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Tanaya

Die Geschichte eines Mädchens aus Leren
von

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Mein letzter Tag in Leren

Die Sonne stand strahlend hell am Firmament, die Vögel sangen ihr fröhlichstes Lied und vom Marktplatz war das Rufen der Händler zu hören, welche versuchten, trotz der Hitze Kundschaft anzulocken. Es gab nichts, das vermocht hätte, diesen wunderbaren Morgen in Leren zu trüben. Nichts, ausser meiner Mutter. Meine Mutter, so kann ich mich erinnern, war eine sehr schöne Frau gewesen. Ihr Haar hatte die Farbe eines Weizenfeldes in welches die Sonne scheint, ihre Augen waren von einem klaren Blau, wie die Seen in den Höhen des Delin-Gebirges an dessen Fusse Leren lag, und hätte sie in diesen Tagen nicht gerade meinen kleinen Bruder erwartet, wäre sie überaus schlank gewesen. Eben diese Schwangerschaft war es, die meine Eltern in helle Aufregung versetzte, mich selbst jedoch mehr als einfach nur missmutig stimmte. Da Mutter kurz vor der Niederkunft stand, sollte ich unserer Haushilfe Melina im Haushalt helfen. Doch ich, die ich damals knappe zwölf Jahre zählte, dachte nicht daran. Ich dachte auch längst nicht ans Heiraten oder gar daran, selber einmal Kinder zu haben, wie es die anderen Mädchen meines Alters taten. Nein, ich wollte meinen eigenen Weg gehen, Abenteuer in fernen Ländern erleben, was meiner Mutter wiederum sehr missfiel.

„Eine junge Dame wie du, sollte wissen, wo ihr Platz ist, Tanaya“, pflegte sie stets zu sagen.

Dass der Platz, den die Gesellschaft jedoch für mich vorsah, der Platz am Herd, der Platz auf dem Kindbett, der Platz an der Seite eines reichen Mannes, welcher mindestens dreimal so alt war wie ich und dessen Liebe mir nicht gewiss war, mir überhaupt nicht behagte, scheute ich mich nicht zu sagen, doch alles, was diese „Furchtlosigkeit“ mir und meiner Mutter einbrachte, war Streit. So auch an diesem schicksalhaften Tag.

Ich weiss nicht mehr, worüber wir uns genau gestritten haben, es ist im Laufe der Zeit verloren gegangen wie so vieles, wir hatten uns gezankt; mehr ist nicht wichtig. Irgendwann war ich fortgelaufen, wie ich es immer zu tun pflegte, wenn Mutter und ich uns stritten. Es war nicht so, dass ich vor dem Streit selbst fortlief, das hätte nichts genutzt, denn irgendwann hätte ich so wie so wieder nach Hause gehen müssen. Meistens war mein Vater dann schon da und schalt mich gleich doppelt, erstens weil ich meine Pflichten einmal mehr vernachlässigt hatte und zweitens weil sich meine Mutter aufgeregt und sich Sorgen gemacht hatte, was schlecht für seinen ungeborenen Erben war. Dennoch streifte ich durch die schroffe Felslandschaft um Leren, wann immer ich das Gefühl hatte, dass mir mein Leben über den Kopf wuchs.

An jenem Tag wagte ich mich weit nach Norden vor, immer mehr Gras und andere Gewächse durchbrachen den steinigen Boden, der langsam in einen von Kieselsteinen übersäten, lehmigen Grund überging. Wäre ich weiter gegangen hätte ich die Grenzen Lerens wohl bald überschritten, doch irgendwann wurde ich des Laufens müde, setzte mich auf den Boden und machte mich über die zwei Brote her, die ich mit genommen hatte.

Nach meiner Mahlzeit lehnte ich mich erst einmal zurück und genoss die Strahlen der Sommersonne auf meinem Gesicht. Seltsamer weise habe ich zwar vergessen, worüber ich mich mit Mutter gestritten habe, doch ich weiss noch haargenau was ich danach getan hatte, eine Tatsache, die ich bis heute nicht recht verstehe. Vielleicht weil ich selten solch friedliche Momente erlebt habe.

Doch dieser friedliche Moment fand ein jähes Ende als die Erde unter mir auf ein Mal erbebte. Nur kurz und dort wo ich war auch nicht sonderlich heftig, doch es genügte um einem zwölfjährigen Mädchen einen gehörigen Schrecken einzujagen. Im ersten Moment fürchtete ich, der letzte Tag dieser Welt wäre gekommen. Einige Herzschläge lang geschah nichts mehr, doch dann durchlief die Welt ein erneutes Zittern.

Ich hatte Angst, so sehr wie noch nie zuvor in meinem kurzen Leben.

Mit pochendem Herzen ergriff ich die Flucht. Ich wollte zurück nach Hause, in die Stadt, die ich kannte, zu meiner Familie.

Doch dort, wo sich Leren befinden musste, fand ich nicht die Stadt vor, die ich seit meiner Geburt bewohnte, die in- und auswendig kannte und die ich oft verflucht hatte, weil mir das Leben langweilig erschien. Durch das Erdbeben schien das halbe Gebirge auf Leren nieder gestürzt zu sein. Wie hypnotisiert stand ich da und lies meinen Blick über das Bild der Schreckens gleiten, das sich mir bot. Die in den Fels gehauenen Häuser waren verschüttet, nicht einmal eine Maus hätte durch diese Felswand schlüpfen können. Die Bewohner in den Gebäuden mussten qualvoll erstickt sein, wenn sie nicht schon von den Felsen erschlagen worden war. Auch die Häuser, die weiter von der Felswand entfernt gelegen waren wurden von dem Felssturz nicht verschont. Ein riesenhafter Steinbrocken hatte das Dach der durch das Erbeben ohnehin schon eingestürzten Markthalle durchschlagen und auch der prunkvolle Tempel, den man zu Ehren der Göttin des Wohlstands Sainalia erbaut hatte, damit sie unsere Stadt schützen sollte, war nur mehr ein Trümmerhaufen. Ich konnte Kinder weinen und Erwachsene schreien hören, doch es klang, als käme es aus weiter Ferne. Dumpf und unklar, wie durch eine Wand aus Watte, drangen die Geräusche zu mir durch.

Ich weiss nicht, wie lange ich dort stand und auf meine zerstörte Heimat blickte bis ich mich endlich losreissen konnte. Mein Kopf war wie leergefegt, ich konnte keinen klaren Gedanken fassen, ich konnte das alles nicht begreifen. Doch, da war ein klarer Gedanke, ein einziger. „Mama!“

Ich weiss nicht, ob ich dieses Wort flüsterte oder schrie oder es möglicher Weise nur dachte, doch ich musste sie finden und mit diesem Gedanken im Kopf begann ich erneut zu laufen.

Der Weg zu dem Haus, das meine Familie und ich bewohnten war mir noch nie so lang erschienen. Nicht verwunderlich, schliesslich waren viele Strassen durch Felsbrocken blockiert, so dass ich erst mühevoll darüber hinweg klettern musste.

Als ich mein Heim endlich erreichte sah ich mit Schrecken, dass auch hier ein Felsbrocken das Dach durchschlagen hatte. Tränen stiegen mir in die Augen.

„MAMA!“, dieses Mal bin ich sicher geschrien zu haben. Ich konnte das alles nicht glauben, ich konnte es nicht verstehen. Ich hatte immer geglaubt, dass die Götter nur schlechte Menschen auf solch grausame Art und Weise bestrafen würden. Doch die Menschen von Leren waren gute Menschen gewesen, also warum tat man uns das an? Warum tat man mir das an?

Ich kämpfte mich an den eingestürzten Deckenbalken des Hauses vorbei und hoffte inständig, dass meiner Mutter nichts geschehen war. Doch diese Hoffnung war vergebens. Dort, wo der Stein das Dach durchschlagen hatte, war der gestampfte Lehmboden vom Blut meiner Mutter dunkel gefärbt. Sie lag halb unter dem Felsen, zerquetscht von seinem Gewicht. Heute bin ich froh, dass ihr Gesicht unter dem Felsen lag und ich es nicht sehen konnte.

Panik ergriff mein Herz, meinen kleinen Körper, erstickte jeden Funken eines Gedankens schon im Keim.

Ich lief los, ich wusste nicht wohin, einfach nur weg. Fort von all diesen schrecklichen Bildern, fort von diesem Friedhof, der einst die Stadt Leren gewesen war.
 

Erneut erschütterte ein Nachbeben Leren. Das unerwartete Erzittern der Erde riss mich von den Füssen. Mein Kopf muss dabei wohl Bekanntschaft mit einem der herumliegenden Felsbrocken gemacht haben, denn das nächste, woran ich mich erinnern kann war, dass es dunkel war, die Nacht brach herein. Vorsichtig, versuchte ich aufzustehen. Meine Finger krallten sich in den Boden und ertasteten so durch Zufall eine kleine, goldene Statue, welche die Göttin Sainalia darstellte. Ich weiss bis heute nicht, warum ich sie damals einsteckte, doch es war gut so. Kaum dass ich auf den Beinen war, knickte ich wieder ein. Mir war schwindelig, mein Kopf dröhnte und als ich ihn vorsichtig betastete sah ich Blut im Mondlicht auf meinen Fingern glitzern.

Es schien einen Ewigkeit zu dauern bis ich einigermassen sicher stand und meine Flucht fortsetzen konnte.

Ich stolperte weiter Richtung Norden. Noch immer hatte ich keine Ahnung, wohin ich eigentlich lief, auch die Tatsache, dass die Wunde an meinem Kopf noch immer blutete und ich spüren konnte, wie das Blut langsam meinen Nacken hinunterlief, bremste mich nicht. Ich kann mich nicht erinnern, jemals wieder in so kurzer Zeit so weit gelaufen zu sein.

Ich wusste nicht, was ich jetzt tun sollte, wohin ich gehen sollte, war überhaupt aus mir werden würde. Genau genommen wusste ich gar nichts. Ich vermochte auch nicht, mir Gedanken über eine dieser Fragen zu machen, sie blitzten unvermittelt in meinem Kopf auf und wurden ebenso unvermittelt und schnell von neuen Fragen oder schrecklichen Bildern abgelöst.

Ebenso wie ich nicht fähig war, auch nur den Ansatz eines klaren Gedankens zu fassen, konnte ich nicht sehen, wie sich die Landschaft um mich herum veränderte. Wäre mein Verstand klar gewesen, hätte ich gesehen, dass ich die Grenzen Lerens längst überschritten hatte. Ich hätte festgestellt, dass immer mehr Pflanzen meinen Irrweg säumten und dass sie immer grösser wurden.

Selbst, dass ich in einen Wald geraten war, fiel mir erst wirklich auf, als ich mich keuchend an einem Baumstamm lehnte. Erneut war mir schwindelig, vermutlich eine Folge des Blutverlustes, den ich in den letzten Stunden erlitten hatte. Die Bäume verschwammen vor meinen Augen und ich hatte Mühe, gerade aus zu laufen, dennoch torkelte ich weiter. War ich dem Schrecken von Leren denn entkommen, nur um nun doch zu sterben?

Ein weisser Schemen tauchte aus dem grün-braunen Nebel, als den ich den Wald mittlerweile sah, auf. Eine Gestalt, ein Mensch, etwa so gross wie ich selbst, eingehüllt in einen langen weissen Mantel. Meine Rettung, so glaubte ich, doch der weisse Schemen erwies sich als Felsbrocken. Die weisse, raue Oberfläche wurde von dunklen Schriftzeichen, durchbrochen, die im ersten Licht des neuen Tages glitzerten.

Mir war übel. Dieser Felsbrocken erinnerte mich schmerzlich an Leren, meine Mutter, meine Freunde, obwohl er anscheinend willkürlich hier aufgestellt worden war.

Ich hatte nicht mehr die Kraft, weiter zu laufen. Erschöpft sank ich zu Boden und die Welt um mich herum versank in Dunkelheit.
 

Als ich wieder erwachte, fand ich mich in einem weichen Bett wieder, welches in einem hellen, freundlichen Zimmer stand. Die Wunde an meinem Kopf war versorgt worden. Jemand hatte mich gefunden und mich verarztet, doch wer? Ausser mir war niemand in dem Zimmer. Ich blieb liegen, da ich mich noch immer schwach fühlte.

Nach einer Weile hörte ich Stimmen vor der Tür.

„Nochmals, Harias, du kannst nicht zu ihr. Selbst wenn sie mittlerweile wach sein sollte, braucht sie vor allem viel Ruhe“, konnte ich eine Frau sagen hören. Ich vermutete die Herrin des Hauses hinter der Stimme.

„Aber ich möchte helfen, Frau Sirala.“ Das musste Harias sein. Er protestierte lautstark.

Die Tür öffnete sich und ich konnte einen Blick auf die Personen, die zu den Stimmen gehörten, werfen. Frau Sirala schien ein gutes Stück älter zu sein als meine Mutter es war, ihre Stirn war voller Falten und in ihrem zurückgesteckten kastanienbraunen Haar zeigten sich erste graue Strähnen. Über dem Schlichten dunkelgrünen Kleid trug sie eine weisse Schürze, so wie Melina sie immer zum Kochen angezogen hatte.

„Du hast genug geholfen, indem du sie her gebracht hast, aber jetzt muss ich… Oh!“ Frau Sirala brach ihren Satz ab, als sie bemerkte, dass ich wach war und sie aufmerksam betrachtete.

„Hey! Unser Findelkind ist wach!“ Ein junger Mann mit halblangen roten Haaren drängte sich an Frau Sirala vorbei. An seinem Gürtel hing ein Degen.

„Ja, sie ist wach. Und sie braucht Ruhe, also raus hier“, meinte Frau Sirala bestimmt und schon Harias mit sanfter Gewalt aus dem Zimmer. Dann wandte sie sich mir zu. „Wie fühlst du dich?“

„Mir ist noch etwas schwindelig“, gab ich etwas kleinlaut zur Antwort.

„Das legt sich wieder, ist ganz normal“, erklärte Frau Sirala sanft. „Lass mich mal deine Wunde sehen.“

Sie löste den Verband um meinen Kopf und strich meine Haare beiseite, dann schüttelte sie den Kopf. „Was ist bloss mit dir passiert?“

„Ich weiss nicht genau…“ Ich antwortete obwohl sie eher sich selbst fragte. „Auf einmal hat die Erde gebebt und ich bin nach Hause gelaufen, aber ganz Leren war zerstört und… und…“ Ich brach ab. Ich konnte nicht mehr weiter reden. Tränen erstickten meine Worte.

„Leren ist zerstört?“ Frau Sirala sah mich einen Moment lang Fassungslos an. Dann ging sie mit schnellen Schritten zur Tür und öffnete diese, worauf der zuvor rausgeworfene Harias wieder ins Zimmer fiel. Offenbar hatte er sich an die Tür gelehnt und gelauscht.

„Ich hatte gehofft, dass du noch da bist“, meinte sie gefasster als man es nach so einer Nachricht hätte erwarten können. „Geh und sag Waffenmeister Macul, dass er einen Trupp Schüler nach Leren schicken soll. Offenbar ist dort ein Unglück gesehen.“

Harias nickte nur kurz und eilte davon. Ich weinte noch immer.

Frau Sirala setzte sich wieder zu mir, nahm mich in den Arm und sagte, dass alles wieder gut werden würde, doch das konnte mich nicht beruhigen.

Meine Familie war tot, mein Zuhause zerstört, daran konnten auch die Freundlichkeit Siralas und ihre gut gemeinten Worte nichts ändern und das wusste ich.
 

Drei Tage vergingen. Mittlerweile wusste ich, dass ich mich in Nightwind, der berühmten Schule für Magie und Kampfkunst befand. Harias, so erzählte mir Frau Sirala, hatte mich am frühen Morgen bei der Jagd bei einem der Runensteine gefunden und zu ihr gebracht. Natürlich war Sirala nicht die Herrin des Hauses, wie ich zunächst vermutet hatte, sondern die Heilerin und Krankenpflegerin Nightwinds.

Mir fehlte es an nichts, die Heilerin umsorgte mich liebevoll, als wäre ich ihre eigene Tochter. Damals wusste ich noch nicht, dass sie sich um jeden Schüler auf solch liebevolle Art kümmerte. Ich bekam viel Besuch. Lehrerinnen und Lehrer, anderes Personal und viele Schülerinnen und Schüler, welche von mir und meinem Schicksal gehört hatten. Manche brachten mir sogar Blumen oder Stofftiere mit und wünschten mir eine baldige Genesung, obwohl sie mich gar nicht kannten. Bei Sainalias goldenem Sternenkleid, nie habe ich mehr Freundlichkeit und Herzenswärme erlebt. Meine zerzausten Haare wurden gekämmt und adrett frisiert; sogar schöne neue Kleider bekam ich. Ich musste in diesen Tagen hübscher ausgesehen haben als jemals zuvor. Man gab sich wirklich alle Mühe, mich auf zu heitern und doch konnte mir nichts ein Lächeln entlocken, was jedoch niemanden zu stören schien. Alle schienen zu verstehen, dass ich nicht lachen konnte. Nicht mehr.

Ein Mädchen kam besonders oft. Ihr Name war Chandra Keilàne. Sie erzählte mich viel über die Nightwind-Schule, zum Beispiel, was die Farben der Uniform bedeuteten. Chandras Uniform war blau, was bedeutete, dass sie zu den Wassermagiern der Eona-Gruppe gehörte. Ich erinnerte mich, dass Harias’ Uniform grün gewesen war, also musste er ein Erdmagier aus der Taron-Gruppe sein. Die Schüler in der roten Uniform waren Feuermagier, welche von der Ingala-Gruppe ausgebildet wurden und die violette Uniform schliesslich zeichnete die Luftmagier aus der Jin-Gruppe aus.

Ich ertappte mich dabei, wie ich überlegte, zu welcher Gruppe ich wohl gehören würde, obwohl ich nicht ernsthaft glaubte, jemals eine solche Uniform tragen zu dürfen. Bestimmt kostet es unglaublich viel Geld, hier zu lernen. Alles was ich besass war die kleine goldene Sainalia-Statue, die ich gefunden hatte als ich aus Leren flüchtete. Obwohl sie massiv golden war, glaubte ich nicht, dass sie genug wert war um ein Studium in Nightwind zu bezahlen, ausserdem war ich nicht gewillt, sie zu verkaufen, war sie doch das Einzige, was mir von meinem Zuhause geblieben war.

Auch die Bedeutung der Runensteine erklärte mir Chandra.

„Die Runensteine“, so sagte sie, „sind in Wahrheit keines Wegs ordinäre Felsbrocken, auch wenn sie auf den ersten Blick vielleicht so erscheinen mögen. Wenn du dir die Runen, die in sie hinein gemeisselt wurden, ansiehst, merkst du, dass sie unter dem Felsmantel der sie umgibt Edelsteine sind. Man hat sie zum Schutz der Schule und des Dorfes aufgestellt. Wenn du sie dir von oben ansehen könntest, würdest du sehen, dass sie ein Pentagramm bilden. So sagt man jedenfalls.“

Ich hatte keine Ahnung, was ein Pentagramm war. Chandra lachte, als ich sie danach fragte und erklärte mir, dass es sich dabei um ein magisches Zeichen handelte, einen fünfzackigen Stern, welcher in einem Mal gezogen werden konnte. „Die genaue Bedeutung des Pentagramms lernst du später in Magiekunde.“, sagte sie zu mir.

„Ich glaube nicht, dass ich das lernen werde, selbst wenn ich wollte. Ich habe kein Geld um diese Schule zu bezahlen“, antwortete ich.

„Nightwind nimmt jeden auf, der lernen möchte, unabhängig von Stand, Beruf oder Vorbildung. Und auch Geld ist nur ein kleines Problem, wenn sie bei jemandem Potenzial sehen. Ich selbst hatte nur ein paar Crysil in den Taschen, als ich mein Zuhause verliess und hier her kam“, erklärte mir Chandra und wurde auf einmal sehr ernst. Ich konnte sogar eine Träne in ihren Augen sehen und vermutete, dass sie, genau wie ich, ihr Zuhause vermisste.

„Ist dein Zuhause weit weg?“, fragte ich also.

Weitere Tränen rollten über Chandras Wangen. „Ja, ich fürchte, jetzt schon…“, antwortete sie leise.

Ich verstand nicht, was sie damit meinte.

Als ich nachfragte, zeigte sich trotz der Tränen wieder ein Lächeln auf Chandras Gesicht. „Mein Zuhause war Leren“, sagte sie und ich konnte einen gewissen Stolz in ihrer Stimme hören, obwohl ich die Worte nicht glauben konnte.

Auch in meinen Augen zeigten sich nun Tränen und Chandra und ich weinten gemeinsam um unsere Heimat, unsere Familien und Freunde.

Ich hatte in den letzten Tagen so oft geweint, doch nie war es derart befreiend gewesen. Vielleicht lag es daran, dass ich mich nun nicht mehr ganz so allein vorkam.
 

Am Morgen des vierten Tages schien Frau Sirala ungewöhnlich bedrückt als sie in mein Krankenzimmer kam.

Sie sagte mir, dass der Schulleiter Doron Alion mich zu sehen wünsche. Ich fürchtete schon, dass nun der Moment gekommen war, da man mich aus Nightwind fortschickte, immerhin war meine Kopfverletzung dank etwas Magie so weit verheilt, dass ich eine Reise hätte antreten können.

Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch stieg ich also die vielen Stufen zum obersten Stockwerk, in dem der Schulleiter sein Büro hatte, hinaus.

Schüchtern klopfte ich an die wuchtige Eichentür. Keine Antwort. Vielleicht hatte man mich nicht gehört. Ich hob die Hand um erneut zu klopfen, doch in diesem Moment öffnete sich die Tür.

Vor mir sah ich einen hünenhaften Mann mit einem kantigen Gesicht und zu einem strengen Schopf zusammengebundenem schwarzem Haar. Eine lange Narbe zog sich über seine rechte Augenbraue. Ich erschrak. Das sollte der Leiter der Schule sein?

Meine Annahme wurde jedoch sogleich widerlegt als aus dem Inneren des Büros eine freundliche Stimme erklang. „Meister Macul, wollt Ihr unseren jungen Gast nicht herein bitten?“

Unbewusst atmete ich auf. Der Hüne war also Macul, der Waffenmeister Nightwinds. Diese Position passte viel besser zu ihm.

Ich betrat das Zimmer und warf einen Blick auf den Mann, dem die freundliche Stimme gehörte und der demnach der Schulleiter Doron Alion sein musste. Ich war überrascht, denn aus irgendeinem Grund war ich der Illusion aufgesessen, hinter diesem Schreibtisch einen alten Mann mit einem langen weissen Rauschebart zu sehen, was natürlich überhaupt nicht zutraf. Herr Alion war noch recht jung, etwas jünger als mein Vater vielleicht. Seine Haare hingen locker auf seine Schultern hinab und schimmerten im hellen Sonnenlicht wie Kupfer und einen Bart hatte er zwar, doch er war kurz gestuzt.

Ich deutete zaghaft eine Verbeugung an und sagte Guten Tag, wie sich das gehörte. Auch Herr Alion sagte Guten Tag und forderte mich lächelnd auf, mich doch zu setzen. Er betrachtete mich aufmerksam.

„Man sagte mir, du heisst Tanaya“, sagte er dann und ich bejahte. „Wie geht es deiner Verletzung?“, wollte er als nächstes wissen.

„So weit wieder ganz gut“, gab ich kleinlaut zur Antwort.

Herr Alion seufzte und ich zuckte zusammen. Gleich, gleich würde er es sagen. Er würde mich wegschicken.

„Vielleicht weisst du, dass wir einige Schüler nach Leren geschickt haben.“, begann er ernst und ich nickte. „Nun, sie sind heute zurück gekehrt. Es hat den Anschein, dass du die einzige Überlebende des Felssturzes bist.“ Seltsamer weise schockte mich das nicht. Ich hatte es irgendwie erwartet.

„Was geschieht nun mit mir? Was bedeutet das für mich, ausser dass ich jetzt Waise und heimatlos bin?“, wollte ich wissen. Die Antwort auf diese Frage machte mir Angst, ich wagte nicht, mir zu überlegen, was war, wenn Herr Alion nun etwas sagen würde wie „Das musst du selber wissen.“

„Genau darüber will ich mit dir reden. Hast du Verwandte, die dich bei sich aufnehmen würden, Tanaya?“

Ich verneinte, doch genau genommen wusste ich es nicht. Herr Alion seufzte wieder und ich seufzte auch, denn ich war mir nun gewiss, dass man mich wegschicken wollte.

„Ich habe gehört, dass es in der Nähe ein Dorf gibt. Vielleicht kann ich dort Arbeit finden… Wenn Ihr mich hier nicht wollen…“, meinte ich kleinlaut.

Einen Moment lang sah Herr Alion verwirrt an, doch dann lächelte er.

„Tanaya, es ist nicht so, dass wir dich hier nicht haben wollen. Ich bin sicher, dass du ein sehr kluges junges Mädchen bist, es ist nur…“ Herr Alion beendete den Satz nicht. Offensichtlich versuchte er mir das, was er zu sagen hatte, besonders schonend beizubringen. „Nun ja, weißt du, Magie kann eine sehr komplizierte Sache sein und auch wenn wir unseren Schülern das Kämpfen beibringen, ist es doch keine schöne Sache…“ Wieder brach er ab. Ich verstand nicht ganz, was er mir sagen wollte und er schien das zu merken, denn er setzte erneut an. „Wir sind einfach der Meinung, dass unsere Schüler… eine gewisse… Reife haben sollten um mit alldem richtig umgehen zu können. Verstehst du, was ich meine, Tanaya?“

Ich nickte. „Sie halten mich für zu jung.“

„Ja, ich fürchte, so ist es“, antwortete Herr Alion.

Meine Hände ballten sich zu Fäusten. Tränen der Wut stiegen mir in die Augen. Ich war zwölf Jahre alt, in Leren galt das schon als Heiratsfähig. Ich war also schon alt genug um mein Leben lang an einen Mann gefesselt zu werden, aber zu jung um etwas zu lernen, was mir helfen konnte, mein Leben selbst zu bestimmen? Das war nicht gerecht! Und nicht nur das, ich hatte doch bereits Bekanntschaften geschlossen! Chandra war sogar mehr als nur eine Bekanntschaft!

Ich sah auf. Herr Alion und Waffenmeister Macul sahen mich fassungslos an und mir wurde klar, dass ich all diese Gedanken in meiner Wut einfach heraus geschrien hatte.

„Eine solch temperamentvolle junge Dame sieht man selten…“, murmelte der Waffenmeister.

Herr Alion konnte sich zu einem Lächeln durchringen. „Und talentiert scheint sie auch noch zu sein“, meinte er und deutete auf mich. Nein, hinter mich. Ich sah mich um. An der Wand hinter mir hing ein aus Lindenholz geschnitztes Bild, welches tatsächlich eine einzelne, zaghafte Knospe gebildet hatte. Nun war ich fassungslos.

„War… war ich das?“

„Es ist anzunehmen“, meinte Herr Alion. „ Nun, ich denke, wir sollten vielleicht eine Ausnahme für unseren jungen Gast hier machen und sie lernen lassen. Immerhin waren ihre Argumente recht überzeugend. Was denkst du, mein lieber Macul?“

Der Waffenmeister seufzte, vermutlich war er nicht so ganz mit dieser Entscheidung einverstanden. Doch er stellte sie vorerst nicht in Frage. „Ich denke, dass man es zumindest versuchen kann.“

„Gut, dann ist es also beschlossen!“ Herr Alion erinnerte mich auf einmal ein einen der Nachbarsjungen, wenn sie ein neues Spielzeug geschenkt bekommen hatten. „Vorher müssten wir allerdings noch eine Sache klären. Kannst du lesen und schreiben, Tanaya?“

Daran hatte ich nicht gedacht. Peinlich berührt sah ich zu Boden. „Nein, man hat nie eine Notwendigkeit gesehen, mir solcherlei Dinge bei zu bringen“, gestand ich.

„Nun, dann fürchte ich wird deine Ausbildung in Nightwind wohl trotz allem Talent und aller guten Argumente noch ein Jahr warten müssen“, erklärte Herr Alion.

Ein Jahr war eine lange Zeit, aber damit konnte ich leben. Ich durfte bleiben und irgendwie machte mich das glücklich. Glücklich genug um ein Lächeln auf meinen Lippen erscheinen zu lassen.

Belana, die Alchemistin

Chandra und Harias hatte sich sofort bereit erklärt, mit mir die nötigsten Besorgungen im Dorf zu machen. Ich bekam neue Kleider, ein Bündel Pergament und einen Kohlestift, damit ich schreiben üben konnte, ein Stück Seife, das wunderbar nach Vanille duftete, Handtücher, eine Haarbürste und viele Bänder und Kämme um mich frisieren zu können und sogar ein dünnes kleines Buch, von dem Chandra sagte, es sei einfach zu verstehen, damit ich mich auch im Lesen üben konnte.

Beladen mit den Einkäufen standen wir nun vor einem hübschen Haus aus hellgrauem, glattem Stein. Nur zu beiden Seiten der Tür, wo Fackeln angebracht waren, hatte die Mauer eine gänzlich schwarze Färbung angenommen. Zwei hohe Bogenfenster aus Buntglas, welches im Licht der Sonne, die sich schon dem westlichen Horizont zu neigte, glitzerte, schmückten die Front des Hauses und über der Tür hing ein Schild mit der Aufschrift: „Belana Rokia – Zaubertränke, Gifte, Alchemistische Dienste“. Natürlich konnte ich das damals noch nicht selber lesen, Chandra las es mir vor, und was genau mit „alchemistischen Diensten“ gemeint war, konnte ich mir auch nicht vorstellen, nahm aber an, dass ich das schon noch erfahren würde, denn dies war das Haus, in dem ich von nun an leben würde.

Herr Alion war der Meinung gewesen, dass ich in einer Art „Ersatzfamilie“ besser aufgehoben sei als im Wohnheim der Schule. Er wollte wohl, dass ich einen Erwachsenen um mich hatte, der etwas auf mich aufpasste und mir eine Vertrauensperson sein konnte.

Dieser Erwachsene war Belana Rokia, eine Meisterin der Zaubertränke und der Giftmischerei und die einzige Lehrerin Nightwind, die nicht in der Schule selbst, sondern in ihrem Heim unterrichtete.

Harias stiess die Tür auf, eine kleine bronzene Glocke darüber bimmelte und vor uns erstreckte sich offenbar ein kleiner Verkaufsraum, der von Kerzen und Kohlebecken erhellt wurde. Unmengen von Tränken in allen denkbaren Farben und für alle denkbaren Verwendungszwecke waren fein säuberlich in verschiedene Flaschen abgefüllt und auf einem Regal hinter der Theke, das die ganze Breite der Wand einnahm, aufgereiht worden. In einem kleineren Regal waren bunte Tiegel und Töpfchen gestapelt, die mich an die Farben, mit denen ich als kleines Kind oft gemalt hatte erinnerten, jedoch waren sie natürlich nicht mit Malfarben, sondern mit verschiedenen Salben, Cremes und Kuren gefüllt. Zum unserer rechten bestand die Wand aus vielen kleinen Schubladen, in denen die Tränkemeisterin verschiedene Teesorten, getrocknete Kräuter oder Kräutermischungen, allerlei Gewürze und Pülverchen aus den verschiedensten Dingen aufbewahrte. Neben der Theke gab es einen schmalen Durchgang, der in ein Hinterzimmer führte. Der Unterrichtsraum, wie Harias mir erklärte.

Aus eben diesem Unterrichtsraum trat nun eine blonde Frau in einem eleganten violetten Kleid in den Verkaufsraum. Es schien mir unmöglich, zu sagen wie alt Belana Rokia war, einerseits wirkte sie kaum älter als meine Mutter, andererseits strahlte sie eine gewisse Erfahrung und Besonnenheit aus, die ich bis dahin nur von alten Menschen kannte.

„Guten Tag Chandra und Harias“, begrüsste sie meine beiden Freunde, „Und du musst Tanaya sein, nicht wahr?“

Ich nickte. „Dann seid Ihr Frau Rokia?“ Da ich nicht sagen konnte, ob ich nun eine junge oder eine schon ältere Frau vor mir hatte, beschloss ich, so höflich wie möglich zu sein.

„Ganz genau. Aber bitte, sag doch Belana. Ich fühle mich immer so alt, wenn man so förmlich mit mir redet.“ Belana lächelte und die kleinen Fältchen um ihren Mund vertieften sich. „Komm, ich zeige dir dein Zimmer.“
 

Das Zimmer, welches Belana mir zugedacht hatte, befand sich direkt unter dem Dach und war auf den ersten Blick überraschend gross, grösser als mein Zimmer zuhause es gewesen war. Bald jedoch merkte ich, dass die Grösse des Zimmers täuschte, da die Dachschrägen eine Menge Platz unbrauchbar machten.

An der Stirnseite des Raumes befand sich ein breiter Erker mit einem Fenster, von welchem ich, wie ich später feststellte, einen hübschen Blick auf die Dächer des Dorfes und den Sternenhimmel hatte. In Leren hatte ich im Erdgeschoss gewohnt und dadurch höchstens die nächste Hauswand gesehen.

Das Fenster war leicht geöffnet, damit frische Luft in das Zimmer dringen konnte. Dadurch bewegten sich die weissen Ziergardinen und die kornblumenblauen Vorhänge leicht im Wind. Gleich unterhalb des Fensters stand das Bett, das mit einer Bettwäsche in derselben schönen dunkelblauen Farbe wie die Vorhänge bezogen war.

„Leider konnte mir niemand sagen, welche Farben du magst, darum habe ich mich fürs erste für Blau entschieden. Es ist eine schöne, ruhige Farbe, perfekt geeignet für ein Schlafzimmer. Aber wenn du lieber etwas anderes möchtest…“, sagte Belana, doch ich schnitt ihr das Wort ab: „Nein, nein, das Blau ist sehr hübsch, es gefällt mir gut!“, versicherte ich und lies meinen Blick weiterschweifen.

Links neben dem Bett stand eine niedrige kleine Kommode aus Eichenholz, die ich als Nachtkästchen benutzen konnte. Darauf standen drei weisse Kerzen und ein Strauss blauer und gelber Blumen in einer gläsernen Vase. Auch auf der rechten Seite war der wenige Platz, den die Dachschräge bot, so gut wie möglich ausgenutzt worden, indem fast die gesamte Wandbreite als Bücherregal nutzbar gemacht worden war.

Zu meiner Rechten neben der Tür stand ein eleganter Sekretär. Es war das erste Mal, dass ich ein solches Möbelstück aus der Nähe sah. Staunend liess ich meine Finger über das blankpolierte, dunkle Eichenholz gleiten, bewunderte die Einlegearbeiten aus hellerem Holz, welche Blumenranken darstellten und öffnete die kleinen Türchen und Schubfächer, die dazu dienten, Pergament, Tintenfässer, Federn und andere Schreibgeräte zu verstauen. Dann wandte ich mich dem grossen Schrank links von der Tür zu. Offenbar gehörten der Schrank und der Sekretär zusammen, denn das wuchtige Möbel bestand aus demselben dunklen glatt polierten Eichenholz und denselben Blumenranken-Ornamenten.

Als ich den Schrank öffnete, sah ich, dass an der Innenseite der Linken Flügeltür ein grosser Spiegel angebracht war. Einen Moment lang betrachtete ich mich selbst darin. Mein blondes Haar war von einer Jin-Schülerin ordentlich gekämmt und zurückgeflochten worden, ich trug eine weisse, mit zierlichen blauen Blumen bestickte Bluse aus feinem Leinenstoff und einen moosgrünen Rock aus ebensolchem, welche ich von einem Mädchen aus der Taron-Gruppe, weil ihr die Kleider selbst nicht mehr passten. Ein Paar flache, weisse Schuhe, die mir Frau Sirala gegeben hatte, rundeten mein Aussehen ab. Ich wusste nicht, was ich beim Anblick meines Spiegelbildes hätte fühlen sollen. Einerseits schämte ich mich ein bisschen, dass all die Kleider, die ich am Leibe trug nicht mir gehörten und ich mir nicht einmal die Haare selbst gemacht hatte, doch andererseits fühlte ich mich in dieser Aufmachung fast ein bisschen nobel. Es war etwas ganz anderes als die schlichten, einfarbigen Kleider, die meine Mutter mir immer genäht hatte. Sicher, sie waren praktisch gewesen um im Haushalt zu arbeiten, aber sie sahen längst nicht so schön aus, wie das, was ich nun trug. Ich wünschte, meine Mutter hätte mich so sehen können.

Einmal mehr stiegen mir Tränen in die Augen. Meine Mutter würde mich nie wieder sehen, nicht so und auch nicht anders. Ich schluchzte. Alle Freude darüber, in Nightwind bleiben zu dürfen, war fort. Sie war dem schrecklichen Gefühl gewichen, ganz allein auf der Welt zu sein.

Auf einmal fühlte ich, wie sich zwei Arme von hinten um mich legten. Ich blickte auf und sah im Spiegel, dass es Chandra war, die mich da umarmte. Und auch Harias kam heran und nahm Chandra und mich in den Arm. Keine von uns sagte ein Wort. Ich weinte noch mehr. Ich weinte, weil ich meine Familie verloren hatte. Ich weinte, weil zwei Menschen, die ich kaum kannte und die mich kaum kannten, hier standen und mich zu trösten versuchten. Und ich weinte, weil es unglaublich gut tat, von diesen beiden Menschen umarmt und daran erinnert zu werden, dass ich nun zwar Waise, aber dennoch nicht ganz alleine war.

Belana hatte das Zimmer unterdessen verlassen, jedoch bemerkten wir das erst, als sie bereits zurückgekehrt und ein Tablett auf dem Sekretär abstellte. Die Teetassen auf dem Tablett klirrten dabei leise, weshalb wir alle aufsahen.

„Ich dachte, eine schöne, heisse Tasse Tee würde uns allen gut tun“, erklärte Belana und goss den köstlich duftenden Tee in eine der kleinen, henkellosen Tassen.

Ich nahm die Tasse entgegen und setzte mich aufs Bett. Chandra und Harias liessen sich links und rechts von mir nieder. Belana setzte sich auf den Stuhl vor dem Sekretär.

Der Tee schmeckte genau so köstlich, wie er roch und danach fühlte ich mich ruhiger und klarer im Kopf. Es war eine von Belanas Spezialmischungen gewesen. Sie hat mir nie verraten, was genau darin war.

Nach einer Weile stand Belana auf und erklärte, dass sie nun das Abendessen bereiten würde. „Chandra und Harias, ihr beide seid auch eingeladen“, sagte sie und lächelte.

Darauf hin verschwand Belana also in der Küche, während Chandra, Harias und ich noch ein wenig sitzen blieben, ehe wir begannen, mein bisschen Gepäck auf den reichlich vorhandenen Platz meiner neuen Wohnstatt zu verteilen.

Bald zogen aus dem Stockwerk unter uns, wo sich die Küche befand, herrliche, exotische Düfte zu uns herauf. Belana war, wie ich feststellen musste, nicht nur eine Meisterin im Brauen von Tränken und Mischen von Elixieren, sondern auch eine hervorragende Köchin.
 

Obwohl es ein im Grunde genommen gemütlicher Abend gewesen war, schlief ich unglaublich schlecht. Ich hatte fürchterliche Bauchschmerzen und vermutete, zu viel gegessen zu haben, denn ich hatte beim Abendessen wirklich zugeschlagen. Auch plagten mich, wie so oft schreckliche Albträume. Die Bilder aus Leren verfolgten mich.

In dieser Nacht, sah ich die Bilder so deutlich, dass ich schweissgebadet erwachte. Doch nicht nur mein ganzer Körper war schweissnass, sondern auch meine Matratze fühlte sich feucht an. Ich schlug die Decke zurück und starrte auf einen riesigen Blutfleck zwischen meinen Beinen. Auch auf meinem Nachthemd zeigten sich im Bereich des Unterleibs blutige Flecken.

Panisch schrie ich auf. All dieses Blut musste von mir kommen, doch ich konnte mich nicht erinnern, andere Verletzungen zu haben als die Wunde am Kopf und daher konnte es nicht stammen. Ich konnte mir das alles nicht erklären, es machte mir Angst. Ich schrie wie am Spiess, bis Belana ins Zimmer stürzte.

„Ach du meine Güte“, murmelte sie und setzte sich neben mich aufs bett, nahm mich in den Arm und versuchte, mich zu beruhigen, in dem sie mir sagte, dass alles in Ordnung sei. Allerdings glaubte ich ihr das nicht wirklich. Da war jede Menge Blut in meinem Bett, was konnte da schon in Ordnung sein?

„Was ist los mit mir?“, fragte ich gerade heraus. Ich fürchtete, nun vom Zorn der Götter, welchen sie offensichtlich auf Leren und seine Bewohner hatten eingeholt worden zu sein.

Belana seufzte und setzte sich neben mich aufs Bett. „Ich schätze, es ist nun an mir, dir etwas zu erklären, was dir eigentlich deine Mutter hätte erklären müssen. Vermutlich hätte sie dir gesagt, dass du nun eine Frau bist oder etwas ähnliches.“ Belana lächelte unbeholfen. Ich konnte sehen, das sie nach den richtigen Worten suchte. „Weißt du, Tanaya, das Leben einer Frau besteht aus drei Zeiten. Die erste ist die Zeit des Mädchens, in dieser Zeit bist du noch ein Kind und kannst selber noch keine Kinder bekommen. Diese Zeit hast du heute hinter dir gelassen und nun liegt die Zeit der Mutter vor dir.“

„Aber was hat das damit zu tun?“, unterbrach ich Belana. Ich verstand nicht so recht, was sie mir damit sagen wollte.

„Nun, weisst du, woher die Kinder kommen, Tanaya?“, wollte Belana nun wissen.

„Rohana hat behauptet, dass man sie tief in den Höhlen des Delin-Gebirges ausgräbt, aber meine Mutter sagte, dass das nicht stimmt. Mama hatte einen dicken Bauch und sagte, dort wäre mein kleiner Bruder drin“, antwortete ich.

„Das stimmt, deine Mutter hatte ein Baby im Bauch. Aber weisst du auch, wie das Baby da hineingekommen ist?“, fragte Belana weiter.

„Nein“, gab ich zu, „Ich habe Mama gefragt, aber sie sagte, das erkläre sie mir, wenn ich älter sei. Das hat sie oft gesagt. Ist das eine Ausrede, die Erwachsene benutzen, wenn sie etwas selber nicht wissen?“

Belana lachte. „Manchmal ja, in diesem Fall war es sicher keine. Deine Mutter dachte nur, dass du noch zu jung dafür bist, solcherlei Dinge zu wissen. Nun weisst du, Tanaya, du hast doch bestimmt auch schon gesehen, dass Jungen zwischen den Beinen anders aussehen als Mädchen, nicht wahr?“

„Ja, damit sie im Stehen pinkeln können.“

Belana lachte erneut. „Ja, das können sie auch. Aber eigentlich hat die Natur dieses Glied für etwas anderes gemacht. Weisst du, Tanaya, Mann und Frau passend zusammen wie ein Schlüssel und ein Schloss. Der Mann hat den Schlüssel, die Frau das Schloss. Und wenn Schlüssel und Schloss zusammenkommen, kann es sein, dass die Frau danach schwanger wird, so wie deine Mutter es war.“

Ich wusste immer noch nicht, was das damit zu tun hatte, weshalb ich blutete, aber es klang interessant. „Warum?“, fragte ich also.

„Nun wenn Schlüssel und Schloss zusammenkommen, ist das so, als würdest du einen Apfelkern pflanzen. Der Mann gibt der Frau seinen Samen und so wie aus dem Apfelkern später einmal ein Apfelbäumchen wird, wird aus dem Samen des Mannes ein Baby, dass zuerst im Bauch der Mutter wächst und gross genug für die Welt wird. Aber natürlich kann das nicht immer passieren. Denn der Körper der Frau macht sich zuerst bereit um dem Samen des Mannes ein einen schönen, weichen Platz zu bieten. Wenn nun aber kein Samen an diesen Ort gelangt, dann baut der Körper der Frau den Platz dafür wieder ab und transportiert sein Baumaterial mit ein bisschen Blut wieder aus dem Körper heraus. Das nennt man Regel und das erlebst du gerade.“, erklärte Belana. „Ich sagte doch, es ist ganz normal.“

„Wie lange dauert das noch?“, wollte ich wissen.

„Ein paar Tage, vielleicht eine Woche. Das Dumme ist, dass du das nun jeden Monat erleben musst.“

Ich verzog das Gesicht. Jeden Monat Bauchschmerzen? Das war nicht gerade das, was ich mir unter „Erwachsenwerden“ vorgestellt hatte.

„Keine schöne Sache, ich weiss. Aber wenn du Bauchschmerzen deswegen hast, habe ich einen fantastischen Tee dagegen“, meinte Belana als hätte sie meine Gedanken erraten. Nun gut, vermutlich war das auch nicht sonderlich schwer gewesen.

„Kann man das nicht ganz weg machen?“, fragte ich. Das wäre mich bedeutend lieber gewesen.

„Wenn du die Zeit der Mutter verlässt und die Zeit der Alten für dich beginnt, hört es ganz von alleine auf. Es gibt auch Tränke, welche die Regel unterbinden, aber das würde bedeuten, dass du niemals Kinder bekommen könntest, selbst wenn du das wolltest.“
 

„Woher weisst du so viel?“, wollte ich irgendwann wissen.

Belana lächelte mich an. „Ich war nicht immer in Nightwind, keiner der Lehrer war das. Ich war bei einigen Völkern im Osten die in manchen Dingen über Erkenntnisse verfügen, von denen wie nur Träumen können. Ich habe viel Zeit dort verbracht und viel gelernt.“ Sie lachte. "Aber ich fürchte, die Zeit hat dafür gesort, dass ich mindestens die Hälfte wieder vergesse."

„Aber… du bist doch so jung“, warf ich etwas unsicher ein. Tatsächlich sah Belana auf eine gewisse Art jung aus, auf eine andere jedoch wiederum nicht.

„Dieser Eindruck täuscht, Tanaya. Ich zähle mittlerweile bereits 92 Jahre, aber ich habe gelernt, Tränke zu brauen, die das Leben verlängern und die einen jung halten. Mehr oder weniger zumindest. Alle Zeichen des Älterwerdens kann man kaum bekämpfen. Ich habe mittlerweile zum Beispiel grausame Mühe damit, Treppen zu steigen. Darum unterrichte ich auch zuhause“, erklärte sie zwinkernd. „Aber es ist spät. Du solltest längst schlafen.“

Belana stand auf und ging ins Nebenzimmer, wo sie eine Frische Matratze holte, damit ich nicht in der Blutlache schlafen musste, dann ging sie in die Küche und machte mir den Tee, von dem wir gesprochen hatten.

Tatsächlich fühlte ich mich besser, nachdem ich ihn getrunken hatte und konnte einigermassen ruhig schlafen.

„Doryan ay Kellon“

In meinem ersten Jahr, das ich in Nightwind verbrachte, hatte ich viel zu lernen. Doch ich hatte Glück, denn ich besass eine schnelle Auffassungsgabe und hatte so einige Zeit übrig, die ich damit verbringen konnte mir die Schule selbst, aber auch den umliegenden Wald und das Dorf genauer an zu sehen.

Oft war ich dabei allein, denn Chandra und Harias waren meist beim Unterricht, weshalb wir uns für gewöhnlich erst Abends trafen um gemeinsam unsere Hausaufgaben zu machen. Mir fiel dabei auf, dass sowohl Chandra als auch Harias eine sehr schöne Handschrift hatten und ärgerte mich darüber, dass meine Buchstaben sehr krakelig aussahen. Chandra tröstete mich damit, dass auch sie erst lesen und schreiben hatte lernen müssen, als sie nach Nightwind kam und dass ihre Buchstaben zu Anfang auch nicht besser ausgesehen hätten als meine.

Auf einem meiner Streifzüge durch das Gebiet Nightwinds, es mochte vielleicht ein Monat seit meiner Ankunft vergangen sein, bemerkte ich ein seltsames Glitzern und da ich immer schon ein sehr neugieriges Kind gewesen war, wollte ich natürlich wissen, woher es kam.

Meine Neugier führte mich zu einer grossen, alten Eiche unweit des Schulgebäudes. Daran hing kopfüber eine Gestalt, die ich zunächst für eine riesige Fledermaus gehalten hatte, denn am Rücken des Wesens, das da hing, konnte ich grosse, ledrige Schwingen erkennen. Der Körper jedoch war der eines jungen Mannes. Nun konnte ich auch erkennen, dass sich unter dem Haar des jungen Mannes zwei Hörner befanden und auch einen Schwanz mit einer pfeilförmigen Spitze konnte ich an ihm erkennen.

Ich hatte einen Dämon vor mir, eine Kreatur der Nacht, einen Verführer und Wächter des leibhaftigen Bösen, und doch blieb ich stehen und liess meinen Blick fasziniert über dessen Körper wandern, anstatt wie jeder Mensch, der im Besitz eines gewissen Verstandes ist, sofort um zu kehren und weg zu laufen, solange ich noch nicht bemerkt worden war.

Interessiert betrachtete ich sein Gesicht, wozu ich selber fast einen Kopfstand machte. Der junge Mann sah überhaupt nicht so böse aus, wie Märchen und alte Geschichten die Dämonen beschrieben. Nein, er sah sogar sehr nett aus, höchstens etwas blass vielleicht. Ausserdem trug er die Uniform der Jin-Schüler.

Neugierig streckte ich die Hand aus um eines der Hörner, die aus dem hellen, türkisfarbenen Haar wuchsen zu berühren. Doch noch bevor meine Fingerspitzen das Horn berührten, öffnete der Dämon die Augen und ich erschrak.

Da war ich allerdings nicht allein, denn der Blick aus den roten Augen des Dämons war genauso erschrocken wie meiner.

Als er auch noch vom Baum fiel, wodurch sie seine Hörner in den Boden bohrten und er sich erst einmal wieder befreien musste, verschwand bei mir auch das letzte bisschen Respekt.

Ich lachte. Bestimmt hätte mir jeder gesagt, dass es ein schwerer, gefährlicher Fehler sein, über einen Dämon zu lachen, doch ich tat es trotzdem. Und er begann seinerseits zu lachen.

„Das sah gerade wohl ziemlich blöd aus, was?“, meinte er und schüttelte noch ein Paar Dreckkrümel aus seinen Haaren.

Ich nickte. „Ziemlich“, antwortete ich. „Warum hängst du überhaupt hier?“

„Einfach so. Hab grad nichts Besseres zu tun“, erklärte der Dämon grinsend. „Und du? Dich hab ich hier noch nie gesehen. Gehörst du zu jemandem aus dem Dorf?“

Ich sah zu Boden. „Sozusagen…“, murmelte ich. „Ich wohne bei Belana Rokia.“

Der Dämon sah mich etwas verwundert an. „Bei Belana? Ich wusste gar nicht, dass sie Kinder in dem Alter hat.“

„Hat sie auch nicht. Jedenfalls nicht mich. Meine Eltern sind tot“, erklärte ich kleinlaut.

„Oh, dann bist du wohl dieses Mädchen aus Leren, von dem vor einiger Zeit die ganze Schule gesprochen hat.“ Er wirkte ehrlich betroffen.

Ich nickte. „Ich heisse Tanaya“, sagte ich dann.

Er streckte mir die Hand entgegen und stellte sich mir als Firyon vor.

„Du bist ein Dämon, nicht wahr?“, fragte ich.

„Naja, ich bevorzuge den Ausdruck Dakaner, aber im Grunde genommen stimmt das“, antwortete Firyon.

„Was genau ist das? Ein Dakaner?“, wollte ich neugierig wissen.

„Das bezeichnet meine Herkunft. Die Stadt, aus der ich stamme, heisst Dakan. Ich finde, Dakaner klingt viel netter als Dämon. Bei dem Wort denkt man immer gleich an irgendwelche Monster, die ganze Städte in Brand setzen und kleine Kinder fressen. Dabei sind wir Dakaner zum Beispiel eher von der friedlichen Sorte.“ Firyon hielt kurz inne und lachte. „Wie ein Dämon aus dem Bilderbuch auszusehen reicht schliesslich, man muss sich nicht auch noch wie einer benehmen.“ Um seine Worte zu unterstreichen entfaltete er kurz seine Flügel. Ich sah mit grossen Augen zu. Die Flügel waren riesig und kamen mir sehr klobig vor, doch für Firyon schienen sie nicht hinderlich oder so etwas zu sein. Nun gut, immerhin war er es sich nicht anders gewohnt. Noch erstaunlicher empfand ich aber Firyons Ausführung über die Dakaner. „Dann sind Dämonen also gar nicht böse?“, fragte ich unsicher.

„Nun…“ Firyon seufzte. „Weisst du, Tanaya, die Dämonen sind ein grosses Volk, das in viele kleinere und grössere Stämme unterteilt werden kann. So wie Blumen zum Beispiel: ein Gänseblümchen, eine Lilie und eine Rose sind ganz unterschiedlich, aber alle drei sind Blumen. Und die Dämonen-Stämme sind eben auch so. Es sind zwar alles Dämonen, aber sie leben unterschiedlich und sehen verschieden aus. Und manche dieser Stämme sind anderen Wesen gegenüber freundlich gesinnt, andere haben eine Abneigung gegen bestimmte Völker und führen sogar kriege gegen sie und einige wenige, sind all jenen feindlich gestimmt, die nicht zu ihrem Stamm gehören. Leider hört man gerade von diesen Wenigen besonders oft. Durch sie kommt das ganze Volk in Verruf“, führte er aus und ich konnte sehen, dass ihn das betrübte.

In meinem Bestreben, ein besseres Thema für unser Gespräch zu finden, fiel mein Blick auf die beiden breiten, goldenen Armreifen, die Firyon trug. Offenbar hatten sie das Glitzern verursacht, das mich überhaupt erst hergelockt hatte. Ich konnte sehen, dass etwas darin eingraviert war, doch ich konnte keinen einzigen Buchstaben, den ich kannte erkennen. Und doch hatte ich eine gewisse Ahnung davon, was dort stand. Einige dieser Zeichen hatte ich, obgleich ich sie nicht lesen konnte, schon einmal gesehen. Es waren dieselben, wie auf dem Runenstein, neben dem Harias mich gefunden hatte. Also mussten es natürlich auch Runen sein. Und Runen, so hatte mir Harias erklärt, wurden zumeist für mächtige Schutzzauber verwendet. Doch wovor sollte sich ein Dämon denn mit Runen-Armreifen schützen müssen?

„Wozu sind die?“, fragte ich und zeigte auf einen der Armreifen.

Firyon sah den Armreif einen Moment lang an, als sähe er ihn zum ersten Mal. Der traurige Ausdruck in seinem Gesicht wurde noch deutlicher. Offenbar hatte ich ein Talent dafür, die Leute auf traurige oder unangenehme Themen anzusprechen, obwohl ich das gar nicht wollte. Doch auch wenn es anscheinend eine unschöne Geschichte war, begann Firyon, sie zu erzählen: „Als ich noch etwas jünger war als du jetzt bist, hatte ich einen Bruder. Einen Zwillingsbruder um genau zu sein. Filan war sein Name und wir waren… nun, nennen wir es einmal unterschiedlich. Während ich gerne Bücher las und mich für Musik interessierte, machte Filan mit Vorliebe Dummheiten und stiftete Unruhe, wo er konnte.“

„Aber du sagtest doch, die Dakaner wären friedlich“, warf ich ein.

„Ja, schon, aber in jeder Familie gibt es das eine oder andere schwarze Schaf. Und ausserdem hast du nie Dummheiten gemacht, oder deinen Mitmenschen streiche gespielt?“, fragte mich Firyon.

Ich sah zu Boden. Natürlich hatte ich das. Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich Rohana, einem Mädchen, das ich nie sonderlich gut leiden konnte, einmal mindestens fünf lebendige Frösche in die alberne Tasche, welche sie immer bei sich trug, gesteckt hatte. Für mich war es ein riesiger Spass gewesen, zu sehen, wie die Frösche beim Öffnen der Tasche in Rohanas Gesicht und auf ihren Kopf, mitten in die feinsäuberlich frisierten Haare sprangen. Für Rohana selbst musste das ein wahrer Albtraum gewesen sein. Sie hasste Frösche. Sie hasste überhaupt alles, was nicht klein und flauschig war.

Doch das alles erzählte ich Firyon nicht und er fuhr mit seiner Geschichte fort: „Filans Streiche waren nicht schwerwiegend, aber er reichte um sich mit erstaunlicher Regelmässigkeit Ärger und Tadel einzuhandeln.“ Er hielt kurz inne als überlegte er, wie er weiter erzählen sollte. „Jedenfalls… Wir hatten auch ein paar Dinge gemeinsam. Du musst wissen, es gibt da eine Kampftechnik, die nur einige wenige Dämonenstämme beherrschen, unter anderem auch die Dakaner. Es ist die Kunst, seine Seele für eine gewisse Zeit von seinem Körper zu trennen. Damit kann man zum Beispiel vom Körper eines Gegners Besitz ergreifen und ihn so von innen heraus besiegen oder gegebenenfalls töten.“

„Aber im Körper des Gegners ist doch schon eine Seele. Also ich würde nicht wollen, dass jemand einfach so meinen Körper übernimmt“, erklärte ich bestimmt und Firyon lache. „Jeder würde das verhindern wollen. Aber leider ist das oft nicht möglich, weil ein solcher Angriff meistens sehr plötzlich kommt. Die Seele, die bereits im Körper ist, wird einfach verdrängt. Eine ziemlich feige Art um jemanden anzugreifen, findest du nicht auch?“

Ich nickte zustimmend. „Was passiert denn mit so einer verdrängten Seele, wenn der Körper stirbt?“, wollte ich dann wissen.

„Nun, dann gibt es zwei Möglichkeiten. Die meisten akzeptieren ihren Tod früher oder später und können dann ins Jenseits übergehen und auf Wiedergeburt hoffen. Einige wenige aber bleiben dauerhaft in dieser Welt und werden irgendwann zu Ruhelosen, Geistern, die ihr Ableben nicht akzeptieren können und denen oft unbändige Wut und grenzenloser Zorn innewohnen. Die Ruhelosen sind sehr neidisch auf die Lebenden und in ihrem Neid und ihrer Wut ist kaum etwas gefährlicher als ein Ruheloser, weil sie einerseits vor nichts zurückschrecken und andererseits kaum zu bekämpfen sind, schliesslich sind sie ja schon tot“, erklärte mir Firyon. „Aber zurück zu Filan und mir. Wir wurden, wie es in Dakan Brauch ist, von klein auf in dieser Kunst unterwiesen. Filan war immer viel besser als ich. Als wir allerdings etwas geübter waren und unsere Körper nicht nur für ein paar Minuten verlassen konnten, begann Filan, meinen Körper zu übernehmen und seinen Schabernack darin zu treiben. Vor allem, wenn unsere Eltern ihm Hausarrest erteilt hatten, wurde ich Opfer dieser Taktik. Schliesslich war ich dann ja derjenige, der gesehen wurde und den Ärger, der Filan zustand, bekam.

Doch mit der Zeit konnte ich Filan ansehen, wenn er etwas vor hatte. Ich konnte mich darauf vorbereiten und mich wehren. Meistens allerdings eher erfolglos, da Filan wie schon gesagt, der bessere von uns beiden war. Eines Tages allerdings gelang es mir, ihn davon abzuhalten, die Kontrolle über meinen Körper zu übernehmen. Ich war nicht fähig, ihn wieder hinauszubefördern, wohl aber, ihn zurückzuhalten und hätte Filan nicht drei grosse Fehler gehabt, wäre mir vieles erspart geblieben. Diese drei grossen Fehler, die Filan und damit auch mir zum Verhängnis wurden, waren seine Selbstüberschätzung, seine Leichtfertigkeit und seine Sturheit. Er ignorierte alle Zeichen, die ihm deuteten, in seinen eigenen Körper zurückzukehren. Eine Seele mag ohne einen Körper überleben können, doch ein Köper ohne Seele oder zumindest eine Ersatz dafür stirbt über kurz oder lang.“

„Dann ist Filan gestorben? Einfach so?“, fragte ich.

„Ja und nein. Sein Körper starb, aber seine Seele blieb bestehen“, erklärte Firyon. „Und bis heute ist sie in meinem Körper. Einerseits war ich anfangs nicht stark genug, ihn wieder daraus zu verbannen, andererseits brachte ich es auch nicht übers Herz, denn trotz der Streiche war er immer noch mein Bruder.“ Firyon seufzte.

„Allerdings muss ich stehen, dass ich es vielleicht doch besser hätte tun sollen, sobald ich die nötige Kraft und eine passende Gelegenheit dazu gehabt hätte. Denn nun begann der wirklich grosse Ärger. Ich habe dir doch vorhin von den Ruhelosen erzählt.“ Ich nickte. „Nun, es scheint, als ob Filan zu einem solche geworden war. Er gab mir die Schuld daran, dass sein Körper gestorben war und seine Wut wuchs und wuchs…“

„Aber du kannst doch nichts dafür. Er hat die Zeichen schliesslich ignoriert!“, rief ich dazwischen.

„Und er hat die Strafe dafür bekommen. Aber Filan war ein Kind und er hatte Strafen schon immer als unberechtigte Gemeinheit angesehen, für die er natürlich keinerlei Schuld trug. Er konnte sich nicht eingestehen, einen Fehler gemacht zu haben, er wollte es nicht. Eine Sache, die viele nicht zugeben wollen. Es war, als hätte er Angst, noch mehr zu verlieren, wenn er seinen Fehler zugäbe, dabei hatte er eigentlich gar nichts mehr zu verlieren. Aber er begann, sich an meinen Körper zu klammern, obwohl sich seine Wut vor allem gegen mich richtete. Und er versuchte immer wieder, mich aus meinem Leib zu verdrängen um ihn endgültig zu übernehmen. Manchmal gelang es ihm auch, aber nur für kurze Zeit. Allerdings waren jedes Mal Zerstörung und Unheil die Folge. Oder solche Dinge…“ Firyon zog sein Hemd ein Stück nach oben, so dass ich eine lange Narbe sehen konnte, die ihm offensichtlich Filan beigebracht hatte. Doch das lag offenbar schon eine ganze Weile zurück, denn die Narbe war schon etwas verblasst. Firyon seufzte einmal mehr.

„Schliesslich, ich schätze, ich war damals ungefähr in deinem Alter brachte Filan das Mass endgültig zum Überlaufen. Er beging einen Mord. Er tötete eine junge, hübsche Dakanerin, die ich sehr mochte. Einfach so, ohne besonderen Grund. Ihr Name war Callistara. Manchmal, wenn es dunkel ist und ich allein bin, kann ich ihr Gesicht noch vor mir sehen, ich kann ihre letzten Worte hören. „Firyon, warum…?“ Diese Worte kreisen in meinem Kopf, bis ich nicht anders kann, als zu weinen. Aber auch das reicht nicht um meinem Schmerz über Callistaras Tod Ausdruck zu verleihen. Sie mag ihren Frieden gefunden haben, aber ich… ich muss damit leben, verantwortlich für ihren viel zu frühen Top zu sein und diese Schuld kann selbst mein eigener Tod nicht begleichen…“ Firyon brach ab und vergrub ein Gesicht in den Händen.

Es erschien mir seltsam, einen Dämon weinen zu sehen doch andererseits verstand ich es. Auch ich weinte, obwohl ich Callistara gar nicht gekannt hatte.

„Du hast sie sehr gemocht, nicht wahr? Bist du deshalb sehr böse auf Filan?“, wollte ich nach einer Weile wissen.

Firyon wischte sich mit dem Ärmel übers Gesicht. „Nein“, sagte er dann und ich sah ihn irritiert an. „Am Anfang, da war ich wütend, aber Filan kann nichts dafür, er ist von der Wut und dem Zorn der Ruhelosen völlig verblendet. Er ist jetzt ein ganz anderer, als er einmal war. Mittlerweile weiss ich das und konnte ihm vergeben. Aber ich… Ich war bei klarem Verstand, ich hätte ihn aufhalten müssen, aber ich konnte es nicht.“ Firyon hielt einen Moment inne und lächelte matt mich an. „Seltsam, nicht wahr? Ihm konnte ich vergeben, aber mir selbst nicht.“

Ich nickte. Das konnte ich nicht verstehen. Doch etwas ganz anderes beschäftigte mich viel mehr: „Hast du keine Angst, dass er wieder jemanden tötet? Wenn er doch noch immer in dir ist?“

Firyon schüttelte langsam den Kopf. „Filan ist zwar noch in mir, aber er wurde gebannt. Diese Armreifen wurden von den Priestern in der Tempelstadt Trion gefertigt. Sie bestehen aus Gold, das so rein ist, dass du es mit einer Hand verbiegen könntest und doch sind sie für Filan Fesseln. Dieses Gold wurde von den Priestern des Schutzgottes Kened geweiht und gesegnet. Auch diese Runen wurden von ihnen eingraviert. Sie bedeuten Doryan ay Kellon. Das ist Lobianisch, eine sehr alte, zaubermächtige Sprache, die ebenfalls zur Wirkung der Armreifen beiträgt. Übersetzt heisst Doryan ay Kellon etwa so viel wie Gebannt seist du, oh finstere Seele. Solange ich diese Armreifen trage, ist Filans Seele versiegelt, er kann nichts tun“, erklärte Firyon.

Doch das konnte nicht alles gewesen sein, Firyon sah immer noch bekümmert aus, ausserdem seufzte er schon wieder.

„Macht dich das nicht ein bisschen fröhlich?“, wollte ich wissen.

„Nun, das Problem an dieser Sache ist, dass dieses Siegel sehr instabil ist. Die Armreifen halten Filan in einer Art Schlafzustand, so dass er nichts anstellen kann, aber wenn nur einer der Armreifen fehlen würde, wäre dieser Zustand bereits gefährdet“, murmelte der Dämon.

„Und warum verbannst du ihn nicht aus deinem Körper? Du hast jetzt doch sicher die Kraft dazu“, fragte ich weiter.

„Ich weiss nicht, ob ich die Kraft dazu hätte. Zudem wäre es viel zu gefährlich, ihn auf die Welt los zu lassen. Einem Ruhelosen wirkt man am besten entgegen, indem man ihn bannt und versiegelt. Bei Filan war das einfach, weil er in mir ist. Wenn ich ihn aber aus meinem Körper verbanne, wäre dieses Siegel gebrochen und man müsste ihn auf’s neue bannen und versiegeln. Aber Filan ist ein recht mächtiger Ruheloser geworden, deshalb wäre das wohl ein schwieriges Unterfangen. Und nicht zu letzt, bin ich der Meinung, dass Gewalt keine Lösung sein kann. Du siehst ja, was sie mir gebracht hat…“, erläuterte er mir.

Ich nickte verstehend und fragte auch nicht weiter, doch Firyon und ich redeten noch lange miteinander. Auf einmal waren belanglose Dinge wie die Nightwind-Schule unsere Themen. Vielleicht bemühten wir uns beide darum, nach diesem für Firyon sehr persönlichen Gespräch, möglichst belanglose Dinge zu suchen, über die wir uns unterhalten konnten.

Der Abend kam schnell und wir verabschiedeten uns.

Seit diesem Tag jedoch, trafen wir uns oft. Firyon, Chandra und Harias wurden meine besten Freunde. Wir redeten, lachten und lernten zusammen. Ich hörte Belana oft sagen, dass sie froh sei, dass ich so gute Freunde gefunden habe und oft war ich in meiner Schulzeit froh, sie zu haben.

Endlich Schülerin der Nightwind-Schule

Der Sommer ging zu Ende, der Herbst liess die Blätter in seiner vielfältigen Farbenpracht erscheinen und schliesslich kam der Winter. Wie eine warme, weiche Decke lag dichter Schnee im Tal. Meine Freunde besuchten mich selten in dieser Zeit, denn die Halbjahresprüfungen standen vor der Tür und ausserdem erschwerte der Schnee den Weg von der Schule ins Dorf.
 

Unbändig war meine Freude, als die Sonnenstrahlen wieder stärker wurden, die ersten Frühlingsboten aus dem schneebedeckten Boden in Belanas Garten lockte und das Ende der dunklen Jahreszeit ankündigten. Ich tobte durch das ganze Haus, sang und tanzte vor Freude. Und als ich erfuhr, dass ein Fest bevorstand, musste Belana bestimmt geglaubt, ich hätte den Verstand völlig verloren. Ab dem Zeitpunkt, an dem Chandra mir nämlich von dem Anlass erzählt hatte, war ruhig schlafen fast genauso unmöglich wie stillsitzen.

Mehr als einmal brachte ich Belana mit meiner Fragerei über die Feierlichkeiten und meinem ewigen „Ich wünschte, das Fest wäre schon heute“ zur Weissglut.

Die Feste in Leren waren zumeist Tempelfeiern gewesen, an denen oft nur die Männer teilnehmen durften. Chandras Erzählung zufolge waren die Feierlichkeiten, welche zur Begrüssung des neuen Schuljahres und der neunen Schüler stattfanden, ein regelrechtes Volksfest.

Die Bewohner des Dorfes begannen Buden auf zu stellen und ihre Häuser zu schmücken. Ich war mit derartigem Eifer dabei, dass selbst Belanas Vogelhäuschen im Garten mit Blumen dekoriert wurde. Das wäre natürlich gar nicht nötig gewesen, schliesslich war das Vogelhäuschen von der Strasse aus gar nicht zu sehen.

Auch kamen in diesen Tagen viele Leute nach Nightwind. Oft waren es Familien, deren Kinder die Schule im neuen Jahr besuchen würden, aber auch Schüler, die ihre Ausbildung an der Schule für Magie und Kampfkunst bereits vor zwei, fünf oder sogar zehn Jahren beendet hatten, kehrten zurück um sich noch einmal mit alten Freunden, Bekannten oder Lehrern zu treffen. Manche wollten auch einfach nur in schönen Erinnerungen schwelgen.

Ich war erstaunt, wie unterschiedlich die Schüler waren. Elfen, Menschen und Zwerge waren zwar am häufigsten vertreten, doch immer wieder sah ich auch einige „Exoten“, wie auch Firyon einer war. Ich erspähte Wesen, die zwar aufrecht gingen wie Menschen, doch über und über mit Fell oder Schuppen bedeckt waren und deren Gesichter jedoch eher denen von Tieren glichen oder solche, die halb Mensch, halb Tier waren wie Zentauren oder Faune.

Ich sah prächtige Prinzen und Prinzessinnen, die in mit Gold beschlagenen Kutschen ins Dorf fuhren oder auf edlen Rössern stolz heran ritten, ebenso wie dreckige Bauernjungen und barfüssige Mädchen, deren Kleider nicht mehr als Lumpen waren und die sich, offensichtlich durch einen langen Fussmarsch am Ende ihrer Kräfte, nach Nightwind schleppten und von denen ich mich fragte, ob sie wirklich hierher gehörten. Sie sahen nicht aus wie Kinder, die Lesen und schreiben konnten. Vom Kämpfen ganz zu schweigen. Dass Geld kein grösseres Problem darstellte, wusste ich aus eigener Erfahrung. Nightwind bekam viele Spenden von Königen und anderen Adligen, womit sie auch Schülern aus armen Familien oder gänzlich verwaisten wie mir eine Ausbildung ermöglichen konnte.

Dennoch war mir nie aufgefallen aus wie vielen gesellschaftlichen Schichten die Schüler stammten.

„Das ist der Teil der Ausbildung in Nightwind, den man nicht mit Geld bezahlen kann“, meinte Harias stolz, als ich ihn darauf ansprach.

„Dadurch, dass Nightwind jeden aufnimmt, unabhängig von Wissen, Rasse oder Stand, prallen die gesellschaftlichen Stände hier aufeinander wie an keinem anderen Ort Betrayas. Dadurch lernt man mit der Zeit, dass Bauern und Königskinder letztlich nichts anderes als Menschen sind… mehr oder weniger zumindest“, versuchte Firyon, mir das genauer zu erklären.

„Was Firyon meint ist, dass alle hier nahezu dieselben Probleme haben, egal woher sie kommen oder welche Titel sie tragen. Man lernt hier neben Magie und Kampf auch den Umgang mit Personen anderer Rassen und anderen Standes. Gerade für die Schüler, die später einmal eine verantwortungsvolle Position, wie sie ein König oder ein Fürst innehaben, übernehmen werden, ist das sehr wichtig, damit sie einmal gerechte Herrscher werden und das Volk nicht unterdrücken, weil sie es dumm, unfähig oder dreckig halten. Hier sind alle gleich, du wirst an deinen Leistungen bewertet, nicht daran, wer dein Vater ist oder war“, eilte Chandra Firyon zu Hilfe, „Zumindest sollte es so sein.“

„Ist es denn nicht wirklich so?“, wollte ich wissen.

„Nun ja, es gab in der Geschichte von Nightwind immer wieder Lehrer, welche Schüler mit reichen oder mächtigen Eltern aus irgendwelchen gründen bevorzugt haben. Aber ich denke, die jetzigen Lehrer, sind gute Lehrer, die keine grossen Unterschiede machen.“ Chandra lächelte und ich glaubte ihr. Schliesslich war auch Belana letztlich eine Lehrerin und ich hatte bei Leibe nicht das Gefühl, von ihr geschont zu werden, wenn ich bei meinen Schreibarbeiten oder bei der Mithilfe im Laden Fehler machte. Dennoch hatte ich auch das Gefühl, dass Belana sich sehr gefreut hatte, als sie merkte, dass ich zwar weder lesen noch schreiben konnte, aber durchaus mit den Grundbegriffen des Rechnens vertraut war. Meine Mutter hatte sie mir gleichzeitig mit einigen Kochrezepten beigebracht, so dass ich, sollte es nötig sein, auch mehr kochen könnte ohne von einer Zutat zuviel oder zuwenig zu brauchen. Letztlich habe ich mein Essen später immer „Handgelenk mal Pi“, wie Belana es nannte, gekocht und meistens war es auch geniessbar. Allerdings war es natürlich äusserst hilfreich als wir das Brauen von Zaubertränken lernen sollten.
 

Als der Tag des Festes endlich gekommen war, glaubte ich, mich in einem Traum wiederzufinden. An jeder Ecke gab es etwas zu entdecken. Eine Gruppe von Schülern hatten ein Märchenzelt aufgebaut, in dem jedoch nicht nur einfachen Märchen und Sagen erzählt wurden, sondern durch Bilder und Figuren, die aus Wasser, Rauch, Pflanzen oder gar flammen bestanden, zum Leben erwachten.

Man konnte sich aus der Hand lesen oder seltsame, farbenfrohe Karten legen lassen. Es gab kleine Theateraufführungen, in denen Schüler ihre Kräfte und Fähigkeiten zeigten und viele kleine Stände, an denen man sich Spezialitäten aus ganz Betraya kaufen konnte. Auch gab es Buden, an denen man um kleine Glücksbringer oder Schmuckstücke spielen konnte. An diesen hingen oft Schilder, auf denen stand, dass es verboten sei, Magie zu benutzen um bei dem Spiel zu gewinnen. Ich wunderte mich, dass man derartiges überhaupt anschreiben musste. War das denn nicht selbstverständlich?

Auch der ortsansässige Schmied hatte einen kleinen Stand und ich erinnere mich gut, dass er prahlte, die besten Waffen von ganz Betraya zu schmieden. Davon, dass er natürlich auch die beste Schmiede, die heisseste Esse und die schönste Frau aller Zeiten hatte, will ich gar nicht erst anfangen. Besagter Frau war das hingegen mehr als peinlich. Sie lächelte uns entschuldigend an, als wir vorbei gingen und eilte dann zu ihrem Mann hinüber, der mittlerweile ein heftiges Wortgefecht mit einem Zwerg angefangen hatte, weil dieser seine Prahlerei anzweifelte. Nicht, dass der Zwerg seinerseits nicht auch geprahlt hätte…

Je näher der Abend rückte, desto ruhiger wurden die Strassen. Früher oder später schlossen die Stände.

Man begab sich zum grossen Saal im Erdgeschoss der Schule. Üblicherweise war der Saal eine Art Aufenthaltsraum für die Schüler, wem sie keinen Unterricht hatten. Dann sassen sie oft in kleinen Gruppen zusammen, unterhielten sich über das Gelernte oder tratschten über Mitschüler oder Lehrer. Doch der Saal wurde auf für festliche Anlässe wie die Feier zu Beginn des Schuljahres gebraucht.

Ein Buffet war aufgetragen worden und man hatte an der Stirnseite des Raumes eine grosse Bühne aufgebaut.

Herr Alion betrat die Bühne, begrüsste und uns machte uns mit den Lehrern und den Schulregeln bekannt. Ich kann mich nicht an alle erinnern. Dass es verboten war, Kämpfe auf dem Schulgelände aus zu tragen, weiss ich noch und auch, dass es untersagt war, Mitschüler zu fressen oder ihnen diverse Dinge auszusaugen, ist mir noch immer bekannt, vermutlich, weil es mir eiskalt den Rücken herunter lief, als Herr Alion dies in einem recht beiläufigen Ton erwähnte.
 

Dann bat man einige, offenbar als Gäste geladene, ehemalige Schüler auf die Bühne und erklärte, dass diese nun ein bisschen von ihren Berufen erzählen würden um den Schülern Beispiele dafür zu zeigen, welche Möglichkeiten sie später einmal hätten.

Neben einem Sternforscher, einem Bibliothekar in der magischen Bibliothek von Simenoa und einem herumziehenden Söldner gab es auch einen Drachenforscher und einen Drachentöter, die sich im Verlauf des Abends immer mehr in Streit gerieten. Vor allem der Forscher benahm sich denkbar schlecht und beleidigte den Drachentöter aufs Äusserste. Als Herr Alion einschritt und den Forscher höflich bat, seinen ton zu mässigen, wurde auch er beleidigt. Dies veranlasste den Waffenmeister Macul dazu, den Forscher kurzerhand aus dem Saal zu befördern, so dass uns der Drachentöter in Ruhe seinen Beruf erklären konnte. Dieser erschien bei nüchterner Betrachtung übrigens bei weitem nicht derart schlimm, wie der Forscher uns hatte weiss machen wollen.

„Ihr solltet nicht vergessen, dass die hier vorgestellten Berufe bei weitem nicht alle sind, die ihr ergreifen könnt. Es gibt selbstverständlich eine unendliche Fülle an Berufen, doch sie alle vorzustellen, würde den Rahmen dieses Abends schlicht und ergreifend sprengen. Die Berufswahl wird im dritten Jahr ein grosses Thema sein“, sagte Herr Alion zum Abschluss. „Nun, dann kommen wir zur Besichtigung des Schulgebäudes. Ich möchte also die neuen Schüler und ihre Familien, sollten sie anwesend sein, bitten, mir zu folgen. Die älteren Schüler haben das Glück, sich zuerst über das Buffet hermachen zu dürfen.“ Herr Alion lächelte schelmisch und begab sich zum Ostausgang des Saals. Chandra begleitete mich auf dem Rundgang.

Während wir einen langen Bogengang entlang gingen, erklärte Herr Alion, wozu der Saal normalerweise genutzt wurde. Wir durchquerten die Eingangshalle mit der breiten Treppe und betraten den Speisesaal, der mindestens genauso gross war wie der Saal aus dem wir gekommen waren, wenn auch etwas weniger edel. Hier gab es kein Parkett, sondern einfache, glattpolierte Steinplatten. Auch hingen keine Vorhänge an den grossen Bogenfenstern und die Tische waren schlicht, lang und viereckig, nicht wie die, welche sonst im Aufenthaltsraum standen. Diese waren rund und die Stühle waren sehr bequem. In einem Speisesaal müsse genügend Platz sein, erklärte Herr Alion, darum habe man sich für eine schlichtere Ausstattung entschieden als im Aufenthaltsraum, der in erster Linie gemütlich sein sollte.

Er zeigte uns die verschiedenen Klassenzimmer, den Übungsplatz für den Unterricht in Kampfkunst, kleine Arbeitsräume und Balkone, machte uns aufmerksam auf kleine Details, wie Wasserspeier, Wandmalereien oder die verschiedenfarbigen Fenster.

„Die nach Westen gerichteten Fenster haben, wie Ihr sehen könnt einen blauen Rand. Sie stehen für einen der vier elementaren Grundpfeiler der Magie, das Wasser. Die gen Süden gerichteten Fenster haben einen roten Rand und stehen für das Feuer. Diejenigen, die gegen Osten gerichtet sind, stehen für das Element Luft und haben einen gelben Rand und die für die Erde stehenden Fenster mit dem grünen Rand richten sich nach Norden.“, erklärte er uns.

Die Führung endete vor einem Nebengebäude. Hier waren die Unterkünfte für die Schülerinnen und Schüler.

„Die Knaben haben ihre Zimmer im ersten und zweiten Stock, die Mädchen im dritten und vierten. Ich bin sicher, dass Ihr keinerlei Probleme haben werdet, Eure Zimmer zu finden, sie sind beschriftet. Normalerweise beginnt die Nachtruhe beim elften Glockenschlag, aber heute machen wir eine Ausnahme.“, sagte Herr Alion. „So, wenn keine Fragen mehr bestehen, will ich Euch nicht länger Eure Zeit rauben, wie wir wissen, ist sie ja kostbar. Ich möchte die neuen Schülerinnen und Schüler bitten, sich morgen früh beim zehnten Glockenschlag wieder hier einzufinden. Wir werden dann herausfinden, zu welchem Element Ihr gehört und Ihr bekommt eure Schuluniformen. Denkt daran, dass es auf jedem Stockwerk lediglich zwei Badezimmer gibt.“ Er zwinkerte uns im Schein der Laterne, die er trug zu. „Selbstverständlich, darf das Buffet nun gestürmt werden.“

Wir begaben und zurück zum Aufenthaltsraum. Zwar war ich müde, doch ich hatte noch eine Frage an Herr Alion, ausserdem wartete Belana dort.

„Entschuldigung?“, sprach ich Herrn Alion an. „Ich habe mich gefragt, ob ich nun auch bei den anderen Schülern schlafen werde.“

Herr Alion sah mich zunächst etwas verwundert an, dann schüttelte er den Kopf. „Es tut mir leid, Tanaya, aber ich habe kein Zimmer für dich herrichten lassen. Es wäre mir lieber, wenn du noch ein Jahr bei Belana bleiben würdest. Dann werden wir weitersehen.“

Ich schwankte zwischen Enttäuschung und Erleichterung. Ich hatte Belana liebgewonnen, nicht als Ersatzmutter oder Lehrerin, sondern als Freundin. Andererseits fühlte ich mich irgendwie nicht ganz als vollwertige Schülerin, wenn ich daran dachte, dass ich immer zurück ins Dorf musste. Von der ganzen Zeit, die ich benötigte um vom Dorf zur Schule und wieder zurück zu kommen, ganz zu schweigen. Aber ich akzeptierte die Entscheidung des Schulleiters und rückblickend muss ich sagen, dass er wohl recht hatte.
 

Am nächsten Morgen stand ich schon lange vor dem zehnten Glockenschlag wieder auf dem Platz vor dem Wohngebäude. Ich hatte mir eigentlich ein Buch mitgenommen, aber ich kam nicht wirklich zum Lesen. Kurz nach dem die Glocke zum neunten Mal geschlagen hatte, trat Harias aus dem Wohngebäude. Als er mich sah, setzte er sich spontan dazu.

„Der Unterricht beginnt erst morgen richtig“, antwortete er auf meine Frage, ob er denn nicht zur Schule müsse. Ich kam mir dumm vor. Das hätte ich mir denken können, schliesslich hätten die Schüler im ersten Jahr ja einen Tag verpasst, hätte der Unterricht gleich begonnen.

„Und? Freust du dich schon, eine Fee und einen Begleiter zu bekommen?“, wollte Harias wissen.

Und wie ich mich freute. Jeder Schüler Nightwinds durfte, wenn er wollte, eine kleine Fee aufziehen. Am Anfang, so hatte mir Firyon erklärt, bekam man ein Ei, aus dem früher oder später eine kleine Babyfee schlüpfte. Je nach dem, wie man die Fee behandelte und erzog, entwickelte sie sich unterschiedlich weiter. Firyons Fee zum Beispiel hiess Yui, hatte langes, rosafarbenes Haar, blaue Augen und weisse, weiche Federflügelchen. Yui war immer freundlich zu allen und versuchte, jedem zu helfen. Ausserdem war Yui sehr begierig darauf, neues zu lernen. Auch die Feen mussten zur Schule, allerdings nicht gemeinsam mit den anderen Schülern, sondern in einer eigens errichteten Feenschule, und Yui gehörte zu den Besten, was Firyon sehr stolz machte. Harias’ Fee, ihr Name war Pua-Lei, hingegen hatte Flügel, die mich an eine Libelle erinnerten, grüne Augen und mit weissen Rosen geschmückte, braune Haare. Im Gegensatz zu Yui zeigte Pua-Lei ganz offen, wenn sie jemanden nicht mochte und macht sich hin und wieder auch einmal einen Spass daraus, andere Schüler zu ärgern oder ihnen kleine Streiche zu spielen.

Chandras Fee wiederum hiess Loreley und war ganz unübersehbar eine Wasserfee. Sie hatte keine Flügel, sondern einen Schwanz wie eine Nixe. Ihre Haare waren blau und mit kleinen Muscheln und winzigen Perlen geschmückt. Auch ihre Augen waren blau. Loreley lachte viel und kam gut mit Yui und Pua-Lei aus. Auch sie gehörte eher zu den ruhigeren Feen und las sehr viel. Oft gehörte sie wie Yui zu den Besten in der Feenschule.

Alle Feen waren zwar unterschiedlich, aber eines hatten sie alle gemeinsam: Sie waren alle sehr hübsch.

Ich versuchte, mir vorzustellen, wie meine Fee wohl aussehen würde, doch es gelang mir nicht. Auch meinen Begleiter konnte ich mir nicht vorstellen. Nicht jeder Schüler hatte einen solchen, manche trauten sich schlicht weg nicht zu, auf zwei kleine Wesen acht zu geben, andere wiederum fanden einfach den für sie passenden Begleiter nicht.

„Die Beziehung zwischen Fee und Schüler“, erklärte Harias, „ist von Anfang an sehr intensiv, weil du ja vom ersten Moment an für deine Fee da sein musst und ihre Bezugsperson bist. Das ist ein bisschen so, als hättest du ein Kind. Begleiter sind etwas ganz anderes. Zwar sind die Begleiter, die Nightwind anbietet in der Regel Jungtiere, aber trotzdem sind sie schon viel selbständiger als Feen und haben zum Teil einen recht ausgeprägten Charakter. Meistens ist es so, dass nicht du den Begleiter auswählst, sondern der Begleiter dich, weil sie viel besser spüren, mit wem sie zusammenpassen.“
 

Nach und nach kamen mehr Neulinge auf den Platz vor das Wohngebäude und endlich schlug die Glocke zehnmal.

„Guten Morgen miteinander“, begrüsste uns Herr Alion, „Sind alle da? Gut, dann können wir ja anfangen. Als erstes ist Fräulein Gwendolyn Kidéon an der Reihe..“

Gespannt wartete ich darauf, zu sehen, wer Gwendolyn Kidéon war, doch keiner der Neulinge regte sich. Offenbar fehlte Gwendolyn.

Herr Alion räusperte sich. „Fräulein Gwendolyn Kidéon, bitte“, wiederholte er, doch wieder erfolgte keine Reaktion. Er seufzte. „Fräulein Gwendolyn scheint wohl nicht anwesend zu sein. Gut, dann macht eben Herr Iliron Maldian den Anfang“, beschloss er.

„Moment! Bitte wartet einen Moment, hier bin ich!“, rief eine Stimme hinter mir.

Neugierig wandten wir uns um und erblickten ein ziemlich dreckiges Mädchen mit langen, schwarzen Haaren. Ihr langes, dunkelrotes Kleid sah aus, als wäre es nicht gerade das billigste, unter dem Dreck konnte man feine Stickereien erkennen. „Bitte entschuldigt, dass ich zu spät komme, aber ich war so aufgeregt, dass ich schon sehr früh wach war und aus Langeweile damit begonnen habe, die Gegend etwas zu erkunden. Darüber muss ich wohl die Zeit vergessen haben“, erklärte das Mädchen.

„Nun, Fräulein Gwendolyn, ich würde sagen, wir machen hier weiter und ihr geht bitte nach oben in Euer Zimmer, zieht Euch um und wascht Euch“, meinte Herr Alion kühl.

Gwendolyn seufzte, begab sich aber ins Wohngebäude.

„Habt keine Eile, Ihr seid erst als letzte dran“, rief ihr der Schulleiter Nightwinds nach. „So, und wir fahren also mit Iliron Maldian fort. Wenn ich Euch dann bitten dürfte, mir zu folgen.“

Herr Alion und der Schüler verliessen den Platz. Wenig später kehrten sie zurück; Iliron Maldian war voll beladen mit Büchern, einem Feenei in einem kleinen Körbchen und einer blauen Uniform. Er war also den Wassermagiern der Eona-Gruppe zugeteilt worden.

Der Schulleiter rief den nächsten Schüler auf und nahm ihn mit. Kaum dass sie weg waren, begannen die übriggebliebenen Neulinge Iliron darüber auszufragen, was er denn hatte machen müssen und der begann sogleich zu erzählen.

Mich interessierte die Erzählung Ilirons eher weniger, einerseits würde ich ja selbst sehen, was gefordert wurde und andererseits war ich mit meinen Gedanken ohnehin noch immer bei den Feen und den Begleitern. Harias, der noch immer bei mir sass, hörte Ilirons Ausführungen jedoch mit einem halben Ohr zu.

„Mann, der übertreibt ja ganz schön…“, murmelte er. Damals konnten wir freilich noch nicht wissen, dass Iliron einen unangenehm ausgeprägten Hang zur Dramatik und zur Übertreibung hatte, besonders wenn es darum ging, sich selber gut aussehen zu lassen.

Je mehr Namen aufgerufen wurden, desto ungeduldiger wurde ich. Besonders beeindruckt war ich vom Begleiter eine Ingala-Schülerin namens Minora von Herzenfels. Da war ich allerdings nicht die einzige, denn Minora präsentierte uns einen leibhaftigen Babydrachen als Begleiter. Selbst Harias war beeindruckt.

„Drachen werden nur selten zu Begleitern. Einerseits sind sie sehr wählerisch, was Menschen angeht, andererseits sind sie nicht ganz leicht auf zu ziehen. Ich frage mich schon länger, warum es in Nightwind überhaupt Drachen als Begleiter gibt…“, meinte er.
 

Ich selbst war als zweitletzte an der Reihe. Reichlich aufgeregt erhob ich mich, als Herr Alion meinen Namen nannte und folgte ihm ins Hauptgebäude. Dieses verliessen wir jedoch gleich wieder durch einen Hinterausgang um zu einem kleinen Nebengebäude am Ufer des zum Schulgelände gehörenden Sees zu gelangen. Dies war, wie mir Herr Alion erklärte, die Wäscherei, wo ich eine Garnitur Uniformen der Taron-Gruppe bekommen sollte und diese auch wieder zur Reinigung abgeben könnte, sollte es notwendig sein.

„Aber… muss denn nicht zuerst ausfindig gemacht werden, zu welcher Gruppe ich gehöre? Die anderen haben etwas von einer Aufgabe erzählt, die sie bewältigen mussten…“, fragte ich leicht verwirrt, als ich dir dunkelgrüne Uniform entgegen nahm.

Herr Alion lachte. „Normalerweise ist das so. Allerdings hast du damals in meinem Büro ganz eindeutig bewiesen, dass du zu den Erdmagiern gehörst.“, erklärte er. „Also dann, lass uns zu den Feen weitergehen.“

Die Feenschule erwies sich als niedliches, mit Stroh gedecktes Häuschen, indem sich Feen aller Art tummelten. Da auch die Feen noch keinen Unterricht hatten, nutzten viele die Schule als Spielplatz, wenn es ihnen bei den Schülern zu langweilig wurde. Als wir eintraten schwirrten uns drei Luftfeen, welche offenbar in ein Fangspiel vertieft waren, um die Köpfe, im hinteren Teil des Raumes konnten wir einige Feuerfeen sehen, die offenbar ihre Fähigkeiten testeten und alle möglichen Dinge in Brand steckten. Glücklicherweise nahm eine Gruppe Wasserfeen dies als Anlass, ebenfalls ein bisschen zu üben und die brennenden Gegenstände wieder zu löschen.

Herr über dieses Chaos war Kabir Imali und dessen drei Feen Alannah, Cliona und Houri. Herr Imali hatte ein wirres, blondes Haar und ein wettergegerbtes Gesicht. Hinter einer kleinen, silbernen Brille funkelten mir zwei stechende, blaue Augen entgegen, während der Leiter der Feenschule mich musterte.

„Hältst du es wirklich für richtig, einem solch jungen Ding ein Ei anzuvertrauen, Doron?“ Fragend sah er Herrn Alion an. Ich hatte das Gefühl, als möge er mich nicht sonderlich. Firyon versicherte mir später zwar, dass Herr Imali lediglich ein Feenzüchter mit Leib und Seele sei und seine Lieblinge in guten Händen wissen wolle, doch der Eindruck, dass er mich nicht leiden konnte blieb während meiner ganzen Schulzeit über.

„Ich bin sicher, Tanaya wird gut auf es achte, mein lieber Kabir. Ausserdem ist sie nur ein Jahr jünger als es die Schüler eigentlich sein“, meinte Herr Alion beschwichtigend.

Herr Imali schnaubte. „Nun gut, aber wenn irgendwas ist, werde ich sofort einschreiten. Und du weißt, dass ich eine Fee, die schlecht behandelt wurde, nicht wieder an den betreffenden Schüler herausgebe.“ Dann wandte er sich an mich: „Also, dann komm schon.“

Er führte uns in ein Nebenzimmer, in dem es unnatürlich warm war. In langen Regalen waren kleine Nester aufgereiht, in jedem lag ein Ei. Sie waren ungefähr so gross wie die Bälle, mit denen die Jungen aus Leren oft auf der Strasse gespielt hatten und ganz unterschiedlich gefärbt. Einige waren blau, grün oder rosafarben, auf anderen wiederum erkannte ich komplizierte Musterungen, die wie Sterne, Regentropfen oder gar Blütenblätter aussahen.

„Du kannst dir Eines aussuchen. Feeneier sollten immer warmgehalten werden. Wird das nicht beachtet, kann es sein, dass die Fee erfriert bevor sie schlüpft“, erklärte Herr Imali.

Staunend ging ich derweil die Regale entlang. Jedes Ei erschien mir schöner als das vorherige. Welches sollte ich nehmen?

Doch dann blieb mein Blick an einem Ei hängen. Es zog meinen Blick wie magisch an. Ein hübsches, gelb-grünliches Ei, auf dem ich Blätter zu erkennen glaubte. Ich wandte mich zu Herr Imali und Herr Alion um.

„Ich möchte gerne dieses hier mitnehmen, wenn Ihr erlaubt“, sagte ich höflich.

„Ob ich es erlaube oder nicht spielt keine Rolle, aber gut, dann also das hier.“ Vorsichtig nahm Herr Imali das Ei aus dem kleinen Nest und legte es in ein Körbchen. „Du solltest dir innerhalb einer Woche einen Namen für deine Fee überlegen. Idealerweise überlegst du dir auch einen männlichen Namen.“, meinte er, als er mir das Körbchen in die Hand drückte.

„Sind denn nicht alle Feen weiblich?“, wollte ich etwas verwirrt wissen.

„Die meisten Feen sind weiblich, aber es kann durchaus sein, dass ein Feenjunge aus dem Ei schlüpft. Wenn du dich auf einen Namen festgelegt hast, teil ihn mir mit“, erklärte Herr Imali.

„Gut. Wie lange wird es wohl dauern, bis meine Fee schlüpft?“, fragte ich und der Feenzüchter antwortete mir, dass das ganz unterschiedlich sei, weil Feen dann schlüpfen, wenn sie es für richtig halten. Es könne deshalb sei, dass sie bereits nach zwei, drei Tagen schlüpfen, oder erst in einem oder zwei Monaten oder noch mehr.

„Solange deine Fee noch im Ei ist, solltest du einmal im Monat zu einer Routine-Untersuchung kommen“, meinte Herr Imali abschliessend.

„In Ordnung.“ Ich deckte das Ei mit meiner Uniform zu. Die Vorstellung, dass das Feenbaby darin erfrieren konnte, machte mir scheussliche Angst und ich wollte trotz des warmen Wetters draussen nichts riskieren.
 

Solaya Branth, ihres Zeichens Stallmeisterin und Betreuerin der Begleiter Nightwinds, war eine deutlich angenehmere Person als Kabir Imali. Sie wirkte unglaublich jung, vielleicht zehn, zwölf Jahre älter als ich, ihre Haut war dunkel wie Ebenholz und ihr langes Haar, das sie am Hinterkopf zu zwei Zöpfen gebunden hatte, war schwarz wie die Nacht. Fasziniert sah ich diese für mich exotische Schönheit an.

Fräulein Branth musterte mich ebenfalls mit ihren sanften, braunen Augen.

„Tanaya, nicht wahr?“, fragte sie lächelnd und ich nickte. „Hab viel von dir gehört, war aber leider nicht da, als du hier angekommen bist. Dann woll’n wir doch mal sehn ob ich was passendes für dich hab.“ Mit diesen Worten öffnete sie die Tore zu den Stallungen.

Die Ställe Nightwinds waren noch weitaus beeindruckender als die Feenschule. Hier gab es alle möglichen magischen Wesen. Ich entdeckte Einhörner, geflügelte Pferde, Greife, Riesenschlangen, Phönixe und sogar zwei ausgewachsene Drachen.

„Was du hier siehst“, erklärte Fräulein Branth, „Sind alles Begleiter von Schülern, die zu gross oder gefährlich sind um sie auf dem Zimmer zu halten. Das mag auf den ersten Blick überwältigend erscheinen, aber es gibt mindestens genauso viele kleine Begleiter, die auf den ersten blick nicht sonderlich stark oder hilfreich wirken. Aber jeder Begleiter kann grosse Kraft entwickeln und ein wertvoller Freund sein, wenn du ihn richtig behandelst. Du darfst nie vergessen, dass jeder Begleiter etwas ganz besonderes und wunderbares ist, ganz egal ob es sich nun um einen riesigen Drachen oder eine kleine Schneemaus handelt. Alles klar?“ Sie zwinkerte mir zu.

„Woher weiss ich denn, ob ich meinen Begleiter richtig behandle?“, fragte ich verunsichert.

Fräulein Branth lächelte. „Es gibt kaum ein Wesen, zu dem du in der Bibliothek nichts findest, ausserdem kannst du auch einfach mich fragen. Aber genug davon, zunächst müssen wir sehn, dass du überhaupt einen Begleiter bekommst.“

Wir verliessen den eigentlichen Stall und kamen in einen kleineren Raum. Die Artenvielfallt in den Gehegen dieses Raums war jedoch nicht etwa kleiner, sondern noch viel grösser als im Vorhergegangenen. Es gab kleine, affenartige Wesen, junge Wölfe, Raubkatzen und Greifvögel genauso wie mir gänzlich unbekannte Tiere.

Doch so interessiert ich all diese Wesen betrachtete, so uninteressant erschien ich ihnen wohl. Unbeeindruckt von meiner Anwesenheit kletterten, frassen oder spielten sie weiter.

Fräulein Branth und Herr Alion wechselten einen Blick, den ich nicht deuten konnte.

„Nun gut, sehen wir uns die Tierchen doch einmal genauer an“, meinte Fräulein Branth und schritt zwischen den Gehegen hindurch.

Aufmerksam betrachtete ich jedes Tier, schliesslich hatte jedes von ihnen mein Begleiter sein können. Doch keines von ihnen schien sich für mich zu interessieren und wenn ich ehrlich bin, interessierte ich mich ebenfalls für keines von ihnen wirklich.

In einer kleinen Box im hinteren Teil des Stalls für Jungtiere befand sich ein Einhornfohlen, das meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Ich stellte mir schon vor, wie unglaublich beeindruckt alle sein würden, wenn ich mit einem Einhorn als Begleiter ankäme und hätte es unheimlich gerne als Begleiter gehabt, doch als ich versuchte es zu streicheln, zog es seinen Kopf immer wieder weg. Offenbar wollte es nicht gestreichelt werden. Fräulein Branth war der Meinung, dass das kleine Einhorn wohl nicht der richtige Gefährte für mich war. Überhaupt sei offenbar keines der Wesen in ihrem Stall geeignet für mich.

„Nimm’s nicht so schwer, Tanaya“, sagte sie als sie meinen niedergeschlagenen Blick bemerkte. „Dass du hier deinen Begleiter nicht gefunden hast, bedeutet nicht generell, dass es ihn nicht gibt. Komm einfach in drei Monaten wieder, dann sind hier wieder ein paar neue Wesen und vielleicht ist dein Begleiter dann ja dabei.“

„Und wenn ich meinen Begleiter niemals finde?“, fragte ich etwas deprimiert.

„Du wirst ihn finden. Früher oder später finden alle ihre passenden Begleiter. Vielleicht dauert es eben etwas länger. Das kommt vor.“ Sie klopfte mir aufmunternd auf die Schulter. „Sieh’s doch mal so, du hast jetzt mehr Zeit, dich um anderes zu kümmern. Deine Elfe, oder die Schulaufgaben zum Beispiel.“

Ich nickte, doch es war ein schwacher Trost. Ich hätte so gerne einen Begleiter gehabt. Mir blieb nur zu hoffen, dass ich ein anderes Mal fündig werden würde.
 

Herr Alion brachte mich zurück zu den anderen und nahm dafür Gwendolyn mit. Ich hatte gar nicht bemerkt, wie sie zurück gekommen war. Ihre langen Haare waren nun glatt gekämmt und sie trug nun ein dunkelblaues Kleid mit silberner Stickerei. Nun, da sie sauber war, erinnerte sie mich an eine Prinzessin aus einem Märchen. Einzig Gwendolyns Nase hatte wenig prinzessinnenhaftes an sich, sondern erinnerte mich eher an eine Kartoffel. Einige Mädchen begannen zu kichern und ich konnte etwas, das wie „Prinzessin Kartoffel“ klang hören. Ich glaube nicht, dass Gwendolyn es ebenfalls gehört hatte, denn sie war schon etwas weiter weg, aber ich fand es äusserst unhöflich.

Seufzend lies ich mich neben Harias auf den Boden plumpsen.

„Wohl kein Glück im Stall gehabt, was?“, erriet er den Grund für meine etwas getrübte Laune und ich schüttelte den Kopf. „Ist doch nicht schlimm. Ich hab auch keinen Begleiter“, versuchte er, mich auf zu muntern, doch so wirklich gelang es ihm nicht.

Ich glaube, selbst wenn ich gewusst hätte, dass ich schon bald doch noch einen Begleiter bekommen würde, hätte mich das in diesem Moment nicht fröhlicher gestimmt.



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Kommentare zu dieser Fanfic (5)

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Von:  Medihra
2007-10-16T08:41:20+00:00 16.10.2007 10:41
Hallo Ko!

Ich habe mir endlich die Zeit genommen und deine Kapitel noch einmal gelesen. Du hast mir ja geschrieben, dass du das neue Kapitel hochgeladen hast. Ich musste nur wieder in die Geschichte hinein kommen.

Und mir liegt nur ein Wort auf der Zunge: Wow!
Du hast einen wundervollen Erzählstil und die Liebe zum Detail fasziniert mich. (*hust* Was eine bestimmte "Autorin" hier ja nicht hatte... Andere auch nicht...)
Die Charaktere lässt du handeln und nicht nur sprechen (Da kenn ich eine FF... Die quasseln nur und machen nix...)

Und sonderlich überrascht war ich darüber, dass ich hier noch kein Kommentar geschrieben habe. Kann es sein, dass ich dir das im ICQ geschrieben habe? Wenn ja, habe ich das ja hier nachgeholt.

Mir sind aber auch die ein paar Tippfehler aufgefallen, aber die macht irgendwie jeder. Das passiert mir auch immer. Aber solange sie den Lesefluss nicht stören, sehe ich großzügig darüber hinweg, hihi. Und sie stören nicht.

Bitte mach weiter! Ich werde deine Geschichte gewiss weiterlesen, sei es hier auf Mexx, FF.de oder im Forum. ^^

LG
Anda
Von:  Elaya
2007-10-10T21:49:30+00:00 10.10.2007 23:49
du hast in diesem Kapitel die Gefühlswelt von Tanaya sehr gut niedergeschrieben, vor allem dieser Unglaube als sie auf die Stadtruine blickt ist sehr gelungen. Ein anderer Punkt den ich sehr schätze ist, dass du es vermagst in diesem (wie auch den anderen) Kapitel die Umgebung so zu beschreiben, dass man sich wirklich hineinversetzen kann. Allerdings eine Kleinigkeit störte mich dann doch: Die Stelle an der die Starßen als zugeschüttet beschrieben wurden. Hier schreibst du weiter, dass Tanaya über die Trümmer klettern musste - das wirkt etwas unnötig, weil das die einzig logische möglichkeit ist eine zugeschütette Straße zu durch/überqueren. Es ist nicht falsch- wirkt aber doppelt gemoppelt ;-)

P.S.: Mein Laptop hatte ja gezickt... ich finde meine kommentierte Version nich wieder und setze nun ein paar hier hin damit du wenigstens nen bissl schon was hast...bis ich fertig bin...hoffe ich finde die Datei noch *knutsch*
Von:  Gruselhasi
2007-10-09T15:50:17+00:00 09.10.2007 17:50
Ich bin schon gespannt wies denn weiter geht! :D :D
Die Tippfehler wurden ja scho erwähnt...! ^^
Ich finds einfach toll! :3 *deine geschichte gerne les* :D :D

Zuzu
Von:  Enisegu
2007-10-09T01:26:45+00:00 09.10.2007 03:26
Schön, dass wieder ein neues Kapitel da ist ^.^
Die Geschichte entwickelt sich langsam un dich bin gespannt, wie es wohl weitergeht.
Dass die Aufregung sich diesmal in Grenzen hält ist ja nichts Schlechtes. Die Personen, die später wohl mal wichtig werden sind gut eingeführt worden und glücklicherwiese, wie auch die Räume, nicht zu zahlreich.
Allerdings sind einige Tippfehler drin bzw. manchmal sind Wörter vertauscht oder fehlen. Wenn du willst kann ich es noch mal Korrekturlesen. Es stört zwar den Lesefluss nicht shwerwiegend, aber es fällt doch ab und zu auf.

Immer schön weiterschreiben,

LG Eni ^.^


Von:  Pego
2007-06-08T19:44:29+00:00 08.06.2007 21:44
ich kenne Nightwind nicht, aber ich muss sagen, du hast das alles so gut beschrieben, dass man der Geschichte auch folgen kann, ohne Vorkenntnisse zu haben. Ich finde, das macht eine richtige Fanfic aus!
Ich mag es, wie du die Geschichte bis jetzt aufgebaut hast und jetzt kommt der Standardsatz: Ich bin gespannt, wie es weitergeht.



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