schlüssel aus seinem Schloss. Vorsichtig ließ er diesen in die Tasche seiner Jacke gleiten und ging leicht wie eine Katze auf einen Schreibtisch zu. Der war übersäht mit Papier, genau wie er es wollte. Einen Augenblick sah er hinunter auf den schlafenden Jungen in dem Bett.

Er nahm eines der Streichhölzer aus der Tasche und zündete es an. Das brennende Hölzchen legte er auf einen Stapel Papier. Als es Feuer fing grinste er fröhlich. So war es brav.
 

„ARON!“ Sonny sprang hoch und hustete. „ARON!“

Er stolperte hinüber zu Arons Bett und zerrte ihn unsanft aus den Decken. Aron wurde wach, sah erst Sonny und spürte dann die Hitze. Er schrie entsetzt auf. Wo kam das Feuer her? Aron klammerte sich an Sonny und riss ihn mit sich auf den Boden. Glut fiel auf Arons Bett, auf die Stelle auf der er eben noch gelegen hatte und die Laken begannen Feuer zu fangen. Das Feuer raste auf den kleinen Fernseher im Zimmer zu und Sonny hörte sein Blut in den Ohren rauschen. Er zerrte Aron zur Tür und drückte die Klinke. Nichts. Die Tür war verschlossen.

„Scheiße!“ fluchte Sonny entsetzt. „Das war Absicht!“

„Absicht?“ trotz der Farbe, die die Flammen auf Arons Gesicht zauberten, sah Sonny wie er blass wurde. Sein Gehirn arbeitete auf Hochtouren. Feuer … Tür abgesperrt … Schlüssel verschwunden …

„Scheiße, dir muss doch was einfallen“, murmelte Sonny während er Aron flach mit sich auf den Boden zog.

„Schrei Aron, schrei so laut du kannst!“

Und Aron schrie.
 

Brian fuhr aus dem Schlaf hoch. Fast im selben Moment wie auch Billy. Sein Blick glitt zu Tovey hinüber, der auf seinem Bett saß und entsetzt dreinblickte.

„Was war das?“ keuchte Brian. Er hatte noch nie jemanden so schreien hören.

„Vielleicht ist jemand gestorben“, sagte Tovey etwas tonlos und blickte zu Billy hinüber, der sich bereits seine Jacke übergeworfen hatte und aus dem Zimmer sprintete.

„Helfersyndrom“, dachte Tovey und beobachtete wie auch Brian aufsprang und sich schnell ein T-Shirt und eine Hose überwarf und hastig in ein Paar Turnschuhe schlüpfte. Schwerfällig tat Tovey es ihm nach. Die Tür fiel hinter Brian zu. Tovey verschränkte die Arme und verließ das Internatsgebäude. In diesem Moment ging der Feueralarm los.
 

Sonny taten die Ohren weh, aber genau genommen war das sein geringstes Übel. Jemand versuchte sie umzubringen. Jemand hatte mit Absicht ein Feuer gelegt und jetzt sah es verdammt danach aus, als würden sie diese Nacht nicht überleben. Aron neben ihm atmete flach. Undeutlich hörte Sonny Rufe von draußen. Jemand hämmerte gegen die Tür.

„Holt die Feuerwehr, ihr Idioten, verdammt“, dachte Sonny verbittert. Er musste nachdenken. Irgendwie gab es einen Ausweg. Es gab immer einen Ausweg. Und dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen.

Sonny erhob sich bis er auf Knien kriechen konnte und bedeutete Aron, dass er ihm folgen sollte. Aron sah ihn mit großen entsetzten Augen an. Einen Moment befürchtete Sonny, er würde sich keinen Millimeter vom Fleck bewegen. Vielleicht hatte er sogar einen Schock, aber Arons Überlebensinstinkt schien zu siegen. Sonny kroch in Richtung Fenster, während er versuchte sich nicht zu einem Brathähnchen machen zu lassen. Aron packte den Ärmel seines Schlafanzuges. Sonny drehte sich zu ihm um.

„Mach nicht das Fenster auf!“ rief Aron über das Knistern der Flammen. „Das Feuer wird sich nur noch mehr ausbreiten!“

„Aber das ist unser einziger Fluchtweg!“
 

„Raus! Alle raus! Und zwar ruhig! Wenn sich jemand den Hals bricht, dann könnte er auch ebenso gut geröstet werden!“

Brian wollte nicht raus. Er hatte Panik. Die 120 stand in Flammen! Mit Inhalt. Ihm war schlecht. War Aron schon tot? War Sonny schon tot? Das Entsetzen fraß sich durch ihn wie ein gefährlicher Virus.

Herr Blecket ergriff Brians Arm.

„Raus mit Ihnen! Aber plötzlich!“

„Aber … was ist denn …“ Brian deutete hilflos den Gang hinauf. Sein Schulleiter sah ihn ungerührt an.

„Die Feuerwehr ist alarmiert. Raus!“

Er stieß Brian nachdrücklich, aber nicht heftig in Richtung Treppe. Brian wollte immer noch nicht. Er war vor Schreck wie festgefroren. Wieder packte jemand seinen Arm. Die Sirene dröhnte in seinem Kopf.

„Brian, komm! Du musst dich nicht auch noch in Gefahr bringen!“

Es war Billy. Brian starrte ihn an. Gefahr? Aron und Sonny würden sterben. Wer war hier in Gefahr? Billy zerrte Brian mit, die Treppe hinunter und auf den Hof. Ein kalter Wind zischte um die Ecken der steinernen Gebäude. Brian fühlte die Kälte nicht. Er zitterte, aber nur vor Angst. Er hörte das anschwellende Rufen und Trampeln der anderen Jungen. Hier und da versuchte ein Lehrer für Ordnung zu sorgen.

„Es muss doch endlich jemand was tun“, rief er und sah Billy an, der ihn bis in die Mitte des Hofes zerrte, wo sich auch die anderen Schüler versammelt hatten. „Warum können sie nicht raus? Billy jemand muss ihnen helfen!“

Billy blieb stehen und nagelte Brian mit einem Blick fest.

„Man wird ihnen helfen“, sagte er und betonte jede Silbe mit Nachdruck. „Die Feuerwehr ist jeden Augenblick hier. Man wird ihnen helfen, wenn ihnen noch zu helfen ist. Und jetzt versuche um Gottes Willen dich ein wenig zu beruhigen.“

Brian verzog das Gesicht als hätte Billy etwas sehr Widerliches gesagt. Er riss sich los und rannte zurück in Richtung des Internatsgebäudes. Billy rannte hinterher. Seine Chancen Brian einzuholen lagen schlecht. Billy verfluchte sich dafür, dass er so langsam war.

Doch zur Billys größter Verwunderung stolperte Brian nicht die drei Stufen zum Internat hinauf. Er hielt sich an der Mauer. Billy verstand. Brian wollte auf die andere Seite um das Fenster im Auge zu haben. Mit einem hastigen Blick stellte Billy fest, dass niemand Brian beachtete. Wenn er selbst genauso viel Glück hatte, konnte er Brian vielleicht folgen.

Keuchend stolperte Brian durch die Dunkelheit. Wenn er nur irgendetwas tun könnte. Irgendetwas. Er erreichte das Fenster und blieb nach Luft schnappend stehen. Hinter den Vorhängen der 120 flackerte es rot. Brian unterdrückte einen Anfall von Wahnsinn.

Wer war das?

Als wolle das Fenster ihm eine Antwort auf diese Frage geben schnellten die Läden plötzlich auf. Brian zuckte zusammen. Jetzt konnte er das Feuer sogar hören.

„Aron!“ brüllte er nach oben, doch ein heftiger Windstoß trug seine Stimme davon. In der Ferne hörte er Feuerwehrsirenen, die schnell näher kamen. Billy kam neben ihm zu stehen.

„Sind die beiden wahnsinnig!“ rief er. „Sie können doch nicht das Fenster aufmachen, dass Feuer wird sich …“

Oben im Fensterrahmen erschien ein Kopf. Sonny. Schwarzer Qualm bahnte sich seinen Weg nach draußen.

Aron ist tot, oh Gott, Aron ist bestimmt tot. Bitte, lass ihn nicht tot sein.

Brian starrte nach oben. Sonny wandte sich wieder den Flammen zu und schien zu winken. Brian fiel ein Stein vom Herzen. Aron lebte also noch. Die Sirenen waren nun ganz nah und sie hörten Reifen quietschen.
 

Der Fluchtweg war geschaffen. Soweit so gut. Auch die Feuerwehr schien nicht mehr weit zu sein. Sonny warf einen kurzen Blick nach draußen nur um sich dann wieder zu Aron umzudrehen. Eigentlich waren sie zu hoch über dem Boden um springen zu können, aber bevor Sonny sich rösten ließ, würde er lieber aus diesem Fenster springen.

„Wir müssen springen!“ rief er Aron zu. Dieses Mal erhielt er ein klares entsetztes Kopfschütteln als Antwort. „Komm schon! Schnell!“

Aron zögerte noch einen Moment.
 

Billy und Brian betrachteten schweigend die Szene. Dann setzte sich Billy in Bewegung und stieß Brian vor sich her wieder auf die andere Seite des Gebäudes. Die Feuerwehr war da. Brian ließ sich widerstandslos durch die Gegend schubsen. Sein eigener Antrieb schien völlig verloschen zu sein. Billy hielt seinen Oberarm fest und gemeinsam starrten sie den großen roten Wagen an. Die Feuerwehrmänner stürmten das Gebäude. Billy suchte mit den Augen den Platz ab. Wo zum Henker war Tovey eigentlich? Er entdeckte seinen Freund abseits auf einer Bank sitzen. Etwas kleines Silbernes drehte sich unablässig zwischen seinen Fingern. Ein Schlüssel.

Auf dem Hof breitete sich betretenes Schweigen aus. In wenigen Minuten würden sie es wissen. In wenigen Minuten fiel die Entscheidung über Leben und Tod für zwei ihrer Mitschüler. Brian begann erbärmlich zu frieren. Die Spannung war fast zu spüren. Nur einer blieb ungerührt auf seinem Platz, den Rücken der Szene zugewandt: Tovey. Die Zeit schien sich unendlich lang zu dehnen. Elya rannte durch die Reihen und verteilte Decken. Sie rochen nach Zigaretten. Billy erkannte sie als die aus den Aufenthaltsräumen. Elya kam auf Brian zu und warf ihm eine über die Schultern ohne zu fragen. Mit einem mitleidigen Blick verschwand er wieder um die letzten Decken unters Volk zu bringen.

„Da!“ rief plötzlich jemand und alle Köpfe fuhren wie einer herum und wandten sich dem Eingang zu.

Zwei Feuerwehrmänner stützten Sonny und halfen ihm die Stufen hinunter. Ein Sanitäter stürzte auf ihn zu und begann auf ihn einzureden. Billy fiel ein Stein vom Herzen. Für einen Moment hatte er Aron völlig vergessen. Sonny nickte erschöpft. Er war ansprechbar. Ihm war scheinbar nichts weiter passiert.

Billy spürte wie sich Brian neben ihm aus seinem Griff wand und auf Sonny zu rannte. Der Sanitäter, der das bemerkte hob abwehrend die Hand, doch Brian ignorierte ihn.

„Sonny, bist du okay?“ Brians Herz hämmerte in seiner Brust.

„Geht schon“, meinte Sonny mit einem schwachen Lächeln. „Aber der Quacksalber besteht auf eine leichte Rauchvergiftung.“

Brian nickte langsam, wie in Trance und schluckte.

„Gute Besserung, Chef“, sagte er und hob die Hand als wolle er winken. Sonny wurde von den Notärzten weggebracht. Ein Lehrer trat an Brian heran und schob ihn sanft vom Eingang weg. Doch schon kam ein neuer Feuerwehrmann aus der Tür. Hinter ihm folgten 2 weitere mit einer Trage auf die sie Aron gebettet hatten. Brian sah nicht viel von ihm. Der erste Retter versperrte ihm, vielleicht absichtlich, die Sicht. Doch er wusste, dass eine Trage nichts Gutes bedeutete. Der Sanitäter kehrte vom Krankenwagen zurück und betrachtete Aron.

„Der arme Junge“, hörte Brian ihn sagen. „Sein Gesicht sieht furchtbar aus.“

Brian wollte einen Schritt vor machen, doch wieder hielt ihn jemand fest. Dieses Mal war es Billy.

„Lass es Brian. Es ist besser für uns alle.“

Brian betrachtete ihn den Bruchteil einer Sekunde, und sah dann den Notärzten hinterher. Eine von Arons Händen war von der Trage gerutscht. Sie war blutig rot. Brian schauderte. Der Krankenwagen rauschte mit jaulenden Sirenen davon. Brian starrte immer noch auf den Punkt an dem er Arons Hand gesehen hatte, als Billy ihn schon wieder fortzerrte.

„Alle rüber ins Schulgebäude!“

Brian trottete neben Billy her. Man pferchte sie in die Schulaula. Von überall kamen aufgeregte Stimmen.

Hast du ihn gesehen …. Ja, schrecklich sein Gesicht … Das ganze Blut … Er war doch so hübsch … der Arme … So viel Blut …Wie konnte das passieren

Der Arme … sein Gesicht, so viel Blut, der Arme, sein Gesicht, so viel Blut …wie ist das passiert?

Brian ließ sich im Gehen auf den Boden fallen. Billy stolperte, konnte sich aber halten, indem er Brians Arm losließ.

„Brian, steh auf! Du kannst hier nicht einfach liegen bleiben.“

Und ob ich das kann!
 

Brian wusste nicht mehr genau, wann es gewesen war, als er Aron kennen gelernt hatte. Vielleicht in der achten Klasse, vielleicht auch etwas später. Aron war in sein Leben getreten, wie etwas Selbstverständliches, etwas das einfach da war, etwas das einfach gut war. Im einen Augenblick war er ein unzugänglicher Junge mit dem besten Fuck-You-Blick weltweit gewesen, im nächsten war der Fuck-You-Blick nicht gewichen, aber es gab einen Menschen weltweit, dem er ihn nie schenken würde. So einfach und doch so subtil. Brian versuchte täglich zu ergründen, was so einzigartig an Aron gewesen war. Er sah in Arons blaue Augen, mit diesem wunderschönen grünen Schimmer, wie das Meer in der Karibik, und fragte sich, warum. Eine Antwort hatte er nie gefunden und es dann schließlich aufgegeben.

Gottes Wege sind unergründlich, hätte sein Großvater immer gesagt. Brian hatte sich das zu Herzen genommen und die Wege seines Gottes nicht weiter versucht zu ergründen. Aron vermittelte Brian immer das Gefühl, dass er ganz tief in sich drin, ein süßes Geheimnis umher trug. So süß, dass kein Mensch es ertragen konnte. Dieses Geheimnis hatte Brian schier wahnsinnig gemacht. Doch letztendlich hatte er auch das den göttlichen Wegen übergeben.

Finger weg! Meins!

Aron war der einzige Mensch, der Zugang zu dem Labyrinth in Brian hatte. Er kannte seine kleinen Aussetzer, kannte alles was er liebte und hasste. Brian fragte sich wieder und wieder, ob Aron ahnte wie bedingungslos Brian ihn verehrte. Wohlgemerkt, verehrte, nicht liebte. Brian scheute sich vor dem Wort „Liebe“. Er wusste einfach nur, dass Aron zu ihm gehörte. Sie waren wie Materie und Antimaterie. Jede Berührung der Elemente verursachte eine riesige Explosion. Trotzdem zogen sie sich unweigerlich an um explodieren zu können. Brian liebte es mit Aron zu explodieren, ja, in jedem Sinne des Wortes!

Jede Berührung konnte zu einem lähmenden Stromschlag werden. Sie gehörten einfach zusammen, bis … ja bis diese Umzüge zustande kamen und bis das Feuer ausbrach.

Without me you are not complete

Kapitel 7

Without me you are not complete

There’s only one pair of Lips you can read

Holding hands until the end of time

Until the end of time you are mine
 

Als Brian wieder die Augen aufschlug, war es bereits hell. Er lag im Krankenzimmer des Internats, abgeschirmt von einem Vorhang. Die Stimmen des Schularztes und eines Schülers drangen zu ihm hinüber.

„Ich denke mal Sie sind ganz gut weggekommen. Keine Rauchvergiftung wie es aussieht. Was ist mit Ihrem Zimmer? Der Schulleiter meinte die anliegenden Zimmer sind größtenteils intakt.“

Es herrschte kurzes Schweigen.

„Ja, es geht, aber wir wurden umquartiert. Also wir und die 119 sind jetzt noch mit in andere Zimmer umgelegt worden. Jeder einzeln irgendwo mit rein, meist in Doppelzimmer. Keine schöne Sache, aber okay, wenn man bedenkt, dass wir immerhin alle noch leben. Herr Blecket hat sogar zum ersten Mal erlaubt, dass wir uns aussuchen wo wir hinwollen. Ich glaube das Feuer hat ihn erschreckt.“

Ein zustimmendes Brummen des Arztes. Brian setzte sich auf und schlug die Decke zurück. Er wartete bis der andere Schüler ging und trat dann hinter dem Vorhang hervor. Mit leerem Blick betrachtete er den Schularzt. Dr. März hieß er und war erst seit einem Jahr hier. Brian kam er unendlich jung vor, im Gegensatz zu dem alten Mann, der vorher hier angestellt gewesen war.

Der Arzt sah ihn besorgt an.

„Wie geht es Ihnen, Brian?“

„Miserabel“, sagte Brian leise und senkte den Blick. Der Boden war hell und irgendwie steril.

„Haben Sie irgendwelche Schmerzen? Ich habe Ihnen ein Beruhigungsmittel verabreicht, also falls Sie sich etwas benommen fühlen ist das nichts Ungewöhnliches. Sie hatten einen kleineren Schock.“

„Mag sein“, erwiderte Brian und blinzelte. Die Leere in ihm war unerträglich. Zum zweiten Mal in seinem Leben hatte jemand Aron direkt aus ihm herausgerissen. Irgendjemand. Irgendein Feuerteufel. Brian schwor sich Rache.

„Das Internat ist wieder freigegeben“, fing Dr. März vorsichtig wieder an. „Wenn Sie möchten können Sie zurück.“

Brian nickte und verließ das Krankenzimmer ohne ein weiteres Wort. Vor der Tür blieb er stehen und blickte an sich hinunter. Seine Schuhe waren noch da drin.

Noch während Brian das dachte stand Dr. März hinter ihm und hielt ihm ein Paar ausgelatschter Chucks entgegen.

„Sind das Ihre?“

Brian nickte und nahm die Schuhe entgegen.

Müde schlenderte er den Gang hinunter, der unweigerlich in Richtung von Zimmer 120 führte. Die Türen der drei Zimmer 119,120 und 121 waren mit rot-weißen Absperrungen versehen worden. Brian blieb vor der 120 stehen in seinem Kopf spielte sich das ganze Inferno noch einmal ab. Seine Hände zitterten, während seine Phantasie die schrecklichsten Szenen entwarf. In diesem Moment war er froh, dass der Arzt ihm Beruhigungsmittel gegeben hatte. Brian spürte tief in sich, nur ganz leise, die Lust auszurasten, alles um sich herum zu zerschlagen.
 

Elya und seine Zimmernachbarn Alex und Matt saßen im AR 2. Ihre Jacken lagen gestapelt auf der Couch neben Alex. Durch die zunehmende Kälte hatte die Schulleitung beschlossen, die Heizungen anzustellen und dass machte den Aufenthalt hier unten bei weitem angenehmer. Für heute war kein Unterricht angesetzt. Man hatte den Montag freigestellt, deshalb lag bei manch einem ein Hauch Langeweile in der Luft.

Die drei Jungen schwiegen sich verbissen an. Sie wussten nicht was sie noch sagen sollten. Das Thema „Brand“ war so ausgelatscht wie das Thema „2. Weltkrieg“ nach der 10ten Klasse. Was gab es auch schon zu sagen? Aron Wayne war schwer verletzt, Sonny Iero war mit Verdacht auf Rauchvergiftung abgeführt worden und Brian Moore hatte kurz danach in der Aula einen kleinen Anfall gehabt. Alles in allem hatten sie das ganze haarklein auseinander genommen.

Elya beugte sich in seinem Sessel vor und stützte sich mit den Ellenbogen auf seinen Oberschenkeln ab. Die Stille war fast unerträglich.

Die einzige Frage, die niemand beantworten konnte war die Frage nach dem Täter. Das Gerücht, dass die Tür zu Zimmer 120 von außen abgeschlossen worden war, hatte die Runde gemacht wie … nun ja … wie ein Lauffeuer. Irgendjemand hatte es auf Sonny oder Aron abgesehen gehabt. Vielleicht sogar auf beide. Aber alle Jungen die Elya und seine Freunde kannten fielen vollkommen durch das Raster.

„Alex?“ sagte Elya und seine Stimme hallte unangenehm im Raum.

„Was denn?“ fragte der Angesprochene und sah zu Elya hinüber.

„Magst du mir mal meine Zigaretten aus meiner Jackentasche geben?“

Alex nickte, erfreut über die Beschäftigung und zog Elyas Jacke aus dem Stapel. Er fasste in die Jackentasche und zog die Schachtel heraus. Etwas fiel klirrend zu Boden.

„Huch“, gab Alex von sich und legte die Schachtel auf den Tisch vor sich. Dann tauchte er ab um aufzuheben, was er hatte fallen lassen.

„Was war denn das?“ fragte Matt und beobachtete Alex, wie er nach etwas unter dem Tisch griff und es aufhob.

„Unser Zimmerschlüssel“, sagte Alex und hielt ihn hoch.

„Das kann nicht sein“, sagte Matt. Elya zündete seine Zigarette an und blickte dann zu seinen beiden Freunden hinüber. Sie starrten ihn entsetzt an. Elya war verwirrt.

„Was habt ihr?“ fragte er.

Matt hielt etwas in die Höhe. Es war ein Schlüssel, aber den Schlüssel von Zimmer 70 hatte immer Matt bei sich, wenn sie zusammen im Aufenthaltsraum abhingen. Elya betrachtete den Schlüssel der aus seiner Tasche gefallen war. Auf dem Schlüsselkopf thronte die Nummer des Zimmers fein säuberlich eingraviert. Eine kleine schwungvolle 120 lächelte Elya von dem Metall her an.

„Das ist nicht dein Ernst, oder?“ sagte Matt fassungslos und zog den Schlüssel zurück, als Elya danach greifen wollte.

„Aber …“, Elya starrte seine Freunde nur an.

„Du?“ sagten sie beide gleichzeitig.

„Nein“, sagte Elya, doch er wusste, dass es zwecklos war. Niemand würde ihm glauben, bevor sich nicht ein anderer freiwillig als Feuerteufel meldete.
 

Brian wanderte ziellos durch die Gänge des Internats. Er wusste nicht wohin mit sich und wollte nicht zurück zu Billy und Tovey in die 76. Nein, er wollte überhaupt nicht hier sein, sondern lieber weit weg. Die Stimmen der anderen hallten bedeutungslos durch seinen Kopf. Alles sinnlos, alles verdammt sinnlos. Brian hasste es wieder hier zu sein, allein …

Auch damals, vor zwei Jahren, hatte er es gehasst. Die Idee war cool, zugegeben und später hatte er es fast geliebt hier zu sein, aber in diesen ersten Tagen hatte er es gehasst. Der allererste Tag war der schlimmste gewesen. Brian erinnerte sich, wie er geheult hatte, wie ein kleines Kind, dass man von seiner Mutter entführt hatte. Peinlich. Zum Glück hielt ihm das jetzt niemand mehr vor. Brian hätte dem, der es wagen würde den Schädel eingeschlagen.

Unvermittelt blieb er vor einer Tür stehen, die größer war als all die anderen. Ein kleines goldenes Schild hing daran und verkündete: Sekretariat II

Brian betrachtete das Schild. Ja, hier hauste der Schulleiter, unser allseits geliebter Herr Blecket, wenn kein Unterricht stattfand. Sowohl am Wochenende, als auch nachmittags. Unsicher hob Brian die Hand und klopfte. Er musste einfach fragen.

„Herein!“ kam eine Stimme von drinnen. Brian lächelte stumpf und betrat das Sekretariat, nur um dann vor der einzigen Frau im Umkreis von 15 Kilometern zu stehen: Die Sekretärin.

„Schönen Guten Tag, Fräulein Tiele“, sagte Brian und betrachtete die junge Frau gespannt. Die einzige Frau. Das war irgendwie fast lächerlich.

„Was gibt es denn?“ fragte sie und sah von ihrem Platz zu Brian hoch.

„Sie sehen heute aber wieder gut aus“, witzelte Brian und trat etwas näher. Fräulein Tiele warf ihm einen anklagenden Blick zu und sah ihn dann fragend an. „Eigentlich wollte ich zum Schulleiter. Ich muss dringend etwas fragen.“

Die junge Frau nickte bedächtig.

„Da haben Sie Glück. Er ist vor wenigen Minuten gerade eingetrudelt.“

„Wo war er denn?“ fragte Brian sofort, vielleicht etwas hastig.

„Im Krankenhaus“, sagte Fräulein Tiele als wäre das selbstverständlich. „Er musste doch seinen Musterschüler Sonny besuchen.“

„Oh … ja, natürlich“, sagte Brian und schluckte unwillkürlich.

Fräulein Tiele stand auf und huschte zur Tür rechts von Brian. Unsicher sah Brian ihr nach. Er hatte noch nie um Audienz gebettelt. Ob Blecket ihn gleich wieder rausschmeißen würde? Das Fräulein klopfte sanft an, öffnete und steckte den Kopf ins Nebenzimmer.

„Schicken Sie ihn rein, Sabine“, hörte Brian seinen Schulleiter sagen. Er atmete tief durch und bedankte sich bei Fräulein Tiele, dass sie ihm die Tür aufhielt.

„Setzten Sie sich, Herr Moore“, sagte Herr Blecket und Brian tat wie ihm geheißen. Blecket war ein selbstgefälliges Arschloch. Er ließ nichts durchgehen. Extrawünsche, abgelehnt! Doch Brian würde es trotzdem versuchen.

„Darf ich Brian sagen?“ Brian nickte und starrte auf den Schriebtisch des „Diktators“ wie sie ihn scherzhaft nannten. „Was gibt es denn?“

„Also, es geht um folgendes“, fing Brian an und zwang sich aufzusehen. Er fühlte sich wie ein Käfer, der einem großen Schuh von unten entgegenblickte. Gleich würde er zerquetscht werden, wenn er nicht fix genug war. „Aron Wayne und Sonny Iero sind meine Freunde. Ich würde sie sehr gerne im Krankenhaus besuchen. Wissen Sie, ich … ich hab ja keine Ahnung wie es ihnen geht und ich mache mir Sorgen …“

Brian brach ab. Der Schulleiter hatte sich alles angehört und die Augenbrauen hochgezogen. Ein gutes Zeichen dafür, dass Brian verloren hatte.

„Hören Sie zu, Brian“, sagte Herr Blecket langsam, als wäre Brian etwas schwer von Begriff. Brian fiel auf, dass er Blecket seinen Namen nie gesagt hatte. Unheimlich …

„Vor wenigen Minuten noch, war ich im Krankenhaus. Sonny geht es gut. Aron … lebt auch noch, also keinen Grund zur Panik. Sicherlich haben die beiden noch mehr Freunde, die zu mir kommen könnten und um einen Besucht bitten, aber wissen Sie, ich bin für Sie verantwortlich Brian und ich habe das Gefühl, dass es keine gute Idee ist Sie allein irgendwo hingehen zu lassen. Sie haben mir gestern Abend keinen sonderlich gefassten Eindruck gemacht. Wie nah stehen Sie den beiden? Irgendwelche langfristigen festen Beziehungen?“

Brian starrte inzwischen wieder den Schreibtisch an. Langfristige Beziehungen? Pha und ob! Aber er wusste, dass „bester Freund“ nicht galt.

Du blöder, verdammter Scheißkerl!

„Ja“, sagte Brian und versuchte wieder dem Blick seines Schulleiters standzuhalten. Ronald Bleckets Augen waren hart wie Stein. Brian fühlte die Wirkung des Beruhigungsmittels schwinden. „Ich bin seit über zwei Jahren mit Aron zusammen“, sagte er und wusste, dass er log. Doch so falsch kam es ihm nicht vor.

Blecket zog die Augenbrauen hoch. Dieses Mal vor Überraschung.

„Seit über zwei Jahren?“ fragte er. Seine Stimme klang noch immer relativ unbeeindruckt. Wahrscheinlich war er ein Meister, wenn es darum ging Leute am Telefon zu verarschen.

„Seit über zwei Jahren“, echote Brian und zog die Zugbrücke zwischen Wahrheit und Lüge hoch. Die Wahrheit lag in der Burg, geschützt von hohen Mauern. Die Lüge stand draußen in Form von kleinen Rittern mit Schwert und Lanze. Die Lüge war eine bessere Abwehr als die Wahrheit, denn die Lüge war bewaffnet.

„Sie wollen mir also erzählen, dass Sie im zarten Alter von fünfzehn Jahren schon wussten, dass Sie schwul sind und gleichzeitig schon einen festen Freund hatten?“

„Exakt!“ sagte Brian. In Wahrheit war er Anfang vierzehn gewesen, als diese Idee sich in seinem Kopf verhakte.

„Erstaunlich“, sagte Blecket und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Das Thema schien ihn mehr zu interessieren als seine zwei halbtoten Schützlinge. Brian krallte seine Hände ineinander. Dieser Typ regte ihn auf, regte ihn mächtig auf. Er war so wütend, dass er am liebsten den Hals des Schulleiters gepackt und fest zugedrückt hätte. Stirb du Ratte! Bleckets äußeres Erscheinungsbild erinnerte ihn irgendwie an Sonny. Das Jackett, perfekt abgestimmt auf Hose und Hemd. Schlicht und doch irgendwie Respekt einflößend. Autoritär. Nur war Sonny nicht ganz so großkotzig - aber fast! - und auch nicht ganz so streng - besser so für ihn!

„Wissen Sie Brian, falls Sie ehrlich sind und das stimmt, was Sie mir hier sagen, bin ich beeindruckt. Nur leider haben Sie dann in ihrer Bewerbung gelogen.“

Brian sackte in sich zusammen und vergrub das Gesicht in den Händen. Blecket fuhr unbeirrt fort.

„Wenn ich mich recht erinnere“, sagte er kühl und drehte den Monitor seines Computers zu Brian herum. „Steht hier, dass Sie vierzehn waren und außerdem haben Sie Single angegeben. Schauen Sie ruhig her.“

Brian hob den Kopf und starrte den Bildschirm an. Seine Bewerbung. Sein Bild, seine Daten, einfach alles. Er hatte fast vergessen wie verdammt detailliert diese scheiß Bewerbung gewesen war.

„Auch in Arons Bewerbung finden Sie keine Erwähnung. Zu schade. Von über zwei Jahren kann also keine Rede sein, oder was meinen Sie?“

Brian senkte wieder den Blick und kniff die Lippen zusammen.

Ich hasse diesen Drecksladen. Scheiß auf „sexuelle Barrieren überwinden“ und „freies Umfeld“. Connections, pha! Wenn wir auf diese verdammte Welt da draußen losgelassen werden, haben wir keine verdammte Ahnung davon, wie wir mit Menschen umgehen die anders sind! Kleinkarierter Mist!

„Ich möchte Sie jetzt bitten zu gehen.“
 

Anm. v. A:

Ich hoffe es ist nicht zu langatmig geworden.

It's not unusual anymore ...

Kapitel 8

It’s not unusual anymore

to get hurt by you
 

“Ich kann das immer noch nicht fassen”, sagte Billy nun zum zehnten Mal und rannte noch immer vor Brians Bett auf und ab. „So ein dämliches Feuer entzündet sich doch nicht von allein!“

Er sah Tovey an, der verträumt mit seinen Haaren spielte.

„Ist was?“ fragte er und sah mit einem lieblichen Lächeln zu Billy hoch. Come on Barbie, let’s go paty! Billy seufzte.

„Das regt mich auf“, sagte er und ließ sich neben Tovey auf das Bett fallen. „Wer macht denn so was?“

Tovey sah ihn mitleidig an.

„Wenn ich das wüsste, Billy. Ist ja wirklich ganz schrecklich, was da passiert ist. Vor allem das mit Arons … du weißt schon.“ Tovey seufzte wie ein Schauspieler und strich noch einmal abschließend über seine Haare. „Aber bestimmt werden wir bald wissen welcher Idiot das war. Der arme, arme Aron. Sonny ist ja grad noch so davongekommen.“

Billy nickte und legte die rechte Hand auf seine Stirn.

„Ich bekomme davon Kopfschmerzen“, sagte er verbittert und sah Tovey an.

„Soll ich dir eine Aspirin holen gehen?“ fragte der und streichelte Billys Rücken mit der linken Hand. Billy schüttelte mit dem Kopf. Er hasste es irgendwelche Medikamente nehmen zu müssen. Lieber plagte er sich ein wenig mit dem Schmerz. Er schloss die Augen und rieb sich die Schläfen. Ein Moment vollkommener Ruhe. Billy genoss ihn, bis er plötzlich lautstark durchbrochen wurde.

„Jungs! Hört doch auf! Ihr wisst doch, dass ich absolut keinen Grund habe so was zu tun!“

„Klingt nach Elya“, sagte Tovey milde überrascht und erhob sich. „Soll ich ihm sagen, dass er das Maul halten soll, Billy?“

So fürsorglich heute?

Billy winkte ab und stand jetzt auch auf. Elyas Stimme kam näher und mit ihr die von zwei anderen Jungs. Irgendwie schienen sie sich zu streiten.

Warum tun die das vor unserer Tür?

Warum wohl?

Es klopfte. Tovey ging hin und öffnete.

„Was gibt es?“ fragte er mit einem zuckersüßen Lächeln.

I’m a Barbie Girl, in a Barbie World!

„Ist Brian da?“ fragte jemand. Billy hatte keine Ahnung wer das sein könnte. Tovey schüttelte nun ehrlich etwas angekratzt mit dem Kopf.

„Kommt doch rein. Was ist denn los?“ Er trat beiseite und ließ drei Jungen ein. Elya und zwei Weitere. Vielleicht seine Zimmernachbarn, vermutete Billy. Die beiden hatten Elya in ihre Mitte genommen. Brians so genannter „Fick-Freund“ (Toveys Wortschöpfung) sah ziemlich unglücklich aus.

„Wir haben das Arschloch!“ sagte einer der Jungen mit blonden Haaren und blauen Augen.

Nett, dachte Billy, der fällt ja mal voll aus Bleckets „dunkles Haar“ Raster. Wahrscheinlich gerade erst mit Wasserstoffperoxid bearbeitet.

„Wie meinst du das?“ fragte Tovey - Püppchen und musterte Elya unsicher.

„Er hat den Schlüssel für die 120 in seiner Tasche gehabt!“

Billy wurde aus seinen Gedanken gerissen.

„Was?!“

Sein Blick huschte rüber zu Tovey und den Bruchteil einer Sekunde meinte er ein triumphierendes Lächeln auf seinen Lippen zu sehen, doch dann wich es Bestürzung.

„Weißt du eigentlich, was du Aron angetan hast?“ ging Tovey auf Elya los, der sofort abwährend die Arme hob.

„Ich hab doch, verdammt noch mal, nichts gemacht!“

„Du hast nichts gemacht?“ fuhr Tovey fort. „Du hast Aron und Sonny fast umgebracht! Bist du verrückt?“

„Lass ihn in Ruhe, Toto.“

Alle wandten sich um und sahen Brian in der offenen Tür stehen. Er war blass und sah nicht wirklich gesund aus. Toveys Herz machte einen kleinen Hüpfer und wieder spürte er die Hitze im Magen. Er gehorchte sofort und trat von Elya zurück.

„Brian“, sagte er sanft und ging auf seinen Freund zu. „Die beiden haben den Schlüssel bei ihm gefunden.“

Brian nickte und sah Elya an, der inzwischen so blass war, als würde er jeden Moment umfallen. Tovey strich demonstrativ tröstend über Brians Arm.

„Er war es nicht“, sagte Brian und senkte den Blick. Man hörte Elya aufatmen.

„Wieso?“ fragte Tovey.

„Er hatte keinen Grund, Tovey. Keinen der es rechtfertigen würde, dass er so etwas tut. Mit Sonny hatte er kaum was zu tun und mit Aron noch viel weniger. Und wenn es nach Eifersucht gehen würde, dann wärest doch du der Spitzenkandidat, nicht wahr?“ sagte Brian und bedachte bei den letzten Worten Tovey mit einem flehenden Blick. Ich hoffe, dass genau du es nicht warst! Tovey nickte betreten und nahm Brian als Bestätigung in die Arme.

„Du Armer. Es wird bestimmt alles wieder gut“, sagte er.

„Das war wohl ein Satz mit x, oder?“ wandte sich Billy an die drei Jungs. Elya hatte sich etwas zittrig auf Brians Bett niedergelassen. Seine beiden Freunde sahen ihn unschlüssig an.

„Woher soll Brian das wissen? Okay, die Logik könnte stimmen, aber ich weiß nicht“, meinte der Blonde, Matt, und verschränkte die Arme.

„Hey Leute, seid ihr seine Freunde?“ fragte Billy scharf. Die beiden tauschten einen Blick und nickten dann zögernd. „Na also, benehmt euch auch wie Freunde, ihr Verräter. Euren Eifer in allen Ehren, aber wie es aussieht habt ihr euch bei jemandem zu entschuldigen.“
 

Unterricht. Langweilig und nervtötend. Wie immer. Tovey stützte seinen Kopf auf die rechte Hand und brachte so Brian perfekt in sein Blickfeld. Wenn das nicht alles ein wenig erträglicher machte, was dann? Doch irgendwie wirkte Brian zutiefst frustriert. Tovey kannte diesen Ausdruck an ihm. Vor zwei Jahren war er fast ein ganzes Semester so durch die Gegend gelaufen. Man hatte schon gemunkelt, dass der nächste Amoklauf nicht auf sich warten lassen würde. Genau genommen war hier noch keiner Amok gelaufen, aber in der nächstliegenden Schule, einige gute Kilometer weiter in der nächsten größeren Stadt, war das vor einiger Zeit der Fall gewesen. Irgendwann aber war Brian ganz unwillkürlich aufgeblüht. Die Lorbeeren dafür schrieb Tovey sich selbst zu. Wer sonst, außer er, hatte sich um Brian gekümmert? Genau genommen war Tovey Brians neuer bester Freund gewesen, bis dieser beschissene …

Tovey seufzte. Nicht drüber nachdenken. Der Mistkerl lag schließlich mit seinem entstellten Babyface im Krankenhaus. Vielleicht würde er ja an seiner verdammten Rauchvergiftung verrecken! Hauptsache Sonny kam bald wieder. Tovey mochte Sonny … irgendwie. Auch wenn er Aron die kleine Flammen Party gegönnt hatte, wünschte er sich doch, der kleine Feuerteufel hätte gewartet, bis Sonny das Zimmer verlassen hätte.

„Tovey, können Sie mir sagen, was passiert, wenn ich diese beiden Stoffe mische?“

„Was?“ Tovey fuhr aus seinen Gedanken hoch und sah seinen Chemielehrer verwirrt an. „Wie bitte? Ich meine … Ich - äh - hab die Namen der Stoffe nicht ganz … Entschuldigung.“

Der Lehrer musterte Tovey mit einem scharfen Blick, der wohl sagen sollte: typisch! Und schwenkte dann rüber zu Brian. Tovey folgte dem Blick des Kitteltägers unwillkürlich.

„Brian? Ich habe das Gefühl Sie lenken die anderen ab. Sie machen ein Gesicht wie vierzehn Tage Regenwetter.“

Tovey verdrehte unwillkürlich die Augen. Dieser Spinner da vorn verdrehte zu gern irgendwelche öden Sprichwörter. Und es klang jedes Mal bescheuerter, je öfter er es versuchte.

„Vierzehn reichen gar nicht“, sagte Brian und starrte verbissen auf seinen Hefter. Zu seinem Entsetzten sah Tovey, dass ihm Tränen in den Augen standen.

„Brian, was ist mit Ihnen?“ fragte der Lehrer und ließ endlich von seinen widerlichen Chemikalien ab, die er in einem Reagenzglas hin und her getragen hatte. Vor Brians Platz stellte er sich auf und blickte auf seinen Schützling hinunter. „Sie wissen, es gibt immer Tage, da ist es besser sich etwas Ruhe zu gönnen. Abgesehen davon, dass Sie gerade erst ein unfreiwillig verlängertes Wochenende hatten. Trotzdem, wenn es gute Gründe gibt, dann sollten Sie sich lieber einen Krankenschein holen. Oder sehe ich das falsch?“

Der Kittelträger suchte Bestätigung in der Klasse. Elya neben Brian nickte langsam. Von Tovey würde er sicher keine bekommen.

„Möchten Sie gehen, Brian?“

„Nein“, sagte Brian und Tovey fand, dass es verdächtig unsicher klang. Er sah bereits vor seinem inneren Auge, wie Brian in Tränen ausbrach und niemand wusste warum. Nun, Tovey wusste es und Tovey hasste Aron dafür nur noch mehr.

„Nun, meinetwegen …“, der Lehrer wirkte unsicher. „Dann hören Sie bitte wenigstens alle auf den armen Jungen auch noch anzustarren. Elya, sagen Sie mir doch, was passiert …“

Tovey riss seinen Blick von Brian los. So ein verdammter Mist! Was fand Brian bloß an diesem Püppchen? Der sah doch aus wie aus Porzellan gebastelt. So unecht. Wenn das mal nicht alles Make-up war!

Wie müsste dein Traummann aussehen, Brian?

Perfekt. Alles an ihm müsste perfekt sein.

Du hast Ansprüche, so einen gibt es gar nicht.

Oh, doch!

Tovey schrieb ein paar Zeilen in seinen Hefter und sah dann aus dem Fenster. Von hier aus hatte man einen tollen Blick über den ganzen Hof. Tovey konnte das Fenster ihres Zimmers sehen und die Kantine, wobei ihm einfiel, dass er die letzten Tage mächtig gut gegessen hatte. Jetzt war es ja egal. Aron war nicht mehr perfekt. Tovey lächelte und wenn jemand das gesehen hätte, wäre ihm sofort klar gewesen, dass Tovey irgendetwas Böses dachte. Vorsichtig strich er sich ein paar Haare aus den Augen und betrachtete weiter den Hof. Der Unterricht war ihm völlig egal.

Dann rollte das Taxi auf die Einfahrt zu. Tovey erhob sich unauffällig ein paar Zentimeter von seinem Stuhl um besser sehen zu können. Das Taxi hielt und jemand in Anzug und weißem Hemd, aber ohne Krawatte stieg aus.

„Holen Sie sich jetzt bitte Kittel!“

Tovey stand auf. Fuhr dann schnell herum und drängelte sich zu Brian durch, der schwerfällig aufgestanden war. Tovey ergriff seinen Arm und zog ihn mit sich mit.

„Was soll das?“ fragte Brian verwirrt und sah Tovey leicht verärgert an.

„Sag dem Kittelfreak, dass du gehen willst! Sonny ist wieder da!“
 

Sonny beobachtete wie das Taxi in der Ferne verschwand und streckte sich dann ausgiebig. Es war schon interessant hier zu stehen, frei von allen Unterrichtsphrasen und zu wissen, dass die anderen irgendwo hinter den Fenstern schufteten. Lässig schob er die Hände in die Taschen. Von wegen Rauchvergiftung. Alles bestens. Außer ein bisschen Dreck und zwei, drei Schrammen war für die Ärzte bei Sonny nichts zu holen gewesen. Wozu also die ganze Aufregung? Sollten sie sich lieber um Aron kümmern. Der Arme war völlig durch den Wind. In der Nacht hatte Sonny gehört, wie Aron aufgewacht war und nach den Ärzten geschrieen hatte. Warum wusste Sonny nicht genau. Er wusste nur, dass Aron sich weigerte in einen Spiegel zu sehen. Da konnte man sagen, was man wollte.

„Sonny!“

Verwirrt drehte der Schülersprecher sich zum Eingang der Schule um und sah Brian auf sich zu rennen. Hatte er nicht Unterricht? Sonny legte den Kopf schief. Er war nicht gefasst auf das, was als nächstes kommen würde. Brian bremste nicht kurz vor ihm ab, so wie sonst immer, nein, Brian rannte ihm direkt in die Arme. Sonny stolperte nach hinten, fing sich aber wieder.

„Brian, was hast du denn?“

Brian sagte nichts. Er heulte bloß. Sonny sah sich unsicher um und schob ihn dann in Richtung Internat. Was war denn mit dem los? Seit wann umarmte Brian Sonny? Und seit wann heulte er sich bei Sonny aus? Ihr kleiner süßer Krieg war doch Brians größter Spaß, neben dem Hobby anderen Jungs den Kopf zu verdrehen.

„Hey Brian, komm das passt nicht zu dir, was hast du?“

Sonny schob Brian leicht von sich und setzte ihn vor sich auf die nächste Treppenstufe, die hoch zu den Zimmern führte. Brian hatte sich wieder etwas gefangen, aber Sonny fand, dass er grauenhaft aussah. Seine Augen waren glasig vom Weinen. Schwarze Streifen zogen sich über seine Wangen, doch an den Augen, wo sie eigentlich hingehörten, war kaum noch etwas zu sehen. Seine blassrosa Lippen waren fast weiß, vielleicht sogar etwas bläulich und die Piercings traten silbern leuchtend hervor. Eins links an der Unterlippe, bestehend aus zwei silbernen Kügelchen, eins oben rechts. Diese Dinger wirkten sonst unheimlich sexy, hatte sich Sonny sagen lassen, aber im Moment waren sie irgendwie fehl am Platz. Das alles passte nicht zu Brian. Brian war cool und Brian war hyperaktiv wie ein hungriges Frettchen.

„Wie geht es Aron?“ fragte Brian leise. Sonny sah ihn mitleidig an. Das war es also. Fürsorglich zog er ein sauberes Taschentuch aus seinem Jackett und gab es Brian.

„Danke.“

Brian wischte sich über die Wangen. Er fühlte sich hässlich und hilflos, aber es war niemand hier als Sonny und der schien nicht vorzuhaben ihn auszulachen.

„Du hast keine Schwächen, mh?“ sagte Sonny und strich tröstend über Brians Rücken. Brian putzte sich geräuschvoll die Nase.

„Doch“, sagte er und klang als hätte er einen Schnupfen. „Ich habe eine verdammte Schwäche und die ist Aron. Und jetzt sag mir doch endlich wie es ihm geht.“

Sonny legte den Kopf schief. Wo sollte er anfangen?

„Sagen wir es so“, begann Sonny vorsichtig und beobachtete aufmerksam Brians Reaktion. „Es geht ihm schlechter, als es eigentlich müsste.“

„Warum?“ fragte Brian und sah wieder aus als würde er im nächsten Moment losheulen. Ohne es zu merken zog er die Ärmel seines schwarz weiß gestreiften Pullovers bis über die Hände, was auch gutwillig ging. Sieht irgendwie süß aus, dachte Sonny und konnte ein Grinsen nicht ganz unterdrücken.

„Er denkt, dass - nun ja - du ihn vielleicht nicht mehr magst.“

Brians Augen wurden riesengroß. Sonny fuhr fort: „Du weißt doch sicherlich, dass Arons Gesicht mächtig was abbekommen hat?“ Ein unsicheres Nicken. „Er glaubt er wäre entstellt, aber das stimmt nicht. Bloß Aron will niemandem glauben. Er hat zu mir gesagt, dass er es erst glauben wird, wenn du ihn ansiehst und ihm sagst, dass du ihn immer noch schön findest. Man kann machen was man will, er rastet aus, wenn man ihm einen Spiegel hinhält.“

Brians Hände hatten begonnen zu zittern.

„W - Wie … sieht er denn aus?“ stammelte er.

„Brian, jetzt erzähl mir nicht, dass du ihn wirklich nicht mehr wollen würdest, wenn er nicht mehr perfekt ist?“

Keine Antwort. Brian wusste es nicht … es kam eben ganz drauf an. Aron wusste schon genau, warum er Angst hatte. Er kannte Brian einfach zu gut.

„Ich … bin vielleicht ein wenig … zu optisch veranlagt“, sagte Brian langsam und sehr leise. Sonny wirkte empört, nein, sogar wütend.

„Das ist doch wohl nicht dein Ernst!“

Brian drehte den Kopf weg und starrte den Boden an.

„Zeig mir deine Freistellung!“

„Was?!“

Das konnte doch jetzt nicht Sonnys Ernst sein! Kaum war er wieder da … pha, hier ging es doch nicht um Freistellungen, hier ging es um Aron!

„Zeig sie mir!“

Brian stand auf und zog einen Zettel aus seiner Gesäßtasche.

„Da hast du deine scheiß Freistellung!“

Sonny nahm sie entgegen, las sie und unterschrieb sie mit wütender Mine.

„Oberflächliches Flittchen!“ sagte er als er Brian den Fetzten wiedergab und verschwand die Treppe hinauf.

Deprimiert ließ er Brians zurück, der ein paar Mal schlucken musste um das Gefühl zu besiegen, dass immer wieder in seinem Hals aufstieg. Seine Augen brannten. Er und Sonny waren einfach wie Feuer und Wasser, sie passten nicht zusammen. In keiner Hinsicht. Brian lief seinem Schülersprecher hinterher.

„Was spielst du dich eigentlich so auf!!“ Im Laufen stopfte er den Zettel zurück in die hintere Tasche seiner grauen Jeans. „Was geht dich das an du aufgeblasener …“ Brian fiel nichts ein, was er Sonny hinterher brüllen konnte. Irgendwie hatte er ja Recht. Brian hasste es nur ganz einfach ihm auch Recht zu geben. Keuchend erreichte Brian den oberen Treppenabsatz. Sonny war dort stehen geblieben.

„Was geht es dich denn an! Ist Aron dein Freund oder meiner?“

Sonny baute sich vor Brian auf und sah auf ihn hinunter.

„Wenn du es genau wissen willst: Meiner! Und untersteh dich ihn auch nur noch einmal anzufassen. Wenn du ihm gegenüber raushaust, dass er nicht mehr schön ist, dann stampfe ich dich persönlich ungespitzt in den Boden!“

Brian wurde weiß wie eine Wand.

Meiner?!
 

Am folgenden Wochenende wurde auch Aron wieder für ausreichend gesund erklärt und aus dem Krankenhaus entlassen. Seine Mütter holten ihn ab und brachten ihn selbst zur Schule zurück. Aron war niedergeschlagen und sehr still. Jetzt würde sicher das böse Erwachen kommen. Er kannte Brian. Das konnte nicht gut gehen. Seine Augen brannten, weil er die ganze Zeit seine Tränen unterdrückte. Mit seiner zitternden Rechten fuhr er über sein Gesicht. Da, dort und dort, fühlte es sich an, als hätte irgendetwas Zentimetertiefe Furchen hinterlassen. Er konnte sich nur nicht mehr erinnern was. Zwar behaupteten alle, dass es weniger schlimm sei, als erwartet, aber weniger schlimm war bei Brian immer noch unakzeptabel.

„Schatz?“

Aron wischte sich schnell über die Augen und sah hoch.

„Ja, Mama?“

„Wir sind bald da. Wie geht es dir?“

Aron zuckte mit den Schultern und betrachtete die Spiegelung des Gesichts seiner Mutter in der Frontscheibe. Das Gesicht hatte er von ihr geerbt. Sie sah noch etwas weiblicher aus. Immerhin hatte er doch noch ein paar wenige männliche Hormone.

„Ich wünschte du würdest endlich mal in einen Spiegel gucken, Schatz. Es ist wirklich nichts, wofür du dich schämen musst. Es ist alles so schön verheilt, wie man sich es nur wünschen kann.“

„Lauter Narben, toll“, murmelte Aron leise und starrte auf die Welt, die am Auto vorbei zu fließen schien.

„Kleiner“, seine Stiefmutter, hübsch und dunkelhaarig, drehte sich auf dem Beifahrersitz halb zu ihm um. „Du hast nicht lauter Narben im Gesicht. Du hast noch gar keine Narben und du hast gute Chancen, dass es auch so bleibt.“

„Ich versteh das nicht. Mit diesem Piercing, da hast du dich verstümmelt, aber jetzt würdest du dich am liebsten ins nächste Loch verkriechen.“

„Brian hat gesagt, dass es sexy ist“, sagte Aron und beim Gedanken an seinen besten Freund wurde ihm ganz ungut im Magen.

„Na, wenn Brian das sagt!“ Arons Mutter schien ein wenig die Geduld zu verlieren, während sie die Autobahn verließ. Es war nicht mehr weit. Wollte Aron wirklich zurück? Ja, er wollte. Zumindest zu Sonny wollte er. Als er im Krankenhaus wieder aufgewacht war, hatte Sonny an seinem Bett gesessen und seine Hand gehalten. Er hatte Aron getröstet, als er in die fixe Idee verfiel, völlig entstellt worden zu sein. Und letztendlich, kurz bevor Sonny wieder ins Internat geschickt wurde, hatte Aron die Gelegenheit beim Schopf gefasst und Sonny gefragt. Jetzt waren sie ein Paar. Irgendwie komisch. Aron hatte noch nie einen festen Freund gehabt. Da war nur immer Brian gewesen, der jeden mit einem Blick von Aron ferngehalten hatte.

Der silberne Honda Accord fuhr auf den großen Hof. Aron schauderte. Der Schulhof war voll mit Schülern, die die letzten Sonnenstrahlen genossen. Um die Bänke hatten sich die Raucher versammelt. Er hörte sie Lachen. Ihm war eher zum Heulen zumute. Einen Moment zögerte er noch, sah dann den fragenden Blick seiner Stiefmutter und stieg aus. Als er an den Kofferraum trat, um seine Tasche zu holen, die seine Mutter ihm ins Krankenhaus gebracht hatte, zitterten seine Hände leicht. Aron zwang sie zur Ruhe und hob die Tasche aus dem Kofferraum. Aus dem Augenwinkel bemerkte er wie sich jemand näherte. Aron sah hoch und Blickte in Toveys Gesicht. Auch das noch …

„Kann ich dir helfen?“ fragte Tovey und versuchte es mit einem Lächeln. Aron war es etwas zu kalt. Er schüttelte mit dem Kopf.

„Geht schon, es ist nicht viel.“

„Okay“, Toveys Blick wanderte unverblümt über Arons Gesicht.

„Alle haben sie nur von Blut und Tod geredet“, sagte Tovey langsam. „So schlimm siehst du gar nicht aus … Sonny wartet unten im AR 2 auf dich. Ihr habt ein neues Zimmer bekommen.“

Aron nickte und betrachtete seine kleine Tasche. Für das Wochenende würde sie noch reichen. Er musste seiner Mutter noch bescheid sagen, dass er neue Klamotten brauchte. Das hatte er fast vergessen.

„Danke, ich werde gleich hingehen.“

Tovey zuckte mit den Schultern und wandte sich auf dem Absatz um. Aron schauderte. Ein komischer Typ.
 

Einige Minuten später betrat Aron den AR 2. Er sah sich vorsichtig um. Zu seiner Erleichterung saß Sonny allein auf der altersschwachen Couch und hockte über einigen Stapeln Unterrichtsmaterial.

„Hallo“, sagte Aron unsicher. Sonny blickte auf und ein warmes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus.

„Hallo, da bist du ja. Wie geht es dir?“

„Muss ja …“ Aron setzte sich zu Sonny auf die Couch. „Wo müssen wir jetzt hausen? Auf dem Dachboden?“

„Ja“, Sonny grinste. „Die anderen hat Herr Blecket auf andere Zimmer verteilt. Wir hingegen, haben ein neu eingerichtetes Kabuff bekommen. Allerdings ist es wirklich der Dachboden. Die Treppe ist ziemlich steil, aber sobald die Falltür zu ist, ist es ganz kuschelig.“

Aron nickte erleichtert. Das hätte ihm noch gefehlt, jetzt mit irgendwelchen fremden Jungs in einem Zimmer leben zu müssen.

„Was ist los? Du wirkst total niedergeschlagen.“ Sonny legte einen Arm um Arons Schultern. Aron kamen wieder die Tränen.

„Ich hab immer noch solche Angst“, sagte er leise, die erste Träne tropfte auf seine Hose. „Du kennst doch Brian. Hat er dir schon gesagt, dass er mich nicht sehen will?“

Sonny schüttelte sachte mit dem Kopf.

„Er hat schon viel Mist erzählt. Aber er hat sich auch dafür entschuldigt. Er war ziemlich geschockt, als ich ihm erzählt hab, dass wir zusammen sind. Brian möchte dich so bald wie möglich sehen. Tovey meint, Brian wäre die erste Zeit völlig unerträglich gewesen. Vor allem nachdem Blecket ihm verboten hat dich zu besuchen. Aber es geht schon wieder. Ich denke nicht, dass er dich wirklich nicht mehr mögen wird. Das ist doch Unsinn, oder?“

„Vielleicht“, murmelte Aron und wischte sich wieder über die Augen.

„Lass uns erst hoch gehen, dann sehen wir weiter, ja?“

Sonny nahm Arons Tasche und warf sie sich über die Schulter. Händchenhaltend gingen sie bis zum obersten Stockwerk. Von der Decke hing etwas, was aussah wie ein dicker Faden. Aron zog die Augenbrauen hoch.

„Hast du Höhenangst?“ fragte Sonny.

Aron sah ihn von der Seite an und schüttelte mit dem Kopf.

„Eigentlich nicht.“

„Du Glücklicher“, Sonny grinste schief und deutete auf die geschlossene Falltür. „Wenn du an dem Seil ziehst, bekommst du die Leiter auf den Kopf. Außer du springst rechtzeitig einen Meter zurück. Ich hab es die letzten Tage geübt. Es war sehr schmerzhaft. Na ja … und ich bitte dich das Ding immer zuzumachen, sonst fall ich da irgendwann durch.“

„Was?“ fragte Aron überrascht und musste sich das unwillkürlich vorstellen.

„Na ja, entweder ich sehe das und stolpere vor lauter Höhenangst, oder ich sehe es nicht und falle dann durch. Nicht lachen!“

Aron kniff die Lippen zusammen.

„Okay, ich werde es versuchen.“

Sonny trat vor, machte eine Geste, die Aron bedeuten sollte, dass er Abstand halten müsse, stellte die Tasche beiseite und hob die Hand um an dem Seil zu ziehen. Einen Moment zögerte er noch. Aron beobachtete ihn gespannt, während er noch einen Schritt rückwärts machte. Sonny zog an dem Seil und sprang ruckartig zurück. Die Falltür fiel auf und eine Leiter klappte sich aus. Sie landete genau dort auf dem Boden, wo Sonny eben noch gestanden hatte.

„Süß“, meinte Aron. „Hast du schön geübt.“

Sonny warf ihm einen gespielt bösen Blick zu, grinste dann aber.

„Du darfst als Erster gehen.“

Aron nahm seine Tasche vom Boden auf, bevor er sich mit einer Hand an den Aufstieg machte. Sonny gab ein zischendes Geräusch von sich. Verwirrt drehte Aron den Kopf und sah wie Sonny sich die Augen zuhielt.

„Alles okay bei dir?“ fragte er.

„Klar, aber komm bitte heil da oben an. Ich kann gar nicht hingucken.“

Aron kicherte. Oben angekommen stellte er erst seine Tasche ab und sah sich um. Es war ganz nett hier oben, nur das Tageslicht fehlte irgendwie.

„Nur Konservenlicht?“ fragte er enttäuscht, als auch Sonny sich die Leiter hochgearbeitet hatte. Dieser nickte und kniete sich mit blassem Gesicht neben das Loch im Boden und faltete umständlich die Leiter wieder zusammen.

„Wie wäre es, wenn du ein Brett darüber legst?“ fragte Aron. Sonny wollte etwas erwidern, aber in diesem Moment schnellte die Falltür wieder auf und er sprang zur Seite, wobei er vor Arons Füßen landete.

„Heilige Scheiße!“ murmelte er, während von unten ein lautes: „Holla!“ zu hören war. Sonny stand auf und strich seine Hose glatt. Ihm lag irgendetwas auf der Zunge. Aron erfuhr später, dass er hatte sagen wollen: „Welcher Vollidiot ist das!?“ aber zu seinem Glück kam er nicht dazu. Der Kopf des Schulleiters tauchte in der Öffnung auf.

„Schönen guten Tag, die Herren.“

Aron bemerkte, wie Sonny neben ihm dastand wie ein Zinnsoldat.

„Guten Tag, Herr Blecket“, sagte er. Aron murmelte nur ein verstörtes Hallo.

Touching you makes me feel alive

Kapitel 9

Touching you makes me feel alive

Touching you makes me die inside
 

„Ist es erträglich hier oben?“ der Schulleiter sah sich um. Aron sah ihn an und versuchte sich daran zu erinnern, an was ihn Blecket erinnerte. Er hatte schon im Krankenhaus daran gedacht, als der „Diktator“, wie man ihn ja liebevoll nannte, ihn besucht und kurz nach seinem Wohlbefinden gefragt hatte. Ziemlich kurz. Woran erinnerte Blecket ihn? Es wollte Aron nicht einfallen. Er sah sich noch einmal um und betrachtete die Lampe, die helles, warmes Licht verströmte. Nicht dieses sterile Leuchten wie im Krankenhaus. Aron war dankbar dafür. Sein Blick blieb an etwas hinter der Lampe hängen, doch das Licht blendete zu doll, als dass er es hätte wirklich erkennen können.

„Wie geht es Ihnen, Aron?“

Aron blinzelte und sah seinen Schulleiter an.

„Ganz .. passabel“, sagte er vorsichtig und warf Sonny dabei einen Blick zu. Da fiel es ihm wie Schuppen von den Augen.

Sonny trug ein weißes Hemd, wie fast immer, er musste 2 Kilo davon haben. Es war nicht bis zum obersten Rand zugeknöpft. Erst fünf gute Zentimeter unter dem Hals hatte er angefangen zu knöpfen. Arons Blick huschte rüber zu Blecket. Genau dasselbe. Fünf Zentimeter. Beide trugen ein Jackett, elegant in schwarz. Dazu die farblich passende Hose. Die beiden sahen aus wie Zwillinge. Aron verschränkte die Arme, als wäre ihm kalt.

„Es heizt sich schlecht hier oben, oder?“ fragte er vorsichtig.

Der Schulleiter sah sich um.

„Wenn Sie wollen, können wir die Heizung etwas höher drehen. Das dürfte kein Problem sein.“

Aron betrachtete erst Blecket, dann wieder Sonny. Der Schulleiter war noch relativ jung. Vielleicht fünfunddreißig. Höchstens. Und er gab sich betont lässig. Aron bemerkte wie Sonny neben ihm unruhig wurde. Er wandte sich um und sah seinen Freund an, der den Schulleiter verbissen betrachtete und etwas an seinem Hemd zurechtrückte. Was ging denn hier ab?

„Gut, gut. Sonny, Sie kommen hier oben zurecht?“

Sonny ließ sofort von seinen Klamotten ab.

„Natürlich. Alles kein Problem!“

„Schön“, Blecket betrachtete die Falltür. „Also ich würde so ein Loch im Boden unangenehm finden. Falls es irgendwelche Probleme gibt, sagen Sie mir bescheid. Vielleicht kann man dann umstrukturieren.“ Sein Blick glitt kurz über die Decke und er lächelte väterlich. „Schönen Tag noch.“

Damit verschwand er wieder nach unten. Aron starrte auf die Falltür, wartete bis er Bleckets Schritte nicht mehr hören konnte und fasste Sonny dann scharf ins Auge.

„Was zum Henker war das denn?“ fragte er, und fand selbst, dass er etwas zickig klang dabei. Sonny sah ihn unschuldig an.

„Was genau meinst du?“

„Du hast …“ er gestikulierte, nach Worten suchend, hektisch in Richtung Falltür. „Du hast diesen Spinner angehimmelt!“

Sonny seufzte reumütig.

„Sag was du willst, aber er ist unglaublich geil.“

Aron schauderte.

Herzlichen Glückwunsch, dachte er, das ist also der Mann der dich glücklicher machen soll als Brian. Halleluja.
 

Tovey wartete. Die Tür fiel ins Schloss. Billy ging Duschen. Er würde sicher frühestens in einer halben Stunde wieder auftauchen. Brian war auf dem Weg zu Aron und Sonny. Auch das nahm sicher einige Zeit in Anspruch. Als er Brians Stimme, nicht mehr hören konnte, die fröhlich durch den Gang gehallt hatte, warf er seinen Stift beiseite. Scheiß auf Mathe, scheiß auf Kurvendiskussionen und all den Mist. Hastig griff er nach dem Telefon, das auf einem der niedrigen Kleiderschränkte stand. Tovey zögerte noch eine Sekunde bevor er wählte. Das Freizeichen ertönte.

„Bitte geh ran“, murmelte er. Nach dem dritten Klingeln nahm jemand ab.

„Ja, Way“, sagte eine weibliche Stimme.

„Sisi?“

„Toto? Bist du das? Was ist denn los?“

„Ich bin’s, ja“, sagte Tovey und ließ sich auf dem Boden nieder. „Hast du grad Zeit? Ich muss mit irgendwem reden …“

„Na klar, für dich hab ich immer Zeit, Brüderchen. Was ist denn? Du klingst traurig.“

Tovey schloss die Augen. Er fühlte sich miserabel. Der Brand war kurze Zeit eine Erlösung für ihn gewesen, doch Aron war scheinbar gar nichts passiert. Warum hatten solche Menschen immer Glück? Er blinzelte. Eine Träne rollte über seine Wange. Aron war immer noch perfekt. Brian würde ihn weiterhin ficken, wann immer er wollte und weiterhin würde Tovey nur dastehen und stumm beten, dass Aron doch endlich wieder dahin verschwand wo er herkam.

„Bist du noch dran, Toto?“

„Ja …“, Toveys Stimme klang belegt. „Ja, ich bin dran. Ich stör dich wirklich nicht?“

Tovey wusste, dass er Cindy sicherlich nicht auf die Nerven ging. Er und seine Zwillingsschwester waren immer füreinander da gewesen. Egal um was es ging.

„Nein, das weißt du auch. Erzähl schon.“

„Ich hab dir das doch neulich mit diesem Typen erzählt. Diesem Aron, weißt du noch?“

„Klar … der, der dir Brian wegnimmt.“

„Genau der … So der ist heute aus dem - aus dem Krankenhaus wiedergekommen. Und weißt du was ist? Nichts! Nichts verdammt! Der sieht immer noch aus wie vorher. Von wegen Blut und Tod. Gar nichts! Ich bin total verzweifelt. Was soll ich noch machen?“

„So ein Mist!“ murmelte Cindy nachdenklich. „Ich denke er hat geblutet, wie ein Schwein.“

„Hat er auch!“ sagte Tovey und versuchte nicht hemmungslos in den Hörer zu schluchzen. „Ich hab es gesehen! Ich halt das nicht mehr aus. Erst sag Brian er liebt mich, dann nimmt er alles zurück. Ich weiß nicht mehr was ich tun soll.“

Am anderen Ende herrschte kurzes Schweigen.

„Ich denke“, fing Cindy nach einer kurzen Pause an, „du musst jetzt wirklich mit Brian reden.“

„Das bringt doch nichts. Außerdem schaffe ich das nicht. Ich heule nur wieder die ganze Zeit. So wie jetzt. Ich kann gar nicht mehr anders, Sisi.“

„Du musst es versuchen. Wirklich! Toto, du hast doch nichts zu verlieren. Versuch es. Rede mit Brian. Sag ihm was du fühlst und zeig ihm ruhig, dass du wütend bist. Sag ihm meinetwegen, dass er ein Arschloch ist. Es wird dir besser gehen, wenn alles raus ist. Glaub es mir. Wirst du das machen?“

Tovey kniff die Lippen zusammen. Sicherlich hatte Cindy Recht, aber würde er das schaffen?

Du hast nichts zu verlieren.

Nein, das hatte er wirklich nicht.

„Ich denke, ja.“
 

„Hallo, jemand da?“

Aron schlug unvermittelt die Hände vors Gesicht, als Brians Stimme zu ihnen nach oben klang. Blecket war keine zwei Minuten weg. Hier schienen sich die Leute die Klinke in die Hand zu geben.

„Ja, wir sind da“, sagte Sonny vorsichtig und betrachtete die Leiter, oder Treppe, oder Treppenleiter, das war egal. Steil bleibt steil und steil war nicht gut, nein, nein. Er führte Aron zu seinem Bett und setzte ihn darauf wie ein Kuscheltier. Brian guckte durch das Loch im Boden. Sonny sah ihn an und nickte mit dem Kopf. Vorsichtig hievte Brian sich aus dem Loch, ohne dabei wirklich hinzugucken was er tat. Sonny wurde übel bei dem Anblick. Aber ihm sollte noch schlechter werden.

Ohne Umwege setzte sich Brian neben Aron auf das Bett. Wirkt wie geübt, dachte Sonny und beobachtete ihn dabei.

„Hey, Aron. Wie geht es dir?“

„Geht so“, die Stimme unter den Händen klang merkwürdig hohl. Aron begann die Frage zu hassen, nachdem er sie nun x-mal gehört hatte. Brian holte einmal tief Luft, hob die Arme, zögerte dann aber und warf einen Blick auf Sonny, der ihn verwundert betrachtete. Was kam jetzt? Brian sah aus, wie ein Dirigent, der zu Beethovens Schicksalssinfonie ansetzte. Fast hätte Sonny gegrinst, aber er verkniff es sich im letzten Moment. Noch eine Sekunde verging und dann griff Brian nach Arons Armen und zog sie einfach von seinem Gesicht weg. Aron stieß einen erschreckten Laut aus und versuchte sich wegzudrehen. Sonny betrachtete das in schweigendem Staunen. Brian sah zierlich aus, aber dieser kleine Teufel hatte Kraft, die Sonny ihm nie zugetraut hätte. Oder wehrte Aron sich nicht wirklich - vielleicht nur halbherzig -? Wie auch immer es sein mochte, Brian ließ sich nicht beirren. In einer schnellen Bewegung ließ er von Arons Armen ab, bekam seinen Nacken zu fassen und küsste ihn. Sonnys Kinnlade klappte nach unten.

Du kleiner, dreckiger, frecher …

Im nächsten Moment herrschte tiefes, erstickendes Schweigen. Dann sah man ein paar Tränen über Arons Gesicht laufen. Aber man hörte ihn nicht weinen. Sonny schauderte. Brian sah Aron an, mitten in das schneeweiße Gesicht. Dann lächelte er und Arons Gesichtsausdruck war irgendetwas zwischen Angst und Euphorie. So etwas hatte Sonny noch nie gesehen.

„Du bist immer noch wunderschön.“

„Kokain?“ sagte Aron und Sonny verstand langsam gar nichts mehr.

„Nein, kein bisschen, nichts.“

Aron seufzte und selbst Brian und Sonny spürten, wie eine tonneschwere Last von ihm abfiel. Brian lächelte und sogar Sonny fand ihn in diesem Moment irgendwie süß. Der Teufel lauert hinter den eigenartigsten Fassaden. Das wurde dem Schülersprecher mit dem nächsten Satz klar, der gesprochen wurde:

„Kannst du kurz mitkommen? Ich möchte mit dir reden.“

Aron nickte, wischte sich über das nasse Gesicht und stand auf. Sonny schauderte wieder und klappte schnell seinen Mund zu. Brian und Aron hielten Händchen, als wäre nichts passiert.

Das war nicht der Plan!

Aber was war denn dann der Plan? Das er stirbt?

Nein, Idiot! Natürlich nicht!

Was war also dein Plan?

Sonny schüttelte seine Gedanken ab. Dieses Gespräch mit seinem Gewissen hallte so laut durch seinen Kopf, dass er fast glaubte selbst Brian und Aron könnten es noch hören.

Ich wollte Brians Arroganz ausnutzen.

Hat er sich jemals reinlegen lassen? Denk doch mal nach! ER ist es der DICH immer wieder reinlegt, Dummerchen!

Nicht mehr lange!

Jetzt war aber Schluss. Die Stimmen wurden Sonny zu laut. Sie mussten verschwinden, sonst würde er noch wahnsinnig werden. Sonny hatte immer alles im Griff und er würde auch alles im Griff behalten, solange man ihn nicht gefesselt und geknebelt in einen dunklen Keller sperrte …
 

Tovey stand vorm Spiegel und betrachtete sich eingehend. Seine Augen waren noch etwas rot und auf seinen Wangen lag ein unübersehbar aufgeregter Schimmer natürlichen Rouges. Doch alles in allem war es okay. So konnte er sich unter Leute trauen. Immerhin wusste so wie so jeder, außer Brian vielleicht, wie sehr er litt. Vielleicht wusste sogar Brian, dass Tovey nicht besonders glücklich war in seiner Situation. Ja, ganz ignorant war Brian bestimmt nicht. Es war ja schließlich Tovey gewesen, der noch vor einiger Zeit Brians Bester-Freund-Ersatz gewesen war. Wohlgemerkt Ersatz, aber dafür hatte Brian ihn eigentlich gut behandelt. Brian war nicht unbedingt das Problem. Aron war es. Aber Tovey erschloss sich keine Möglichkeit Aron loszuwerden. Er kannte das Gerücht, dass Aron es jetzt mit Sonny trieb (wie kann man nur!) und das erheiterte ihn ein wenig. Nur leider merkte er, als Brians Zimmergenosse, nur allzu gut, dass Brian seit dem schlechter auf Sonny zu sprechen war denn je. Witzig, witzig, was es nicht alles für lustige Verkettungen gab. Tovey lächelte ein wenig. Der Spiegel lächelte zurück.

So ist es gut Baby-Doll.

Jetzt war er für den Kampf gerüstet. Noch ein letztes Mal holte er tief Luft und verließ dann das Zimmer. Wo er Brian finden würde, wusste er ganz genau.
 

„Ach Gott, wie süß.“

Ronald Blecket saß in seinem Büro, die Füße auf dem edlen Schreibtisch, eine Zigarette zwischen den Fingern und betrachtete gespannt den Bildschirm seines Computers. Die Kamera übertrug blendend. Er war zufrieden mit seinem netten Elektriker. Ein sehr netter Elektriker, wirklich sehr nett. Er entblößte die Zähne zu einem blitzenden Lächeln. Ein Lächeln, das Sonny verehrte. Es war wirklich zu interessant. Noch hatte er nicht vollständig ergründet, wer da mit wem und wieso und überhaupt, aber wo blieb denn da der Spaß, wenn man alles schon wusste? Reality-Shows waren dazu da, dass man immer wieder etwas Neues erlebte. Blecket lachte dreckig. Jetzt machten sich die beiden Püppchen auch noch einfach davon! Und wie schön dämlich dieser kleine, dumme Streber guckte. Zu herrlich. Sonny war schon irgendwie niedlich. So niedlich doof. Er machte seinen Job gut und er betete Blecket an, was verlangte man mehr? Ronald Blecket mochte es angebetet zu werden. Das gab seinem Ego immer das Sahnehäubchen. War es nicht wunderbar Macht zu haben, Macht auszuspielen? War es nicht befriedigend diese ganzen hübschen Püppchen vor sich auf dem Boden kriechen zu sehen, wenn sie irgendetwas wollten?

Er nahm einen Zug von seiner Zigarette und Strich etwas lose Asche in seinen goldenen Aschenbecher. Nun ja, vergoldet traf es wohl eher.
 

„Was wolltest du mir denn sagen?“

Aron beobachtete wie sich Brian einfach auf dem Boden niederließ und tat es ihm gleich. Sie hatten den Gang einmal längst durchlaufen und waren jetzt an dessen anderem Ende angekommen. Aron sah sich um. Hier schien es keine Zimmer zu geben. Aber was hinter den Türen verborgen war, konnte er sich nicht vorstellen. Er kam auch nicht dazu zu fragen.

Brian legte den Kopf an Arons Schulter und zog die Beine an. Mit den Armen umschlang er seine Knie.

„Ich habe wirklich gedacht du stirbst.“

Aron starrte den Boden an. Er hatte nicht mal selbst wirklich geglaubt zu sterben. Es kam ihm so unglaublich vor. Wie konnte er einfach sterben? Unmöglich.

„Ich bin ja hier“, sagte er schließlich und sah nun zu Brian hinüber. „Und ich fühle mich ziemlich lebendig.“

Brian hob den Kopf und lächelte ihn an.

„Ich hätte es nicht überstanden, wenn nicht. Ich glaube … ich glaube ich wäre dir auf direktem Weg gefolgt.“

Aron starrte seinen Freund ungläubig an.

„Wirklich?“

„Ja …“

Vor Arons Augen ertrank der Flur. Er blinzelte und wischte die salzigen Tränen von den Wangen.

„Du bist verrückt, Brian.“

„Ich weiß.“

Es herrschte einen Moment schweigen. Dann fragte Brian:

„Liebst du Sonny?“

„Vielleicht“, sagte Aron vage. Er wollte jetzt nicht über so was nachdenken. Brians Worte hatten einen wilden Strudel in Arons Gedanken ausgelöst. Ich wäre dir auf direktem Weg gefolgt. Sie waren einfach zu sehr ineinander vernarrt.

„Liebst du mich?“

„Ja …“ Langsam drangen die Worte zu Aron durch. Er hatte es einfach so gesagt, ohne überhaupt wahrzunehmen, was Brian ihn gefragt hatte. Schuldbewusst schlug er die Hand vor den Mund.

„Du bist aber mit Sonny zusammen?“ fragte Brian und tastete nach Arons Hand, fand sie und hielt sie mit seinen beiden Händen fest.

„Bin ich“, sagte Aron leise. „Du hast gesagt, dass du nicht liebst.“

„Ja, das habe ich“, gab Brian zu. „Aber ich teile auch nicht.“

„Du bist egoistisch“, sagte Aron, als würde er übers Wetter reden. Diese Tatsache war so sicher, wie auf den Tag die Nacht folgte.

„Richtig“, sagte Brian. „Ich bin verdammt egoistisch, ich hasse es zu teilen und lieben tue ich so wie so niemanden, außer mich selbst, vielleicht. Aber das reicht noch nicht. Ich sehe es nicht ein, dich laufen zu lassen, denn ich teile dich nicht mit Sonny …“

„Brian, ich bin nicht dein Eigentum“, sagte Aron mit einem Hauch von Wut und schloss die Augen. Der Flur verschwand, nur Brians Hände, die seine umklammert hielten waren noch da, waren noch real.

„Ich liebe dich“, sagte Brian leise.

„Tust du nicht!“ schrie Aron und riss seine Hand aus Brians Griff. „Das tust du nicht! Das ist nur eine von deinen Launen, die bald wieder zu Ende ist. Du bist jetzt froh, dass mein Gesicht nicht zerfetzt ist, denn du denkst, etwas wie mich bekommst du nie wieder in dein Bett! Und da hast du Recht! Mich bekommst du nicht wieder ins Bett, weil ich jetzt vergeben bin. Egal was auch immer dein verdammtes Ego dir sagt!“

Aron war aufgestanden. Brian saß noch immer auf dem Boden, nun das Gesicht in die Hände gelegt. Sein schwarzes Haar bildete einen undurchsichtigen Schleier.

„Ich gehe jetzt“, sagte Aron, während wieder die Tränen flossen. Wie lange hatte er darum gebetet diesen Satz einmal zu hören?

Ich liebe dich …

„Ich gehe jetzt. Und Brian … sag das nie wieder, bitte, sag es einfach nicht. Nicht zu mir. Geh zu Tovey und entschuldige dich bei ihm. Vielleicht kannst du da noch etwas in Ordnung bringen. Mich hast du schon kaputt gespielt. Manchmal wünschte ich, ich würde dich nicht so verdammt … so verdammt … vergöttern. Nur zehn Minuten, das weißt du, nur zehn und ich werde nicht mehr böse auf dich sein.“

Aron drehte sich um und wollte den Gang zurück rennen.

„Aron!“

Er konnte einfach nicht anders. Als käme dieser Ruf von Gott dem Allmächtigen, blieb er stehen und wartete.

„Glaubst du, dass Tovey das getan hat?“

Aron starrte den Gang entlang und erblickte Tovey. So viele Tränen und so viele schlaflose Nächte für Brian. Für einen egoistischen Jungen.

„Nein“, sagte er schließlich und ging. Als er die Stelle passierte, an der Tovey stand senkte er den Blick auf den Boden. Hatten sie nicht beide ein und dasselbe Problem? Zumindest fast

Looking at my own reflection

Kapitel 10

Looking at my own reflection

When suddenly it changes

Violently changes
 

Es dauerte nicht lang und Tovey füllte den leeren Platz neben Brian. War es nicht lächerlich? Brian spürte Toveys Hand auf seiner Schulter.

„Möchtest du noch etwas hinzufügen?“ fragte er, ohne das Gesicht zu heben. Dazu hatte er nicht mehr die Kraft und den Mut.

„Ich weiß nicht“, sagte Tovey langsam. Brian spürte, dass seine Hand zitterte und ihm drängte sich ein Bild auf. Tovey, wie er weinend in seine Arme fiel.

Es war der Rausch, nur der Rausch. Ob er nun von deinen Drogen stammt, oder einfach von deinem überquellenden Ego, das ist egal. Der Rausch lässt dich solche Dinge sagen. Wäre es nicht ratsamer, wenn sie dich hassten?

„Brian … sieh mich an.“

Brian gehorchte, ausnahmsweise, denn er fühlte sich zum ersten Mal in seinem Leben schuldig. Tovey sah ihn an. Die Sekunden verstrichen.

„Du siehst scheiße aus“, sagte Tovey und holte mit der rechten Hand aus um Brian eine Ohrfeige zu verpassen. In dem schweigenden Gang hallte das Geräusch unangenehm.

„Danke“, sagte Brian tonlos und berührte seine brennende Wange.

Tovey nahm Brians Arm, zog ihn vom Boden hoch und zog ihn mit sich.

„Was hast du vor?“ fragte Brian, als Tovey ihn mit sich in eines der Gemeinschaftsbäder nahm.

„Ich will nicht, dass du dich gleich vom Dach stürzt, nur weil ich so was sage und tue“, antwortete Tovey. Er konnte Brian nicht böse sein, vielleicht nicht mal zehn Minuten lang. Dazu war er viel zu verliebt. Vor den Waschbecken mit den darüber angebrachten Spiegeln blieben sie stehen. Brian stellte erschrocken fest, das er wirklich scheiße aussah. Das Schwarz seines Make-ups, war überall - auf den Wangen, auf der Nase, am Kinn - nur nicht dort, wo es hingehörte. Tovey nahm einen sauberen Waschlappen von dem Stapel, der neben den Waschbecken thronte und hielt ihn unter einen Strahl eiskaltes Wasser. Wie eine besonders fürsorgliche Mutter, wrang er den Lappen aus und befahl Brian dann still zu halten, während er ihm die Farbe von Gesicht wusch.

„Toto?“

„Halt die Klappe … Halt einmal in deinem Leben einfach nur die Klappe.“
 

Brian betrachtete kurz die Tafel, dann den „Kittelfreak“ (wie Tovey ihn bezeichnet hatte) und ließ seinen Blick hoch zu der großen, ausrollbaren Karte huschen, auf der das Periodensystem der Elemente aufgedruckt war. Doch die Elemente interessierten ihn eigentlich gar nicht. Genauso wenig wie der Kittelfreak oder die Tafel. Er sah hinunter auf seinen Hefter und warf dann Elya neben sich einen verstohlenen Blick zu. Elyas dunkle Haare, von blondierten Strähnchen durchzogen, verdeckten sein Gesicht fast vollständig. Brian fällte seine Entscheidung und riss einen Fetzen von seinem Blatt ab. Elya schien das nicht zu stören. Er sah wieder nach vorn an die Tafel und zeichnete das Schema des Lehrers weiter ab.

Kleiner Streber, dachte Brian und musste dabei grinsen. Ihm ging Chemie mindestens drei Meilen am A*** vorbei.

Brian packte den Fetzen und schrieb in seiner kleinen, aber sauberen Schrift ein Wort darauf: Ficken?

Diesen Zettel schob er unter seiner flachen Hand hinüber zu Elya, der verwirrt auf ihn aufmerksam wurde. Elya starrte Brian einen Augenblick an, bevor er merkte, was unter Brians Hand war. Er griff unauffällig nach dem Zettel, und platzierte ihn so auf seiner Hefterseite, dass er von weitem kaum zu sehen war. Brian beobachtete ihn gespannt. Elya warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu. Der Zettel ging zurück an Absender, mit der Frage: „Hast du keine anderen Hobbies?“

Brians Antwort fiel wieder recht einsilbig aus: „Nein.“

Elya: „Nach dem Abendessen, okay?“

Brian: „Wo?“

Elya: „Mir egal, das ist dein Job!“

Brian: „AR 11, alles wie immer.“

Ein letztes Mal betrachtete Elya skeptisch den Zettel. Das war das erste Mal, das Brian ihn nach Sex fragte, nachdem Aron Wayne aufgetaucht war. Ob es zwischen den beiden nicht mehr so gut lief? Eigentlich ging es Elya nichts an und deshalb fragte er auch nicht danach. Er nickte Brian zu und damit war die Sache abgemacht. Brian war zufrieden. Betont cool lehnte er sich in seinem Stuhl zurück. Noch 5 Minuten, dann wäre zumindest schon mal Chemie vorbei. Sein Blick fiel auf Tovey. Brian lächelte und erntete von Tovey, der gerade hochsah ein schüchternes, fragendes Grinsen.

Oh man, Süßer, wie hältst du es nur mit mir aus?

Brian seufzte leise, legte die Arme vor sich auf den Tisch und bettete seinen Kopf darauf. Er war müde … müde von all diesem Scheiß.
 

„Brian?“

Ohne zu reagieren nahm Brian einen tiefen Zug von seiner selbst gedrehten Zigarette. Im Grunde war es nicht seine Art zu Rauchen, jedenfalls nicht oft und das bedeutete auch, dass er eigentlich seine Zigaretten nicht selbst drehte. Das schien auch Sonny aufgefallen zu sein.

„Haaa-lloho!“

Brian sah unbekümmert auf, zog wieder an der Zigarette und stieß dann den Rauch aus.

„Was gibt es, oh mein Herrscher?“ fragte er und bemühte sich Sonny nicht ins Gesicht zu spucken. Lust dazu hatte er auf jeden Fall.

„Was rauchst du da?“

Brian antwortete nicht. Sein Blick fiel auf Sonnys Hand in der der Schülersprecher Arons hielt.

„Tabak, was sonst, du Depp?“ murmelte er nach ein paar Sekunden. Noch ein paar Züge und diese angebliche Zigarette war so wie so nur noch Rauch. Er starrte den Kies unter seinen Füßen an. Die Farben leuchteten zu sehr, aber das gefiel ihm. Irgendwie hatte er das Gefühl Sonny mit einem Hieb über seine Schulter schmeißen zu können. Ein angenehmer Gedanke übrigens, vielleicht sollte er es mal versuchen. Im Judo Unterricht hatte er zumindest irgendwann mal gelernt, wie man so was anstellte. Sonny schnaubte ungläubig, ließ aber von Brian ab. Dieser vermutete, dass er das einem von Arons „Bitte, Bitte“ - Blicken zu verdanken hatte.

Eine Hand schoss vor. Brian zuckte heftig zusammen, bevor er merkte, dass es Toveys Finger waren, die ihm die Zigarette aus dem Mundwinkel stahl und selbst einen tiefen Zug nahm. Tovey ließ sich neben Brian auf die Bank plumpsen und betrachtete Sonny und Aron feindselig.

„Toto, gib das Ding zurück!“ sagte Brian, wunderte sich aber selbst, wie wenig wütend er klang. Tovey zuckte mit den Schultern, nahm noch einen Zug und gab Brian das selbst gedrehte „Ding“ zurück. Brian betrachtete es missmutig. Noch ein Zug, dann war nichts mehr übrig.

„Du kleine Arschgeige“, sagte er und betrachtete Tovey von der Seite. Tovey erwiderte den Blick.

„Kommst du mal mit?“

„Warum?“ fragte Brian warf den heruntergebrannten Glimmstengel auf den Boden und zertrat ihn genüsslich mit der Spitze seines Schuhs.

„Brian! Neben dir steht ein Mülleimer!“ mischte sich Sonny sofort ein. Brian sah zu ihm hoch.

„Fein, dann leck die Kippe vom Boden und spuck sie da rein, wenn du dich nicht beherrschen kannst. Wichser!“

Er stand auf, warf Tovey einen viel sagenden Blick zu und ging. Tovey folgte ihm, aber nicht ohne Sonny einen Vogel zu zeigen. Mit ein paar schnellen Schritten war Tovey auf Brians Höhe.

„Ich hab den Zettel“, sagte er. Brian blieb stehen. Sie waren jetzt weit genug von Aron und seinem Lackaffen-Schülersprecher-Stecher weg. Die Kotzgefahr war vorüber.

„Welchen Zettel, Toto?“

„Den, auf dem du dich mit Elya verabredet hast.“

„Soso“, Brian zog die Augenbrauen hoch, strich ein paar Strähnen seines schwarzen Haares hinter sein linkes Ohr und betrachtete seinen Freund dann fragend.

„Ich hab Elya gesagt er soll nicht kommen.“

„Bitte was?!“ fragte Brian wütend und machte einen Schritt auf Tovey zu. „Tickst du noch? Hör mal zu, wenn ich …“

„Hör mir doch bitte zu!“

Brian schwieg, verschränkte die Arme und wartete.

„Hörst du mir zu?“ fragte Tovey unsicher.

„Ja, sonst wäre ich nicht mehr hier!“

Tovey nickte. Er sah sich prüfend um und versuchte dann Brians säuerlichem Blick standzuhalten.

„Machs mit mir!“

„Was?!“ Brians wütender Gesichtsausdruck wich purer Verwunderung. Die Verschränkung seiner Arme löste sich abrupt und seine Hände baumelten an seinen Seiten wie abgeknickte Äste.

„Du sollst es mit mir machen, nicht mit Elya! Bitte.“

„Toto“, Brian hob jetzt beschwichtigend die Hände und legte sie auf Toveys Schultern. „Das ist doch totaler Unsinn“, Tovey kamen die Tränen. Mit einer Absage hatte er gerechnet, aber Brians liebevolle Stimme dazu, das hatte er nicht erwartet. „Toto, wir sind Freunde und Elya ist nur irgend so ein Typ, der vielleicht ganz gut im Bett ist, aber mit dem ich sonst echt nix zu tun hab. Es wäre nicht dasselbe. Wir, also Elya und ich, kennen uns kaum und darin liegt der Spaß. Falls was schief geht ist es dem anderen absolut egal. Aber wenn wir es tun würden, das würde vielleicht unsere Freundschaft kaputt machen …“

„Deine Freundschaft zu Aron hat das nie kaputt gemacht!“ sagte Tovey. Er hasste sich dafür, dass seine Stimme so kläglich zitterte.

„Ja, aber Tovey, das ist …“

„Sag jetzt nicht, dass das was anderes ist! Es ist nichts anderes. Der Sex hat eure Freundschaft nicht kaputt gemacht. Eher im Gegenteil.“

„Was erhoffst du dir davon, Toto?“

Tovey antwortete nicht. Er biss sich auf die Unterlippe bis es wehtat. Wann hatte dieser ganze Scheiß endlich ein Ende?

„Ich liebe dich“, sagte er, ganz leise, aber Brian verstand ihn, da war er sich sicher. „Und ich will es einfach einmal. Nur einmal. Vielleicht ist es dann für mich leichter einfach loszulassen.“

Brian schüttelte bedächtig den Kopf.

„Frag Aron, das macht es nicht leichter. Mit jedem scheiß Wort wird es nur schlimmer. Halt dich am besten von mir fern, das ist alles was ich dir raten kann.“

Kumpelhaft klopfte Brian Tovey auf die Schulter und wandte sich dann zur Gruppe Raucher, bei der Elya stand und seine Marlboros paffte.
 

„Oh mein Gott, Brian du bist so ein versauter kleiner Drecksack.“

„Vielen Dank, das Kompliment gebe ich zurück.“

Elya lachte mühsam unterdrückt. Sie mussten leise sein. Nicht das irgendjemand sie erwischte. Die Lehrer verstanden nicht wirklich Spaß, wenn sie noch kurz nach Mitternacht Schüler durch das Internat laufen sahen. Sie waren vor Elyas Zimmer angekommen.

„Machs gut“, sagte Brian leise und schlug zum Abschied provozierend auf Elyas Hintern.

„Komm du mir noch mal unter die Finger“, sagte Elya scherzhaft, und präsentierte Brian seinen Mittelfinger. Brian lachte leise und huschte in die Dunkelheit, doch er hatte noch nicht vor in sein Zimmer zurückzukehren. Sein Körper war todmüde und völlig ausgelaugt. Dafür hatte Elya gesorgt und zwar mit einer Professionalität die Brian von keinem anderen hier kannte. Aron vielleicht ausgenommen. Aber Aron war so wie so etwas anderes und das war das Problem. Brian bog ins Gemeinschaftsbad ab und machte Licht. Es stach in seine Augen und löste einen unangenehmen Schmerz aus. Brian fluchte leise, blinzelte, bis seine Augen sich an die Helligkeit gewöhnt hatten und trat dann vor einen der Spiegel.

„Das war zu viel Sex, Herr Moore“, sagte er zu seinem Spiegelbild. Gott, sah er scheiße aus. Völlig abgenutzt. Brian schauderte. Er drehte den Wasserhahn auf und ließ kaltes Wasser über seine Finger laufen, bis sie wehtaten. Dann nahm er eine handvoll und warf sie sich ins Gesicht. Gänsehaut breitete sich überall auf seinem Körper aus. Wieder sah er in dem kalten sterilen Licht dort im Spiegel sein Gesicht.

„Wie du wohl in zwanzig Jahren aussiehst? Alt und völlig verbraucht. Faltig und hässlich. Und dann denkst du zurück an die gute alte Zeit in der du andere Jungs noch dazu gebracht hast für dich zu morden. Vielleicht bleibst du noch ein paar Jahre so. Vielleicht bringst du es soweit, dass wirklich noch jemand stirbt. Was hältst du davon?“

Seine Stimme verhallte in dem leeren Raum. Eine Sekunde verging in drückender Stille, dann noch eine … Brian hob beide Fäuste und schlug schreiend auf den Spiegel ein.
 

Blut, überall Blut. Auf den Scherben, auf dem Waschbecken, ganz zu schweigen von seinen Händen. Doch der Schmerz schien von sehr weit weg zu kommen. Der Raum schwamm vor Brians Augen. Es hatte ihn bestimmt jemand gehört. Das würde wirklich Ärger geben. Was hatte er sich dabei nur gedacht?

Du bist so ein Trottel, Brian!

Und er hatte Recht. Augenblicklich flog die Tür auf. Vor Brians Augen fiel der Vorhang. Er stand noch, das wusste er, doch er sah nichts mehr, als das Flimmern einer kaputten Bildröhre.

„Hallo, hörst du mich? Junge, hörst du mich?“

Brian spürte wie ihn jemand festhielt. Die Stimme war undeutlich, wie durch eine Wand, aber es musste wohl ein Lehrer sein. Brian hörte ihn, konnte ihm aber nicht antworten.

„Was wird das?! Kein Ansturm. Alle zurück ins Bett, nur Sie, ja Sie holen den verdammten Krankenwagen! Aber schnell. Los doch!“
 

„Sonny?“

Keine Antwort, nur die gleichmäßigen Atemzüge, die anzeigten, dass der große Sonny „King“ Iero nun den Schlaf der Gerechten schlief. Aron aber hatte keine Lust ihn diesen Schlaf weiterführen zu lassen. Er war so nervös. Warum war es plötzlich so unruhig da unten? Er hörte Leute die Treppe auf und ablaufen. Und hatte er nicht auch das Splittern von Glas gehört? Aron hätte dafür nicht die Hand ins Feuer gelegt, aber irgendetwas war da gewesen.

„Sonny! Wach auf!“ Aron richtete sich in dem etwas engen Bett auf und schüttelte Sonny leicht, dann etwas mehr. Sonny erwachte.

„Waswillstndu?“ nuschelte er.

„Es ist irgendwas passiert!“ sagte Aron unruhig, schlüpfte aus dem Bett und kramte sein Shirt vom Boden. Sonny blinzelte verschlafen.

„Was soll denn passiert sein?“ fragte er unüberhörbar missmutig und betrachtete durch die Dunkelheit wie Aron sich anzog. So ein schöner Körper und alles seins.

„Ich weiß es nicht, aber ich hab total Angst“, erwiderte Aron und huschte hinüber zur Falltürluke. Sonny setzte sich auf.

„Schatz, ich bitte dich. Du kannst doch nicht aus irgendeinem Bauchgefühl heraus, mitten in der Nacht durch dieses Loch …!“

Doch Aron hörte nicht auf ihn. Er zog die Falltür hoch und Licht flutete in den Raum. Wieder wurden unruhige Stimmen laut. Man hörte einen Lehrer etwas wie Befehle rufen. „Ab ins Bett!“ War nur einer, den Aron verstand. Warum waren alle so in Aufruhe? Er hörte schnelle Schritte. Ein Junge kam unter der Falltür zu stehen. Aron identifizierte ihn als Elya. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass auch dieser Junge einen gehobenen Posten innehatte, der bloß unter Sonnys Rampenlicht unterging.

„Hey, gut das ihr wach seid!“ fing Elya an. Er kam schlitternd zum stehen und blickte zu Aron auf. „Sag mal Sonny, dass er sofort kommen muss. Er muss Ruhe stiften. Blecket bekommt einen Herzinfarkt vor Wut, wenn das so weiter geht.“

Hinter Aron flammte das Zimmerlicht auf. Sonny war auf den Beinen. Na toll, für seinen Job quälte er sich hoch, aber nicht für seinen zu Tode geängstigten Freund!

„Was ist denn passiert?“ fragte Aron.

Elya zögerte und betrachtete Aron prüfend.

„Also …“

„Schritt zurück!“ kommandierte Sonny und Elya reagierte sofort. Gut für ihn, sonst wäre die allseits beliebte Leiter ihm sicher auf den Kopf geknallt. Sonny hangelte sich, so schnell es seine Höhenangst erlaubte, die Leiter hinunter.

„Wohin?“

„Gemeinschaftsbad …“, sagte Elya und warf noch einen Blick auf Aron, der weiterhin oben an der Öffnung hockte.

„Nun komm schon!“ schnauzte Sonny Elya an. Elya spurte und beide verschwanden den Gang entlang. Aron kletterte schnell aus dem Zimmer und lief ihnen hinterher. Das konnte nichts Gutes bedeuten.

It's good to see you here again

Kapitel 11

It’s good to see you here again

I thought you almost died
 

“Los doch! Alle zurück in die Zimmer, habt ihr gehört?! Hier gibt es nichts zu gucken!“ Sonny wedelte ungeduldig mit den Händen, als wolle er die anderen Jungs wie Fliegen verscheuchen.

„Jonny, hast du was gesehen?“

„Ja, das glaubst du gar nicht …!“

„Erzähl!“

Aron blieb stehen und lauschte den beiden fremden Schülern, allerdings ohne die Augen von dem Haufen Neugieriger zu wenden, die sich partout nicht von Sonny verscheuchen lassen wollten.

„Es ist, ach wie heißt er noch? Hilf mir auf die Sprünge, Mike!“

„Ich habe keine Ahnung was du meinst.“

„Doch, doch, hier der mit den geilen Augen und der Taille bei der jedes Model vor Neid erblasst. Weißt du?“

„Brian?“

„Ja!“

Aron verkrampfte sich schmerzhaft, so groß war der Schreck. Fast blind riss er die Augen von dem Mob, der die Szene verdeckte und sah die beiden Jungs, die hinter ihm standen mit schneeweißem Gesicht an. Sie bemerkten das und irgendwie sah der eine, der den Aron für sich als Jonny erkannte, irgendwie schuldbewusst aus.

„Brian?“ fragte Aron tonlos.

„Oh, Süße du siehst ganz blass aus. Vielleicht solltest du lieber zurück zu deinem Zimmer …“

„Meinst du DEN Brian?“

„Also, ich schätze …“, Jonny warf einen Hilfe suchenden Blick auf seinen Freund Mike. „Ja, den mein ich.“

„Was …?“ Was hat er gemacht, wollte Aron fragen, aber er brachte nicht mehr heraus. Jonny sah sich unsicher um, legte dann seine linke Hand auf Arons rechte Schulter und sagte leise in sein linkes Ohr.

„Er hat einen Spiegel zerschlagen, mit bloßen Händen.“

Aron war sich später sicher, dass in diesem Moment sein Denken aussetzte. Ihm war egal, mit wem er zusammen war und mit wem nicht, ihm war auch egal, ob Sonny das gefiel oder nicht. Er musste zu Brian. Hektisch fuhr er herum, stieß ein paar andere zur Seite und bahnte sich unsanft seinen Weg in die Mitte der Traube. Sonny bekam seinen Arm zu fassen, doch ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, was er tat, holte Aron aus und schlug Sonny seine Faust gegen den Magen. Der Griff lockerte sich sofort und Arons Arm schlüpfte leicht hinaus. Dann sah er es. Erst schien es ihm, als hätte Brian seine Hände in einen widerlich roten Farbeimer getunkt, aber dieses Hirngespinst verflüchtigte sich so schnell wie es gekommen war.

„Ich werd verrückt! Sie sollen bitte alle zurück in Ihre Zimmer, das gilt auch für Sie!“

Aron ignorierte das.

„Brian, Brian was machst du denn?“ Er ließ sich hinunter auf die Knie fallen. „Seid ihr denn alle zu blöd ihn zu verbinden. Hat denn hier niemand einen Erste Hilfe Kasten?!“
 

Es war Freitag. Endlich wieder Freitag nach einer langen Woche. Ronald Blecket konnte sich nicht vorstellen, je so eine dumme Woche erlebt zu haben. Seine Schüler hatten sich überdurchschnittlich blöd angestellt in seinen Physik- und Mathematikstunden. Manchmal fragte er sich ernsthaft, wie unterbelichtet ein Mann sein konnte! Immerhin war alles was er vermittelte absolut logisch. Seufzend lehnte er sich in seinem großen ledernen Schreibtischstuhl zurück. Da lag noch ein großer Stapel Klausuren vor ihm. Sonnys Klausur hatte er schon heraus gefischt, kurz überflogen, hier und da einen Haken hintergesetzt und die üblichen 15 Punkte plus seinem Autogramm darunter gesetzt. Leichte Arbeit. Im Gegensatz zu Leuten wie Tovey Way. Die Klausur des Zimmernachbarn von Brian Moore lag vor ihm auf den Tisch. Soweit Ronald Blecket die Sache überblickt hatte waren es knapp 5 Punkte. Aber er hatte nicht übel Lust 4 daraus zu machen. Wieder etwas angespornt beugte er sich erneut über Toveys schwungvolle Schrift und begann noch einen Fehler zu suchen. Selbst wenn es nur die Form war, wen kümmerte es schon?

Es ertönte ein Klopfen an der Tür. Ronald Blecket sah hoch. Dieses Klopfen kannte er. Es war seine Sekretärin.

„Ja?“ rief er und die junge Frau trat ein.

„Sonny Iero möchte mit Ihnen sprechen, Herr Direktor.“

Blecket nickte, warf seinen Stift beiseite und erwartete seinen Musterschüler. Sonny trat ein. Wie immer ein nahezu perfektes Ebenbild seines „Vorgesetzten“.

„Was gibt es?“ fragte der Direktor, als Sonny vor ihm auf dem Stuhl Platz nahm. Derselbe Platz, an dem Brian um einen Besuch bei Aron im Krankenhaus gebettelt hatte.

„Ich muss mit Ihnen reden“, sagte Sonny und betrachtete die Tür, als würde man sie belauschen.

„Gern, aber fassen Sie sich bitte kurz. Ich habe noch einen Haufen Klausuren!“ Blecket deutete einnehmend lächelnd auf die Arbeiten. Sonny lächelte auch.

„Ich versuche es. Also, es geht um folgendes: Ich denke ich weiß jetzt, wer vor einiger Zeit Arons und mein Zimmer angesteckt hat …“
 

„Halt still Brian!“

„Das tut aber weeeeehehe!“

„Hör auf zu jammern, immerhin hast du dir das selbst zuzuschreiben!“

Brian biss die Zähne zusammen, als Aron liebevoll seine rechte Hand ordentlich verband. Er hatte Glück gehabt. Seine Hände waren recht glimpflich davongekommen. Der Schularzt hatte sie untersucht und dann grünes Licht gegeben. Alles würde anständig verheilen. Nun hockte Aron mit Brian in Zimmer 76 und verband seine Hände neu. Er wusste wie das ging. Nicht nur, dass seine Mutter Ärztin war, er hatte auch schon den ein oder anderen Erste Hilfe Kurs belegt. Brian betrachtete seinen besten Freund etwas sehnsüchtig. Seine zarten Hände waren so flink und eigentlich tat es nicht wirklich weh. Zumindest nicht das, was Aron tat. Die Wunden, die langsam verheilten juckten nur ganz hartnäckig.

„So“, murmelte Aron, während er den Verband mit etwas Heftpflaster fixierte. „Alles gut so?“

Brian nickte. Sie hörten die Tür gehen. Aron hob den Kopf und sah Tovey eintreten.

„Hallo“, sagte der und sein Blick fiel auf Brians Verbände. „Tut es doll weh?“

„Nein“, gab Brian zu. „Meine Krankenschwester kümmert sich gut um mich.“

Aron meinte ein kleines Lächeln über Toveys Gesicht huschen zu sehen.

„Das … ist ja lieb von ihr.“

Aron überkam ein müdes Gähnen und er versteckte es hinter seiner Hand. Der Tag war wirklich lang gewesen …

„Da gehört jemand ins Bett“, sagte Brian und stupste Arons Nase mit seiner an. Aron gab ein unzufriedenes Quieken von sich und brachte seinen Freund damit zum Lachen. „Schlaf schön und tritt Sonny noch mal in den Hintern von mir.“

„Lieber nicht“, sagte Aron, während er aufstand und seine schwarze Strickjacke von Brians Stuhl zog. Hier unten war es wohlig warm. Oben unter dem Dach fror Aron immer. „Er ist so aggressiv in letzter Zeit. Seit ich ihn neulich so unsanft beiseite befördert habe …“

Aron brach ab und seufzte. Tovey wechselte einen Blick mit Brian. Sonnys Freund wirkte wirklich sehr müde. Völlig ausgelaugt, um es auf den Punkt zu bringen.

„Ist doch alles gut gegangen“, sagte Brian vorsichtig und versuchte es mit einem aufmunternden Lächeln. „Sonny fühlt sich nur in seinem scheiß Ego angegriffen. Mach dir nichts daraus.“

„Ich bemüh mich.“ Gedankenverloren zog Aron den Reißverschluss seiner Jacke zu. Brian stand auf und nahm ihn in die Arme.

„Geh lieber schnell schlafen.“

„Jawohl, Mama“, sagte Aron und schaffte ein fast fröhliches Grinsen. Brian erwiderte es und küsste Aron auf den Mund.

„Gute Nacht.“

„Gute Nacht … tu das bloß nicht, wenn Sonny in der Nähe ist. Ich glaube er würde dich in der Luft zerreißen. Sonny ist … verdammt eifersüchtig.“ Aron warf einen Blick auf Tovey als wollte er sagen:

Dagegen bist du ein zahmes Kätzchen, Kleiner!

Tovey zog eine Augenbraue hoch. Der Anblick der intimen Nähe zwischen Aron und Brian gefiel ihm nicht, aber andererseits …

„Schlaft schön ihr beiden“, sagte Aron noch und verließ dann die Nummer 76. Tovey sah ihm nach.

„Er tut mir leid“, sagte Tovey leise, doch Brian hörte ihn klar und deutlich. Irritiert schüttelte er mit dem Kopf und bedachte Tovey mit einem fragenden Blick. Tovey sah das und setzte wieder zum Sprechen an: „Sonny ist ehrlich der Letzte, mit dem ich zusammen sein möchte.“

Brian schien darüber nachzudenken und kam wohl zu dem Schluss, dass Tovey Recht hatte. Er nickte leicht und versuchte dann unbeholfen, mit seinen einbandagierten Händen sein T-Shirt über den Kopf zu ziehen.

„Aron hätte ruhig noch ein bisschen bleiben können“, brummte Brian, sichtlich enttäuscht von seiner Lage. Tovey zögerte nicht lang. Er überbrückte die Distanz zwischen sich und Brian mit ein paar Schritten und erfasste den Saum des T-Shirts.
 

Als Sonny aus dem Büro seines angebeteten Schulleiters zurückkam, fand er Aron auf seinem Bett liegend vor. Der Kleinere schlief scheinbar fest, obwohl er noch in voller Bekleidung war. Auch die schwarze Strickjacke hatte er noch an. Aron lag halb auf der Seite, halb auf dem Bauch. Die Knie angezogen. Sonny ging auf ihn zu und setzte sich neben ihn. Die Bettfedern gaben einen leisen, ächzenden Laut von sich, als sie unter seinem Gewicht herabgedrückt wurden. Vorsichtig hob Sonny die Hand. Einen Moment schwebte sie über Arons Gesicht, dann strich er sanft über die dunklen Haare.

Die letzte Woche hatten sie fast nur gestritten. Sonny war unbändig wütend gewesen auf Brian und seine Attacken. Dieser hübsche, hohle Schnösel, war nicht einen Deut besser, als sein Hypochonder - Freund Tovey. Mit diesen Idioten konnte Sonny nicht wirklich etwas anfangen. Sie konnten nichts, sie waren nichts und sie würden nie etwas werden. Wie denn auch?

„Aron? Wach auf und zieh dich um.“

Das war kein liebevoll geflüsterter Satz. Das war eine klare Anweisung. Man schlief nicht einfach in voller Bekleidung ein. Doch Aron schien sehr weit im Land der Träume zu sein.

„Wach auf!“ Sonny erfasste Arons Schulter und schüttelte sie fast grob. Aron fuhr erschrocken aus dem Schlaf hoch. Sein übermüdeter Körper setzte sofort zum Gegenangriff an. Vor Arons Augen flackerte es. Im ersten Moment war er absolut davon überzeugt, dass es wieder brannte, doch langsam wurde ihm klar, dass er sich das nur einbildete. Müde und mit rasendem Herzen sah er Sonny an.

Ein verdammtes Ebenbild des Schulleiters. Was willst du damit erreichen?

„Zieh dich um“, sagte Sonny und erhob sich um seiner eigenen Anweisung als gutes Beispiel zu befolgen. Aron schossen die Tränen in die Augen.

Dafür weckst du mich, du Arsch?!

Doch er sagte nichts. In dieser Woche hatte er schon zu viel gesagt. Vielleicht war es einfach keine gute Entscheidung gewesen, sich auf Sonny einzulassen. Aron hatte das dumme Gefühl, einen ernsthaften Fehler gemacht zu haben. Aber war er nicht übermüdet und gerade aus dem Tiefschlaf gerissen? In solchen Situationen sah die Welt viel schwärzer aus, als sie eigentlich war. Bestimmt meinte Sonny es nur gut. Aron spürte, wie sich eine Gänsehaut über seine Arme zog. Trotzdem entledigte er sich seiner Klamotten und schlüpfte in den flauschigen Pyjama, den seine Mutter ihm geschickt hatte. Nach dem Brand hatte er fast jeden Tag große Päckchen mit Sachen darin bekommen. Jetzt war sein Kleiderschrank fast wieder voll.

„Bist du soweit?“ fragte Sonny und musterte Aron, der an den Ärmeln des Pyjamas zupfte.

„Ja“, sagte er leise. Die Hauptsache war, dass das Licht endlich wieder ausging und er weiter schlafen konnte.
 

Billy öffnete leise die Tür. Es war schon spät und er wollte niemanden wecken. Schleichend trat er in den Raum und schloss hinter sich wie schwere Holztür wieder so umsichtig wie möglich. Kühles Mondlicht flutete durch das Zimmer. Niemand hatte die Vorhänge zugezogen. Billy ging auf seinen Nachttisch zu, legte den Schlüssel mit der eingravierten 76 darauf und sah sich um. Toveys Bett war leer. Sehr eigenartig. Sein Blick glitt hinüber zu Brians Bett und er seufzte resignierend. Brian und Tovey lagen wie zwei kleine Kinder zusammengerollt und dicht aneinander gekuschelt in Brians Bett. Billy rieb sich die Augen und sah noch einmal hin. Ja, sie lagen wirklich beide in demselben Bett. Und sie waren beide so unschuldig wie zwei kleine Kinder. Zumindest für diese Nacht.
 

„Brian?“

„Ja, anwesend.“

„Gibst du mir bitte, bitte noch was von deinem Honig ab?“

„Nee, das ist meiner.“

Brian lachte und reichte Tovey den Honig mit einem anzüglichen Grinsen. Sonny beobachtete sie dabei finster. Aron neben ihm sah aus wie ein Häufchen Elend. Billy tippte wie ein Verrückter auf die Tastatur seines Handys ein und wollte partout nicht preisgeben, wem er da schrieb.

„Schätzchen, möchtest du auch was?“ fragte Tovey und alle sahen ihn an um festzustellen, wen zur Hölle Tovey meinte. Selbst Billy ließ von seinem Handy ab. Aron machte große Augen, als er bemerkte, dass er der Angesprochene war.

„Ich, oh ja, das ist nett, danke.“

Er nahm Tovey das kleine Plaste Schälchen aus der Hand und schenkte ihm ein blasses, aber liebes Lächeln. Er gab sich die größte Mühe, aber eine so schlimme Nacht hatte er schon lange nicht mehr gehabt. Nachdem Sonny ihn so unsanft aus dem Schlaf gerissen hatte, war es Aron unmöglich gewesen wieder zur Ruhe zu kommen. Der Himmel wusste, warum.

„Sind sie nicht süß, die beiden?“ fragte Brian munter und warf Aron eine Kusshand zu. Auch das quittierte der mit einem dankbaren Lächeln. Sonny gab nur einen unmissverständlich abwertenden Zischlaut von sich.

„Der Schulleiter will dich heute Nachmittag sehen“, erwähnte Sonny beiläufig und sah seinen Freund dabei nicht einmal an.

„Mich?“ fragte Aron und rührte müde in seinem Kaffee.

„Wen denn sonst?“ kam Sonnys Gegenfrage.

„Du bist wie Salzsäure!“ sagte Brian, verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich zurück, als hätte Sonny ihn beleidigt.

„Ja“, stimmte Tovey zu. „Total ätzend.“

„Schönen Dank auch!“ schoss Sonny zurück und stand auf. „Vergiss es nicht!“ sagte er noch zu Aron bevor er die Kantine verließ. Aron vergrub sein Gesicht in den Händen. Ein bisschen Schlaf mehr und alles wäre nur halb so schlimm. Ganz bestimmt. Brian tätschelte liebevoll seinen Arm. Aron empfand diese Geste als sehr beruhigend.

„Oh!“ gab Tovey plötzlich von sich. Brian sah ihn an, wollte ihm sagen, dass er jetzt doch bitte nicht wieder eifersüchtig werden sollte, als er bemerkte, dass Tovey sie überhaupt nicht ansah. Verwirrt folgte Brian seinem Blick hinüber zu Elyas Tisch. Da saß Brians abgestempelter „Fick-Freund“ mitsamt seinen Zimmernachbarn und jemandem, den Brian noch nie zuvor gesehen hatte. Noch ein Neuer? Genau auf diesem Jungen ruhte Toveys Blick. Und Brian bemerkte, dass auch der Fremde Tovey ansah.

Liebe auf den ersten Blick, hach wie romantisch!

Brian kicherte, als er das dachte. Es war für ihn nur ein Scherz. Von Liebe konnte überhaupt keine Rede sein.

„Oh mein Gott, Brian guck mal. Ist der nicht … unheimlich … süß?“ Brian betrachtete seinen Freund noch einmal und sah den schmachtenden Ausdruck auf seinem Gesicht, den er sehr gut kannte. Brian blinzelte verstört und suchte mit einem Blick Hilfe bei Aron, der den Kopf an seine Schulter gelegt hatte. Tovey wurde unruhig auf seinem Platz. Der fremde Junge musterte ihn ganz ungezwungen und lächelte dabei. Viele kleine Schmetterlinge tanzten durch seinen Bauch.

„He, beruhig dich mal!“ sagte Brian und legte Tovey eine Hand auf die Schulter. „Du weißt doch gar nicht wer er ist.“

„Doch“, meinte Tovey bestimmt und Brian beobachtete aus dem Augenwinkel wie der Neue sich erhob und sich mit einem Handzeichen von Elya und Konsorten verabschiedete. Er hörte auch noch, wie Elya ihm etwas wie „Der im schwarz-weißen Pullover gehört mir!“ hinterher rief, aber Toveys Gemütszustand machte ihm da mehr Sorgen.

„Hallo“, der fremde Junge setzte sich völlig entspannt auf Sonnys leeren Platz und Brian kam das gut vor. Er tauschte liebend gern jemand fremden gegen diesen egozentrischen Widerling Sonny ein.

„Hi“, hauchte Tovey fast. Brian sah wie er rot wurde vor Aufregung.

„Mein Name ist Alexej. Ich bin neu an eurer Schule. Darf ich deinen Namen wissen?“

Alexej also. Klang irgendwie … komisch. Und sein Akzent war irgendwie … russisch? Brian hatte von so was keinen Plan, aber er stellte trotzdem die ein oder andere Vermutung auf.

„Ich bin Tovey“, sagte Tovey etwas atemlos.

„Ein schöner Name. Er passt zu so jemand schönem wie dir.“

„Danke …“

Brian blinzelte noch einmal. Der eigenartige Russe war noch immer da. Und er hatte scheinbar nur Augen für Tovey, so wie Tovey nur Augen für ihn hatte. Die Welt um sie herum war nichts als Luft.

„Wo kommst du her?“ fragte Tovey und Brian fühlte sich in einen schlechten Liebesfilm versetzt.

„Ich komme aus Moskau“, Alexej lächelte etwas breiter. Brian machte drei Kreuze. Yeah, gut geraten alter Kumpel! „Und du musst direkt vom Himmel gefallen sein. Ich hoffe du hast dir dabei nicht wehgetan.“

Brian sah Aron belustigt an, der sich auf die Lippen biss um nicht lachen zu müssen. Es fiel beiden zunehmend schwerer nicht in schallendes Gelächter zu verfallen. Hastig, aber ohne das einer der beiden frisch verknallten Notiz von ihnen nahm, erhoben sich beide von ihren Plätzen und verließen eilig die Kantine nur um draußen vor der Tür endlich laut lachen zu dürfen.

Sleep Sugar

Kapitel 12

Sleep sugar;

let your dreams flood in

Like waves of sweet fire,

you’re safe within
 

Aron starrte Fräulein Tiele ein wenig verwirrt an. Eine Frau, kaum zu glauben. Er hatte eher mit einem jungen Mann gerechnet, der vielleicht dort, seine Nägel feilend, hinter dem großen Schreibtisch inmitten von Wehrtürmen aus Blättern hockte und einfach nichts tat. Stattdessen saß dort diese junge Frau, ohne Nagelfeile und scheinbar tatsächlich am Arbeiten.

„Haben sie einen Termin?“ fragte sie Aron und sah ihn über den Rand ihrer Brille hinweg scharf an.

„Ja“, sagte Aron, noch immer leicht verwirrt.

„Gut, ich werde sie anmelden.“

Die junge Frau stand auf, ging zu der Tür zu Arons Rechten, auf der ein Holzschildchen mit der Aufschrift „Schulleiter“ prangte. Sie klopfte sachte, öffnete, steckte ihren Kopf hinein und sagte:

„Herr Blecket. Ein gewisser Herr Wayne ist hier. Er sagt er hätte einen Termin. Soll ich ihn hineinschicken?“

„Ja, schicken sie ihn herein!“

Fräulein Tiele drehte sich zu Aron um und machte eine einladende Bewegung in Richtung Tür. Aron nickte und ging an ihr vorbei ins anliegende Büro, natürlich nicht ohne sich dafür zu bedanken, dass sie ihm die Tür aufhielt.

„Setzten Sie sich“, sagte Blecket ohne aufzusehen. Er hatte einen roten Kugelschreiber in der Hand und schien über einer Physikarbeit zu hängen. Oder Mathe? Aron erlaubte sich, während er Platz nahm einen genaueren Blick auf das Papier. Sah doch mehr nach Mathe aus und die Schrift kam ihm bekannt vor. Sein Blick huschte nach links, dort wo, auf dem Kopf stehend, der Name des Verfassers zu lesen war. Brian Moore. Arons Blick wanderte wieder über die Arbeit und ihm war als würde Brian direkt mit ihm sprechen.

Ich hasse Blecket, diesen Drecksack. Mich würde es nicht wundern, wenn es ihm Spaß macht mich in Mathe durch das ABI rasseln zu lassen.

Und zugegeben: Die Arbeit sah übel aus. Viele rote „f“ zierten die Aufgaben. Aron erkannte sogar einen Haken, aber der wirkte sehr kümmerlich. Drei von acht Punkten. Armer Brian. Dabei meinte Aron sich zu erinnern, dass Brian damals gar nicht so schlecht gewesen war in Mathematik.

Blecket drehte den Zettel um und riss somit Aron aus seinen Gedanken.

„So, so …“, murmelte der Schulleiter scheinbar ohne es zu merken. Kritzelte wieder einige „f“ in seiner unleserlichen Schrift und setzte ganze drei Punkte darunter. Aron verzog das Gesicht. Wieso tat er das, wobei er genau merken müsste, dass Aron ihm dabei zusah?

Langsam legte Blecket den Stift zur Seite und sah nun endlich zu Aron hoch.

„Traurig, nicht wahr?“ sagte er, klang aber nicht wirklich, als würde ihn das bedauern. „Aber, das ist nicht das Schlimmste, müssen Sie wissen.“

Aron sah ihn an und senkte dann den Blick wieder auf die drei Punkte. Was konnte denn Schlimmer sein? Na ja … zugegeben. Es hätten auch null werden können, aber um durchzufallen reichten die drei auch.

„Es ist völlig egal, wie viele Punkte Ihr Freund bekommt, oder auch nicht bekommt. Ich sehe mich gezwungen ihn von der Schule zu verweisen.“

„Was?!“ Arons Kopf zuckte hoch und er fixierte den Schulleiter jetzt ohne Umschweife. „Was soll er denn gemacht haben?“

„Wissen Sie das nicht? Nein? Nun, Ihr lieber Freund“, Aron hasste es, wie Blecket dieses Wort betonte, „Ihr lieber Freund hätte Sie und Sonny Iero fast umgebracht.“

„Schwachsinn“, sagte Aron sofort. Sein Herz hatte angefangen wild gegen seine Rippen zu hämmern. Es tat fast weh.

„Ich habe verlässliche Quellen“, sagte Ronald Blecket und lehnte sich lässig zurück. Aron musste an Sonny denken. Ihm wurde übel. Seine Hände zitterten.

Niemand hängt Brian so einen Mist an, auch nicht du, du mieser kleiner …

„Wer oder was soll bitte die ach so verlässliche Quelle sein?“ fragte er etwas dreister als beabsichtigt. Aron spürte wie alle Höflichkeit und Zurückhaltung von ihm abfiel. Das letzte Mal, als das passiert war, war Sonny der Auslöser gewesen. Sonny hatte Brian beleidigt, ihn mit irgendwelchen Namen betitelt und das obwohl Brian nicht mal da war, um sich zu verteidigen. Aron hatte nie gelernt, warum er das auf seinem besten Freund - seinem liebsten Freund sitzen lassen sollte. Immerhin war es BRIAN und Brian war sein … ja es stimmte, und niemand brauchte es zu wissen: Brian war sein Gott.

Blecket grinste belustigt.

„Geht Sie überhaupt nichts an.“

„Und warum bin ich dann hier?“ Aron griff mit beiden Händen an den Rand des Schreibtisches um Blecket nicht seine blöde Fresse einschlagen zu müssen.

Beruhig dich Kleiner. Es bringt dir nichts dich so aufzuregen!

„Wollen Sie mir das erzählen um mich zu ärgern, oder was? Gut, schmeißen Sie Brian raus, weil Sie ihn nicht mögen. Ich SCHEISSE drauf! Ich werde nämlich einfach auch gehen. Ihre blöde Schule …“

Aron verstummte. Er starrte Blecket an. Sein Gesichtsausdruck hatte sich drastisch verändert. Die gespielte Ruhe war vollkommen gewichen, aber viel schlimmer war, dass er nicht wütend wurde. Aron ließ die Tischplatte los als hätte er sich verbrannt und stand von seinem Platz auf.

„Bitte, ich höre.“

Auch der Schulleiter hatte sich erhoben. Die Hände hinter dem Körper kam er in schlendernden Schritten um den Tisch herum. Arons Blick huschte rüber zu der Tür. Sie war nicht weit weg.

„Sprich doch bitte weiter“, sagte Blecket ruhig, wie ein geduldiger Großvater und ging an Aron vorbei, nicht ohne ihn zu streifen. Aron schauderte. Er wollte sich umdrehen und abhauen, aber Blecket bemerkte es zu schnell und war als erster an der Tür. Das Klicken des Türschlosses hallte unangenehm in Arons Ohren. Das konnte nicht wahr sein. Das war ein Missverständnis.

„Du brauchst dieses Mal nicht schreien. Die Wände sind schalldicht!“

„Legen Sie es denn drauf an, mich zum schreien zu bringen?“ fragte Aron und versuchte das Zittern in seiner Stimme möglichst zu verdrängen. Dieser Kerl würde ihn nicht anfassen. Nie und nimmer, jedenfalls nicht, solange er sich wehren konnte.

„Ich erinnere mich nur noch sehr gut daran, dass du es kannst“, ein schiefes Grinsen erschien auf Bleckets Gesicht. Es gefiel Aron gar nicht. „Sowohl … bei dem Brand, als auch oben in eurem gemütlichen kleinen Zimmer.“

„Perverser!“ zischte Aron und versuchte möglichst viel Abstand zwischen sich und den Schulleiter zu bringen.

„Was meinst du, warum ich hier bin? Weil mich eure Bildung interessiert? Mir könnte nichts egaler sein, um es mal so auszudrücken. Eventuell ist dir auch aufgefallen, dass ihr alle mehr oder minder … gleich ausseht, ja? Nun das ist geplant. Ich mag es von hübschen Jungs, wie dir und deinen Freunden, umgeben zu sein, Aron. Und als ich deine Bewerbung bekommen habe, da konnte ich einfach nicht widerstehen. Obwohl es mitten im Jahr war. Ich bin hier der Schulleiter. Ich muss mich nicht an meine Regeln halten, nicht wahr?“ Blecket bewegte sich langsam wie eine Schlange auf Aron zu. „Du bist nur zu diesem Zweck hier, Junge. Verstanden?“

„Was für ein Zweck?“

Ronald Bleckets Büro sah groß aus, es war auch groß, aber in diesem Moment war es Aron eindeutig zu klein.

„Komm her, dann zeige ich es dir.“

„Den Teufel werd ich tun“, murmelte Aron. Sein Blick huschte zum Fenster.

„Ist abgeschlossen“, bemerkte der Schulleiter knapp und lächelte wieder. „Genau wie die Tür. Keine Fluchtwege. Früher oder später krieg ich dich. Und zwar heute noch. Also komm lieber freiwillig her, bevor ich mir anders Gehör verschaffen muss!“

Aron hörte, spürte fast, wie Bleckets Stimme zu vibrieren begann. Ob vor Wut oder Geilheit, dass hätte er nicht gewagt zu beurteilen.

„Ich werde nicht kommen. Eher verreck ich.“

„Bist du dir da sicher?“

Der Schulleiter ging zurück zu seinem Schreibtisch, riss eine Schublade auf und hielt urplötzlich einen kleinen Revolver in der Hand. Kurzzeitig flackerte es vor Arons Augen, aber Ungnädigerweise wurde er nicht ohnmächtig. Blecket ging wieder auf ihn zu und hielt dabei die Waffe hoch.

„Das tun Sie nicht“, sagte Aron atemlos.

„Warum nicht?“

„Weil Sie mich wollen, da würden Sie das nie tun …“ Arons Mund war staubtrocken. Wenn er das hier überstand, oh Gott, Sonny würde ihm die Geschichte nie abkaufen. Aber Brian, Brian würde alles verstehen.

Oh Gott, Brian du musst mir helfen!!

Aber Brian war nicht hier. Jetzt nicht und er würde auch nicht mehr kommen. Warum auch? Wer vermutete das hier, hinter einem Besuch beim Schulleiter? Nicht mal Sonny … jedenfalls hoffte Aron das für seinen - eben abgesetzten - Freund.

„Da magst du Recht haben. Aber lass es dir gesagt sein. Ich würde nicht zögern deinen süßen, kleinen Brian abzuknallen.“ Blecket kam dichter. Keine Fluchtmöglichkeit. Er würde doch Brian nichts tun?! Die kalte Mündung der kleinen handlichen Waffe berührte Arons Kinn. „Stell dir das mal vor. Er würde irgendwo tot in einer Ecke liegen. Und er würde nie wieder, nie wieder aufwachen. Sein hübsches Face wäre so entstellt, dass niemand ihn mehr identifizieren könnte!“

Aron ballte die Hände zu Fäusten.

Er lügt, lügt, lügt, lügt, lügt!!!

„Zieh dich aus.“

„Nein …“

Blecket holte aus und ein scharfer Schmerz explodierte in Arons Kopf. Er sackte zusammen, wusste einen Moment nicht mehr wo er war. Doch dann spürte er ein Paar kalter Hände. Ein Parfum stieg ihm in die Nase. Er kannte es nur zu genau.

Sonny, was gibt es dir sein zu wollen wie er? Willst du das wirklich? Willst du DAS?

Blecket schob eine Hand unter Arons Kinn und hob es an. Aron blinzelte zu ihm auf. Sein Kopf dröhnte.

„Sieh es als Privileg du kleiner, dummer Junge.“

Aron wollte etwas erwidern, doch er konnte nicht, die Gedanken in seinem Kopf waren zu wirr und der Schmerz zu groß. Blecket allerdings schien sich von Arons leicht geöffnetem Mund sehr angezogen zu fühlen.

Wenn sie schrieen, dann war es umso schöner.
 

Brian gähnte und streckte sich.

„Gehst du jetzt auch schlafen?“ fragte er Billy, der an seinem Schreibtisch hockte und sich um tiefere Einsicht in die Kunst der Mathematik bemühte.

„Ja, besser ist es wohl“, seufzte er und strich sich die braunen Haare aus dem Gesicht. „Meinst du Tovey ist immer noch mit dem heißen Alexej unter der Dusche?“

Billy kicherte. Brian grinste schief. Wer klang hier weibisch?

„Ich gönn es ihm“, sagte Brian munter. „Aber der Kerl soll ihm bloß nicht wehtun.“

„Ne, sah echt aus, als wären sich die beiden auf den ersten Blick einig gewesen. Zusammen sein, ficken, Kinder kriegen und schon ein Doppelgrab auf dem städtischen Friedhof bestellen.“

Billy erhob sich von seinem Platz und zog seinen Schlafanzug unter der Bettdecke hervor.

„Du hast das Haus auf dem Land und den Familienkombi vergessen“, meinte Brian belustigt. „Und das mit den Kindern stell ich mir schwierig vor.“

„Ach was. Die gibt’s in jedem Waisenhaus.“

Brian zuckte mit den Schultern. Er wartete bis Billy sich umgezogen hatte und gähnte noch einmal ausgiebig.

Genau in diesem Moment flog die Zimmertür krachend auf. Brian zuckte zusammen. Billy gab einen entsetzten Laut von sich.

„Was zum T …“, setzte er an, kam aber nicht weit.

Sonny stürmte herein, marschierte auf Brian zu und packte ihn an den Schultern. Brian war zu verdutzt um überhaupt etwas zu sagen. Der Schreck saß tief.

„Wo ist Aron du kleiner, dreckiger Wichser?!“

Brian sah ihn an, als würde er chinesisch reden. Sonny, schon ohne diesen dümmlichen Blick auf 180, rastete aus und verpasste Brian eine noch relativ harmlose Ohrfeige. Der Schmerz erweckte Brian aus seiner Trance.

„Was willst du eigentlich von mir?!“ rief er. Woher sollte er das wissen? Seit die sechste Stunde zu Ende gegangen war hatte er Aron nicht mehr gesehen.

„Gib’s zu. Ihr habt’s schon wieder getan. Du hast ihn gevögelt. Gibt es zu, du …“

„Hat er nicht!“ mischte sich Billy ein und zog Sonny von seinem Opfer weg. Brian drückte seine kalte Hand gegen die glühende Wange. „Brian war die ganze Zeit hier, seit wir Schluss hatten, okay? Und das weiß ich zufällig ganz genau.“

Sonny schüttelte Billy verdrossen ab und starrte kalt auf Brian hinunter.

„Wenn du so weiter machst“, sagte Brian leise, aber mit Betonung auf jeder Silbe. „Dann wird Aron dich so wie so abschießen, weil er eifersüchtige Typen noch nie mochte.“

„Hau ab“, sagte Billy und verschränkte die Arme vor der Brust. Sonny drehte sich zu ihm um, als hätte Billy eben Beamtenbeleidigung begangen.

„Ja! Du! Hau. Ab.“ sagte Billy überdeutlich und wandte sich seinem Bett zu. Und tatsächlich zog Sonny Leine. Brian seufzte erleichtert, als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel.

„Der hat sie ja nicht mehr alle!“ wetterte Billy los und Brian musste unwillkürlich grinsen. Genau das hatte er auch gerade gedacht.

Keine Minute nachdem Sonny abgezogen war kam Tovey zurück. Er trug ein strahlendes Lächeln auf dem Gesicht und hatte seine Mühe es zu unterdrücken.

„Ich hätte Russisch wählen sollen, nicht Französisch“, sagte er und wischte sich ein paar zerzauste Haarsträhnen aus dem Gesicht. „So was hast selbst du noch nicht erlebt Brian, glaub’s mir.“

Brian prustete los.

„Mir hat noch keiner erzählt, dass ich vom Himmel gefallen bin“, meinte er kichernd und versuchte sein Lachen mit seinem Kissen zu ersticken. Tovey lächelte.

„Gegen Alex, bist du gar nichts, Süßer. Dieser Mann ist Gott! Da musst du dich schon hinter ihm anstellen.“

„So, so“, Brian setzte einen überlegenen Gesichtsausdruck auf. „Das werden wir ja noch sehen. So einfach gebe ich mich nun wirklich nicht geschlagen!“

„Jungs, Schlafenszeit“, gähnte Billy. „Tovey kann seine kleinen Abenteuer morgen immer noch erörtern.“
 

Es war stockdunkel über dem ganzen Schulgelände. Niemand war mehr auf. Alles schlief. Selbst der Mond hatte sich hinter den Wolken verkrochen. Nur auf einem Gang hörte man ein leises Geräusch. Es waren unsichere Schritte. Hätte jemand in den anliegenden Zimmern (70 - 80) wach gelegen, hätte er sie bestimmt gehört. Aber für die Schlafenden waren sie Geräusche aus einer Welt, in der sie gerade nicht weilten. Das Traumland nahm sie viel zu sehr ein.

Die Schritte kamen nur langsam voran. Manchmal hörte man eine Hand über den Streifen Tapete streichen, der in etwa einen Meter Höhe begann. Dort wo kein unachtsamer Fuß sie von der Wand kratzen konnte. Darunter war nur das dunkle Holz, blank poliert und trotzdem leicht lädiert. Eine Türklinke quietschte leicht. Brian drehte sich im Schlaf in seinem Bett. Unter der Decke war er kaum noch zu sehen. Mit einem leisen Klicken fiel die Tür wieder ins Schloss. Dann herrschte Stille. Brian schlief unruhig. Vielleicht träumte er. Aron hätte viel dafür gegeben in diesem Moment so friedlich schlafen zu können. In seinem Kopf raste immer noch der Schmerz, aber nicht nur dort …

Schaudernd versuchte Aron die Erinnerungen loszuwerden. Ein aussichtsloses Unternehmen, aber wenigstens konnte nie jemand behaupten, man habe es nicht versucht. Vorsichtig ging er auf Brians Bett zu. Mit jedem Schritt strich die Luft über seine nassen Wangen und ließ ihn frösteln.

„Brian?“ sagte er leise. Seine Stimme war viel zu hoch und klang erbärmlich. Er wollte Brian nicht wirklich wecken, wollte ihn nicht mit seinem Anblick schocken, aber er brauchte doch Trost. Zu Sonny konnte er nicht gehen, würde er nie wieder gehen können.

„Brian?“

Sein ganzer Körper protestierte, als er sich langsam auf die Knie nieder ließ und seine zitternde Hand nach seinem besten Freund ausstreckte. Brians Wange war weich wie Seide. Die Berührung schien Wirkung zu zeigen. Brian öffnete die Augen einen Spalt breit, aber Aron war sich sicher, dass er längst nicht annährend wach war. Am nächsten Morgen würde er sich an nichts erinnern.

„Darf ich zu dir ins Bett kommen?“ flüsterte Aron. Er wollte nicht, dass seine klägliche Stimme Brian vielleicht doch noch aufscheuchte.

„Komm her“, murmelte Brian fast unverständlich, tastete nach einem Ende der Decke und hob sie so hoch, dass Aron darunter schlüpfen konnte. Ohne zu zögern kam Aron dem Angebot nach. Zittrig kuschelte er sich unter die warme Decke. Sie roch nach Brian und das tat unheimlich gut. Schläfrig nahm Brian ihn in die Arme und war schon wieder abgedriftet. Aron wurde langsam warm. Er legte die Stirn an Brians Brust und glitt langsam in eine Art Ohnmacht ab. Es war ihm Recht. Er wollte bloß aufhören zu denken.

See you crying and it rains

Kapitel 13

See you crying and it rains

Washing away the bad days

Washing away the pain loss brings
 

Langsam kehrte Brians Verstand aus dem Schlaf zurück. Er spürte eine angenehme Wärme und er roch auch etwas. Etwas sehr Süßes. Ein paar Haare kitzelten seine Nase und Brian tastete schläfrig nach ihnen um sie zu vertreiben. Sein müdes Gehirn ordnete den Geruch zu. Arons Shampoo. Brian hatte es schon immer geliebt. Es roch so … lecker! Brian blinzelte, als er die Haare nicht dazu überreden konnte, seine Nase in Frieden zu lassen und hob den Kopf leicht.

Tatsächlich. Da lag Aron in seinen Armen. Wo kam er her? Hatte Brian irgendetwas verpasst? Verwirrt starrte er seinen besten Freund an.

Klar hast du was verpasst, Junge! Fragt sich nur, was genau.

Vorsichtig erhob Brian sich in sitzende Haltung, versuchte dabei Aron nicht zu wecken und ihm auch nicht die spärliche Decke zu klauen. Irgendetwas stimmte hier nicht. Im Halbdunkel des Zimmers musterte er Arons Gesicht. Vorsichtig strich er mit den Fingerkuppen darüber. Seine Wangen waren rau. Er schob ein paar Haare aus Arons Gesicht und erstarrte. Angestrengt kniff er die Augen zusammen. War da wirklich eine Wunde? Brian traute sich nicht, es zu berühren, aus Angst er könne Aron wehtun, aber es sah aus, wie etwas, das geblutet hatte und verschorft war. Brian hievte sich über Aron aus seinem Bett hinaus. Sein Freund wurde etwas unruhig. Doch er wurde nicht wach. Liebevoll deckte Brian ihn wieder zu, ging hastig zum Fenster und zog die Vorhänge leicht zurück. Eine winterliche Dämmerung schickte ihre ersten Strahlen in das Zimmer. Frierend zog Brian sich eine Strickjacke über und huschte barfuss zurück zu seinem Bett, auf dem Aron immer noch wie tot lag.

Jetzt erkannte er es besser. Da war tatsächlich etwas. Doch im Licht wirkte es weit weniger drastisch. Trotzdem erkannte Brian einen Streifen getrocknetes Blut, das sich von Arons Schläfe hinunter zu seinem Hals zog. Starr wie eine Salzsäule verharrte Brian auf seinem kalten Platz. Was zum Henker war passiert? War Sonny auf Aron losgegangen?

Decken raschelten. Brian merkte es kaum, so sehr war er vertieft. Nicht einmal seine juckenden Verbände interessierten ihn noch.

„Brian?“ ein verschlafener Tovey blickte zu ihm hinüber. Leise schlüpfte er aus seinem Bett und tappte zu seinem Freund, der auf dem kühlen Boden hockte.

„Was ist denn …?“ Tovey blieb neben Brian stehen.

„Glaubst du, dass Sonny das war?“ fragte Brian heiser.

„Ich weiß nicht“, gab Tovey zu und legte seine rechte Hand auf seinen Mund. „Brian … irgendjemand hat ihn …“

„Was?“ Brian riss seinen Blick von Aron los und sah zu Tovey auf. „Tovey, was hat jemand?“ Seine Stimme war ungeduldig.

„Jemand hat ihn vergewaltigt …“

„Tovey, übertreib nicht!“ sagte Brian, klang dabei aber nur ängstlich, nicht mahnend. Tovey schüttelte leicht den Kopf.

„Ich übertreibe nicht.“

„Jungs, was macht ihr da?“

Ihre Köpfe fuhren herum. Auch Billy war wach geworden. Gleich würden sie zu dritt auf Aron hinabstarren. Und was ist ihre Theorie zu der Sache, Herr Molko?
 

Brian rannte vor der Tür auf und ab, auf und ab, ständig hin und her. Tovey starrte ausdruckslos den Boden an. Billy sah aus als würde er angestrengt nachdenken.

„Okay … okay“, murmelte Brian und blieb endlich stehen. „Krisensitzung, Jungs. Was ist passiert? Ich werd wahnsinnig, wenn ich darüber nachdenke. Wenn Sonny DAS war, dann mach ich ihn eigenhändig kalt!“

„Keine voreiligen Schlüsse, bitte“, sagte Billy und rieb sich müde die Augen. „Ich kann das gar nicht glauben. Tovey, wie kommst du darauf, dass es gleiche eine … du weißt schon was, war?“

„Hast du dir mal seine Arme angeguckt? Überall blaue Flecken und ich wette mit dir, nicht nur da!“ sagte Tovey und riss sich merklich widerwillig aus seiner Trance. Billy verzog das Gesicht, als wolle er es so genau gar nicht wissen. Und genau so war es auch.

„Jungs?“ sagte Tovey und nun hing sein Blick an Aron, der sich seit sie in latente Panik ausgebrochen waren, noch nicht einmal bewegt hatte. Billy und Brian sahen ihn an. „Wisst ihr wo er gestern Nachmittag war?“

Schweigen. Nein, sie konnten sich nicht erinnern. Tovey riss den Kopf hoch und sah Brian an.

„Er war bei Blecket!“

„Ne! Langsam wird mir das zu heftig!“ sagte Billy und hob abwehrend die Hände. „Wenn das so aussieht, dann bin ich doch eher für Sonny, aber Blecket? Oh Gott, das wäre zu widerlich!“

„Frag ihn“, sagte Tovey und erhob sich von seinem Stuhl. Aron wurde gerade wach. Brian hetzte zu seinem Bett und setzte sich vorsichtig auf die Kante. Aron öffnete die Augen und berührte vorsichtig mit der rechten Hand seine Stirn. Ein pochender Schmerz war zurück geblieben, nicht so schlimm wie gestern Nacht, aber stetig.

„Süßer“, sagte Brian sanft. Er flüsterte fast. Tovey bekam eine Gänsehaut. Brian legte seine bandagierte Hand auf Arons. „Brauchst du irgendwas?“

Aron setzte sich auf und sah alle drei Jungs an. Auf Tovey wirkte sein Blick verklärt. Billy tendierte eher zu ängstlich. Brian setzte noch einen drauf. War das nicht schon nackte Verzweiflung?

„Sonny“, sagte Aron leise und Brian warf den anderen beiden einen „Den-seht-ihr-nur-noch-tot!“ - Blick zu. Tovey traten Tränen in die Augen. Billy fragte sich seit wann Tovey wohl Mitleid für Aron empfand. Lag das an seinem neuen Freund?

„Sonny“, wiederholte Aron und atmete tief durch, „hat Bleckt erzählt … das du … das du das Zimmer angezündet hättest. Aber das glaub ich nicht.“

Brian schüttelte sachte den Kopf.

„Warum hätte ich das tun sollen?“

„Nein“, sagte Aron und Brian versuchte ihm zu folgen. „Nicht warum du das hättest tun … sollen. Warum sagt Sonny so was?“

„Der Scheißkerl ist eifersüchtig!“

Aron nickte.

Kurz herrschte Stille, dann, nach einem kurzen Blickwechsel mit Billy und Tovey fragte Brian vorsichtig:

„Wer hat dir das angetan?“

Aron zeigte keine Reaktion. Brian wollte schon erneut zum Fragen ansetzen, als Aron doch endlich etwas sagte:

„Blecket.“
 

„ICH BRING DIESEN DRECKSACK UM!“

„Brian bleib stehen!“

Billy bekam Brians Arm zu fassen und hängte sich mit ganzem Gewicht daran.

„Das bringt doch nichts! Hör auf. Du kannst Blecket nicht kalt machen!“

„Er hat Aron angegrapscht, natürlich kann ich das!“

Billy zögerte nicht mehr. Er zog noch einmal kräftig an Brians Arm und brachte ihn damit zum Fall. Schnell hievte er sich über seinen Freund, packte nun beide Arme und drückte sie auf den Boden.

„Beruhig dich, okay?“ sagte Billy keuchend. Er saß rittlings auf Brian, der noch immer wütend zappelte. „Wir erreichen gar nichts, wenn du ihm an die Gurgel gehst, okay? Beruhig dich ein bisschen. Bitte!“

„Ich will mich nicht beruhigen, verdammte Scheiße!“

Billy hatte seine Mühe Brian auf dem Boden zu halten. Vielleicht hätte er eine Judo Stunde weniger faulenzen sollen.

„Er hat Aron angegrapscht und er hat ihm wehgetan. Er ist ein brutaler, perverser Scheißkerl!“

„Das stimmt ja alles auch!“ schrie Billy gegen Brians Wutanfall an und hoffte, dass kein nerviger Lehrer sie hörte. „Sicherlich hat er das alles. Du solltest lieber zu Aron gehen und für ihn da sein, als hier schreiend auf dem Boden zu liegen wie ein bockiges Kind! Brian, er braucht dich! Wenn du jetzt irgendwelche Dummheiten machst, dann hat weder er noch du etwas davon!“

Brian verstummte urplötzlich. Sein Widerstand ließ nach und er sah Billy von unten herauf an.

„Was kann ich denn für ihn tun?“

Billy war verwirrt.

„Wie meinst du das?“

„Was soll ich für Aron tun? Vielleicht hat er Angst sich von irgendwem anfassen zu lassen. Vielleicht würde ich ihm damit nur noch mehr schaden.“

Stille. Billy schien nachzudenken. Zögernd sagte er:

„Ich denke, wenn jemand Aron trösten kann, dann du. Er wird niemandem mehr vertrauen als dir und du bist derjenige, der für ihn da sein muss. Er liebt dich, man!“

Brian nickte und starrte an Billy vorbei.

„Ich ihn auch“, sagte er leise und Billy lächelte aufmunternd.

„Dann geh hin und hol ihn dahin wo er hingehört! Zu dir du kleiner, blinder Ochse!“

Schwungvoll kam Billy wieder auf die Beine und reichte seinem Freund eine Hand um ihm hoch zu helfen.

„Wirst du das tun?“

Brian nickte entschlossen.

„Ja, ich werde es tun. Ein für alle mal!“

„Gut so!“ sagte Billy, stolz auf seine eigenen Überredungskünste und klopfte Brian auf die Schulter. „Ihr gehört zusammen. Man sollte sich den Naturgewalten nicht in den Weg stellen. Auch nicht wenn man Brian Moore heißt.“

Brian atmete tief durch und wischte sich mit beiden Händen über das Gesicht.
 

Es klopfte sanft an der Tür. Tovey sah auf, erhob sich und ging hin. Aron beobachtete ihn dabei. Eine Sekunde lang zögerte Tovey und öffnete die Tür dann nur einen schmalen Spalt breit.

„Alex!“ sagte er erleichtert und auch Aron atmete auf. Er wartete nur auf den Moment, indem Sonny auftauchen würde. Wenn er daran dachte fingen seine Hände an zu kribbeln und er wurde haltlos nervös.

Der junge Russe trat ein und blickte sich um.

„Störe ich?“ fragte er mit seinem interessanten Akzent und betrachtete Aron. Er schien fast im selben Moment zu wissen, was passiert war, obwohl ihm noch niemand etwas gesagt hatte.

„Nein … also …“, Tovey sah Aron fragend an. „Du störst nicht. Komm rein.“

Alexej schob die Hände in die Taschen und wanderte langsam durch den Raum. Dann platzierte er sich auf einem der Stühle und sah seinen Liebsten verträumt an.

„Es sieht hier fast genauso aus, wie in meinem Zimmer“, sagte er und lächelte. Tovey lächelte auch.

„Ja, hier sieht fast alles gleich aus. Regelrecht eintönig.“

Alexej nickte, sah zur Decke hoch und schien zu überlegen.

„Ich mag die Schule nicht“, sagte er dann und Tovey ließ sich auf sein Bett plumpsen. Er wollte er fragen, warum denn, aber wenn er an Aron dachte, der dort wie ein Häufchen Elend hockte, dann war die Frage wohl überflüssig.

„Euer Schulleiter …“, begann Alexej und streifte mit einem Blick Aron. „Er ist kein guter Mensch. Ich habe das Gefühl, dass er böse ist … böse und …“ Alexej zog die Brauen zusammen, als würde ihm die nötige Vokabel nicht einfallen.

„Pervers?“ sagte Tovey kleinlaut.

„Nein“, meinte Alexej und sah nun Aron unverblümt an. „Nicht pervers. Eher … verkehrt. Falsch! Ja, ‚falsch’ wollte ich sagen!“

Tovey zuckte leicht mit den Schultern. Auch sein Blick blieb jetzt an Aron hängen, der ein paar Sachen von Tovey anhatte. Das T-Shirt und die Hose von gestern waren teilweise kaputt gewesen und Tovey hatte Aron daraufhin seine Sachen angeboten. Jetzt aber, wo Tovey seinen Ex-Erzfeind da so sitzen sah, kam es ihm schon etwas komisch vor. Sie hatten genau dieselbe Kleidergröße.

Von draußen hörte man gedämpft Brians Stimme. Billy’s antwortete ihm. Die beiden Jungs im Zimmer, die wussten zu welcher Mission Brian eigentlich aufgebrochen war, atmeten erleichtert auf. Jetzt klang ihr Freund nicht mehr so wütend und unvorsichtig. Die Tür ging auf und Brian trat gefolgt vor Billy ein.

„Hat er sich wieder beruhigt?“ fragte Tovey etwas ungeduldig und verschränkte etwas zickig die Arme. Alexej kicherte, woraufhin Tovey ihm einen empörten Blick zuwarf.

„Hat er“, sagte Brian und setzte sich zu Aron. „Wie geht es dir, Schatz?“

Schatz?!

Aron starrte Brian eine Sekunde verständnislos an, dann zuckte er leicht mit den Schultern.

„Na ja, nicht toll, aber ich denke … es geht.“

Ein Geräusch, als zerre jemand einen schweren Gegenstand über Linoleum lenkte Aron von Brians komischer Wortwahl ab. Billy hatte seinen Koffer unter seinem Bett hervorgezogen und klappte ihn nun auf. Verständnislosigkeit.

„Was hast du denn vor?“ fragte Tovey und tastete mit seinem Fuß nach seinem eigenen Koffer, der vor sich hinstaubend seinen Schlaf von unten bewachte.

„Nun ja …“, Billy zögerte. „Also ich … denke, jemand sollte Arons Sachen von oben holen, denn er möchte sicher nicht wieder hoch?“

Aron nickte, aber was sollte der Koffer dabei?

„Außerdem …“ fuhr Billy fort. „Könnte er mein Bett haben.“

„Was wird das denn?“ fragte Brian und verzog das Gesicht. „Willst du zu Sonny ziehen?“

„Im Grunde genommen … nein.“ Billy seufzte und sah seine Freunde dann unsicher an. „Jungs, ich muss euch was gestehen.“

„Und das wäre?“ fragten Tovey und Brian gleichzeitig. Aron wechselte einen kurzen unsicheren Blick mit Alexej. Ein eingespieltes Team, nur die beiden mehr oder weniger neuen gehörten noch nicht ganz dazu.

„Die Sache ist die“, meinte Billy und ließ sich im Schneidersitz auf den Boden sinken. „Ich bin verliebt …“

„Wie süß“, flüsterte Tovey.

„Und deshalb werde ich ausziehen.“

Betretenes Schweigen. Dann meldete sich Brian zu Wort.

„Meinst du der perverse Diktator wird deinen Freund nicht aufnehmen? Oder möchte er nicht her? Wäre auch verständlich …“

„Das ist es nicht“, gab Billy zu. „Es ist nicht so wie ihr denkt. Ich … lyncht mich wenn ihr wollt, aber ich bin in ein Mädchen verliebt.“

Wieder schweigen. Bis Brian plötzlich anfing laut zu lachen. Tovey und Aron sahen ihn geschockt an.

„Das ist nicht lustig!“ meinte Billy empört.

„Doch“, sagte Brian und lachte immer noch leise. „Das ist sehr lustig. Hey, komm’ schon. Du bist ne Hete, ja? Na und, wo liegt das Problem? Wieso sitzt du hier wie ein geprügelter Hund? Wir sind die Unnormalen, nicht du.“

Billy schien darüber nachzudenken. Auch Aron grinste jetzt.

Wo er Recht hat, hat er Recht.

„Ich hasse diese bescheuerte Schule“, sagte Brian seufzend und sah dann Billy aufmunternd an. „Ist sie hübsch? Wie heißt sie?“

Billy blinzelte. Dann lächelte er auch.

„Sie heißt Lisa und sie ist sehr hübsch.“

„Schön … dann pack deine Sachen und geh zu ihr. Billy du hast eben selbst gesagt, dass man sich nicht gegen Naturgewalten stellen soll. Auch nicht wenn man Billy Molko heißt.“

Billy nickte dankbar, raffte sich auf und öffnete seinen Schrank um alle Sachen von dort in seinen Koffer zu packen. Brian beschloss hoch ins Dachgeschoss zu gehen und Arons Sachen zu holen. An irgendwelche Regeln verschwendete niemand mehr auch nur einen Gedanken. Blecket war Luft für sie geworden. Zugegeben, dreckige, stinkende Luft, aber immerhin Luft.

Got your chin held high

Got your chin held high

And you feel just fine

Because you do what you’re told
 

„Sonny! Macht auf!”

Verwirrt blickte Sonny von seinen Hausaufgaben hoch. Hörte er jetzt schon Stimmen? Nein, nicht ganz. Die Falltür war nur geschlossen und unten stand irgendjemand der zu ihm hoch brüllte. Sonny erhob sich missmutig und öffnete. Die Leiter sauste nieder. Brian packte Alexejs Schultern und riss ihn einen halben Meter nach hinten.

„Vorsicht, Mordwaffe!“ sagte er und blickte grimmig nach oben.

„Oh mein Gott“, sagte Alexej und spähte nach oben. Licht drang aus der Öffnung in der Decke. „Da hat dein Freund gewohnt?“

„Lange Geschichte“, seufzte Brian und kletterte als erster die Leiter hoch.

„Was willst du denn hier?“ begrüßte Sonny ihn und trat von der Leiter zurück. Wirklich sehr rücksichtsvoll. Brian hievte sich hoch und sah sich dann in dem beleuchteten Zimmer um. Arons Bett stand verlassen in einer Ecke. Darunter befand sich eine Reisetasche. Brian bezweifelte, dass er dort Arons ganze Klamotten hineinbekommen würde. Alexej wuchs neben ihm aus dem Boden und Brian sah ihn an.

„Der Raum hat keine Fenster“, bemerkte der junge Russe und Brian nickte zustimmend.

„Was wollt ihr?“ fragte Sonny noch einmal und betrachtete Alexej, den er noch nie gesehen hatte.

„Drogenfahndung“, alberte Brian etwas humorlos und trat an Arons Bett. Alexej folgte ihm.

„Ist es der Schrank?“ fragte er an Sonny gewandt und deutete auf das unschöne Dinge - aus zwei Türen und ein paar Schubladen bestehend - dass sich neben Arons Schriebtisch auftürmte.

„Ja, das dürfte er sein“, bemerkte Brian an Sonnys Stelle und zog die Reisetasche unter dem Bett hervor. Mit etwas Mühe würde er vielleicht doch eine Menge hineinbekommen. Alexej öffnete den Schrank und betrachtete seinen Inhalt.

„Sieht genauso aus, wie bei Tovey“, bemerkte er und lächelte Brian irgendwie brüderlich an. Brian lächelte pflichtbewusst zurück. Irgendwie war dieser Alexej sehr sympathisch, aber wenn ihm Sonny im Nacken saß, vermieste ihm das die Laune mächtig.

„Woher weißt du, wie es bei Tovey im Kleiderschrank aussieht?“

„Ich weiß sogar, wie dein Freund nackt aussieht.“

Brian ließ von der Tasche ab und stemmte die Hände in die Hüften.

„Ach ja?“

„Ja, ich habe es gesehen, als Tovey ihm seine Sachen zum Anziehen gegeben hat.“ Alex reichte Brian einen Stapel Pullover und T-Shirts.

„Tss, tss, tss“, machte Brian gespielt beleidigt und nahm den Stapel entgegen. Bei Sonny riss der Geduldsfaden.

„Es reicht! Was zum Henker soll das hier?“ rief er wütend und machte in paar Schritte auf Brian zu.

„Das kann ich dir ganz genau erklären!“ fauchte Brian zurück und Alexej bewunderte das kleine Spektakel vom Schrank aus. „Punkt eins: Dein toller Blecket ist ein riesiges Arschloch! Punkt zwei: Du hast Aron behandelt wie Dreck! Das Resultat ist folgendes: Blecket hat Aron vergewaltigt und Aron hat dich verlassen und ich bin jetzt mit ihm zusammen. Ich kümmere mich wenigstens um ihn.“

So war das also. Alexej blickte betreten zu Boden. Der arme Aron. Sonny starrte Brian nur an.

„Ach ja …“, sagte er dann ruhig. Zu ruhig. „Das soll Blecket also getan haben.“

„Das hat er getan“, sagte Brian prompt. Er war wieder so wütend, dass er Sonny gern an die Gurgel gegangen wäre. Der Rest ging schneller als Brian gucken konnte. Sonny holte aus und ein unangenehm stechender Schmerz explodierte in Brian Kopf. Sterne tanzten. Brian kämpfte mit der Ohnmacht. Doch es folgten wider erwarten keine weiteren Schläge. Als Brian wieder einen klaren Gedanken fassen konnte stand Alexej vor ihm und knurrte Sonny wütend an. Brian krabbelte ein wenig rückwärts um das Bett zur erreichen. Sein Kopf dröhnte als würde sein Gehirn eine Rakete starten lassen.

„Du Wichser“, murmelte er und hielt sich mit schmerzverzerrtem Gesicht die Stirn. Er spürte einen Lufthauch, als Alexej sich zu ihm gesellte.

„Brian? Brian, ist alles okay?“

Unsicher sah Brian hoch. Er hatte Angst wieder ohnmächtig zu werden. Seit wann konnte Sonny so heftig zuhauen. Und was hatte ihn davon abgehalten Brian zu Tode zu prügeln, wenn er es doch konnte? Einfach nur Alexejs Anwesenheit?

Nein das war es nicht. Die Antwort auf Brians Fragen hatte Alexej in der Hand. Ein Messer. Ein ausklappbares Messer, und zwar kein Taschenmesser, das so schmal und klein war, dass man es ohne umschweife in der nächsten Tasche verschwinden lassen konnte. Aber Brian sah, dass es gefährlicher war, als seine Größe ihm zugestand.

„Hey, wo kommt das her?“

„Von meinem Papa“, sagte Alexej und blickte lauernd wie ein Wolf zu Sonny hinüber. „Zur Selbstverteidigung.“

„Kleiner, du hast es faustdick hinter den Ohren.“

„Nenne mich nicht Kleiner“, sagte Alexej grinsend und klappte das Messer direkt vor Brians Gesicht zu.

„Schon verstanden.“

Der Rest ging ziemlich schnell. Unter fiesen Kopfschmerzen und Beschimpfungen von Sonnys Seite, packten Alexej und Brian alles zusammen, was sie finden konnten. Brian kam sich dabei vor wie ein schlechter Ladendieb, aber wer war hier denn eigentlich der Böse? Alexejs Taschenmesser war bereits wieder im Nichts verschwunden. Brian hatte nicht gesehen, wo er es hin gesteckt hatte, aber vielleicht wollte er das auch gar nicht. Bepackt verließen sie den etwas schäbigen Dachboden.

„Du kannst ganz schön fies sein, was?“ sagte Brian, als sie die 76 wieder betraten. Sein Kopf dröhnte immer noch, aber es war auszuhalten. Alexej grinste ihn an.

„Das ist ein ganz einfacher Reflex. Wenn jemand mir oder meinen Freunden versucht wehzutun, dann muss ich mich wehren.“

Brian ließ die Tasche auf dem Boden nieder und fasste mit seiner kühlen Hand an seine Stirn.

„Darf ich mich jetzt zu deinen Freunden zählen?“

Aron, Tovey und Billy starrten die beiden verständnislos an. Sie taten gerade so, als wären sie völlig allein hier. Und um was ging es überhaupt? Alexej zögerte mit seiner Antwort.

„Könntest du“, sagte er schließlich. „Ich würde dich eher, als Freundes Freund bezeichnen.“

Süß, dachte Brian und setzte sich.

„Hat jemand Aspirin?“
 

Aron seufzte und tupfte noch einmal mit einem Lappen Brians linke Gesichtshälfte ab. Die Verbände hatte er schon gewechselt. Es sah ganz danach aus, als könnten sie sie bald ganz weglassen.

„Aua“, quengelte Brian, aber Aron hörte gar nicht darauf.

„Du hast also wirklich Sonny gegenüber raus gehauen, dass wir jetzt zusammen wären?“ fragte er etwas tonlos und tauchte den Lappen wieder in das kalte Wasser. Gänsehaut hatte sich auf Brians Armen gebildet.

„Ja“, sagte Brian und vergaß völlig vor Schmerzen rumzuheulen. „Sag bloß, dass du das jetzt nicht willst.“

„Dummchen!“ Aron klatschte Brian den Lappen voll ins Gesicht. Der erstickte Schreckensschrei seines Freundes brachte ihn zum Lachen. Brian riss sich den kalten Lappen vom Gesicht und blinzelte Aron schmollend an. „Tut mir leid. Ich konnte nicht anders.“

Sie schwiegen einen Moment. Aron fühlte wie seine Hände vor Kälte langsam steif wurden. Das eintönige Ticken der Uhr über Billys altem Schreibtisch machte ihn schläfrig. Draußen war es bereits dunkel. Kleine Schneeflocken tanzten vor den Fenstern. Es wurde früh Winter.

„In einem Monat ist Weihnachten“, sagte Aron leise. Er wollte die Ruhe nicht wirklich durchbrechen, aber der schweigende Raum löste in ihm ein beklemmendes Gefühl aus.

„Ich weiß“, sagte Brian, nahm Aron den eisigen Lappen ab und wrang ihn endgültig aus.

„Glaubst du immer noch nicht an Liebe? Du hast immer gesagt, dass du Weihnachten nicht feiern willst, weil du nicht an Liebe glaubst“, sagte Aron. Er nahm sich die Schüssel mit dem Wasser und stellte sie auf Brians Schreibtisch ab.

„Komm mal her, Süßer“, sagte Brian und streckte ihm die Arme entgegen. Aron kam der Bitte nach und ließ sich von seinem besten Freund umarmen. „Ich denke, dieses Jahr könnte man sich das mit Weihnachten vielleicht noch mal überlegen.“

„Inwiefern?“ wollte Aron wissen.

„Vielleicht einfach dir zuliebe. Und vielleicht auch, weil ich dich liebe. Reicht das?“

Aron lächelte.

„Das wäre wirklich ganz, ganz süß von dir.“
 

„Also“, Tovey biss herzhaft in sein Brötchen. Die anderen sahen ihn fragend an. „Was tun wir jetzt, wegen Blecket?“

Sonny war gerade aufgestanden und gegangen. Solange sie den amtierenden Diktatorengehilfen neben sich sitzen gehabt hatten, hatte niemand so recht etwas sagen wollen.

„Aron sollte seine Mutter anrufen. Die würde diesen Arsch mit Ohren auseinander nehmen. Darauf könnt ihr wetten“, sagte Brian und wandte sich an Aron. „Wäre das nicht eine Idee?“

„Da hab ich auch schon drüber nachgedacht“, gab Aron zu, während er ziellos in seinem Kaffee rührte. „Aber um ehrlich zu sein: Ich möchte das nicht. Ich möchte sie nicht unnötig mit so was belasten.“

„Schätzchen“, sagte Tovey vorwurfsvoll. „Das ist auf gar keinen Fall unnötig.“

„Ja, aber“, Aron seufzte. So schlecht ging es ihm doch nicht, oder? Außerdem, wer würde ihm das schon abkaufen, ausgenommen natürlich Brian und die anderen Jungs. Wenn sogar Sonny die Sache für eine Lüge hielt, was würden dann Leute wie die Polizei davon denken? Brian legte ihm die Hand auf die Schulter.

„Denk drüber nach. Wir können ihn nicht einfach damit laufen lassen“, sagte er.

„Ja, das können wir nicht …“, Tovey starrte verträumt in seinen Kaffee.

Das können wir wirklich nicht.
 

Elya riss ungeduldig ein Taschentuch aus der Plastikverpackung und wischte sich energisch übers Gesicht. Dass Handy an seinem Ohr schien zu brennen.

„Verdammt, Nico ich will hier endlich weg! Ich halt das hier nicht mehr aus. Wir sehen uns das ganze Jahr über nur in den Ferien. Das kotzt mich an.“

„Elya …“, die Stimme am anderen Ende klang traurig und resignierend. „Das stimmt ja. Aber dir geht es da doch bestimmt gut. Du hast die ganzen anderen Jungs und niemand der auf dir rumtrampelt, weil du schwul bist. Hier in der Schule ist die Hölle los.“

„Mir völlig egal. Lieber will ich jeden Tag auf die Fresse bekommen, als hier allein zu hängen. Ich werde wahnsinnig! Und mein verdammtes ABI schaff ich ohnehin nicht. Nicht bei diesem Wichser Blecket!“

Elyas Tränen liefen in Strömen. Langsam war einfach alles zu viel. Jetzt war das dritte Jahr an dieser Schule angebrochen, das dritte Jahr in dem er seinen Freund Nico nur wenige Male im Jahr sah: in den Ferien. Eigentlich hatten er und Nico beide auf die Schule gehen wollen. Doch Blecket hatte Nico kurzerhand abgelehnt. Bei der Gesichtskontrolle durchgefallen, sozusagen.

„Wir hätten das gleich lassen sollen! Ich wusste, dass ich das nicht aushalten würde“, schluchzte Elya ins Telefon und hoffte, dass nicht jeden Moment einer seiner beiden Zimmernachbarn hereinplatzten. Diese hirnlosen Idioten, die sich einst seine Freunde geschimpft hatten, gingen immer noch davon aus, dass er Sonny und Aron hatte umbringen wollen. So ein Schwachsinn!

„Ja, vielleicht hast du Recht“, gab Nico endlich nach. Es tat ihm in der Seele weh Elya so weinen zu hören, ihm aber nicht helfen zu können. „Hör zu, Schatz. Ich werde dich morgen abholen. Geh zu diesem Spinner, hol dir deine Abmeldung und pack deinen Koffer.“

„Wirklich?“ fragte Elya und warf das durchnässte Taschentuch in den nächsten Papierkorb. „Kommst du wirklich her und holst mich?“

„Ja, das mach ich. Aber dann musst du mir versprechen, dass du dein ABI machst. Vielleicht nicht dort, aber dann hier bei mir.“

„Versprochen“, sagte Elya erleichtert und presste seine kalte Hand gegen die Stirn. „Kann ich dann erstmal bei dir bleiben, bevor ich meinen Eltern das ganze erkläre?“

„Na klar.“

„Ich liebe dich, Nico.“

„Ich dich auch.“
 

Brian gähnte und bog schwungvoll um die nächste Ecke, nur um genau mit Elya zusammen zu rennen, der gerade von der anderen Seite gekommen war.

„Aua, du Volltrottel!“

„Ganz ruhig!“ Brian hob abwehrend die Arme. „Du hättest ja auch aufpassen können.“

„Sicherlich“, Elya seufzte und schob sich ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht. Brian sah, dass er geweint haben musste.

„Hey, was ist denn mit dir los?“
 

Billy klopfte ungeduldig an der Tür zum Sekretariat. Gleich würde er in Bleckets Büro gehen, dorthin, wo dieses Schwein Aron vergewaltigt hatte. Ihm wurde richtig ungut, wenn er daran dachte. Aber ohne Abmeldung würde er hier nicht mir nichts dir nichts verschwinden können.

„Herein!“

Billy drückte die Klinke runter und trat in den Büroraum. Fräulein Tiele betrachtete ihn fragend.

„Ist … der Schulleiter da?“ fragte Billy und versuchte dabei keine Beleidigung an den Tag zu legen.

„Durchaus“, sagte die Sekretärin und erhob sich. Sie ging wieder zu der Tür rechts von Billy wie die hundert Male zuvor und kündigte dem Diktator den Besuch des Fußvolkes an. Wie so manches Mal gewährte der Diktator die Audienz. Wahrscheinlich war ihm gerade langweilig. Oder er war wieder geil. Wer wusste das schon? Billy trat durch die Tür und hinderte Fräulein Tiele sie zu schließen.

„Das dauert nicht lange“, sagte er und die Sekretärin zog mit einem bösen Blick ab.

Billy machte sich nicht die Mühe erst noch Platz zu nehmen. Blecket betrachtete ihn abwertend.

Bin ich dir nicht gut genug, du kleiner Aasgeier? Macht nichts. Ich würde dich kastrieren, wenn du mich anfasst!

„Was gibt es?“ fragte Blecket, während er die Fleischbeschauung einstellte und eine Zigarette anzündete.

„Ich möchte eine Abmeldung“, sagte Billy ungerührt.

„So, aus welchem Grund?“ fragte Blecket weiter und stand nun seinerseits auf. Unwillkürlich musste Billy sich vorstellen, was hier gestern Abend geschehen war. Ihm wurde schlecht.

„Persönliche Gründe“, antwortete er schlicht.

„Fein“, sagte Blecket nur, öffnete eine seiner vielen Schreibtischschubladen, zog einen kleinen Stapel Formulare heraus und hielt sie Billy hin. „Viel Spaß.“

Pass du mal lieber auf deinen eigenen Spaß auf!

Billy quittierte das mit einem Nicken und einem kurzen Danke. Dann ließ er das Büro hinter sich. Aron tat ihm jetzt nur noch mehr leid. Und irgendwie bezweifelte er, dass Aron der Erste gewesen war.

I'll be your water

I’ll be your water

Bathing you clean

Your liquid peace
 

Elya druckste ein wenig herum. Wie sollte er das erklären? Er hatte mit Brian nichts zu tun, außer ein bisschen Sex war da nichts.

„Ich will die Schule verlassen", sagte er endlich und lehnte sich mit der Schulter gegen die Wand. Brian imitierte die Bewegung unwillkürlich.

„Warum?" fragte er und schob die Hände in die Taschen. Er starrte auf Elyas Haaransatz.

„Wegen meinem Freund ..."

„Phoa!" Brian stolperte einen Schritt zurück. „Du hast einen Freund?!"

Elya strich sich ein paar Haare hinter die Ohren und grinste Brian anzüglich an. Brian fand, dass er trotz der verheulten Augen immer noch sexy war.

„Ja, und zwar schon von Anfang an."

„Und du hast trotzdem ...?!"

Elya nickte und wischte sich über die Wangen.

„Freifahrtsschein, sozusagen, aber bitte, darüber will ich jetzt nicht reden."

Brian starrte den halbblonden Jungen vor sich nur sprachlos an. Hätte er das gewusst!

„Aber ... aber ich bekomm jetzt nicht aufs Maul deswegen?"

Elya lachte laut auf, Brian konnte nicht anders als zu grinsen. Trotzdem machte ihm das zu schaffen. Er wusste, dass manche Typen wirklich eifersüchtig sein konnten. Brian spürte jetzt schon, dass er es nicht gern sah, wenn ein anderer Aron auch nur dumm ansah. Ganz zu schweigen davon, dass ihm schlecht wurde, wenn er daran dachte, was zwischen Sonny und Aron gelaufen war.

„Nico wird dir schon nichts tun. Aber ich denke, er würde dich gern kennen lernen."

Brian verzog das Gesicht.

„Nun ja ... mal sehen ..."

„Überlege es dir. Ich werd jetzt meine Abmeldung holen. Nico holt mich morgen ab."

Brian nickte abwesend. Wahnsinn! Wieso hatte Elya nie etwas gesagt?

„Machs gut."

Mit einem kurzen Lächeln verabschiedeten sich die beiden voneinander. Brian war viel zu sehr irritiert von Elyas Geständnis, als das ihm irgendetwas anderes aufgefallen wäre.
 

Alexej drückte vorsichtig die Türklinke runter. Es war mitten in der Nacht und eigentlich sollte er in seinem Bett sein, aber er hatte einfach nicht schlafen können. Im Gemeinschaftsbad war es stockfinster. Der junge Russe hörte Wasser rauschen. War etwa eine der Duschen in Gang? Blind tastete er nach dem Lichtschalter rechts von der Tür und fand ihn schließlich. Tatsächlich, da musste eine Dusche laufen. Irritiert steuerte er die Kabine an, die geschlossen war. Auf seinen Armen bildete sich eine Gänsehaut. Alexej hatte einen untrüglichen Sinn dafür, wenn etwas nicht in Ordnung war, aber in diesem Fall hätte es wohl ein Blinder gemerkt, dass diese Dusche nicht aus Versehen lief. Alexej tastete nach seinem Messer, aber das würde er wohl nicht brauchen. Zumindest hoffte er es. Bis jetzt wusste nur Brian, dass er dieses Ding mit sich herumtrug. Ein Geschenk von seinem Vater war es gewesen. Ein Geschenk, kurz nachdem damals ...

Alexej drängte die Gedanken zurück. Nicht das Damals war wichtig, sondern das Heute. Vorsichtig streckte er die Hand aus und zog den Sichtschutz zurück. Genau das, was er nie wieder hatte sehen wollen, eröffnete sich ihm. Alexej wich zurück und kniff die Augen zu. Das Rauschen des Wassers dröhnte in seinen Ohren.

Nicht weglaufen. Du kannst nicht weglaufen. Du darfst nicht weglaufen!

Natürlich nicht. Alexej riss die Augen auf. Es war Elya, der dort in der Dusche saß, fast blau vor Kälte und splitterfasernackt. Hektisch sah der junge Russe sich um. Sein Zimmernachbar war heute Abend nicht erschienen, aber das war allgemein gesehen nichts Sonderbares. Er wusste, dass Elya sich manchmal noch mit anderen Jungs herumtrieb. Aber das hier sah nicht danach aus. Alexej riss ein paar Handtücher aus der Borte, die neben den Waschbecken angebracht worden war und warf sie dann neben sich auf den Boden. Vorsichtig zog er Elya aus der Dusche. Es war fast alles wie damals, nur das Blut fehlte und das war gut so.

„Hey, hey, Elya. Hörst du mich? Sag was!"

Das Wasser war eiskalt. Es tat weh an Alexejs Fingern. Vorsichtig wickelte er Elya in ein paar Handtücher und strich dann die nassen Haare aus seinem Gesicht. Die Dusche lief unbeeindruckt weiter. Was jetzt? Hilfe holen, aber wo? Verzweiflung machte sich in Alexej breit. Wo konnte er Hilfe finden?
 

In Brians Traum versuchten sie die Tür einzuschlagen. Wie konnte er sie aufhalten? Was wenn sie ihn kriegen würden? Nein, das durfte auf keinen Fall geschehen.

„Brian!"

Jetzt riefen sie ihn. Oh Gott, dass war sein Ende. Er sah die Tür auffliegen und jemand packte ihn, um ihn zu schütteln.

In diesem Moment fuhr Brian aus dem Schlaf hoch und blickte in Arons Gesicht. Der Kopf seines Freundes verdeckte die Lampe im Zimmer so, dass es wirkte, als habe er einen Heiligenschein. Brian riss seinen Blick von Aron los und sah Alexej auf Toveys Bett hocken. Tovey selbst war verschwunden. Der junge Russe hatte sein Gesicht on den Händen vergraben und seine Klamotten waren teilweise nass.

„Was ist los?" fragte Brian verstört.

„Irgendwas mit Elya", murmelte Aron und wollte sich grad zu Alexej hinüber begeben, als Brian ihn festhielt.

„Was, mit Elya?" wollte er wissen. Aron sah ihn mit halb geöffnetem Mund an, als wäre er empört darüber, dass dieser Kerl Brian so wichtig war.

„Ich weiß es nicht", sagte Aron leise und brach den Blickkontakt ab.

„Du weißt es."

„Selbst wenn, woher wollen wir wissen, dass es stimmt. Kein Mensch weiß, ob er wirklich bei Blecket war", Aron wand sich aus Brians Griff. Er zitterte, auch wenn er versuchte es zu unterdrücken.

„Ich weiß es", sagte Brian tonlos. „Scheiße, ich Idiot. Warum hab ich ihn nicht gewarnt?"
 

„Alex, Schatz? Ich hab hier was gefunden. Das könnte dir helfen für deinen ... Alex?" Tovey trat hinter dem Regal hervor. Sie waren in der Schulbibliothek um Materialien zu sammeln, für ihre Jahresarbeiten. Tovey, der seine eigene schon fast fertig hatte, war nun dabei Alexej bei seiner unter die Arme zu greifen. Sowohl in Sachen Ausdruck und Rechtschreibung, als auch Inhaltlich. Verwirrt sah sich Tovey um. Alexej war schon den ganzen Tag irgendwie schlecht drauf gewesen, hoffentlich war ihm jetzt nicht schlecht geworden. Tovey gefiel es nicht ganz, dass sein Freund sich mehr Sorgen um Elya machte, als um ihn, aber Alexej hatte behauptet, dass es das nicht sei. Höchst merkwürdig. Jemand tippte ihm auf die Schulter. Tovey sprang einen halben Meter in die Höhe vor Schreck und fuhr entsetzt herum. Billy stand hinter ihm, die Arme erhoben, als wolle er sich ergeben.

„Sorry, Toto, wollte dich nicht erschrecken“, entschuldigte Billy sich.

„Hast du aber“, Tovey presste das Buch gegen seine Brust. „Ich werde es überleben.“

„Das will ich hoffen“, Billy lächelte, ein Lächeln der schuldbewussten Sorte. „Ich wollte mich bei dir verabschieden. Meine Freundin holt mich in zehn Minuten ab.“

„Oh … ja … Mensch, ich werd dich vermissen … denke ich … Ich kann mir das hier alles ohne dich gar nicht vorstellen.“ Tovey sah sich nervös um, in der heimlichen Hoffnung, dass Alexej irgendwo in seinem Blickfeld auftauchen würde. Doch das geschah nicht. Stattdessen streifte sein Blick einen Typen im Anzug. Toveys Herz machte wieder einen Hüpfer. Blecket? Nein, es war nur Sonny … ob das wirklich besser war? Ohne hinzusehen legte Tovey das Buch weg und schob die Hände in die Taschen. Erst jetzt realisierte er voll und ganz, was eigentlich grad los war. Billy würde bald einfach nicht mehr hier sein.

„Du doofe Hete“, sagte Tovey und stupste mit seiner Schuhspitze gegen Billys Fuß. „Läufst einfach weg.“

„Jeder muss seinen eigenen Weg gehen“, sagte Billy weise und grinste schief. Tovey grinste zurück, so gut es eben ging. Im Moment hatte er einfach zu viel im Kopf. Aron, Elya, Billy, Alexej … Blecket, Sonny, Brian … das war einfach zu viel.

„Ich wünsche dir trotzdem alles Gute im Reich der Heten und herzlichen Glückwunsch, dass du dem Diktator Wichser entkommen bist.“

„Das hab ich gehört!“ zischte Sonny vom anderen Ende des Bücherregals. Tovey erschrak wieder, aber dieses Mal saß der Schock nicht ganz so tief.

„Ja und? Komm ich jetzt ins KZ? Leck mich!“

Tovey schüttelte sich verärgert. Auch Billy sah aus, als hätte er gerade auf etwas Saures gebissen.

„Wie dem auch sei …“, fing Billy an und riss seinen Blick von Sonny. Die Freundschaft war gekündigt. Darum musste er sich nicht scheren. „Machs gut, ja?“

„Klar … immer doch.“

Billy umarmte seinen Zimmernachbarn und Freund.

„Und pass auf dich auf, verstanden?“ sagte er leise und Tovey nickte. Das war gut gemeint, kam aber viel zu spät.
 

„Da kommt wer“, sagte Brian. Aron blickte hoch. Er hatte sich auf den Stufen zum Internatsgebäude niedergelassen und gedankenverloren mit seinen Chucks im Sand gescharrt. Brian hatte ihn die ganze Zeit dabei beobachtet, unsicher was er sagen sollte. Ihm war ganz entgegen seiner Gewohnheiten nichts eingefallen.

„Was meinst du? Elyas Freund oder Billys Freundin?“

„Rotes Fahrgestell … Billys Freundin“, vermutete Brian und ließ sich neben Aron nieder. Eine Zigarette baumelte zwischen seinen Fingern. Ein Zeichen dafür, dass es ihm nicht gut ging.

„Du kannst immer noch keinen Opel von einem Toyota unterscheiden, stimmt’s?“ fragte Aron und klaute Brian die Zigarette.

„Muss ich das?“ fragte Brian und folgte mit den Augen Arons Hand. Hängen blieb sein Blick an dessen blassrosa Lippen. Wann hatte er sie das letzte Mal küssen dürfen? Brian kam es vor, als läge diese Zeit Millionen von Jahre zurück. Das rote „Fahrgestell“ hielt einige Meter von ihnen entfernt. Brian hatte Recht gehabt. Es war Billys Freundin. Aron sah eine hübsche, junge Frau aussteigen. Sie war ungefähr so groß wie er selbst und hellblond. Unsicher lächelte sie Aron und Brian an. Aron lächelte etwas halbherzig zurück. Brians Kopf sackte gegen seine Schulter.

„Was hast du?“ wollte Aron wissen und zog noch mal an der Zigarette. Ihm wurde schlecht. Das fühlte sich gut an.

„Nichts, nichts, nichts“, log Brian und schlug dabei mit seinen Händen auf seine Oberschenkel.

„Es ist nur eine Frau. Sie wird dir nichts tun. Versprochen.“

Brian seufzte als Antwort. Das war nun wirklich nicht das Problem.

Die Tür des Internatsgebäudes knarrte. Brians Kopf schoss hoch und er erblickte einen schwer bepackten Billy. Hastig sprang er auf um seinem Freund zu helfen.

„Heute so höflich?“ alberte Billy und gab Brian dankbar eine Tasche ab. Aron beobachtete teilnahmslos, wie die beiden anderen Jungs Billys Sachen in das Auto von Billys Freundin (Lisa hieß sie, oder?) luden und noch ein paar Albernheiten austauschten.

„Lisa, das ist Brian. Brian, Lisa.“

„Hocherfreut“, sagte Brian und reichte Lisa seine Hand. „Egal, was er dir über mich erzählt hat, wenn es was Schlechtes war, dann stimmt es nicht.“

Aron beschloss, dass die Zigarette in seinen Besitz übergegangen war und inhalierte wieder tief den Rauch. Die Übelkeit wurde noch schlimmer.

„Machs gut, Brian“, sagte Billy jetzt und umarmte seinen zweiten Zimmernachbarn genau wie seinen ersten. „Passt auf euch auf, damit ich mir keine Sorgen machen muss. Und behaltet Sonny im Auge.“

„Aber nur mir Sonnenbrille. Sonst bekomme ich Augenkrebs“, brummte Brian. Er verabschiedete sich auch wieder von Lisa. Billy winkte Aron zu, der das etwas schleppend und nicht wirklich fröhlich erwiderte. Als das Auto das Schulgelände verließ, trat Aron die Zigarette auf dem Kies aus. Der kalte Dezemberwind fegte ihm in einer Böe durch das Haar. Jetzt bloß wieder rein, sonst würde er hier erfrieren.
 

„Nicht zu glauben!“

„Reg dich nicht auf …“

„Was bildet er sich ein!“

„Hör auf, Sonny?“

„So was über Sie zu sagen!“

Ronald Blecket seufzte resignierend. So ein übereifriger Junge. Vor knapp 5 Minuten war Sonny in das Büro seines Schulleiters gestürmt und hatte erzählt, wie böse, böse, böööse Tovey doch über ihn geredet habe. Schnee von gestern. Es gab nichts, was Blecket nicht wusste. Sie nannten ihn den Diktator, das wusste er. Sie gaben ihm unschöne Namen, das wusste er auch. Es kümmerte ihn nicht, solange er daran dachte, was sie ihm gaben, ohne dass sie es wussten. Die ganzen kleinen heimlichen Pornos, was für eine Bereicherung. Besonders Brian Moores unzählige Ausschweifungen waren eine Pracht gewesen.

Kameras, in jeder Ecke, in jedem Raum, in jeder Dusche … überall. Außer … ja außer hier. Beweismaterial konnte immerhin niemand gebrauchen.

„Diese ganzen Lügen und das alles …!“ Sonny stütze sich mit beiden Händen auf den Schriebtisch und betrachtete Blecket. Ein Gott von einem Mann. Elegant, sexy einfach umwerfend. „Sie müssen doch etwas tun.“

„Sonny. Hör auf dir dein hübsches Köpfchen für mich zu zerbrechen.“

Sonny wurde rot und wandte sich ab. Blecket duzte ihn, das war schon irgendwie neu, aber jetzt sagte er auch noch so was Vertrauliches. Sonny begann in seinem Jackett zu schwitzen.

„Das gefällt mir alles nicht“, sagte er atemlos. Blecket lehnte sich in seinem Stuhl zurück und musterte seinen Goldjungen fragend. „Das ist zu … zu gut organisiert. Es sieht alles so aus, als wären Elya und Aron wirklich …“

Blecket begann zu lachen. Verwirrt wandte Sonny sich wieder zu ihm um.

„Du traust den Püppchen so was zu? Na, da bin ich aber enttäuscht von dir. Sei doch mal ehrlich. An meinem Bett hängen Eiszapfen, meinst du nicht ich bin verzweifelt genug …“

„Aber …“

„Sonny, ich bin kein Unschuldsengel. Das weißt du auch.“

„Aber …“

„Was, aber?“ Blecket stand auf und setzte sich auf den Rand seines Schriebtisches. Dieser Junge war nicht dumm, das wusste er. Nur etwas … verklemmt. Verklemmt in seinem Denken. Man konnte aus Sonny noch viel mehr rausholen. Die Idee war verlockend. Früher hatte er in Sonny nur den doofen, kleinen Streber gesehen, aber da war noch mehr. Das permanente Kopieren seiner Klamotten und seines Auftretens kam nicht von ungefähr. Bei Sonny gab es etwas zu holen.

„Sie sind …“

„Du.“

„Was?“ Sonny war verwirrter als zuvor. Blecket benahm sich komisch. Eindeutig. Diese Kälte, die Sonny so anziehend fand, war etwas gewichen.

„Du kannst mich duzen, okay?“
 

Anm. v. A:
 

:(

Never thought I'd ever get to you

sehen konnte. Brian kam es so vor, als würde für Sekunden sogar die Stille hallen.

Never thought I’d ever get to you
 

Sonny blinzelte verstört. Duzen? Ihm war als hätte er das Wort nie vorher gehört. Blecket duzen? Das war, als würde wäre man die Frau des Bundeskanzlers. Irgendwie … wichtig. Unscheinbar, aber wichtig.

„Nun guck mich nicht an, wie ein Auto. Ich meine es ernst“, sagte Blecket und legte den Kopf schief, während er Sonny eingehend betrachtete.

„Das ist … irgendwie … ungewohnt“, stammelte Sonny nervös.

„Kann schon sein. Wer kann von sich schon behaupten, dass er mit seinem Lehrer auf du ist, nicht wahr? Oder möchtest du das nicht?“

Was für eine Frage! Wer würde denn da nein sagen … Sonny jedenfalls wäre eher gestorben, als Blecket irgendetwas abzuschlagen. Er wollte grad den Mund aufmachen, doch ihm fehlten schlichtweg die Worte.

„Jedenfalls …“, griff der Schulleiter das alte Thema wieder auf. „Du brauchst dich nicht aufregen. Sie können sagen, was sie wollen.“

Sonny nickte und ging rückwärts auf die Tür so, um sich respektvoll zu entfernen. Doch Blecket hielt ihn noch einmal zurück.

„Du solltest die Anzüge lassen. Sie stehen dir nicht.“

Mit hochrotem Kopf verließ Sonny das Sekretariat.
 

„Ich geh jetzt rein“, sagte Aron unvermittelt und hievte sich von seinem Platz auf der Stufe hoch. Selbst durch den Stoff seines Mantels spürte er die Kälte der Steine schon. „Kommst du mit?“ fragte er an Brian gewandt.

Brian schüttelte sachte den Kopf und trat frierend von einem Fuß auf den anderen.

„Elyas Freund muss auch gleich da sein. Ich muss ihm irgendwie schonend beibringen, was passiert ist und ihn dann hoch bringen. Alex hat gesagt, dass Elya überhaupt nicht ansprechbar ist. Ich glaube nicht, dass er von selbst hier runter kommen wird.“

Aron nickte abwesend. Schön, wie Brian sich doch um Elya sorgte. In seinem Kopf hatte sich ein fieser kleiner Schmerz eingenistet. Direkt an der linken Schläfe lag sein Ursprung. Ohne ein weiteres Wort wandte Aron der Kälte den Rücken zu und verschwand in der Wärme des Internats. Brian sah ihm traurig hinterher.

Die Geräusche eines weiteren Autos lenken ihn ab. Mit einem prüfenden Blick richtete Brian seinen Blick auf den Schulhof. Dieses Mal war es ein schwarzer Wagen. Sah ziemlich elegant aus und irgendwie wichtig. Ob das Elyas Freund war? Unruhig trat Brian mit dem Hacken gegen die erste Stufe, der Treppe, auf der Aron eben noch gesessen hatte. Sanft glitt der schwarze Wagen in eine Parklücke. Der Motor wurde abgestellt und jemand stieg aus. Brian begann nun mit der Schuhspitze auf die Stufe zu Trommeln. Der Mann war jung. Er hatte natürlich blondes Haar, das unheimlich hell im kalten Licht der Dezembersonne glänzte. Tatsächlich. Überhaupt nichts für Bleckets Raster. Bluejeans, ein absolutes No Go. Dann die Haare und was dem ganzen die Krone aufsetzte, war die weiße Jacke. Brian hätte einen hunderter darauf verwettet, dass diese Jacke für ein Mädchen bestimmt gewesen war. Trotzdem stand sie Blondie auffällig gut. Brian machte ein paar Schritte vor. Blondie fasste ihn ins Auge.

„Hi“, sagte Brian, immer noch die Arme verschränkt und erbärmlich frierend. „Bist du zufällig … Nico?“

„Hi, ja der bin ich.“

Jetzt kam der schwierige Teil.

„Ich bin Brian. Also … du weißt schon.“

Nico lächelte. Irgendwie strahlend und irgendwie süß. Trotzdem passte er nicht in Bleckets Muster. Elya hatte Recht gehabt. Nico war bei der Gesichtskontrolle durchgefallen.

„Schön dich kennen zu lernen. Elya hat mir viel von dir erzählt.“

Was er wohl erzählt hat? Die Frage schoss Brian ganz unvermittelt durch den Kopf. Unsicher biss er sich auf die Unterlippe.

„Es gibt da ein Problem“, fing er an und schob nun die kalten Hände in seine Hosentaschen. „Aber das sollte Elya dir vielleicht selbst erklären. Ich werd dich erstmal zu ihm bringen.“

Besorgnis schlich sich in Nicos Mine. Brian lächelte traurig, als wolle er sagen: „Hey Kumpel, shit happens.“

Zu zweit betraten sie das Internatsgebäude. Leichtfüßig hüpfte Brian die Treppe hoch, Nico folgte ihm weitaus besorgter. Vor der Tür zögerte Brian noch einmal und sah Nico prüfend an. Da musste Blondie jetzt durch. Wozu also alles hinausschieben? Brian klopfte sanft mit den Knöcheln gegen die Tür. Vor drinnen hörte man Schritte. Alexej öffnete.

„Hi, Alex“, sagte Brian. „Ist Elya hier?“

„Natürlich“, erwiderte Alexej und betrachtete dann Nico abschätzend. „Wer ist er?“

„Elyas Freund“, sagte Brian und zuckte dabei kaum merklich mit den Schultern. Die wärme des Gebäudes wollte noch nicht recht auf ihn übergehen. Die beiden Jungs betraten das Zimmer unter Alexejs prüfenden Blicken. Elya saß quer auf seinem Bett. Den Kopf und den Nacken gegen die kalte Wand gelehnt, die Hände nutzlos auf seinem Schoß abgelegt und ein Bein angewinkelt. Er sah aus wie ein Häufchen Elend. Brian wandte den Blick ab.

„Hey, Elya. Ab nach hause mit dir. Nico ist da um dich abzuholen.“

Keine Reaktion. Nico erbleichte merklich. Was zur Hölle war passiert?

„Süßer?“ Unsicher setzte er sich neben seinen Freund auf das Bett. Immer noch reagierte Elya nicht.

„Der Arzt hat gesagt, es ist wie eine … Kata – Kata – Katatonie“, sagte Alexej. Er kämpfte mächtig mit dem Fremdwort.

„Arzt?“ fragte Nico erschrocken und sah nun wieder Brian an. „Was ist denn passiert? Kann mich mal jemand aufklären?“ Seine Hand mit den hübsch manikürten Fingern griff nach Elyas. Dieser erschrak unverhofft. Nico zuckte zusammen. Eine Sekunde lang sahen sie sich an, dann warf Elya sich in Nicos Arme.

„Süßer, was war denn los?“ fragte Nico sanft. Brian sah seine Hände zittern.

„Will nicht – drüber – reden“, stammelte Elya und schlang seine Arme nur noch fester um seinen Liebsten. „Will einfach – weg.“

„Es gibt da nur ein kleines Problem“, sagte Alexej leise und jetzt fiel Brian auf, dass der junge Russe mindestens einen Meter neben sich stand. Unsicher stützte er sich mit einer Hand an seinem Schreibtisch ab. Sein Gesicht war fast so blass wie Nicos. Heiliger Strohsack, war ihm etwa auch was passiert? Nein, unmöglich. Alexej konnte sich wehren, dass wusste Brian mehr als genau, aber was war es denn dann?

„Jemand muss noch die Abmeldung ausfüllen“, fuhr Alexej fort und mühte sich Nico anzusehen.

„Gib her“, sagte Blondie verbissen und hielt Alexej seine Hand hin. „Ich mach das und dann verschwinden wir.“

Liebevoll löste Nico sich von Elya und erledigte den Papierkram. Brian half ihm dabei, Elyas Koffer nach draußen zu tragen. Unten auf dem Flur verabschiedeten sie sich voneinander.

„Ich denke, er wird’s dir sagen“, meinte Brian, war sich seiner Sache jedoch nicht sicher. Elya hing wie ein Schluck Wasser an seinem Freund, sah nun aber Brian wenigstens an. Auch wenn dieser Blick unheimlich abwesend wirkte, Brian beruhigte es, dass Elya Reaktion zeigte. Mit einem kleinen Lächeln hob er die Hand zum Abschied für Elya.

„Mach’s gut. War schön dich kennen gelernt zu haben.“

Elya lächelte zurück. Sehr beruhigend, wie Brian fand. Er löste sich kurz von Nico und legte die Arme um Brians Schultern.

„Danke für alles“, sagte er und küsste Brian auf den Mund. Und das war kein keuscher, unschuldiger Kuss. Etwas geschockt ließ Brian seinen Blick zwischen Elya und Nico hin und her gleiten. Nico schien durchaus zufrieden. Er winkte Brian zu und führte Elya mit einer Hand auf seinem Rücken aus dem Gebäude.

Verrückt! Absolut verrückt!

Brian fuhr sich mit der Hand über die Stirn und wandte sich dann zum Gehen um. An Nicos Stelle hätte er das Sicherlich nicht zugelassen.

„Ich hoffe du erwartest jetzt nicht, dass ich mich auch bedanke?“

Brian sprang fast einen halben Meter in die Luft vor Schreck. Aron stand unmittelbar vor ihm, dass hübsche Gesicht zu einer steinernen Maske der Wut verhärtet.

„Da lässt man dich nur 10 Minuten aus den Augen …“

„Aron, ich bitte dich. Das war nun wirklich …“

„Nur zehn Minuten!“ fiel Aron ihm ins Wort und machte einen Schritt zurück. „Und du hast nichts anderes zu tun, als … Ich glaub es einfach nicht! Aber ich hab geahnt, dass das passiert!“

Brian hob unschuldig die Hände.

„Was hast du denn?“ fragte er und versuchte für Aron möglichst reumütig auszusehen. Seit wann schob sein bester Freund – Korrektur: sein Freund – solche Eifersuchtsnummern?

„Da lässt man dich ein paar Tage nicht ran und du … du holst es dir gleich woanders. Das ist doch so typisch Brian Moore!“

„Ich hab mir gar nichts geholt!“ verteidigte Brian sich und ließ seine Hände kraftlos fallen. „Aron, das eben ging ganz allein von Elya aus und da war auch nicht mehr.“

Aron verschränkte die Arme fest vor der Brust. Er hatte immer noch seinen schwarzen Mantel an und sah vollkommen durchgefroren aus. Ein leichtes Zittern ging von ihm aus.

„Selbst wenn du es dir nicht bei ihm geholt hast. Du hast es dir woanders geholt. Gib es zu!“ sagte er und selbst seine Stimme war unsicher und zittrig.

„Ich hab mir gar nichts geholt“, wiederholte Brian und zuckte nun mit den Schultern. „Wie kommst du darauf?“

„Du bist einfach du. Und du bist … bist viel zu geduldig …“

Brian sah seinen Freund traurig an, dem von einer Sekunde auf die andere Tränen in Strömen über das Gesicht flossen. Das war das erste Mal, seit dem besagten Abend, dass Aron weinte. War es nicht höchste Zeit dafür? Brian überbrückte den Abstand zwischen sich und Aron und nahm seinen Freund in die Arme. Aron ließ sich Schutz suchend gegen Brians Schulter fallen.

„Ich komm einfach nicht klar damit …“, da war kein Schluchzen und Schniefen, nur die Tränen und die zitternde Stimme und Gestalt.

„Das hätte mich auch gewundert“, murmelte Brian und streichelte beruhigend Arons Rücken. „Meinst du irgendjemand kommt einfach damit klar?“

„Ich mach mir solche Vorwürfe“, Aron legte seine Hände auf Brians Schultern und sah ihn mit tränennassem Gesicht an. Grauschwarze Streifen seines Kajals zierten seine Wangen. „Ich will ja mit dir schlafen, aber … es … ich muss jedes Mal daran denken. Und du bist so geduldig und forderst nichts. Ich hatte wirklich Angst, dass du es dir irgendwo anders holst. So wie sonst immer. Und ich war eifersüchtig und …“

„Ganz ruhig“, unterbrach Brian ihn. „Geh die Sache mal langsam an. Du musst nichts tun, was dir Angst macht, auch nicht für mich. Und meinst du nicht, dass selbst ich es verstehe, wenn du einfach Angst hast?“

„Schreib mal Vergewaltigung neben Sex und du wirst sehen, dass da ein großer Unterschied liegt.“

Brians Kopf schoss hoch, Aron fuhr herum. Tovey stand an der nächsten Ecke, gegen die Wand gelehnt, die Hände in den Taschen.

„Ich bitte dich“, zischte Brian beleidigt. „Was soll das jetzt wieder werden?“

Tovey stieß sich von der Wand ab und ging auf die beiden zu.

„Nennen wir es … Erfahrungswerte austauschen“, dabei blieb er neben Aron stehen und wippte auf den Fußballen auf und ab. „Hat jemand von euch Alex gesehen?“

Brian schüttelte verständnislos den Kopf.

„Könntest du mal vorn anfangen? Was denn für Erfahrungswerte?“

„Geht dich nichts an. Hast du Alex gesehen?“

„Oben …“, sagte Brian. „In seinem Zimmer. Danke für das Gespräch.“

Er nahm Arons Hand und gemeinsam verschwanden sie. Tovey blickte ihnen einen Augenblick nach, dann senkte er den Blick wieder auf den Boden. Oben also. In seinem Zimmer. Komisch.
 

Es hatte die ganze Nacht geschneit. In vier Tagen stand der Heilig Abend an, aber noch gab es keine Ferien. Der vierundzwanzigste Dezember fiel dieses Jahr auf den Sonntag. Das bedeutete, dass erst am dreiundzwanzigsten die Ferien begannen. Brian streckte sich seufzend auf seinem Stuhl und beäugte dann wieder seinen Schülersprecher herausfordernd. Auch Tovey und Aron warfen ab und zu einen verwirrten Blick auf ihren sonst so adretten Jackettträger.

Leider war da kein Jackett mehr. Und überhaupt: Sonny sah gar nicht mehr aus wie Ronald Blecket. Der Wandel war verblüffend.

„Hast du eine Wette verloren?“ fragte Brian endlich. Tovey und Aron wurden hellhörig. Sonny schnaubte beleidigt. Er trug weiterhin ein weißes Hemd, dass locker geknöpft war und doch noch etwas an den Schulleiter erinnerte, dazu eine normale Jeans, blau und ausgewaschen, und eine dünne Lederjacke, die das Jackett zu ersetzen schien. Brian rümpfte die Nase. Sonny sah fast gut aus, aber auch nur fast.

„Steht Blecket etwa auf Leder?“ fragte er beiläufig, brachte damit aber Sonny sofort auf 180.

„Was hat denn das mit Ro … mit Herr Blecket zu tun?“ fragte er aufgebracht. Brian zog eine Augenbraue hoch. War der Versprecher nur ein zufälliger Versprecher gewesen, oder etwa ein begründeter? Duzten die beiden sich schon? Widerliche Vorstellung, aber das traute Brian Sonny nun wirklich nicht zu. Eine Affäre mit dem Perversling, das wäre wohl zu viel des Guten.

„Man kann nie wissen“, sagte Brian und spürte einen kleinen Stoß von Arons Fuß an seinem eigenen. Verwirrt blickte er seinen Freund an, doch Aron tat so, als wäre nichts gewesen. Sonny erhob sich beleidigt und zog von dannen. Keine Minute später beendete auch Blecket sein Essen und verschwand.
 

„Irgendwann polier ich ihm wirklich noch die Visage“, murmelte Sonny wütend und ließ sich auf Bleckets Schreibtischstuhl sinken. Brian ging ihm so auf die Nerven. Es war nicht auszuhalten.

Die Tür des Büros wurde sanft geöffnet. Sonny sah hoch. Ronald Blecket lächelte ihn mitleidig an.

„Was ist los, Kleiner?“

Sonny seufzte, während sein Lehrer auf ihn zuging und sich auf den Rand des Schreibtisches setzte.

„Ich hasse Brian“, sagte er und schlug die Beine übereinander. Ungeduldig stellte er den Kragen seines Hemdes auf und verschränkte missmutig die Arme vor der Brust.

„Ein Bild für die Götter“, Blecket lächelte immer noch. „Warum regt dich dieser kleine Wurm denn auf? Er bewegt sich drei Meilen unter deinem Niveau.“

„Mag sein“, erwiderte Sonny. „Aber er sitzt leider jeden Morgen und jeden Abend direkt vor meiner Nase.“

„Du kannst ja mit am Lehrertisch essen“, ein schlechter Witz. Blecket lachte trotzdem. „Komm, Kopf hoch, Kleiner. Der ist es nicht wert, das weißt du.“

Sonny löste die Verschränkung seiner Arme und blickte zu ihm hoch. Fast sehnsüchtig, niedlich naiv. Ein Zug den er vorher vehement unterdrückt hatte, aus Angst nicht ernst genommen zu werden.

„Ich hasse ihn aber.“

„Na, na, du bist doch wohl nicht eifersüchtig?“

Sonny zog den Stuhl näher an den Tisch und sah jetzt fast senkrecht zu Blecket auf.

„Worauf? Auf sein hübsches Gesicht? Auf seinen tollen Körper? Auf seinen knackigen Arsch? Darauf das er Aron hat? Wie könnte ich?!“

Blecket lächelte immer noch.

„Sag bloß … Würdest du den kleinen Aron mir vorziehen?“

Sonny senkte den Blick, schien zu überlegen.

„Nicht wirklich“, sagte er dann vorsichtig. „Aber er ist durchaus was Besonderes. Man will ihn einfach haben.“

„Ja … Komm mal hoch da. Das ist mein Thron.“

Sonny spurte sofort und ließ seinen Lehrer Platz nehmen. Blecket hob beide Hände und klopfte damit auf seine Oberschenkel. Sonny sollte sich auf seinen Schoß setzen. Und Sonny gehorchte ohne zu zögern.

„Der kleine Aron ist schon etwas ganz exotisches, nicht wahr?“ Blecket streckte die rechte Hand aus und fuhr damit über Sonnys Wange. „Vielleicht sollten wir ihn uns holen und dann einfach verschwinden?“

„Das wäre Entführung“, sagte Sonny.
 

„Tss, wie peinlich“, murrte Tovey und starrte missmutig die Tür an, durch die Sonny verschwunden war. „Unser Oberstreber mutiert zum Fashion Victim? Das ich nicht lache.“

„Ich find das gar nicht so witzig“, meinte Brian. „Es ist einfach nur doof.“

„Lasst ihn doch“, wandte Aron ein und zupfte an dem Ärmel seines schwarzen Pullovers. Er war wie immer Stilecht ganz dunkel gekleidet. Die Ärmel seines Pullovers reichten bis über die halbe Hand. Das Problem kannte Brian. Bei seinem Pulli war das auch nicht anders, doch im Moment hatte er die Ärmel hochgekrempelt. Tovey wandte sich um und betrachtete den Tisch, an dem Alexej mit seinen beiden verbliebenen Zimmernachbarn saß.

„Findet ihr nicht auch“, fragte er dann Aron und Brian, „das Alex irgendwie anders ist? Seit er Elya in der verdammten Dusche gefunden hat, wirkt er etwas … weggetreten.“

Brian nickte zustimmend. Das war ihm auch aufgefallen, aber genau genommen hatte er noch keine direkte Verbindung gezogen.

„Brian?“ fragte Aron vorsichtig. Brians Blick huschte von Alex Rücken zum Gesicht seines Freundes.

„Ja?“

„Kann ich … mal mit dir reden? Unter vier Augen?“

Beleidigt stützte Tovey das Kinn auf die Rechte Hand und stemmte den Ellenbogen auf den Tisch.

Fein, dann lasst mich alle allein, dachte er wütend und blickte wieder zu Alexej hinüber, der aufgestanden war und auf ihren Tisch zukam.
 

Die Zimmertür fiel leise ins Schloss. Brian hörte das Geräusch noch hallen. Sein Blick wanderte über die Betten. Es hing noch immer ein leichter Duft im Raum, der ihn an Billy erinnerte.

„Was ist denn los?“ fragte er. Draußen hatte es wieder begonnen zu schneien. Brian hasste Schnee. Dieses eklige, nasse, weiße Zeug hatte ihn schon als Kind angewidert.

„Ich glaube, ich hab wirklich … wirklich ein Problem.“

Brian wurde aufmerksamer. Sein Kindheitstrauma Schnee war von einer Sekunde auf die andere vergessen. Ein Problem? Natürlich. Oder war eine Vergewaltigung etwa kein Problem? Aron hatte die Ärmel seines Pullovers zwischen Handfläche und Finger geklemmt und sah aus, als friere er.

„Was genau meinst du?“ fragte Brian.

Aron zögerte einen Moment. Sein Blick schweifte zur Tür, dann zu Brians Gesicht.

„Ich möchte, dass du es für dich behältst“, sagte er dann. Brian nickte vorsichtig. Er konnte die Klappe halten, wenn es sein musste.

Aron entließ die Ärmel aus seiner Umklammerung und begann den rechten mit der linken hand hochzukrempeln. Verwirrt starrte Brian auf die Oberseite seines blassen Unterarms. Was kam jetzt? Erst als Aron den Ärmel bis zum Ellenbogen hochgekrempelt hatte drehte er seinen Arm so, dass Brian die Unterseite

sehen konnte. Brian kam es so vor, als würde für Sekunden sogar die Stille hallen.

The light is beautiful ...

The light is beautiful

But I’m darker than light

And you are wonderful

But this moment is mine
 

„Ne“, war das erste, was er wieder sagen konnte. Aron machte einen Schritt zurück, die Augen gefüllt mit Tränen. „Ist nicht dein Ernst, oder?“

Brian legte eine Hand über die Augen und wandte sich ab. Hilflos und unsicher beobachtete wie Brian auf sein Bett fiel und in Tränen ausbrach.

„Brian?“ Aron setzte sich neben ihn auf die Bettkante. „Es tut mir leid … ich … ich konnte einfach nicht mehr.“

„Dann, verdammt, dann red doch mit mir, red mit irgendwem, meinetwegen mit einem Psychiater. Aber doch nicht so!“ Brian war sich nicht sicher, ob er wütend oder traurig sein sollte. Vielleicht war es am besten beidem eine Chance zu geben. Schuldbewusst senkte Aron den Kopf und klemmte seine Hände zwischen die Knie.

„Es tut mir wirklich leid. Kannst du mir verzeihen?“

Brian schüttelte den Kopf und wischte sich die Haare aus dem Gesicht.

„Darum geht es gar nicht. Aron, Ritzen ist kein Kinderspiel!“
 

„Wo wollen die beiden hin?“ fragte Alexej und zog den angewärmten Stuhl von Brian, den er soeben in Beschlag genommen hatte, näher an Toveys heran. Der zuckte mit den Schultern.

„Sie wollten unter vier Augen reden“, meinte er und sah seinen Freund dann neugierig an. „Möchtest du mir was sagen?“

Alexej war verwirrt. Er legte den Kopf schief.

„Was meinst du?“

„Du bist in letzter Zeit so … komisch“, Tovey fand kein passendes Wort für Alexejs Zustand. „Hat das immer noch was mit Elya zu tun?“

Alexej wurde unruhig auf seinem Platz.

„Nicht direkt“, gab er zu und sah sich prüfend um. „Es hat nicht wirklich was mit Elya zu tun. Eher mit meiner Vergangenheit. Ich möchte dich nicht belästigen damit. Es ist keine schöne … Geschichte.“

„Aber du würdest mich doch nicht belästigen. Vielleicht kann ich dir helfen!“

Alexej schüttelte mit dem Kopf.

„Das ist lieb von dir, aber du kannst mir nicht mehr helfen. Du hilfst mir schon damit, dass du da bist und dass du mich liebst. Mehr kannst du nicht tun.“

„Aber …“

„Kein aber“, sagte Alexej mit einer endgültigen Geste. „Bitte“, fügte er hinzu. Tovey wandte den Blick ab. Geheimnisse machten ihn wahnsinnig. Vor allem, wenn er sie nicht kannte. Alexej sah Tovey unergründlich an. Was da wohl war? Worüber er wohl nicht reden wollte? Tovey hatte keine Ahnung.

„Wenn’s dir aber schlecht geht, dann lauf bitte nicht wieder weg.“

„Okay.“
 

„Schön Jungs, aber in dem Tempo seit ihr nach Silvester noch nicht fertig.“

Sonny grinste hinter vorgehaltener Hand.

„Auch, der Baum ist bald fertig, Herr Blecket.“

Die beiden Jungen, die man zum Baumschmücken in der Aula verdonnert hatte sahen sich wütend an. Diese beiden Spinner da unten tickten wohl nicht mehr ganz. Sollten sie ihren scheiß Weihnachtsbaum doch selber mit regenbogenfarbenen Kugeln behängen.

„Wo hast du die Kugeln her?“ fragte Sonny flüsternd, als er und sein Liebster sich zum gehen abwandten.

„Gestiftet. Von der Schwul-Lesbischen Community. Albern. Ich beherberge keine Lesben.“

„Wäre mal eine Erweiterung“, bemerkte Sonny kichernd. Ronald Blecket sah ihn halb belustigt, halb verärgert an.

„Was meinst du soll das bringen? Da muss ich doch Angst bekommen, dass ihr alle wieder zu Heten mutiert. Das fehlt mir auch noch …“

„Na!“ Sonny hielt seinen Lehrer am Ärmel fest und zog ihn zu sich ran. „Homo bleibt Homo.“

„Kleiner, du glaubst gar nicht was es alles gibt, in der großen bösen Welt dort draußen. Sei froh, dass du mich dafür hast.“

Sonny schob die Hände in die Taschen.

„Danke für die Predigt, Papa“, sagte er.

Ronald Blecket schauderte.

„Nenn mich nicht Papa, da komme ich mir vor wie ein alter Mann!“

Sonny lachte.

„Tut mir leid.“

„Nach dem Essen bei mir im Büro, ja?“

Sonny nickte zufrieden und sah seinem Lehrer nach, wie er die Treppe hinunter verschwand. Ein göttlicher Mann … Eleganz in Perfektion. Sexappeal in Perfektion. Eigentlich hätte man sich bei ihm bedanken müssen, dass er einen ausgewählt hatte, statt sich über Vergewaltigung zu beschweren.

„Setz die Rosa Brille ab, das ist widerlich!“

Sonny zog die Augenbrauen zusammen und sah sich nach dem Inhaber der Stimme um. Es war einer der Jungs vom Baum-Schmücker-Kommando. Sonny quittierte den Spruch mit einem verächtlichen Blick.

„Du hast überhaupt keine Ahnung.“
 

„Brian?!“

Bevor er den hinterhältigen Trick durchschauen konnte hatte Brian auch schon einen Schneeball im Gesicht. Er hörte Tovey und Alexej lachen. Toveys Lachen ging in einem leisen Quietschen unter. Aron hatte zum Gegenangriff angesetzt. Prustend wischte Brian sich den Schnee aus dem Gesicht und formte sich einen neuen Ball zur Verteidigung.

„Das bekommst du zurück!“ Brian stapfte durch den Schnee auf Alexej zu, der ihn kampeslustig angrinste.

„Komm doch“, forderte er Brian auf.

„Ich seif dich ein.“

„Das werden wir ja noch sehen.“

„Ich schwör’s dir!“

„Das werden wir sehen.“

Kleine Schneeflocken hatten sich in Alexejs Haaren festgesetzt. Seine Augen glänzten belustigt.

„Komm schon!“

Brian holte aus und warf den Schneeball aus nächster Nähe. Er traf Alexejs Schulter. Die anderen fingen an zu lachen.

„Zielwasser hilft“, sagte Tovey, nach Luft japsent und klopfte den Schnee von Alexejs Anorak.

„Können wir rein gehen?“ fragte Aron hoffnungsvoll. Es hatte begonnen zu dämmern. Der Heilige Abend begann. Und so wenig die vier sich auch für das Christentum interessierten, bald würde es Geschenke geben, das reichte.

„Noch gibt es aber nichts“, sagte Tovey. „Erst nach dem Essen, okay?“

„Ja, wenn es wirklich dunkel ist“, fügte Brian hinzu und nahm Arons kalte Finger in seine Hände.

„Aber vorher können wir uns doch aufwärmen? Bitte.“

„Mhhh, aufwärmen“, sagte Tovey und warf Alexej einen anzüglichen Blick zu. „Unter der Dusche.“

Einen Moment lang reagierte Alexej nicht, dann sagte er schlicht.

„Ich ziehe kuschelige Laken vor.“

Aron schob seine Hände in die Hintertaschen von Brians grauer Jeans, um sie aufzuwärmen. Einen Moment herrschte Stille. Alexej zuckte mit den Schultern und lächelte entschuldigend.

„Wollten wir nicht rein gehen?“

Tovey nickte, schnappte sich Alexejs Hand und ging mit ihm vor.

„Wir holen Glühwein aus der Kantine, okay?“

Brian nickte begeistert.

„Aber geiz nicht wieder so rum, wie letztes Jahr.“ Er lächelte Aron an und stupste mit seiner Nase gegen die seines Freundes. „Letztes Jahr hab ich mich hoffnungslos besoffen. Das waren witzige Weihnachten.“

„Lass uns reingehen“, bat Aron und zog Brian langsam mit sich in Richtung Internat. „Ich friere ganz erbärmlich.“

Brian ließ sich mit zerren. Auch seine Füße spürte er kaum noch, aber das Spielchen gefiel ihm. Er schlang seine Arme um Arons Schultern und folgte ihm in langsamen Schritten.

„Du bist so gemein“, sagte Aron, lächelte aber. Rückwärts tastete er sich die erste Stufe hoch. Nur weil Brian ihn festhielt stolperte er nicht.

„Bin ich nicht“, widersprach Brian. „Ich schaue dich nur gern an.“

„Schleimer.“

„Nein.“

„Doch.“

Sie hatten die Flügeltür erreicht. Aron stand mit dem Rücken zu ihr, Brian vor sich. Der Wind pfiff eisig durch ihre Haare.

„Noch ein bisschen links. Da geht’s rein“, murmelte Aron etwas abwesend. Brian Gesicht war betörend nah an seinem.

„Ich weiß wo’s reingeht“, konterte Brian mit einem dreckigen Grinsen, dass Aron etwas aus seiner Trance holte.

„Spinner!“

„Ich steh dazu.“

„Spinner und stolz drauf, mh?“

Brian zuckte mit den Schultern. Er legte seinen Kopf auf Arons Schulter und seufzte. Aron zog die Hände aus den Hintertaschen von Brians Jeans und streichelte seinen Rücken.

„Was ist denn los?“

„Entzugserscheinungen“, Brian seufzte wieder. „Ganz bösartige Entzugs¬er¬scheinungen.“

„Das tut mir …“

„Nein, nein. Geht schon. Ich komm klar. Lass uns endlich rein gehen.“
 

Irgendwo viele Kilometer vom schwul weihnachtlichen Treiben seiner Freunde entfernt, hockte Billy zu hause in den vier Wänden seiner Eltern und starrte in Gedanken versunken auf den Bildschirm seines Computers. Er hatte, mehr aus Spaß, als aus ernsthafter Schnüfflermanier, versucht sich in den PC seines Direktors einzuhacken. Und es hatte funktioniert. Im Moment wünschte sich Billy allerdings er hätte er gelassen.

Draußen war es dunkel. Die Färben des Bildschirms schimmerten über sein Gesicht. Den Ton hatte er abgedreht. Die Wände hatten hier Ohren und das konnte Billy gerade gar nicht gebrauchen.

Geschickt hatte er sich durch Ronald Bleckets persönliche Dateien geschlängelt und hatte zwischen Klassenarbeiten, Physikhausarbeiten und Sonstigem uninteressanten Kram einen riesigen Ordner voller Videos entdeckt. Doch das war noch nicht alles. Auch ein Programm hatte er gefunden, dass wenn er es öffnete ihm jeden Gang, jedes Zimmer und jeden Aufenthaltsraum im ganzen Internat zeigte. Auch die Duschen in den Umkleideräumen und die Gemeinschaftsbäder. Nicht zu fassen. Es gab nichts, absolut nichts, was Billy nicht abrufen konnte, außer … ja außer Bleckets Büro.

Unsicher wählte er Zimmer 76 aus. Brian und Aron kamen grad durch die Tür. Sie waren durchgefroren, aber sonst scheinbar ganz gut drauf. Billy lächelte. Er vermisste die ganze Bagage schon, aber es war ihm unangenehm geworden, die einzige Hete dort zu sein. Erschrocken merkte Billy, dass das was er hier tat absolut widerlich war. Schnell stellte er die Videosequenz ab. Er wollte sich doch mit Blecket nicht auf seine Stufe stellen.

So ein mieser Perversling …

Billy biss sich auf die Unterlippe und dachte weiter nach. Wenn hier alles festgehalten war, wenn jeder Raum und jeder Gang … Mit zusammengekniffenen Augen suchte er unter den abgespeicherten Videosequenzen nach einem bestimmten Datum. Nach dem Tag, an dem Zimmer 120 in Flammen aufgegangen war.

„Billy? Das Essen ist fertig!“

Billy schrak hoch. Oh je, er war unheimlich vertieft gewesen. Nicht mal den Duft des köstlichen Festtagsbratens hatte er mehr gerochen.

„Komme gleich!“ gab er zur Antwort und vertiefte sich noch einmal schnell in die virtuelle Welt von Ronald Bleckets Videothek. Da war es … Ja, der fünfte November, oder etwa nicht? Billy öffnete die Datei mit einem Doppelklick. Und er hatte goldrichtig getippt. Das Zimmer 120 erschien auf seinem Bildschirm. Billy legte die Hand auf den Mund. Sogar Nachtsichtkameras. Dieser Idiot hatte nichts unversucht gelassen. Gleich würde der Feuerteufel das Zimmer betreten. Die kleine Digitale Uhr unten links im Bild verriet ihm, dass die Zeit ran war. Doch es kam niemand.

Stattdessen geschah etwas völlig anderes.
 

Rechts im bild begann sich etwas zu bewegen. Es war Sonny. Billys Augen wurden groß wie Kullerkekse. Sonny war wach gewesen? Um diese Zeit? Dann musste er doch wissen, wer … Doch Billy kam nicht dazu diesen Gedanken zu Ende zu bringen. Sonny war aufgestanden und rüber zu Arons Bett gegangen. Der Kleinere schlief unverändert. Sonnys Videozwilling wandte sich ab und bewegte sich auf Arons Schriebtisch zu. Einen Moment konnte Billy nicht erkennen was er tat, bis er bemerkte, dass der Schreibtisch Feuer gefangen hatte. Billy kroch fast in den Bildschirm. Das konnte nicht wahr sein. Sonnys Gestalt wich vor dem Schreibtisch zurück. Er wartete einfach ab, tat nichts … Bis er plötzlich, als das Feuer sich bedrohlich auf dem Schreibtisch ausgeweitet hatte, auf Arons Bett zusprang.

„Billy!“

Billy klappte seinen Laptop krachend zu.

„Was machst du denn? Wir wollen Essen!“ seine Mutter hatte einen scharfen Unterton, der Billy gar nicht gefiel.

„Sofort“, sagte er etwas atemlos. „Sofort, ich muss nur noch schnell … ausmachen.“

Still you ask, is love to blame?

Still you ask

Is love to blame?
 

„So Jungs, hier ist der Glühwein!“ Tovey glitt kichernd durch die Tür, die Alexej ihm aufhielt. Nach seinem Gang zu urteilen hatte er schon die halbe Ration geleert, aber eigentlich war Tovey absolut nüchtern. Brian grinste schief und streckte die Hände nach dem Becher aus, den Tovey ihm hinhielt.

„Du torkelst wieder mal durch die Gegend wie ein Alki“, sagte er und betrachtete die dampfende rote Flüssigkeit in seiner Tasse.

Tovey zuckte unschuldig mit den Schultern und ließ sich auf Alexejs Schoß nieder.

„Prost auf den Heiligen Abend, ihr Süßen“, sagte er und hob leicht den Becher. „Gehabt euch wohl!“ Er versuchte sein Kichern zu unterdrücken, schaffte es aber nicht.

„Prost“, antworteten die anderen und dann nippten sie schweigend an ihren Tassen. Der Glühwein war heiß und sehr alkoholhaltig. Keiner der vier Jungs ahnte, dass über ihren Köpfen eine Stecknadelkopfgroße Kamera schwebte und jede Bewegung unweigerlich aufzeichnete. Und keiner der vier Jungs hätte gedacht, dass in diesem Moment Ronald Bleckets Augen auf ihnen ruhten.
 

„Was machst du da?“ fragte Sonny und köpfte gekonnt die Sektflasche.

„Big Brother“, Blecket grinste dreckig. Sonny hob eine Augenbraue und stellte zwei leere Gläser vor sich auf den Schreibtisch. Vorsichtig kippte er den sprudelnden, kalten Sekt hinein. Blecket sah zu ihm hoch.

„Alle wollen Glühwein, nur du bestehst auf Sekt.“

Sonny antwortete darauf nicht. Er hasste Glühwein. Außerdem hatte er nie verstanden, wie man sich mit einem Heißgetränk besaufen konnte. Schwungvoll nahm er die beiden zarten Gläser vom Tisch und reichte seinem Liebsten eines davon.

„Danke dir, Kleiner.“

Sie stießen an. Das leise Klirren war laut im stillen Raum.

„Was genau tust du denn jetzt hier?“ fragte Sonny noch einmal, nachdem er einen Schluck genommen hatte.

„Ich spiele Gott“, antwortete Blecket wieder vage. Sonny zog die Augenbrauen zusammen, stellte sein Glas ab und ging um den Tisch herum, um zu sehen was Blecket wirklich tat. Einen Moment herrschte erdrückendes Schweigen, bis Blecket sich vorbeugte und die Boxen seines PCs anstellte. Brians Stimme klang durch den Raum. Sonny wollte einfach nicht begreifen, was er da sah.

„Ich muss sagen, es ist schon komisch ohne Sonny und seinen Sektfaible Weihnachten zu feiern. Aber trotzdem bin ich froh, dass dieser Arsch mit Ohren nicht hier ist …“

Danke Brian!

„Moment“, begann Sonny langsam und riss seinen Blick vom Bildschirm. Jetzt redete Tovey, doch Sonny hörte gar nicht mehr zu, wie sie über ihn lästerten. Verstört blickte er hoch in Ronald Bleckets Gesicht.

„Du hast in der 76 eine Kamera?“

Blecket grinste.

„Nein“, sagte er prompt. „Ich habe überall Kameras.“

Sonny senkte den Blick auf den Boden.

„Aber du … hast kein Archiv?“

„Wieder falsch. Ich habe jede Sekunde, jede Minute, jeden Tag und jedes Jahr seit einer halben Ewigkeit archiviert.“

Sonny ließ sich auf den Boden hinter dem Schreibtisch und neben Bleckets Stuhl fallen.

„Kleiner, glaubst du wirklich, dass ich nicht weiß, wer hier in meiner Schule mit Streichhölzern spielt?“

Blecket erhob sich von seinem Stuhl und hielt Sonny seine Hand hin.

„Komm hoch.“

Sonny gehorchte und ließ sich von seinem Lehrer hochziehen.

„Wenn ich dich hätte wegsperren lassen wollen, dann hätte ich es längst getan. Aber hab ich das? Richtig, hab ich nicht. Also hoch mit dem Köpfchen.“

Sonny seufzte.

„Du hättest doch mal was sagen können“, er ließ sich leicht nach vorn in Bleckets Arme sinken.

„Hab ich doch grad“, meinte der betont lässig und schob die Hände in die hinteren Taschen von Sonnys Jeans. „Und jetzt hör auf dich zu bedauern. Die Nacht ist noch lang.“
 

Der Himmel war klar. Man konnte jeden Stern am Firmament glänzen sehen. Doch wer das draußen tun wollte hatte mächtig mit der Kälte zu kämpfen, die die Wolkenlosigkeit mit sich brachte. Brian starrte an die dunkle Decke. Er war noch wach. Aron lag neben ihm. Seine gleichmäßigen Atemzüge verrieten ihm, dass sein Freund schlief. Brian hob seinen Kopf leicht von seinem Arm und musterte Aron. Ein paar Haarsträhnen waren ihm ins Gesicht gefallen. Vorsichtig schob Brian sie weg und küsste Aron auf die Stirn. Heute wäre es perfekt gewesen einen neuen Anlauf zu nehmen, aber Aron war noch nicht bereit. Brian seufzte und im selben Moment wurde ihm klar, wie viel Aron ihm wirklich bedeutete. Der Sex war ihm fast egal geworden. Natürlich dachte er daran, wie auch nicht? Und natürlich wünschte er es sich manchmal so sehr, dass es fast wehtat, aber er holte es sich nicht und das war der springende Punkt!

Braver Junge! Sagte Brian sich und grinste dabei. Ja, Aron war ihm wirklich viel wert. Mehr als alles andere, mehr als alles Geld der Welt und mehr als sein kleines Dasein. Er schloss die Augen und legte seine Stirn an Arons.

„Ich liebe dich“, sagte er und zum ersten Mal fühlte es sich richtig gut an. Wie sehr hatte er sich davor geekelt das zu sagen? Wie sehr hatte er verdrängt, dass er lieben konnte? Beim ersten Mal war es kaum aussprechbar gewesen, doch jetzt war es süß. Brian grinste schläfrig.

„Ich liebe dich.“

Und er driftete langsam in einen seichten Schlaf.
 

Die Tür ging und Brian schrak aus seinem Traum hoch. Tovey und Alexej waren wieder da. Ein schneller Blick auf seinen Wecker sagte ihm, dass die Beiden fast drei Stunden verschwunden gewesen waren. Hatten die eine Ausdauer!

Brian hatte mit dieser Einschätzung nicht ganz Unrecht. Die beiden Jungs hatten Ausdauer bewiesen, aber in nichts anderem als Reden und Zuhören. Nach der Bescherung hatte Alexej Tovey beiseite genommen und ihn gefragt, ob sie eine Weile unter vier Augen reden könnten.

Tovey war schier in Panik verfallen, als er Alexej so ernst vor sich stehen sah. Ihm waren tausend Dinge durch den Kopf gegangen. Hatte er etwas Falsches getan? Etwas Falsches gesagt? Falsch reagiert? Unten in den Kellerräumen, auch als Aufenthaltsräume bekannt und beliebt suchten sie sich einen ruhigen Ort. Toveys Hände waren feucht, als sie sich nebeneinander auf der unweigerlich durchgesessenen Couch niederließen.

„Ich möchte dir was erzählen“, sagte Alexej vorsichtig. „Ich finde, es ist wichtig, dass du das weißt, weil ich denke, dass das mit uns Zukunft hat.“

Tovey atmete auf, aber nur ein wenig, und hoffte dass Alexej es nicht mitbekam.

„Es geht um meine Vergangenheit.“

Tovey schlug die Beine übereinander, lehnte sich zurück und sah seinen Freund überrascht an. Was würde das für eine Geschichte werden?

„Ich möchte dich nicht auf die Probe stellen, ich möchte nur, dass du mich kennst“, fuhr Alexej fort und legte jetzt auch den Kopf gegen die Lehne. Tovey sah ihm direkt in die Augen. So hübsch konnte einem nur ein Geliebter Mensch vorkommen. In Alexejs Augen wurde Brian zu einem flüchtigen Schatten.

„Bist du bereit es zu hören?“ fragte Alexej und hob die Hand um über Toveys Wange zu streicheln. Tovey nickte. Dann folgte die Geschichte:
 

Alexej Robanov war in mehr als einer Hinsicht nie ein ganz normaler Junge gewesen. Zwar hatte er keine blitzförmige Narbe auf der Stirn, oder schwang einen Zauberstab, aber trotzdem lief in seinem Leben alles etwas anders.

Alexej war der Sohn eines Bordellbesitzers. Seine Mutter war seine der besseren Huren seines Vaters. Als sein Vater bemerkte, dass sie schwanger war, glaubte noch keiner, dass er wirklich der Erzeuger des Kindes sein sollte, doch ein Gentest bestätigte das. Alexej wurde im Bordell seines Vaters geboren und er lebte dort, sah diese Umgebung als sein zu Hause und lernte früh, dass das Leben seine Schattenseiten hatte. Zwar bekam er alle erdenkliche Zuneigung und materielle Zuwendung seines Vaters (und auch seiner Mutter), doch Alexej spürte, dass etwas an seinem Leben anders war.

Mit zwölf Jahren, als er von Sex mehr wusste als mancher Stricher, entdeckte Alexej etwas Neues im Reich seines Vaters: Die Jungen. Die Stricherjungen. Die halbnackten Frauen hatten ihn nie wirklich interessiert, aber diese zarten Gestalten zogen ihn an. Und mit 14 Jahren trat Raphael in sein Leben.

Raphael war damals 17 gewesen. Ein hübscher Blondschopf. Alexejs Vater hatte ihn immer als guten Fang bezeichnet. Zweifelsohne war er das auch. Die Halblangen blonden Haare hatten ihm immer leicht im Gesicht gehangen, die Augen waren eisblau gewesen. Alexej suchte zunehmend seine Nähe.

Er erinnerte sich noch, dass es kurz nach Mitternacht war, damals. Eine Stunde lang hatte er vor Raphaels Zimmer gehockt und gewartet. Endlich hatte der Freier das Zimmer verlassen. Alexej huschte hinter ihm in den hübschen Raum. Sein Vater war kein schlechter Mensch und er behandelte seine „Angestellten“ auch nicht übermäßig abwertend, nur das Geld war schmutzig. So hatte Alexej es gelernt.

„Was machst du hier?“ Raphael stand am Fußende des Bettes und zog seinen Gürtel zu. Alexej sah die Boxershorts und dem Hosenbund hervorleuchten. „Ist es nicht ein bisschen spät für dich?“

Alexej lächelte entwaffnend. Raphael sprach das schönste russisch, dass er sich vorstellen konnte. Seine Stimme war klar und angenehm.

„Ich wollte mich umsehen“, sagte er und ging auf seinen liebsten Blondschopf zu. Die kindliche Vernarrtheit in Alexejs Augen schien Raphael zu belustigen. Er lächelte, entblößte weiße Zähne unter seinen blassen Lippen. Alles an ihm war Strahlend in Alexejs Erinnerung. Raphael wandte sich ab, ließ sich auf dem Bett nieder und griff nach dem Geld auf dem niedrigen Nachttischchen. Er begann die Scheine zu zählen, wirkte zufrieden, machte zwei Häufchen und schob einen in die Hintertasche seiner Jeans.

„Das ist für Papa, nicht wahr?“ fragte er und tippte auf den Stapel, den er auf dem Nachttisch zurückgelassen hatte. Dabei lächelte er Alexej an.

Alexej zuckte mit den Schultern. Ein unbekanntes Kribbeln machte sich in ihm breit.

„Ich hoffe du entschuldigst die Frage, aber hast du schon mit einem der Mädels Sex gehabt? Ich bin so neugierig.“

Die Hände in die Taschen geschoben ging Alexej hinüber zu Raphael und setzte sich neben ihm.

„Ich hatte noch keinen Sex. Ich wollte nicht. Die Mädchen gefallen mir nicht.“

„Oh“, Raphael schien überrascht. „Aber es sind wirklich hübsche Mädchen.“

„Das ist mir egal.“

Raphael zuckte mit den Schultern und sammelte ein weißes T-Shirt vom Boden auf. Alexej beobachtete ihn dabei, wie er es dann überstreifte und seine Haare wieder richtete.

„Du solltest gehen, es kommen noch andere Kunden“, sagte der Ältere und betrachtete den kleinen Zuhälterjungen ernst.

„Magst du den Job?“ fragte Alexej, ohne auf das vorher gesagte einzugehen.

„Niemand mag den Job“, antwortete sein Gegenüber und schüttelte traurig mit dem Kopf. „Es ist der letzte Ausweg.“

„Dann willst du ihn doch bestimmt loswerden“, fuhr Alexej fort. „Du würdest gern weg, nicht wahr?“

„Ja, schon, aber …“

Alexej hörte nicht mehr zu. In seinem Kopf wuchsen andere Pläne. Er rutschte vom Bett und verließ das Zimmer im Laufschritt.
 

Tovey betrachtete seinen Freund schweigend. Einen Zuhälter als Vater … Nicht zu glauben. Das war gruselig.

„Was hattest du dir denn überlegt?“ fragte er vorsichtig. Alexej sah ihn mit einem schiefen Lächeln an.

„Das war ganz einfach. Ich bin zu meinem Vater gegangen …“
 

Alexejs Vater hatte eine innige Beziehung zu seinem Sohn. Inniger als es ihm viele zugetraut hätten und er war stolz darauf. Nun rückte Alexejs 15. Geburtstag näher.

„Was wünscht du dir?“ fragte Herr Robanov seinen Augapfel und Alexej zögerte nicht sehr lang mit seiner Antwort.

„Ich habe nur einen Wunsch“, sagte er prompt. Sein Vater sah ihn neugierig an.

„Der wäre?“

„Ich will Raphael.“

Alexejs Vater zog die Augenbrauen zusammen und schien darüber nachzudenken, während er eine übel riechende Zigarre anzündete.

„Was willst du mit Raphael?“ fragte er vorsichtig. Alexej lächelte verschlagen.

„Ich will ihn besitzen.“

Eine steile Falte grub sich in die Stirn des Vaters, der seinen 14-jährigen kleinen Stöpsel kritisch betrachtete.

„Und was gedenkst du dann mit ihm zu tun?“

Wieder ließ Alexejs Antwort nicht auf sich warten.

„Ich will mit ihm schlafen.“

Alexejs Vater lachte schallend auf.

„Sag mit nicht, dass mein kleiner Junge abenteuerlustig ist?“

„Nein, schwul.“

Stille machte sich breit. Alexejs Vater drückte die halb abgebrannte Zigarre in seinem vergoldeten Aschenbecher aus. Eben solch einen Aschenbecher, der sich später auch in Ronald Bleckets Büro einen Platz ergattern konnte.

„Gut“, sagte Robanov langsam. Alexej musterte ihn gespannt. Die Sache mit dem Schwul sein hatte er nur in den blauen Dunst hinein gesagt, aber es kam ihm gut vor, kam ihm richtig vor. Er mochte die Vorstellung.

„Du bekommst deinen Raphael.“

Doch dazu sollte es bei allem guten Willen nie kommen.
 

Tovey verzog das Gesicht, wie ein kleines Kind, das bei seinen ersten tapsenden Schritten durch die Welt auf dem Hosenboden gelandet war.

„Komm jetzt der Teil, bei dem ich mit im Kino immer die Augen zuhalte?“

Alexej nickte bedächtig. Tovey schniefte leise.

„Nicht zu viele Details, bitte.“

Für diese Worte erntete er nur ein leises Schulterzucken. Tovey wusste, dass alles betteln nichts half. Jetzt würde eine unverblümte böse Wahrheit kommen, vielleicht böser, als Arons Vergewaltigung, böser als … der verlorene Kampf um Brians Liebe. Brian das kleine fiese Schreckgespenst, das niemals aus seinen tiefsten Träumen entweichen würde.

„Du denkst schon wieder an ihn“, Alexej konnte man nichts vormachen. Tovey fühlte sich ertappt. Er wurde rot und senkte den Blick. „Ich sehe das in deinen Augen, wenn du an Brian denkst. Du hast dort diesen traurigen Glanz. Weißt du wie der weg geht?“

Unsicher schüttelte Tovey mit dem Kopf. Alexej überbrückte die geringe Distanz zwischen ihren Gesichtern und küsste ihn liebevoll auf die Lippen. Tovey fühlte Erleichterung durch seinen Körper rauschen. Trotzdem kamen ihm die Tränen.

„Erzählst du weiter?“ fragte er und schlang die Arme um Alexejs Nacken.
 

Es war zwei Tage nach dem Gespräch mit seinem Vater, als Alexej auf Zehenspitzen durch das Bordell schlich, wie er es nur zu gern tat. Er hatte kein bestimmtes Ziel, doch früher oder später führte es ihn zu Raphael in sein warmes Zimmer, das leicht nach Vanille duftete. Schon Minuten nachdem Robanov sein OK gegeben hatte, war Alexej in eben dieses Zimmer gestürmt und hatte Raphael von der bevorstehenden Wendung seines Lebens berichtet. Daraufhin war die blonde Schönheit in fröhliches Gelächter ausgebrochen, nur um dann Alexej in seine Arme zu ziehen und ihn in die Freuden des Erwachsenseins einzuweihen. Danach war Alexej klar, dass er nicht nur den Gedanken liebte, sich als schwul zu bezeichnen, sondern, dass es wirklich wahr war.

Beschwingt huschte Alexej um eine Ecke, immer mit den Fingerspitzen an der kühlen Wand. Zu seiner Linken tat sich eine Tür auf. Alexej war also gezwungen die Finger von der Wand zu lösen, was ihm missfiel. Forschend blickte er in den Raum. Es war eines der teilweise eher unsauberen Bäder, mit den aufgereihten Duschen und Waschbecken, die ihm später im Internat Schauer über den Rücken jagen sollten.

Er hörte Wasser laufen und fragte sich, wer wohl jetzt, zur Hauptarbeitszeit, mit Duschen beschäftigt war. Mit schmollendem Gesicht betrat er das Bad. Die Fliesen standen unter Wasser. Rotem Wasser.

Der schmollende Ausdruck wich aus Alexejs Gesicht. Sein blick wanderte hinüber zu der Dusche, aus der unablässig Wasser in kleinen Strömen lief. Der feste Sichtschutz war geschlossen. Schemenhaft sah Alexej eine Gestalt dahinter hocken. Seine Hände begannen zu zittern. Doch ganz entgegen seinem Fluchtinstinkt, machte er nicht auf dem Absatz kehrt. Vorsichtig setzte Alexej einen Fuß in das verfärbte Wasser und näherte sich langsam der Dusche. Seine Hand streckte sich fast wie von selbst nach dem Sichtschutz aus. Nur noch wenige Millimeter. Alexej kniff die Augen zusammen und ließ beide Hände vorschnellen um den Sichtschutz aufzureißen. Ein heißer Schwall Wasser durchnässte seine Hose. Das Rauschen war unnachgiebig. Langsam öffnete er die Augen.

Dort in der Dusche lag sein Raphael. Die vergilbte Keramik war mit Blut besudelt. Die ganze Duschkabine schien mit seinem Blut gestrichen worden zu sein. Der Schwall heißen Wassers hatte Blut auf Alexejs Kleidung zurückgelassen. Er zitterte trotz der dampfenden Hitze. Noch einige Sekunden starrte er auf seinen toten Raphael, sein totes Geschenk, seinen ersten Liebhaber. Dann gaben seine Knie nach und Alexej begann laut zu schluchzen und zu schreien.

Wer das getan hatte, erfuhr er nie.
 

Eine einsame Träne lief über Toveys Wange.

„Das ist ja schrecklich“, sagte er mit belegter Stimme. Alexejs Blick war in weite Ferne gerückt, obwohl die Sitzfläche der Couch schon einen vorzeitigen Horizont hervorbrachte.

„Und neulich“, sagte er tonlos und schien gar nicht zu merken, dass Tovey leise schluchzte, „habe ich Elya in der Dusche gefunden. Es war einfach schrecklich …“

Tovey, der sich während Alexejs Erzählung wieder etwas von seinem Freund gelöst hatte fiel ihm nun erneut um den Hals. Alexej drückte ihn tröstend an sich.

„Seitdem trage ich immer ein Messer bei mir“, sagte er leise. „Als Sonn versucht hat Brian etwas zu tun, da hatte er es sofort unter der Nase. Ich will nicht, dass Menschen sich gegenseitig umbringen.“

Even a broken heart can beat

Even a broken heart can beat

I know that now

But only if you let it
 

So kam Weihnachten und so ging Weihnachten. Aron führte ein zweistündiges Telefonat mit seiner Mutter, indem er zu Brians Missfallen immer wieder beteuerte wie toll doch alles sei. Brian selbst verbrachte eine halbe Stunde am Telefon, wünschte Mutter und Vater ein frohes Fest, bedankte sich für die Geschenke und beteuerte nun immer brav gute Noten zu schreiben. Tovey hingegen schaffte es auf eine Videounterhaltung mit seiner Schwester, nur um dabei gleich mit Alexej angeben zu können, was diesen äußerst belustigte. Cindy bekundete offen ihren Neid darüber, dass es Tovey vergönnt war solch gut aussehende Typen abzuschleppen.

„Du bist eine richtige kleine Schlampe“, sagte Brian beim abendlichen Festtagsschlemmen und drückte Tovey dabei einen Kuss auf die Wange, der den Kraftausdruck wohl entschuldigen sollte.

„Schadenfreude, schönste Freude“, zitierte Aron gut gelaunt. Brian sah ihn prüfend von der Seite an. Er mochte Arons Phasen der Verdrängung nicht. Nur zu oft endeten sie in Tränen und Depressionen. Noch dazu gefährlichen Depressionen. In der letzten Zeit hatte Brian auch im fröhlichsten Weihnachtsgetümmel nie vergessen Aron im Auge zu behalten, besonders, wenn Aron spitze oder scharfe Gegenstände in die Hand bekam. Nicht zuletzt hatte er sogar peinlich darauf geachtet, was Aron mit seinem Rasierer veranstaltete. Noch immer breitete sich ein ungutes Kribbeln auf Brians Haut aus, wenn er sah, wie Aron nach dem Messer griff um ein Stück des Festtagsbratens zu zerkleinern.

„Er guckt wie ein hungriger Wolf“, sagte Tovey und stupste Alexej an, der zur Feier des Tages bei ihnen am Tisch saß. Sonny war nicht aufgetaucht. (Blecket übrigens auch nicht.)

Brians Kopf schoss hoch.

„Was?“ fragte er verdutzt und auch Aron schien verwirrt.

„Was meinst du?“ fragte Alexej.

„Brian“, Tovey tat so, als würden die beiden Jungs, die ihm gegenüber saßen nichts hören. „Er guckt Aron an wie ein hungriger Wolf.“

Aron blinzelte und betrachtete dann Brian, der Tovey verständnislos musterte. Langsam erhob Brian eine Augenbraue.

„Was weißt du denn, wie ein hungriger Wolf guckt?“

Tovey grinste anzüglich und sowohl Alexej als auch Aron konnten das Knistern zwischen den beiden spüren. Aron warf Tovey einen tödlichen Blick zu und ballte unter dem Tisch die Hand zur Faust.

Du kleiner Drecksack. Sitzt neben deinem Freund und flirtest mit meinem?! Hast du gar keinen Anstand?

„Du kannst es nicht lassen rumzustänkern, was?“ schoss Brian zurück.

„Ich darf das.“
 

Sonny starrte gedankenverloren auf die halboffene Schublade an Ronald Bleckets Schreibtisch. Er war zu neugierig, was wohl darin war. Genau erkennen konnte er es so nicht. Sein Liebster war im Moment ausgeflogen. Wohin wusste Sonny nicht genau, er spürte nur die bleierne Müdigkeit in seinen Knochen und den Geruch Bleckets an seinen Klamotten. Fast wie aus Versehen zog er die Schublade auf indem er die Spitze seines Schuhs unter das Holz hakte. Sonnys Augen wurden erst groß und verengten sich dann zu Schlitzen. Zögernd streckte er seine Hand nach dem Inhalt der Schublade aus. Eine leere Flasche Sekt thronte neben ihm auf dem Schreibtisch. Für ein paar Sekunden schwebte Sonnys Hand über der Öffnung hin und her, dann griff er nach dem kleinen Revolver und grinste. Mit einem betrunkenen Grinsen zielte er auf die Tür und stellte sich vor, wie Brian eintrat.

„Peng“, sagte er und lachte dann. Keine schlechte Idee. Sonny stand schwankend von seinem Platz auf.
 

„Was machen wir Silvester?“ fragte Brian und schloss die Tür zur 76 auf. Die anderen sahen sich fragend an.

„Kampftrinken. Wer als erster umfällt wird angemalt“, sagte Alexej und grinste verlegen, als Tovey ihn erschrocken ansah.

„Ich denke das verschieben wir aus Mangel an Alkohol“, sagte Brian, ließ seine Freunde eintreten und warf dann die Tür ins Schloss. „Mein Semestervorrat ist, aus mir unbekannten Gründen, schon erschöpft.“

Tovey zog die Augenbrauen hoch und baute sich, die Hände in die Hüften gestemmt, vor Brian auf. Aron verschränkte fest die Arme.

„Sonst hat der Vorrat immer bis Silvester gehalten, immer!“ sagte Tovey und stupste Brian mit dem Zeigefinger gegen die Brust.

„Zwei Jahre sind doch nicht immer“, konterte der und zuckte arglos mit den Schultern. Tovey grinste. Er griff nach einer von Brians Gürtelschlaufen und zog ihn rüber zu seinem Kleiderschrank. Aron konnte nicht mehr. Er tauschte einen Blick mit Alexej. Seiner war empört, Alexejs eher unsicher. Als würde er einen großen Schatz enthüllen, öffnete Tovey beide Schranktüren weit und kniete sich dann nieder um etwas unter einem Stapel Hosen hervorzuziehen.

„Krass!“ sagte Brian und klatschte in die Hände, wie ein kleiner Junge, der seinen ersten Fußball geschenkt bekommt. „Stoff!“

Aron drängelte sich an Brian vorbei und sah, dass sein Freund Recht hatte. Tovey hatte Stoff … Tovey hatte einen ganzen Haufen Marihuana.

„Wo hast du das her?“ fragte Brian begeistert und ließ sich zu Tovey auf den Boden nieder, ohne Aron zu beachten.

„Von meinem Dealer, was denkst du denn?“

Seit wann kiffst du? Seit heute? Oder seit du den Joint von Brian geklaut hast?

Brian durchwühlte unruhig seine Taschen.

„Wenn wir das alles durchziehen, dann wird das … boa cool!“ Er fischte ein Feuerzeug aus seiner Hosentasche und versuchte ob es noch funktionierte. Fehlanzeige.

„Mist, ich geh ein Neues organisieren.“

Damit sprang er auf und war schneller, als irgendjemand etwas sagen konnte verschwunden. Und so schnell kam er auch nicht wieder.
 

Brian dachte kurz nach. Wen konnte er wohl um ein Feuerzeug anschnorren? Elya war weg, aber war da nicht dieser andere – den Namen hatte Brian vergessen – der ein Jahrgang unter Brian sein tristes Dasein fristete? Brian erinnerte sich daran, mit ihm schon mal was gehabt zu haben, aber hatte er das nicht mit jedem? Na ja … fast jedem. Unschlüssig trippelte er mit den Fingern auf dem Holzgeländer der Treppe und dachte nach. Eigentlich keine schlechte Idee den Kleinen mal zu fragen.

Hinter Brian bewegten sich unsichere Schritte über den Boden.

„Hey, Brian.“

Erschrocken, weil die Stimme so unerwartet kam, fuhr Brian herum. Er sah den Revolver, bevor er Sonny sah. Der Schock traf ihn wie ein Faustschlag in den Magen.

„Schön dich zu sehen. Ich hoffe du genießt Weihnachten“, sagte Sonny. Er grinste schief, schien betrunken zu sein. Brian klammerte sich an das Geländer. Er wollte irgendetwas erwidern, doch seine Kehle war wie zugeschnürt.

„Ich hab gedacht, dass ich mir dieses Jahr mal etwas Besonderes gönnen sollte. Und da fiel mir ein, es wäre nett dich umzulegen. Darauf warte ich schon viel zu lange.“

Völlig unpassend stieg in Brian ein Bild auf, wie er in Tränen aufgelöst Sonny um den Hals fiel, als dieser unversehrt aus dem Krankenhaus kam.

„Wir können reden“, sagte er völlig tonlos und versuchte das Bild auszublenden. Sonny lachte und stolperte dabei einen Schritt zurück.

„Du bist echt lustig. Haben wir jemals reden können, ohne zu streiten?“

Die Antwort darauf war: Nein.

Das wusste Brian genauso gut, wie Sonny. Brian lauschte in die Stille. Das war doch verrückt. Das meinte Sonny nicht ernst und die Waffe war wahrscheinlich auch nicht echt. Wo sollte Sonny die herhaben?

„Hör mal“, setzte Brian an. „Wenn das wegen Aron ist …“

„Scheiß auf Aron, ich bin versorgt!“

„Ach so?“ Brian wollte einen Schritt die Treppe hinunter machen, aber Sonny zielte sofort auf seinen Kopf.

„Keine Bewegung, du Arsch. Und wen ich ficke, das geht dich auch nichts an!“

„Wohl wahr.“

Brian fuhr wieder herum. Unten am anderen Treppenabsatz stand Ronald Blecket, leger gegen das Geländer gelehnt und betrachtete seine Schüler amüsiert. Brian atmete ein klein wenig auf, aber nicht zu viel.

„Sonny, was tust du da?“

„Ich will ihn umbringen, Ronald, bitte lass mich ihn umbringen!“

Brian wurde wieder übel. Die beiden duzten sich tatsächlich und es sah fast so aus, als täten sie das schon länger.

„Aber doch nicht hier. Wer soll die Sauerei denn wieder wegmachen?“ Blecket seufzte theatralisch und grinste dann unverhohlen böse zu Sonny hoch.

„Kleiner, wie bist du an meine Waffe gekommen?“ fragte er. Vorsichtig und darauf bedacht nicht die Aufmerksamkeit der beiden Verrückten auf sich zu ziehen ließ Brian sich mit weichen Knien auf der Treppe nieder.

„Gefunden“, sagte Sonny leicht hin und leckte sich über die Lippen. „Ich will ihn umbringen, verdammt. Ich will ihn in Millionen kleine Stücke zerhacken.“

Blecket zuckte mit den Schultern.

„So kannst du ihn höchstens erschießen“, war seine einzige Anmerkung dazu. „Warum willst du das?“

Sonny zögerte und fixierte dabei Brian, der schneeweiß im Gesicht war und stumm vor sich hinbetete, dass all das hier bald ein Ende haben möge. Merkte Blecket denn nicht, dass Sonny jeden Moment schießen konnte? War es ihm womöglich völlig egal?

„Er hat alles“, sagte Sonny leise. „Fast alles, was ich nie haben durfte. Er ist das, was ich gern wäre. Ich hasse ihn dafür.“

Motiv: Eifersucht.

„Ich hab gar nicht alles!“ wetterte Brian mutig dagegen an. „Ich habe Aron, ja, und das ist vielleicht mehr als ich verdiene, aber alles hat niemand. Und wenn du mit deinem Leben nicht klarkommst, dann erschieß dich doch selbst.“

Jetzt fing Blecket an Initiative zu ergreifen. Die gespielte Ruhe in seinen Zügen verschwand, wie ein Fleck unter einem nassen Lappen. Er nahm die Stufen hinauf zu Brian immer doppelt und zog ihn grob vom Boden hoch.

„Nimm die Waffe runter, Kleiner und dann komm mit!“

Sonny gehorchte.

Blecket schubste Brian vor sich her die Stufen hinunter, dann hinaus in die eisige Kälte des Dezembers. Von der ersten Sekunde an schmerzte die Kälte. Geübt zückte Blecket seinen Autoschlüssel aus der Manteltasche. Er war wohl grad von draußen gekommen, denn er trug noch den winterfesten Mantel über seinem Anzug. Sonny stolperte hinterher, die Waffe immer noch fest in beiden Händen. Brian wurde unsanft auf den Rücksitz gestoßen. Die Tür fiel ins Schloss, sie ließ sich auch nicht mehr von innen öffnen, wie Brian feststellen musste. Sonny bekam einen zweiten Mantel aus dem Kofferraum seinen Liebsten gesponsert. Das alles wirkte wie geplant, war es aber nicht.

„Was wird denn das?“ begann Brian, als Blecket rückwärts aus der Parklücke stieß und in völlig übertriebenem Tempo davon rauschte.

„Kommt drauf an wie schnell du laufen kannst“, erwiderte Blecket. Sonny drehte sich auf dem Beifahrersitz zu ihm um.

„Du bist so tot, so tot, das glaubst du gar nicht.“

Brian glaubte es.

Das Auto rutschte über die Straße, nur um dann unter schrecklichem Gerumpel in einen Feldweg abzubiegen. Mit einer schlitternden Vollbremsung kam Bleckets Wagen zum stehen. Brians Herz hämmerte gegen seine Rippen. Er hatte das Gefühl gleich zu kollabieren.

„Fünf Kilometer“, sagte Blecket und lachte. „Fast noch Schulgelände.“ Dabei riss er die Tür neben Brian auf und zerrte ihn aus dem Auto. „Fünf Kilometer, verstanden?“

Brian wurde in den Zentimeter hohen Schnee geworfen. Seine Klamotten waren sofort durchnässt. Die Scheinwerfer des Autos beleuchteten die Szene. Noch immer hielt Sonny die Waffe in beiden Händen, bereit zu töten. Zitternd rappelte Brian sich auf. Die Kälte war unerträglich.

„Ich gebe dir fünf Sekunden“, sagte Blecket und trat auf seinen zitternden Schüler zu. „Fünf Sekunden. Solange wird niemand schießen und du kannst tun was immer du willst. Danach bist du vogelfrei, kapiert? Also renn um dein Leben, wenn es dir lieb ist. Fünf Kilometer sind es bis zur Schule. Keiner wird dir auflauern.“

Die Tränen auf Brians Wangen gefroren zu schmerzendem Eis.

„Ab jetzt“, sagte Blecket und hob seine linke Hand. Brian stolperte um seine eigne Achse und rannte los. Die kalte Luft begann augenblicklich in seinen Lungen einen kalten Wirbelsturm zu erzeugen.

„EINS!“

Ein Hustenreiz über kam ihn. Brian versuchte ihn zu unterdrücken und rannte einfach.

„ZWEI!“

Das war so unwirklich, so schrecklich. Wäre nicht die Kälte, er hätte es für einen Alptraum gehalten.

„DREI!“

Der Abstand zwischen ihm und den beiden Verrückten vergrößerte sich nur schleppend. Brian brach endgültig in Panik aus.

„VIER!“

Vielleicht sollte er sich einfach auf den Boden schmeißen, einfach schreiend sterben.

„FÜNF!“

Ein Schuss fiel. Brian stolperte. Sonny hatte nicht getroffen. Davon angespornt rannte Brian weiter, immer weiter. Es fielen weitere Schüsse, immer hektischer. Eine Kugel zischte an Brians Wange vorbei, streifte sie vielleicht sogar. Er wusste es nicht, denn jeder Knochen, jede Zelle tat ihm weh. Doch Brian rannte einfach weiter.
 

„Komisch“, Tovey blickte von seiner Arbeit auf, die daraus bestand Joints zu drehen und sah Aron und Alexej an, die schweigend auf zwei Betten hockten. „Brian brauch aber lange um ein Feuerzeug zu holen. Ich werde ihn mal suchen gehen.“

Ohne eine Antwort abzuwarten hüpfte Tovey auf seine Füße und ging. Aron seufzte.

Tovey blieb unschlüssig stehen. Vor ihm war der Haupteingang des Internats. Jemand hatte unachtsam die Tür offen stehen lassen und es war kalt im Flur geworden. Die Arme fest verschränkt fasste er die offene Tür ins Auge und ging darauf zu. Welcher Idiot sich das wohl wieder geleistet hatte? Nicht zu glauben. Doch Tovey kam nicht dazu wieder Ordnung zu schaffen. Ein durchgefrorener Brian fiel bäuchlings durch die Tür und landete auf dem Boden. Tovey schrie auf und sprang einen Schritt zurück.

„Brian!“

In den nächsten Sekunden ging alles rasend schnell. Tovey sperrte die Kälte mit einem lauten Knall aus und war fast im selben Moment neben Brian auf dem Boden. Sein Freund hatte Schnee im Haar, war völlig durchgefroren, leichenblass und trotzdem stand ihm Schweiß auf der Stirn. Ein Schock.

„Was ist passiert?“ fragte Tovey und schloss Brian in seine warmen Arme.

„Die wollten mich umbringen“, stammelte Brian und ließ sich langsam von der Wärme seiner Umgebung beruhigen. „Umbringen, Tovey. Scheiße, die wollten mich umbringen.“

Tovey spürte Brians Herzschlag an seiner Brust. Er bekam Angst, dass Brian direkt hier in seinen Armen einen Herzkollabs erleiden könnte, doch nichts dergleichen geschah.

„Kannst du aufstehen?“ fragte Tovey liebevoll und half Brian wieder auf die Beine. Die Blässe war ein wenig gewichen, doch er zitterte noch immer wie Espenlaub. „Komm mit.“

Brian ließ sich ohne Protest in die Kellerräume führen, wo Tovey ihn in einen der Aufenthaltsräume schob und die Tür hinter ihnen schloss. Sanft verfrachtete er Brian auf die unverzichtbare Couch und strich ihm dann ein paar nasse Haare aus dem Gesicht.

„Alles okay, ja? Alles okay, ich bin bei dir“, sagte Tovey liebevoll und schaffte ein Lächeln. „Ganz ruhig.“

Brian schloss einen Moment die Augen, den Tovey dazu nutzte eine Decke hervorzukramen und sie um die zitternden Schultern seines Freundes zu legen.

„Sie wollten mich umbringen“, murmelte Brian verstört und Tovey nickte verständnisvoll, aber ohne die geringste Ahnung wovon Brian eigentlich redete. Etwas ganz anderes spukte ihm im Kopf herum und dass schon seit der letzten Nacht. Er war hier allein mit Brian. So allein wie noch nie. Tovey strich sanft über Brians nasses Gesicht.

„Ist es besser so? Möchtest du aus den nassen Klamotten raus?“ Brian nickte. „Gut.“

Tovey zog Brian den nassen Pullover über den Kopf wie einem kleinen Kind, das sich noch nicht selbst aus seinen Klamotten befreien konnte. Sanft legte er wieder die Decke um Brians Schultern, allerdings nicht ohne mit den Fingern über seine nackte Brust zu streicheln. Brian schauderte. Tovey biss sich auf die Unterlippe um nicht zu grinsen.

Hat Aron dich immer noch nicht rangelassen, nein? Du Armer.

„Tovey?“ fragte Brian vorsichtig, als sein Freund, nachdem er ihm die ebenfalls durchnässten Schuhe ausgezogen hatte, nun begann seine Hose aufzuknöpfen.

„Was denn?“ fragte Tovey und sackte dabei wieder einen Punkt ein.

„Könntest du das alles ein bisschen weniger liebevoll tun?“

Tovey lachte.

„Warum sollte ich?“

„Du weißt doch, jeder trockene Alkoholiker kann von den kleinsten Mengen wieder rückfällig werden. Also BITTE!“

Doch Tovey dachte nicht einmal daran. Er hatte Brian wieder ziemlich munter bekommen, also ließ er endlich den letzten Rest mitleidiger Hemmungen fallen und platzierte sich breitbeinig auf Brians Schoß. Das Spielchen zeigte Wirkung. Tovey lächelte unschuldig.

„Aber du bist doch kein Alkoholiker. Oder meinst du der Sex bringt dich irgendwann um? Ich würde eher sagen, dass kein Sex dich umbringt.“

„Eventuell“, murmelte Brian und blinzelte zu Tovey hoch. Eben noch war ihm erbärmlich kalt gewesen, jetzt schon wallte eine unheimliche Hitze in ihm auf.

Das darfst du nicht! Denk an Aron! Das darfst du nicht!

„Siehst du“, fuhr Tovey fort und zog ebenfalls sein Oberteil aus. Brian blinzelte. Schaffte es dann aber doch nicht wegzusehen. „Ich fühl mich ziemlich verarscht, weißt du?“

„Warum?“ fragte Brian. Solange sie redeten konnten sie nicht zur Sache kommen. Also lieber viel, viel reden.

„Du hast jeden Trottel hier gefickt.“

„Nicht ganz.“

„Ja, nicht ganz, nur zwei hast du ausgelassen!“

Brian schluckte. Wo er Recht hatte …

„Zwei hast du ausgelassen. Sonny und mich. Was meinst du wie ich mir da vorkomme?“

Pause. Brian dachte darüber nach, aber so wirklich denken konnte er nicht mehr. Toveys Gewicht auf seinem Schoß machte ihm jedes Gehirnjogging ziemlich schwer.

„Vielleicht etwas … dumm“, sagte er schließlich etwas lahm. Tovey nickte und drückte Brian mit beiden Händen gegen die Lehne der Couch. Brian sog zischend Luft ein.

„Und willst du mich so dumm stehen lassen?“

„Genau genommen …“

Brian handelte sich einen strafenden Blick ein und verstummte. So konnte er das Tovey nicht ins Gesicht sagen. Damals hatte er ihn aus Respekt nicht ins Bett gezerrt. Heute wollte er es aus Treue nicht tun, aber die letzten enthaltsamen Wochen machten sich schmerzlich bemerkbar. Brian spielte seinen letzten Trumpf aus.

„Denk an Alex …“

„Ach, komm schon. Alex wird das nicht so eng sehen. Der hat ganz andere Geschichten auf dem Kerbholz.“

Ganz weit hinten in Toveys Kopf ertönte die erste Alarmglocke, die er jedoch mit einem gezielten Tritt zum Verstummen brachte.

„Ach, was denn so?“ fragte Brian unschuldig, doch Tovey durchschaute das Ablenkungsmanöver sofort.

„Halt die Klappe. Fick mich endlich!“
 

Die Zeit verstrich. Weder Tovey noch Brian kamen zurück. Als auch noch eine halbe Stunde später keiner von beiden in Sicht war, wurde sogar Alexej langsam nervös, der sich die ganze Zeit bemüht hatte Aron ruhig zu stellen.

„Ich weiß was da abgeht“, murmelte Aron nun, die Lippen presste er fest zusammen, die Arme hatte er eng verschränkt. Alexej sah ihn fragend an. „Die beiden haben ihren Spaß da unten, während wir hier oben versauern.“

Alexej zog die Augenbrauen zusammen.

„Spaß?“

„Die vögeln.“

„Unsinn!“

„Hundert pro!“

„Nein!“

Schweigen. Aron fixierte den Boden unter seinen Füßen. Er glaubte das nicht wirklich, wollte es nicht glauben, aber noch nie war er ohne Grund so nervös geworden. Wie lange kannte er Brian? Lange genug um seine Gedanken lesen zu können. Nur waren Brians Gedanken nicht auf Tovey fixiert gewesen, sondern eher auf den „Stoff“. Aron seufzte, schlug die Hände vors Gesicht und bemühte sich, an etwas anderes zu denken.

„Bitte geh wenigstens einmal mit mir runter, um zu sehen wo sie denn sind!“ bat er Alexej, der grübelnd auf dem Bett gegenüber saß. Der junge Russe zuckte mit den Schultern.

„Okay“, sagte er.

Aron war etwas beruhigt. Er kramte Billys alten Zimmerschlüssel, der jetzt ihm gehörte, aus einer Schublade seines Nachttisches und verließ dann, mit Alexej auf den Fersen, die 76. Natürlich nicht ohne hinter sich abzuschließen.

„Wieso denkst du so was?“ fragte Alexej, als die die Treppen hinunter zum Eingang nahmen. Er hatte die Hände in den Taschen vergraben.

„Ich habe Toveys Blicke gesehen“, erwiderte Aron bestimmt. „Wie lange wartet er bitte schon darauf? Brian hat mir erzählt, dass die beiden nie miteinander im Bett waren.“

„Warum sollten sie auch?“ fragte Alexej und blieb unvermittelt stehen. Aron bremste scharf ab und drehte sich zu dem anderen Jungen um.

„Warum? Ganz einfach. Erstens hat Brian in den letzten 2 Jahren hier fast jeden flachgelegt und zweitens war Tovey die ganze Zeit scharf auf ihn!“

Alexej schüttelte ungläubig mit dem Kopf.

„Tovey war scharf auf Brian? Das stimmt doch gar nicht. Tovey war nur Brians bester Freund und als du kamst, da hat Brian ihn einfach links liegen lassen.“

Was war denn das für eine Story?

„Da hat dir aber jemand mächtigen Scheiß erzählt“, sagte Aron und spielte ungeduldig mit dem Schlüssel. „Du kannst jeden Fragen. Egal ob Sonny, Billy, Brian oder Elya, sie werden dir alle das Gleiche sagen wie ich. Und übrigens, ich war die letzten Wochen dabei, bevor du kamst. Ich hab’s am eigenen Leib gespürt. Dein liebster Tovey wollte mich umbringen … na ja …“ Aron machte eine kurze Pause, in der Alexej ihn entsetzt betrachtete. „Nein, Tovey wollte mich nicht umbringen. Also er wollte es sicher, hat’s aber nie versucht. Wie dem auch sei.“ Aron wurde ungeduldig und wuschig. Er fuhr sich nervös mit einer Hand durchs Haar und holte tief Luft.

„Wir suchen sie einfach, okay?“

„Warte!“ Alexej zögerte. „Schwör mir, dass du nicht lügst und nur das sagst was du weißt.“

Aron hob die rechte Hand und sagte ernst: „Ich schwöre.“

Alarm goes off

Alarm goes off without a sound

The silence is so loud

Something isn’t right
 

Noch bevor Alexej und Aron überhaupt die letzte Treppe überwunden hatten, hörten sie laute Stimmen von unten. Jemand schien sich zu streiten und die Stimmen ließen keinen Zweifel daran, wer es war: Brian und Tovey. Hastig griff Aron nach Alexejs Hand, als er die Tür zu dem einzigen heute Abend geschlossenen Raum aufmachen wollte, und legte einen Finger auf die Lippen. Die Stimmen der beiden Streithähne klangen leicht gedämpft, vielleicht wie die von Radiosprechern.

„Warum bin denn ich wieder an allem Schuld, kannst du mir das mal sagen?“

„Wer hat mir ‚Fick mich’ ins Gesicht geschrieen? Ich oder du?!“

„Mach doch nicht auf Weichei. Du warst doch so geil, dir wäre es egal gewesen, wer dir was ins Gesicht schreit!“

„Wäre es nicht! Du hast mich absichtlich geil gemacht. Und du Arsch hast es einfach ausgenutzt, dass ich ohnehin … ohnehin verwirrt war.“

„Och, du Armer!“

„Dir war es ja sogar egal, was passiert ist. Du wolltest nur vögeln. Nicht mal an Alex hast du gedacht!“

Jetzt flog die Tür von allein auf. Tovey kam herausgerauscht, bremste aber sofort und wurde schneeweiß im Gesicht.

„Alex“, sagte er etwas atemlos. Von drinnen hörte man Brian leise fluchen. „Hey, was machst du denn hier?“

Die Schauspielerei ging wieder los. Wäre Aron nicht so geschockt gewesen, wäre er sicher auf Tovey losgegangen, aber die Bilder in seinem Kopf waren zu deutlich und raubten ihm fast die Sicht auf die reale Welt.

„Ihr wart lange weg“, sagte Alexej leise. Der Ton gefiel Tovey nicht ganz.

„Oh … wirklich? Wie die Zeit vergeht. Wir sind sofort wieder bei euch. Weißt du, Brian hatte einen unangenehmen Zwischenfall. Deshalb … also deshalb hat er nichts mehr an.“

Währen Tovey noch redete schlüpfte Brian voller Widerwillen in seine völlig nassen Sachen und drängte sich dann an Tovey vorbei durch die Tür. Nicht ohne seinem Freund einen bösen Blick zuzuwerfen.

„Nicht wahr, Brian? Schlimme Sache. Was war noch mal passiert?“

„Wie solltest du es auch wissen. Du hast ja nicht mal danach gefragt!“ giftete Brian ihn an und wandte sich dann Aron zu. „Kommst du kurz mit? Bitte.“

Aron nickte abwesend.

„Du lügst“, stellte Alexej fest. „Wir haben euren Streit gehört, Aron und ich. Spar dir den Rest. Was sollte das?“

„Es war ein Unfall“, sagte Tovey und wurde merklich unruhig. „Ich hab Brian aufgesammelt, als er unter Schock und fast erfroren durch die Tür gestolpert kam. Und dann wollte ich ihm helfen …“

„Die Wahrheit!“

Tovey sah ängstlich hoch. Er hatte Alexej noch nie wütend erlebt. Dass er selbst eigentlich älter war, als sein Freund, davon merkte man im Moment nichts.

„Ich wollte ihm nicht helfen“, sagte Tovey leise, sehr leise, so dass es schwer war ihn zu verstehen. „Ich hab nur endlich meine Chance gesehen ihn ins Bett zu bekommen. Das war alles. Und das ist alles.“

„Ich bin enttäuscht“, sagte Alexej langsam. Toveys Augen füllten sich mit Tränen.

„Es tut mir leid. Ich … es tut mir wirklich leid.“

„Das ist mir egal“, sagte Alexej und wich einen Schritt zurück. „Es wäre mir nicht egal gewesen, hätte ich dir noch nicht alles erzählt, aber jetzt ist es mir egal. Mach was du willst.“

„Also verzeihst du mir?“ fragte Tovey, unsicher was er mit dieser Ausführung anfangen sollte. Ein Kopfschütteln war die Antwort.

„Wir sind geschiedene Leute.“

Der Schock saß tief und mit jedem Schritt den Alexej sich jetzt entfernte schien er die Klinge tiefer zu stoßen.

„Warte … Alex.“ Toveys Knie zitterten und drohten jede Sekunde einzuknicken. „Das meinst du nicht so. Bitte, komm wieder her. Alex! Alex, komm wieder her!“

Alexej hörte nicht. Er bog um die Ecke und nahm die erste Treppenstufe ohne sich auch nur einmal umzusehen.
 

„Ich … ich weiß nicht was ich sagen soll“, Aron hatte die ganze Zeit schweigend Brians Geschichte gelauscht. Jetzt versuchte er das gehörte zu verarbeiten. Zu viele Informationen. Sein Kopf tat weh. Brian griff vorsichtig nach seiner Hand. Die nassen Sachen hatte er während des Erzählens gegen trockene ausgetauscht, trotzdem fröstelte er.

„Das soll keine Entschuldigung sein. Ich weiß, an so was sind immer zwei beteiligt. Ich hätte es irgendwie verhindern müssen.“

Aron reagierte nicht darauf. Vielleicht hätte das geklappt, vielleicht auch nicht, aber das war unwesentlich. Sonny hatte auf Brian geschossen und Blecket hatte das unterstützt.

„Hast du dein Handy hier?“

„Was?“ Brian war verwirrt, doch Aron meinte was er sagte.

„Dein Handy. Hast du es hier? Bei mir ist kein Geld mehr drauf.“

Hastig nickte Brian und zog sein Handy aus der unteren Schublade seines Nachttisches. Aron nahm es mit einem leisen Danke entgegen und tippte sicher und ohne Zögern eine Nummer ein. Brian betrachtete ihn dabei verwirrt. Was kam jetzt? In einer fließenden Bewegung führte Aron das Handy zum Ohr. Sein Blick wirkte verschleiert und konzentriert zugleich.

„Hallo, Mama? Ist Anna da? Ja? Schön kannst du sie mir geben? Ist ganz wichtig. Danke.“

Anna? Die feste Freundin von Arons Mutter? Was wollte Aron von ihr? Brian beobachtete seinen Freund schweigend. Die Tür wurde geöffnet und Tovey trat ein.

„Hallo Anna. Schön das du Zeit hast. Ich muss mit dir reden. Ich will jemanden Anzeigen. Ja … ja … Lange Geschichte. Versuchter Mord und Vergewaltigung in mindestens zwei Fällen.“ Bei Brian klingelte es. Anna war Anwältin. „Ja, Körperverletzung auch, wenn man es genau nimmt.“

Arons Blick wanderte hoch zu Brians Gesicht und er strich sanft über eine Stelle an seiner Wange. Brian zuckte zusammen, als ein stechender Schmerz ihn durchfuhr. Sonnys Kugel hatte tatsächlich seine Wange gestreift.

„Und noch was. Brandstiftung. Die Namen sind Ronald Blecket und Sonny Iero.“

Aron legte auf und gab Brian sein Handy wieder.

„Mindestens drei Fälle“, sagte Tovey und handelte sich damit zwei teils böse, teils fragende Blicke ein. „Vergewaltigung in mindestens drei Fällen.“

„Wo ist Alex?“ fragte Brian und griff schnell nach Arons Hand, als wolle er ihn daran hindern wegzulaufen.

„Irgendwo. Ich weiß es nicht. Es geht mich auch nichts mehr an.“ Tovey schaffte es mit zitternden Knien noch bis zu seinem Bett, wo er dann kraftlos zusammensackte. „Gut das du Blecket endlich angezeigt hast. Das wurde wirklich Zeit. Ich dachte schon es passiert niemals.“



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Kommentare zu dieser Fanfic (46)
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Von: abgemeldet
2014-04-17T21:20:18+00:00 17.04.2014 23:20
na endlich hat er ihn angezigt ich dachte dass endet wie in so einem schlechten horrofilm wo nur ein paar übrig sind die sich gegenseitig erschiessen, oh mann, ein glück,
Von: abgemeldet
2014-04-17T17:58:42+00:00 17.04.2014 19:58
ich finde die tovey hat das verdient, du hast das gut gemacht, aber die flasche ging ja jedem schon auf die nerven und was tier in brian angeht, geweckt durch Drogen, geile idee ^^
Von:  MorsImmortalisEst
2012-11-11T21:42:14+00:00 11.11.2012 22:42
Boar, das ist echt ein fieses Ende... Gott sei Dank kann ich direkt die Fortsetzung weiterlesen <3
(hat seine Vorteile, Geschichten erst so spät zu lesen :D)
Von:  -Sherlock-
2010-04-16T06:39:12+00:00 16.04.2010 08:39
Wegen meinem BESCHISSENEM internet hatt es ne ewigkeit gedauert (ne eiwigkeit ist bei mir 46 min.) bis ich das kapi zuende lesen konnte ;.;

Boah wie könn die beiden nur? Armer ALex..naja bei brian hätt ich mir das iwie denken können!
Von:  -Sherlock-
2010-04-15T20:06:31+00:00 15.04.2010 22:06
Wa..? zu dem kapi keine kommis?ö,o
Dan mach ich deen anfang:Ah alexejs geschichte wie traurig!und dan das mit elya...uahh gänse haut.
Mal wieder mehr als geiles kapi!
hab ich schon erwähnt das du genial bist Ö,o
Von:  -Sherlock-
2010-04-15T19:44:07+00:00 15.04.2010 21:44
hö aber ....aber..tovey hatt sie doch angezündet*wild mit händen gestikulir*
Seit ich diese FF lese zweifle ich an mir T.T
du bist zu genial...nur wer geniales kann sowas schreiben ;.;

ps:Hab mich jetzt durch die ff geschumelt ohne bis jetzt kommis da zu lassen. Schuldigung ^^°°°
Von:  Snaked_Lows
2007-07-24T21:03:02+00:00 24.07.2007 23:03
Das ist das letzte Kapitel???
Das kann nicht das letzte sein, tu mir das nicht an >______<
Nicht bei dem Ende >____<
Von:  Snaked_Lows
2007-07-24T20:57:28+00:00 24.07.2007 22:57
Gott das Kapitel hatte ich ja noch gar nicht gesehen >____<
Wie konnte ich nur!!!
Mega geil!!!!!!!!!!!!!
Von:  Snaked_Lows
2007-03-26T17:05:10+00:00 26.03.2007 19:05
Huhu^^
Ich hoffe du hast Spaß in London^^
Das neue Kapitel war wieder mega klasse. Billy wird mir immer sympatischer^^ Sonny im Gegensatz dazu alles andere-.-
Das mit Aron habe ich mir schon gedacht T______T
Ich hoffe der bekommt das hin und Brian hat seine Erzugserscheiningen unter Kontrolle.
Freue mich auf das neue Kapitel^^
Von:  Snaked_Lows
2007-03-22T18:19:26+00:00 22.03.2007 19:19
Yeah wieder ein neues Kapitel!!!!!
Und wieder sowas von klasse. Ich liebe deine FF, aber sowas von^^
Aber die Vorstellung Blecket und Sonny @.@ *würg*
Elya tut mir voll Leid T___T
Und Aron erst...der ritzt sich bestimmt oder?
>___< schnell weiter schreiben und DANKE fürs bescheid sagen!!!


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