Ungewollte Wahrheit
Kapitel LIV : Ungewollte Wahrheit
Ich starrte Grey verwirrt an; was er sagte, widersprach sich soweit, wie es nur möglich sein konnte: Erst hatte er in mir alle Hoffnungen zerstört, hatte mir so deutlich gezeigt, dass ich eben nur ein Schüler war – und auf einmal doch mehr. Fassungslos blickte ich ihm in die dunklen, beinahe emotionslosen Augen. Ein Hauch von Wärme und Kälte, miteinander vermischt, war darin zu sehen.
Meine Lippen bebten verräterisch.
„Bitte versteh das jetzt nicht falsch, Harry …“ Grey senkte den Kopf und strich sich verlegen eine schwarze Haarsträhne hinters Ohr. Mit einem Mal erkannte ich sein wirkliches Alter – verbunden mit so vielen Erinnerungen, die in ihm diese Müdigkeit und Erschöpfung hervorriefen, wie ich annahm.
Schwach umklammerte ich meine Bettdecke. Grey sprach weiter; ich wollte ihm nicht mehr zuhören, doch seine Stimme klang in meinen Ohren nach, als spräche er direkt hinein.
„In … einer bestimmten Art und Weise … liebe ich dich schon.“ Er stockte. „Aber nicht so wie du.“ Ich sah auf.
„Wie meinen Sie das?“ fragte ich. Grey schwieg. Auf einmal schien ihn der Mut verlassen zu haben. „Jetzt sagen Sie schon!“ fuhr ich ihn an und zu meiner Verärgerung brach meine Stimme viel zu hell aus mir heraus. Ich war heiser vor unterdrückten Tränen.
„Ich … du erinnerst mich an jemanden.“ fuhr Grey fort, krampfhaft nach Worten suchend. „An jemanden, der mir sehr nahe stand. Immer noch.“
„Ich verstehe nicht.“ Mich nur mühsam unter Kontrolle halten könnend, betrachtete ich die Bettdecke. Ich konnte sein Gesicht in diesem Moment einfach nicht ertragen.
Vielleicht fühlte er dasselbe, konnte es ebenfalls nicht ertragen, mir zu erzählen, was er mit seinen wirren Sätzen meinte. Vielleicht war ich schon viel zu weit in sein privates Leben vorgedrungen, vielleicht wollte er einfach nicht mehr von sich preisgeben. Er war Lehrer und ich war sein Schüler. Gewesen.
„Bitte. Professor Grey.“ Ich war bereit, ihn sogar anzuflehen. Ich wollte die Karten auf dem Tisch haben, alles wissen, auch wenn es mich noch mehr verstören sollte als zuvor. Auch, wenn ich damit unsere Beziehung, auf welcher Basis sie auch immer existieren mochte, unmöglich machen sollte.
Rascheln. Als ich aufsah, bemerkte ich, dass Grey sich wieder hingelegt und mir den Rücken zugedreht hatte.
„Können wir das Gespräch nicht auf wann anders verlegen?“ sagte er leise.
„Sie haben es doch vorgeschlagen! Jetzt beenden Sie es auch richtig!“
Allmählich wurde ich wütend. Ich hatte mich zugegebenermaßen ziemlich erschrocken, als er endlich reden wollte; doch jetzt, wo ich mich endlich auch dazu überwunden hatte, zog er den Schwanz ein. Im übertragenen Sinne natürlich. Ich errötete heftig bei dem Gedanken – nur gut, dass Grey mich zu diesem Zeitpunkt nicht sehen konnte.
Grey lag immer noch unbeweglich da; die Decke über die Schulter geschlungen. Sein Atem ging langsam und gleichmäßig. Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, hätte ich ihn für schlafend gehalten.
Unbeweglich starrte ich auf seinen Rücken und ein Schauer durchlief mich von Kopf bis Fuß. Zitternd hob ich einen Finger, dann den zweiten und legte sie ihm auf den Rücken, die Fingerkuppen voran, meine Handfläche folgte.
Grey zuckte augenblicklich zusammen, als hätte er sich an meiner Hand verbrannt, und rutschte in einem Zug von mir weg und wirbelte gleichzeitig herum, sodass er sich in der Decke verwickelte.
„Wag es ja nicht!“ Er hörte sich keine Spur aggressiv an, eher entsetzt. Genauso wie damals, als ich die unsichtbare Grenze zwischen uns überschritten und ihn geküsst hatte.
Eine steile Falte hatte sich zwischen meinen Augenbrauen gebildet, vor Wut, vor Schmerz, Enttäuschung war auch nicht fern: Ich hatte seine Sturheit nur zu einem gewissen Grad verstanden; damals, als er noch ein Lehrer für mich war. Jetzt hatte sich dieses Verhältnis aufgelöst.
„Wieso?“ Ich schluckte, obwohl meine Kehle trockener als zuvor war. „Wieso müssen Sie die ganze Zeit auf ihren verdammten Prinzipien hocken, wieso können Sie es nicht einfach akzeptieren – so … so wie ich …“ Die letzten Worte flüsterte ich nur noch. Als Grey nicht antwortete, meinte ich, dass er mich nicht verstanden hatte. „Was ich damit sagen will“, fuhr ich also fort, „ich war natürlich auch … ziemlich … na ja, ich war ziemlich geschockt und wusste gar nicht, was ich tun sollte; aber ich hab versucht, optimistisch zu sein und-“
„Könntest du mal aufhören zu reden?“ unterbrach mich Grey. „Ich möchte nicht unhöflich sein, aber was hast du dir denn dabei gedacht, als du mit Mr Malfoy zusammengekommen bist?“
Meine Augen weiteten sich auf die Größe von chinesischen Untertassen.
„W-Was?“ keuchte ich. „Woher-“ Ich stoppte mich selbst, indem ich mir mit der Hand den Mund zuhielt, doch zu spät: Auf Greys Gesicht hatte sich ein kleines, wenn auch trauriges Lächeln eingeschlichen.
„Du glaubst wohl, ich merke gar nichts, wie?“ fragte er skeptisch. „Jeder Blinde – gut, jeder, der Augen im Kopf hat, würde das merken. Besonders an Mr Malfoy, er schaut dich die ganze Zeit mit Blicken an, die …“ Er sprach nicht weiter, doch sein Ton sprach Bände. Die Beobachtung, die er gemacht hatte, war mir nicht aufgefallen.
„Lenken Sie nicht vom Thema ab.“
Grey seufzte.
„Versuch ich doch gar nicht.“ verteidigte er sich. „Es ist nur …“ Er brach ab.
„Sagen Sie’s endlich! An wen erinnere ich Sie?“
Er biss sich auf die Lippe.
„Es … ist mir ziemlich peinlich“, fing er langsam an. „aber als ich dich das erste Mal sah, musste ich sofort an meinen Sohn denken.“
Verblüfft sah ich Grey an. Sohn? Grey hat einen Sohn?
Eine seltsame Traurigkeit ergriff mich. Also war es ihm nie um mich gegangen, sondern um seinen Sohn. Nur um seinen Sohn. Ich blickte auf.
„Wo ist er jetzt? Ihr Sohn?“ fragte ich vorsichtig. Die Wohnung war leer gewesen, ohne ein Anzeichen eines weiteren Bewohners.
„Er ist tot.“
Grey sagte es beinahe gleichgültig, seine Augen waren leer wie immer, als spräche er nicht von seinem eigenen Sohn. Aus der Fassung gebracht starrte ich ihn an.
„T-Tot? Aber -“
„Es ist schon eine Weile her; ich bin drüber weg.“ unterbrach er mich. „Mach dir keine Gedanken drum.“ Zwei Sekunden verstrichen, ich unbeweglich, dann packte ich das Kissen und schlug es ihm ins Gesicht.
„Wie können Sie so etwas sagen? Er ist Ihr Sohn!“
Grey zuckte leicht zusammen, kaum merkbar rann ihm ein Bluttropfen von der zerbissenen Lippe.
„Es war ihm wohl zu viel.“ murmelte er.
„Wie? Was wollen Sie jetzt schon wieder damit sagen?“ fuhr ich gereizt auf. Grey seufzte ein weiteres Mal.
„Ich … nun ja, wenn ich heute darüber nachdenke – und das tue ich oft – glaube ich, dass ich einfach zu … fürsorglich war.“ Er sprach das Wort mit einer ordentlichen Portion Abscheu aus.
Zitternd biss ich die Zähne zusammen. Grey war mir nie sonderlich emotional vorgekommen, doch dass er so gefühllos über seinen Sohn sprach, verletzte mich über alle Maßen.
„Wir haben uns mal wieder gestritten.“ Überrascht hob ich den Kopf ein kleines Stück an, als er so unerwartet zu sprechen begann. „Ich … es war nur eine Kleinigkeit. Er wollte noch ein wenig aufbleiben, doch ich verbot es ihm.“ Grey schluckte und starrte an mir vorbei. „Er hat … er hat mich angeschrien – ‚ich brauche deine Fürsorge nicht‘, hat er gesagt … und dann ist er aus unserer Wohnung gerannt.“
Gebannt sah ich ihn an, als ob ich ihn damit davon abhalten wollte, nicht weiterzuerzählen. Doch in irgendeiner Ecke meines Verstandes klang der Wunsch, dass er aufhören möge. Ich wollte es nicht hören. Ein schlechtes Gefühl sagte mir, dass ich mit der Wahrheit nicht umgehen können würde.
Grey sprach weiter, äußerlich ungerührt.
„Wir lebten in … nun ja, nicht gerade einem Dorf; es war schon etwas größer, aber … da war ein Wald – er war so ähnlich wie der Wald um Hogwarts, voller Magie. Die Kinder durften dort nicht spielen. Und wenn es doch mal eines tat, kam es manchmal nicht mehr zurück.“ Er machte eine Pause. Sammelte Mut für seine Erzählung. „Und mein Sohn lief direkt dort hinein.“
„Und er … kam nicht mehr zurück?“ fragte ich vorsichtig.
„Doch!“ Grey war laut geworden, seine Augen huschten kurz und unsicher zu mir. „Doch er war nicht mehr derselbe.“ Seine Finger krallten sich in die Bettdecke, bis die Knochen weiß unter seiner Haut hindurch schimmerten. „Er … hatte eine riesige Wunde in der Schulter. Es war ein Wunder, dass er überhaupt überlebt hat, bis ich ihn gefunden hatte.“
„Sie sind ihm hinterher-“
„Natürlich! Er war mein Sohn!“
„Aber dann …“ Ich verstand nicht. War er vielleicht noch später an seinen Verletzungen gestorben?
Das erste Mal konnte ich eine Regung in Greys Augen erkennen. Ich blickte schnell weg, als ich den Ausdruck in ihnen erkannte. So hatte Remus mich angesehen, als er damals in den letzten Sommerferien an meinem Bett gestanden hatte. Schuld. Er fühlte sich schuldig.
„Er – er hat das gleiche Schicksal wie du erlitten.“ Grey hatte es aufgegeben, nach den richtigen Worten zu suchen. „Es war ein Werwolf, der ihn so zugerichtet hatte. Verdammt, er war noch so klein!“
Ich schluckte. Er brauchte es nicht auszusprechen; nun verstand ich auch so, was mit seinem Sohn kurz darauf geschehen sein musste. Doch Grey sprach die grausamen Worte trotzdem aus.
„Er überlebte die erste Verwandlung nicht.“