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Blind Dragon

Das Auge des Orion
von

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Kapitel 6

Das, woran ich mich von dem, was in der nächsten Stunde geschah, ab deutlichsten erinnern kann ist dieses dumpfe Poltern, das sogar durch die geschlossene Tür deutlich zu hören war. Es ging mir durch Mark und Bein, denn von diesem Moment an wusste ich, dass nicht nur Rick in meiner Wohnung war und dass irgendetwas absolut nicht stimmte. Geräuschlos öffnete ich die Tür. Es gab keinen Flur. Ich blickte direkt ins Wohnzimmer, auf dessen Laminatboden ich Rick liegen sah. Obwohl er offensichtlich in Gefahr war, machte er keine Anstalten, aufzustehen. Über ihm stand ein Mann, etwa 1,90 m groß, breitschultrig, der ihm einen mächtigen Tritt in die Flanke versetzte. Wie gelähmt stand ich da, der Eindringling stand mit dem Rücken zu mir. „Wo ist er?!“ brüllte der Kerl. Ricks Stimme jagte mir kalte Schauer die Wirbelsäule hinunter, als er gequält antwortete: „Er besucht einen Freund. Das sagte ich Ihnen schon. Ich weiß nicht mehr.“ Er sagte die hundertprozentige Wahrheit und nicht der geringste Vorwurf klang in seinen Worten mit, doch er flehte auch nicht. Vielleicht war es das, was den Fremden so verärgerte. Er ging in die Hocke, packte Rick an den Haaren und spuckte ihm ins Gesicht, welches er mit Fäusten und Füßen entstellt hatte. „Und dieser Freund, wie heißt der? Verarsch mich nicht wieder“, sagte der Mann eindringlich. Rick erzählte ihm weiterhin die unangenehme Wahrheit. „Ich weiß es nicht. Er erzählt mir sowas nicht.“

„Und sein Freund hat ihn auch nie hier besucht, was?“

„Vielleicht kennen sie sich noch nicht so lang. Außerdem reden wir nie - “

Indem er Rick die Faust der freien Hand ins Gesicht rammte, brachte er ihn zum schweigen. Der Junge hustete.

„Er wollte sagen, wir reden nie über unser Privatleben“, erklärte ich dem Mann. Meine Stimme war so eisig, dass ich glaubte, sie gehöre nicht mir. Ich kochte vor Wut und war gleichzeitig völlig ruhig.

Der Riese riss Rick ganz hoch, der sich kaum auf den Beinen halten konnte. Er legte ihm einen Arm um den Hals und drückte. „Du warst sonst nie unpünktlich mit der Lieferung“, stellte er fest. „Also, wo hast du den Stein? Beim Zwischenhändler ist nie etwas angekommen.“

„Lass ihn los und ich sag es dir“, forderte ich. Das Ganze fühlte sich an, als stünde ich neben mir und sähe mir zu. Ähnlich wie im Traum, wenn man sich selbst aus allen Perspektiven sehen konnte, obwohl man der Protagonist war.

„Andersrum wird’n Schuh draus. Ich hab gehört, der Erstickungstod ist der Schlimmste von allen.“

Er drückte heftiger und Rick spuckte einen Schwall dunkelroten Blutes. Beinahe dieselbe Farbe, die seine Haare hatten. Mir platzte der Kragen. Ich weiß noch, wie ich tief einatmete und meine Kräfte sammelte, um mit dem Kerl zu kämpfen und mich wunderte, dass ich wie festgenagelt stehen blieb. Dann spuckte ich eine gigantische Stichflamme. Rick riss den Mund auf und ich dachte, er würde schreien, aber stattdessen sog er das Feuer aus der Luft auf. Doch auch das genügte nicht. Beide gingen in Flammen auf. Mein Verstand versank im Nebel - oder Feuerrauch, wenn man so will.

Es war nicht wie bei meinem ersten Flug mit den Flügeln, sondern wie nach viel zuviel Alkohol. Man meint, genau zu wissen, dass man das, was einem die Freunde berichten niemals getan hat, aber die Beweise sprechen dagegen. In meinem Fall bestanden die Beweise aus einem Aschehaufen, aus dem noch einige glühende Knochen ragten, dem Geruch von verbranntem Fleisch, so beißend, dass mir übel wurde, sowie Ricks leblosem Körper, der zwar schlimme Brandwunden aufwies, aber verglichen mit dem Aschehaufen noch erstaunlich unversehrt war. Zitternd saß ich in einem Kreis aus makellosem Laminat, der in der schwarz verkohlten Wohnung völlig fehl am Platze wirkte. Das Feuer verschwand genauso schnell wie es gekommen war und das war gut so. Wie man mir später mitteilte, hätte keine Feuerwehr der Welt es löschen können. Von Ferne hörte ich Sirenen. Ich fühlte wieder die Flügel auf meinem Rücken, doch was mir letzte Nacht noch als Segen erschienen war, kam mir jetzt vor wie ein furchtbarer Fluch. Ich hatte einen Mann getötet und einen Menschen schwer verletzt, der mir, wie ich angesichts der tiefen Trauer, die ich empfand zugeben musste, lieb und teuer geworden war. Es war schrecklich. Ich hatte ihn beschützen wollen, nicht in Lebensgefahr bringen. Lebte er denn überhaupt noch?

Schwach erhob ich mich und sah nach ihm. Die Flügel lösten sich in duzende kleine Leuchtfeuer auf, die wiederum unsichtbar wurden. Es kam mir vor, als wären sie lebendig.

Als Rick meine wankenden Schritte hörte, drehte den Kopf in meine Richtung. Mir fiel kein Stein vom Herzen, sondern eine ganze Geröllhalde. „I-ist es... vorbei?“ flüsterte er ängstlich. Ich hoffte es, also nickte ich vorsichtshalber. „Du musst dich heilen“, bat ich hastig. „Schaffst du das?“

„Kann nicht... bei mir selbst...“ er brach ab. Jedes Wort schien ihm Bärenkräfte abzuverlangen. „Okay, dann bring ich dich in ein Krankenhaus. Vielleicht ist ja auch schon ein Krankenwagen unterwegs.“

„Wenn du...“ wieder unterbrach er sich, um zu Kräften zu kommen. Dann plötzlich war seine Stimme fest und kräftig. „Wenn du das tust, muss ich zurück zu meinen Eltern. Dahin will ich auf keinen Fall wieder. Bring mich zu Ro-“

Wir hatten nur einen gemeinsamen Bekannten, dessen Name mit „Ro“ begann. Im Eiltempo holte ich einen Mantel aus meinem Zimmer, das nicht ein Flämmchen abbekommen hatte, ebenso wie das Bad, wo ich den Mantel durchnässte. Ich wickelte Rick darin ein und band mir den Jungen auf dem Motorrad auf dem Rücken fest. Nie war ich so schnell gefahren. Innerhalb einer Viertelstunde hatte ich Rongas Haus erreicht, von dem ich nie gedacht hätte, dass ich es überhaupt wiederfinden würde. Dieses Mal war ich froh über seine hellseherischen Fähigkeiten, denn er erwartete mich bereits und wenig später lag Rick schlafend und ohne einen Kratzer im Gesicht auf einem Sofa.

Ich saß auf dem anderen, eine Decke um die Schultern gelegt, die ich wirklich brauchte, wie ich feststellte. Dabei war es so warm draußen gewesen. Meine Wangen fühlten sich an, als hätte ich geweint und ich hatte mich irgendwann gewaschen. Die ganze Zeit beobachtete ich Rick, als fürchtete ich, der Zauber der Heilung könne jeden Moment von ihm abfallen. Wie lang ich schon dort saß und was ich zwischendurch sonst noch alles getan hatte, konnte ich beim besten Willen nicht sagen.

„Du stehst unter Schock“, teilte Ronga mir mit. Seine Stimme klang beruhigend wie Baldrian, doch mich regte er gewaltig auf.

„Hör endlich auf, meine Gedanken zu lesen“, zischte ich, leise, um Rick nicht zu wecken. Kaum hatte ich das gesagt, tat es mir schon wieder leid. Immerhin war er es gewesen, der Rick das Leben gerettet hatte. So zerschlagen wie er aussah, war es wohl anstrengend gewesen. Er hatte sich Tee gekocht, schlürfte einige Schlucke aus der Tasse und nickte mir zu. Konnte man ihn eigentlich irgendwie beleidigen? Was ich gesagt hatte, schien an ihm abzuperlen wie Wasser an einer Ente.

„Tut mir leid. Du brauchst deine Privatsphäre, aber ich weise dich nur deshalb so deutlich darauf hin, dass ich deine Gedanken lesen kann, damit du es merkst, wenn es jemand tut. Man entwickelt mit der Zeit ein Gefühl dafür. Es ist keine Angeberei oder gar ein Versuch, dir zu schaden. Die, die dir wirklich schaden wollen, solltest du doch in deinem Kopf bemerken können, findest du nicht?“

Nachdenklich lächelte ich. „Gehört’s zu deinem Wahrsagerjob so zu reden?“

„So altertümlich?“

„So kompliziert.“

„Nein. Nennen wir meine Sprache einfach eine Eigenart von mir.“

„Davon hast du ne ganze Menge. Du liest Gedanken, heilst halbtote Menschen und noch dazu bist du der erste Wahrsager, den ich kenne, der wirklich die Zukunft vorhersagen kann.“

Ronga lächelte verlegen und wirkte plötzlich unglaublich jung, als er sich kurz und unbewusst hinter dem rechten Ohr kratzte. Auf dem Weg zurück näherte sich seine Hand seinem Mund und fand dann doch den Weg zurück in ihre Ausgangsposition. Er schwieg. Anscheinend legte er keinen Wert darauf, seine Fähigkeiten zu erklären.

Mein Blick wanderte zurück zu Rick, der mit leicht geöffnetem Mund dalag. Ein Sabberfaden machte sich auf den Weg Richtung Sofapolster. Er sah wieder aus wie der Rick, den ich kannte. Leise klickte die Teetasse auf dem Tisch. Die Eigene hatte ich schon vor Ewigkeiten geleert und keinen Gedanken mehr daran verschwendet. Mein Kopf quoll über vor lauter Fragen. Woher kamen diese Kräfte? Wie hatten Ronga und Rick es geschafft, in Einklang damit zu leben? War ich denn der einzige, der sich davor fürchtete?

Gerade als ich anfangen wollte, Ronga zu löchern, lag dieser friedlich zusammengekauert auf dem Sessel, den er schon als Mensch als seinen Sitzplatz ausgewählt hatte. Das erste Sonnenlicht hatte sich in die Beleuchtung des Zimmers gemischt und er war wieder ein Vierbeiner. Bei seinem Anblick fiel mir ein wie hundemüde ich war, also löschte ich das Licht und legte mich hin. Ich meinte, ein Augenlid des Wolfes leicht zucken zu sehen, als ich mich in die Decke wickelte und eine bequeme Lage suchte.



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  Anoriel
2008-02-20T14:29:23+00:00 20.02.2008 15:29
*kreisch*
Riiick!!! T////T

Mann, gut dass Kori den Typen verbrannt hat *knurr*
aber dass er den Rotschopf dabei -zwar unbeabsichtigt, aber trotzdem- schaden musste .... naja, wenigstens kommt er wieder auf die Beine ...

Oh mann, ehrlich gesagt kann ich mir Ronga nicht als Zwanzigjähriger vorstellen.. oder doch, aber irgendwie mischt sich während dem lesen immer wieder eine Figur anstelle von Ronga, die mehr einem alten weisen Mann in einer weissen Robe gleicht...

Ach, und das was sich Kori fragt möcht ich auch gerne wissen.. allez-hopp!
Kapitel 7 ich komme!
Von:  SilentStrider
2007-09-13T08:09:16+00:00 13.09.2007 10:09
Burn, Baby, burn!
Woah, Kori geht jetzt aber richtig zur Sache - wenn auch ungewollt, aber trotzdem ganz schön heftig.
Wie er den Typen verkohlt hat... Wow O.o"
Und gut, dass es Ronga gibt! Der arme kleine Rick! *rick schnuffel*
Aber jetzt gehts ihm ja wieder gut!
Von:  Nochnoi
2007-09-01T09:44:52+00:00 01.09.2007 11:44
Oje, jetzt hat Kori mit seinen neu entdeckten Fähigkeiten doch tatsächlich jemanden umgebracht O.o Na ja, im Grunde hatte es dieser Mistkerl auch gar nicht anders verdient, dennoch war das sicherlich ein einschneidendes Erlebnis!
Und die Fragen, die nun Kori im Kopf herumschwirren, stelle ich mir auch die ganze Zeit - ich such dann einfach mal in den nächsten Kapiteln nach Antworten XDDD


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