Die durch die Hölle gehen
Ekelhaftes Wetter. Mehr sag ich dazu nicht.
moko-chan
Sam hatte das Gefühl, seine Kehle ziehe sich mit jedem Wort des Meditationsritus einen Millimeter enger zusammen, und sein Mund fühlte sich an, als versuche er, an einer Kolonie Feuerameisen vorbei zu sprechen.
Der einzige Teil seines Körpers, der sich nicht anfühlte, als würde er von glühenden Nadeln traktiert, waren seine Hände.
Deans Griff war warm und gleichzeitig lindernd, und Sam lehnte sich nach und nach immer weiter nach vorn, suchte Deans Nähe so selbstverständlich, als sei er sein Erdmittelpunkt, um den herum er gravitierte.
Und das war wahrscheinlich die treffendste Metapher, die ihm je für sie beide einfallen würde.
Newton musste an sie gedacht haben, als er sein Gravitationsgesetz aufgestellt hatte.
Deans Präsenz flackerte in leicht beunruhigten Wogen um ihn herum, und doch ging gleichzeitig eine Ruhe von ihm aus, die Sam dabei half, sich zu sammeln, selbst wenn es eine von Dean mit aller Gewalt erzwungene Ruhe war.
Er passte seine Atmung Deans an, konzentrierte sich mit der einen Hälfte seines Bewusstseins auf Dean und Dean allein, während die andere damit rang, die Herrschaft über den Dämon in seinem Blut zu erlangen, und Sam stellte fest, dass, obwohl ihm jeder einzelne Knochen im Leibe wehtat, sein Verstand so klar war wie erst selten zuvor in seinem Leben.
Welche Wirkung auch immer dieser Ritus auf die Kontrolle seiner Fähigkeiten hatte, er machte einem ganz wunderbar den Kopf frei.
Und dann kam er am Ende des ersten Gebetszyklus an, und hätte er sich nicht an Dean festgehalten, die plötzliche Agonie in jeder einzelnen Zelle seines Körpers hätte ihn die Besinnung verlieren lassen.
Was vorher mit Nadelstechen zu vergleichen gewesen war, ließ nun keinerlei Vergleich mehr zu. Es tat einfach nur noch weh.
Er sog scharf den Atem ein, und die Enge in seiner Kehle löste einen Funken Panik in ihm aus, dann begann Dean, mit seinen Daumen über seine Handrücken zu reiben, und Sam atmete flatternd wieder aus.
„Das genügt vorerst.“
Sam hatte sekundenlang Probleme, die Stimme als wirklich anzuerkennen, und erst, als Frank die Worte wiederholte und einen Schritt näher kam, schlug er die Augen auf und blickte in Deans beunruhigtes Gesicht.
„Bist du ok, Sammy?“
Sam kannte die Stimme, das Gesicht war ihm so vertraut, dass er es mit geschlossenen Augen hätte zeichnen können – wenn er über auch nur einen Funken Zeichentalent verfügt hätte – aber einen grässlichen Moment lang erkannte er Dean nicht.
Dean packte seine Hände fester. „Sammy?“
„Gib ihm einen Augenblick“, sagte Frank gelassen. „Es braucht eine Weile, bis der Verstand in die Realität zurückfindet.“
Dann schlugen die Erinnerungen über Sam zusammen wie Wellen über einem Schiffbrüchigen, und er ertrank in ihnen, wurde in die Tiefe gesogen und bekam keine Luft mehr, und Dean riss ihn in seine Arme und hielt ihn fest, während er panisch nach Atem rang.
„Was passiert mit ihm?!“
„Das sind nur die Nachwirkungen“, erklärte Frank faktisch. „Das geht vorbei.“
Sam würgte hilflos, starrte aus weit aufgerissenen Augen an die spitz zulaufende Decke des Dachbodens, und der Druck auf seine Lungen trieb ihm Tränen in die Augen.
„Er erstickt!“
Deans Stimme hallte endlos in seinen Ohren nach, während Franks Antwort kaum mehr als ein Flüstern war.
„Das ist völlig normal. Sein Körper kämpft mit dem Virus in seinem Blut.“
„Normal?!“, explodierte Dean, „Normal?!“
Er streckte Sam auf dem Boden aus und beugte sich über ihn, strich ihm mit zitternder Hand das verschwitzte Haar aus der Stirn und legte die andere in Sams Nacken, hob leicht seinen Kopf an, um ihm das Atmen zu erleichtern, und Sam hustete mühevoll.
„Na bitte“, sagte Frank gleichgültig. „Schon vorbei.“
Wäre Dean nicht damit beschäftigt gewesen, sich um Sam zu kümmern, er wäre aufgestanden und hätte ihm eine verpasst.
„Sammy?“, flüsterte er mühsam beherrscht, und suchte in Sams Augen nach einer Antwort auf all die Fragen, die in diesen zwei Silben mitschwangen, und Sam bemühte sich, sie ihm zu geben, während er um jeden Atemzug kämpfte.
Es wurde leichter, es hörte auf, wehzutun, und irgendwann schaffte er ein Lächeln, und Dean stieß einen schweren Seufzer aus. „Das hat mich zehn Jahre meines Lebens gekostet.“
Er ließ Sam vorsichtig auf den Boden zurück gleiten, zog seine Hände von ihm zurück und sah ihm einen Moment lang beim Atmen zu – dann stand er langsam auf, wandte sich zu Frank um, holte aus und schlug mit aller Kraft zu.
Er sah nicht, wie Franks Gesichtsausdruck sich veränderte, noch während er ausholte, wie das Blau seiner Augen dunkler und kälter wurde – aber als Frank seine Faust einfing, sie in seiner Hand zusammenpresste und ihm mit rücksichtsloser Gewalt den Arm auf den Rücken drehte, wusste Dean, was passiert war.
Er lachte humorlos.
„So gut scheint Frank seinen inneren Dämon doch nicht unter Kontrolle zu haben, was Jerry?“
„Du wolltest ihm wehtun!“, zischte der Dämon hinter ihm mit Franks Stimme, und Dean weitete in komischer Bestürzung die Augen. „Wie bitte?“
Jeremiah packte Deans Arm noch ein wenig fester, drehte ihn noch ein Stückchen weiter, um seinen Standpunkt klar zu machen, und Dean ächzte leise. „Ist ja schon gut!“
Jeremiah ließ ihn los und stieß ihn von sich weg, und Dean wandte sich zu ihm um. „Er hatte es verdient, nur damit das klar ist.“
Jeremiah starrte ihn aus kalten Augen an. „Warum? Sam lebt.“
Was Dean wieder auf seine Berufung aufmerksam machte und ihn dazu brachte, sich zu Sam umzuwenden und neben ihm auf ein Knie zu sinken.
„Fühlst du dich besser, Sammy?“
Sam wusste nicht, ob er nicken sollte oder nicht. Er hätte sich definitiv besser gefühlt, hätte Dean nicht soeben einem Dämon einfach so den Rücken zugewandt, als sei nicht das Geringste dabei, dass Frank die Gewalt über sich und Jeremiah verloren hatte.
„Körperliche Nähe hilft“, sagte Jeremiah plötzlich ernsthaft. „Du solltest ihn in den Arm nehmen.“
Sam und Dean starrten ihn gleichermaßen verdutzt an, und er verschränkte die Arme vor der Brust und starrte trotzig zurück. „Was?“
„Nichts“, gab Dean zurück. „Außer vielleicht, dass ich nicht erwartet hätte, einen Dämon sowas sagen zu hören.“
Jeremiah trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen. „Ich wollte dich vorhin nicht erschrecken, Dean. Aber Frank kann nichts dafür, wenn Sam leidet – er hat euch vorher gesagt, dass das Ritual mit Schmerzen verbunden ist.“
Dean, der eben dabei gewesen war, sich hinter Sam zu setzen, um ihn anständig in die Arme nehmen zu können, plumpste höchst ungraziös auf den Hintern. „Bitte?“
Jeremiah blinzelte ihn verständnislos an. „Was hab ich jetzt wieder gesagt?“
Dean gab keine Antwort, spreizte die Beine und zog Sam an sich heran, so dass er sich an seine Brust lehnen konnte, schlang die Arme um ihn und drückte ihn an sich, und Sam seufzte leise. „Das ist besser.“
Jeremiah grinste stolz. „Hab ich doch gesagt.“
Dean war, gelinde gesagt, mit der Situation überfordert.
„Möchtet ihr einen Kaffee?“
Dean ignorierte die Frage aus Richtung der Küche und senkte seine Stimme zu verschwörerischem Wispern. „So langsam macht er mir Angst.“
Sam nickte ernst, versuchte, sich auf Franks cremefarbenem Sofa ein wenig bequemer hinzusetzen, und gab auf, als er erkannte, dass sein Unwohlsein nicht das Geringste mit der Federung des Möbelstücks zu tun hatte.
Es lag an Jerry.
„Jungs.“ Jeremiah tauchte mit leicht vorwurfsvollem Stirnrunzeln im Türrahmen auf. „Ich hab euch was gefragt.“
Dean räusperte sich unsicher. „Kaffee? Ähm … ja. Gerne. Vielen Dank.“
Jeremiah verschwand lächelnd wieder in die Küche, und Dean wischte sich mit der flachen Hand übers Gesicht. Was dumm war. Er hatte noch seine Brille auf.
„Wann übernimmt Frank endlich wieder das Kommando?“, wisperte er Sam zu, während er sich daran machte, seine Sehhilfe zu putzen, und der zuckte hilflos mit den Schultern. „Keine Ahnung. Vielleicht lässt Jeremiah ihn nicht.“
„Kekse?“, drang Jerrys fröhliche Stimme aus der Küche hinüber, und Dean blühte sichtlich auf. „Immer doch!“
Sam starrte ihn vorwurfsvoll an. „Ermuntere ihn nicht auch noch!“
„Aber ich will Kekse!“, gab Dean beleidigt zurück, und Sam verdrehte die Augen. „Du wirst dich nie ändern …“
„Ein Umstand, für den du dankbar sein solltest“, gab Dean schnippisch zurück und lehnte sich auf dem Sofa behaglich nach hinten. „Irgendwie ist Jerry gar nicht so übel.“
„Er ist ein Dämon“, sagte Sam faktisch. „Wir sollten vorsichtig sein.“
„Frank lebt seit über fünfzig Jahren mit ihm“, überlegte Dean laut. „So schlimm kann er also nicht sein.“
„Der Kaffee ist gleich fertig.“
Jeremiah betrat das Zimmer, stellte einen Teller Kekse auf den Tisch und blickte Sam und Dean erwartungsvoll an.
Dean ließ sich nicht lange bitten und stürzte sich auf das Gebäck, und Sam ließ ihn mit Duldermiene gewähren.
Jeremiah musterte ihn besorgt. „Ist dir immer noch schlecht?“
„Mir war nie schlecht“, antwortete Sam knapp. „Ich habe keinen Hunger.“
„Aber du bist ein großer Kerl“, wandte Jeremiah ein. „Du musst was essen. Soll ich Pizza bestellen?“
Sam runzelte die Stirn. „Nein danke.“
Jeremiah verschränkte die Arme vor der Brust. „Soll Frank eine Pizza bestellen?“
Sams Stirnrunzeln vertiefte sich nur noch. „Selbst das würde nichts daran ändern, dass ich keinen Hunger habe.“
Jeremiah machte sich gerade. „Ich verstehe.“
Er wandte sich ab und verschwand wieder in die Küche.
Dean warf Sam einen vorwurfsvollen Blick zu, den Sam geübt ignorierte.
Als Jeremiah mit dem Kaffee zurückkam, war er deutlich stiller, und Dean brauchte einen Moment, bevor er mitbekam, dass Frank wieder das Kommando über seinen Körper übernommen hatte.
„Ist alles in Ordnung?“, fragte er vorsichtig, und Frank warf ihm einen zynischen Blick zu. „Nein. Er hatte sich den ersten Dialog mit anderen Menschen nach so langer Zeit ein wenig anders vorgestellt.“
Das war nicht, wonach Dean gefragt hatte, und er zog beide Augenbrauen in die Höhe.
„Wollen Sie mir sagen, dass er in einer dunklen Ecke Ihrer Seele sitzt und schmollt?“
Frank verzog keine Miene. „Wenn du es so nennen willst.“
Sam machte ein fassungsloses Gesicht. „Weil ich keine Pizza wollte?“
Frank blicke ihn finster an. „Weil du Vorurteile hast.“
Dieser Vorwurf ließ Sam vollkommen sprachlos zurück, und Dean nutzte die Pause in dem Schlagabtausch, um sich einzumischen.
„Vorurteile kann man das ja wohl kaum nennen. Eher ein gewisses Maß an schlechten Erfahrungen.“
Frank stellte Deans Kaffeetasse etwas kraftvoller als nötig auf ihrer Untertasse ab. „Die hat Jeremiah mit Jägern auch gemacht. Er hätte mehr Grund, euch umzubringen als andersherum.“
Sam warf die Hände in die Luft. „Das ist mir egal! Ich werde ganz bestimmt nicht so tun, als gebe es keinen Grund, ihm zu misstrauen!“
Dean fasste ihn beruhigend am Unterarm. „Sammy …“
„Nein, Dean!“ Sam schüttelte Deans Hand ab. „Beinahe alles, was wir in unserem Leben verloren haben, haben wir wegen Dämonen verloren! Ich habe nicht vor, diesem hier zu vertrauen!“
Frank legte leicht den Kopf schief. „Was glaubst du, woher das Ritual stammt, das dir helfen wird, deine Fähigkeiten in den Griff zu bekommen, Samuel? Solches Wissen ist Menschen für gewöhnlich verschlossen und auch mir ist es ganz sicher nicht einfach so zugeflogen.“
Sam starrte ihn an. „Es ist ein Dämonen-Ritual?!“
Frank blickte ausdruckslos zurück. „Was soll es sonst sein?“
Sams Gesichtsfarbe wechselte von einem aufgeregten Rot zu einem ungesunden Grau-Grün. „Großer Gott.“
„Der hat nicht das Geringste damit zu tun“, bemerkte Frank trocken, trat vor und setzte sich auf seinen Sessel.
„Es gibt wirklich keinen Grund, sich derartig aufzuregen. Das Ritual erfüllt seinen Zweck. Glaub mir. Jeremiah und ich leben dank ihm seit Jahrzehnten vergleichsweise harmonisch miteinander.“
„Es ist nicht wirklich harmonisch, wenn der Eine in regelmäßigen Abständen eine derartige Folter durchmachen muss, nur damit der Andere bleiben kann!“, gab Sam knurrend zurück, und Frank lächelte wieder sein blendendes Lächeln. „Wie kommst du auf die Idee, die Prozedur sei nur für mich schmerzhaft? Der Spruch wird in der Hölle benutzt, um „unfertige“ Dämonen zu binden. Er ist nicht wirklich dafür gedacht, von einem Menschen benutzt zu werden, der von einem „fertigen“ Dämon besessen ist.“
Sam stützte den Kopf in beide Hände.
„Die Reihenfolge, in der Sie diese Informationen preisgeben ist nicht gerade sonderlich schätzenswert.“
Frank grinste. „Ich war Grundschullehrer. Ich weiß, wann ich eine pädagogische Lüge, und wann die grausame Wahrheit erzählen muss.“
Dean atmete tief durch. „Kommen noch mehr von diesen grausamen Wahrheiten auf uns zu, oder war es das jetzt?“
Frank legte leicht den Kopf schief. „Es wäre doch nur halb so lustig, wenn ich euch schon alles vorher verrate, nicht wahr?“