Der erste Verdacht
Drei Tage später hatte Svarog beschlossen, Landis dauerhaft einzustellen.
Damit endeten die vollkommen unmöglichen Aufträge des Prinzen und machten trivialen Aufgaben wie dem Putzen von Schuhen oder Waffen Platz.
Landis seufzte leise, während er wieder einmal Schuhe putzte. Im Prinzip machte ihm diese Aufgabe nichts, er hatte schon Schlimmeres getan - aber es war sehr ermüdend und wenig erfüllend.
Die Dienstmädchen tuschelten amüsiert, wenn sie an ihm vorbeikamen. Er machte sich nichts daraus, sondern konzentrierte sich voll und ganz auf seine Aufgabe.
Irgendwann hörte er schwere Schritte und dann mehrere Stimmen, auch die von Nolan. Anscheinend kamen die Kavalleristen hier entlang.
Landis seufzte noch einmal, diesmal innerlich.
Warum hatte Prinz Svarog ihn auch einen Platz mitten im Gang zugewiesen?
Vermutlich nur ein weiterer Punkt, um ihn zu demütigen.
Die Kavalleristen gingen an ihm vorbei, ohne ihn zu beachten. Nicht einmal Nolan kümmerte sich um ihn. Vielleicht hatte er ihn auch nicht erkannt. In der Uniform erkannte er sich selbst nicht einmal.
Für eine Weile herrschte Stille auf dem Gang.
Landis genoss es. Zumindest brauchte er damit nichts zu befürchten.
In all den Jahren, in denen er unterwegs war, hatte er gelernt, immer auf der Hut zu sein. Und das konnte er nicht einmal hier im Palast abstellen.
Plötzlich erklangen noch einmal Schritte.
Landis putzte unverdrossen weiter und hoffte, dass die Person bald vorbei war.
Doch direkt hinter ihm stoppten die Schritte wieder.
Er zwängte den Drang, sich umzusehen, nieder und machte weiter.
„Sieh mal einer an... hat Prinz Svarog einen neuen Stiefelputzer gefunden?“
Landis erstarrte.
Er kannte diese kühle, leicht spöttische Stimme. Es war Frediano.
„Was ist los? So eingeschüchtert vom Kommandanten der Kavallerie?“
Landis schluckte.
Er spürte den Umschwung in der Stimmung des Kommandanten, ohne ihn ansehen oder gar hören zu müssen. „Antworte mir gefälligst!“
Landis schmunzelte. „Warum sollte ich von dir eingeschüchtert sein?“
„Wie kannst du...!? Wer bist du?“
Der Page ließ die Sachen liegen und stand auf. Ganz langsam fuhr er herum und sah dem silberhaarigen Kommandanten lächelnd an. „Hallo, Frediano. Lange her, nicht wahr?“
Fassungslos sah Frediano ihn an. Er rang sichtlich um Fassung, gewann sie schließlich zurück und lächelte. „Hallo, Landis. Ich habe gehört, dass du wieder hier bist. Aber dass du als Svarogs Page arbeitest... wie tief bist du gesunken?“
Landis musste sich sichtlich bemühen, ihm nicht einfach an die Gurgel zu gehen. In Gedanken rief er sich selbst zur Ordnung. Er musste die Ruhe finden, die er brauchte, um kein unnötiges Aufsehen zu erregen.
„Immer noch besser als ein betrügerischer Knilch zu sein, der einem anderen einfach die Freundinnen ausspannt, sie dann heiratet und schlecht behandelt.“
„Ah, ich verstehe. Armer verbitterter Landis.“
Frediano schüttelte seufzend mit dem Kopf. „Du kannst es einfach nicht mitansehen, wenn jemand anderes etwas bekommt, was du haben willst, nicht wahr?“
„Wenn Oriana wenigstens glücklich wäre...“
Der Kommandant schnaubte. „Tut mir Leid, wenn ich jetzt einfach weitergehe, aber ich vergeude ohnehin nur meine Zeit mit dir.“
„Ich habe kein Problem damit.“
Frediano warf den Kopf zurück und ging weiter. Landis sah ihm hinterher. In diesem Moment war er glücklich, dass er keine Waffe dabei hatte. Er war sich sicher, dass er Frediano ansonsten direkt die Kehle durchgeschnitten hätte.
Der Kommandant verschwand schnell und wieder kehrte Ruhe ein.
Seufzend sah Landis auf die Schuhe und Stiefel hinunter, die er noch putzen musste.
Ich hasse diesen Job. Nein, wirklich.
Er setzte sich wieder und machte mit seiner Arbeit weiter.
Oriana hatte noch nie zu Tagträumereien geneigt, aber seit Landis' Rückkehr erwischte sie sich immer wieder dabei, wie sie am Küchentisch saß und sich vorstellte, wie es wohl wäre, wenn sie mit ihm statt mit Frediano verheiratet wäre.
Sie war sich sicher, dass er sie auch noch liebte, zumindest stellte er laut Nolans Aussage jede Menge Fragen über ihre Ehe und hatte dabei dieses verliebte Glitzern in seinen Augen.
Aber Oriana wusste, dass Frediano sie niemals gehen lassen würde.
Erstens würde das seinem Ruf schaden und zweitens würde er damit Landis nachgeben und genau das wollte er nicht.
Sie versuchte, sich nicht zu sehr in ihren Träumereien zu verlieren, aber es passierte dennoch immer wieder. Sogar Milly hatte es bereits mitbekommen und ging deswegen zum Spielen immer zu Richard und Dawn.
Doch Oriana wusste, dass es so nicht ewig weitergehen konnte. Sie musste mit Landis darüber sprechen und möglicherweise ihn sogar darum bitten, die Stadt wieder zu verlassen.
Verzweifelt entfuhr ihr ein Seufzen.
Das konnte sie nicht tun. Schon allein wegen Richard, der sich über die Rückkehr seines Sohns sehr gefreut hatte und immer noch glücklich über seine Anwesenheit war.
Und Milly hing sehr an Dawn, die Landis bestimmt auch mitnehmen würde, wenn er denn überhaupt gehen würde.
Und eigentlich wollte Oriana auch nicht, dass er wieder ging, jetzt wo er endlich wieder da war.
Während sie in Gedanken versunken war, stand plötzlich jemand in ihrer Küche.
„Oriana.“
Erschrocken zuckte sie zusammen und hob den Blick. „Oh... Kenton. Was gibt’s?“
„Niemand hat geöffnet, als ich geklopft habe, aber die Tür war offen. Störe ich?“
„Nein, gar nicht. Setz dich doch.“
Sie deutete auf einen Stuhl. Kenton folgte der Aufforderung. Er erkundigte sich nach ihrem Befinden, Oriana merkte sofort, dass er nur um den heißen Brei herumschlich.
Schließlich seufzte sie. „Komm schon, Kenton. Ich weiß, dass du viel zu tun hast. Du bist bestimmt nicht hier, um Smalltalk mit mir zu halten. Was willst du?“
Der Berater räusperte sich. „Es geht um Landis.“
Es war so klar gewesen.
„Was ist passiert?“
Kenton strich sich nachdenklich über die Schläfen. „Wie soll ich das sagen? Landis stellt ganz schön viele Fragen über dich und Frediano. Der Kommandant wird langsam misstrauisch.“
„Ist das mein Problem?“, fragte sie betont ruhig.
„Es könnte für alle, die Landis mögen, ein Problem werden.“
Ihr fragender Blick veranlasste ihn, weiterzureden: „Der Kommandant möchte Landis wieder aus der Stadt haben, wenn er weiterhin solche Fragen stellt. Er sagt, es ziemt sich nicht, dass er so neugierig ist und dass da etwas dahinterstecken muss.“
Sie seufzte genervt. „Frediano ist ein kleiner paranoider Mistkerl! Und das weißt du genauso gut wie ich. Wenn jemand hinter ihm redet, denkt er sofort, dass jemand einen Mordanschlag auf ihn verüben will. Du musst das wissen, du verbringst noch mehr Zeit mit ihm als ich.“
Kenton überging ihren Einwand. „Ist dir außerdem aufgefallen, dass zeitgleich mit ihm seltsame Leute in die Stadt kamen? Eine arbeitet nun in der Taverne, ein weiterer ist bei uns Koch und ein sehr zwielichtiger Geselle hat sich ebenfalls im Gasthaus einquartiert. Sie alle drei stehen in Verbindung mit Landis – ganz zu schweigen von dieser rothaarigen Frau, die man bevorzugt nachts sehen kann.“
„Und was willst du mir sagen?“
„Ich habe Grund zur Annahme, dass Landis Mitglied bei Sicarius Vita ist.“
Sein Satz raubte Oriana die Luft, die sie gebraucht hätte, um spöttisch aufzulachen, so wie sie es eigentlich wollte. „Das ist doch... ein Witz, oder? Wie kommst du darauf?“
Kenton schien genau diese Reaktion erwartet zu haben. Er schlug die Beine übereinander. „Ich habe mich bei den anderen Städten erkundigt. Landis und diese ganze Bande waren jedesmal kurz vor einem Attentat aufgetaucht und danach wieder verschwunden. Das ist für mich kein Zufall mehr. Außerdem hat jeder Angst vor dieser Organisation, nur er nicht. Nein, er scheint das Interesse daran nur vorzuheucheln oder schnell wieder das Thema zu wechseln.“
„Und was denkst du, wem er etwas antun will?“, fragte Oriana, immer noch zweifelnd.
„Frediano oder dem Prinzen. Oder, wenn er mit den Rebellen zu tun hat, unserer Prinzessin.“
„Wie kommst du jetzt auf die Rebellen?“
Oriana hatte schon immer Probleme damit gehabt, seinen Gedanken zu folgen und so war es auch diesmal, aber Kenton antwortete bereits: „Wir haben überall unsere Spione, auch bei den Rebellen. Und die haben Landis und Aurora bei einer dieser Versammlungen gesehen.“
Sie versank in Schweigen.
Solange sie Kenton kannte, hatte er nie wilde Spekulationen angestellt. Jede Äußerung, die er tat, basierte auf Tatsachen und konnte durch Fakten untermauert werden.
Auch diese Behauptung schien nicht aus der Luft gegriffen zu sein, aber daran glauben wollte sie immer noch nicht.
Kenton schien ihre Gedanken zu erahnen. „Es war auch für mich schwer zu glauben, aber in Anbetracht der Geschichte seiner Mutter -“
„Oh, bitte! Hör endlich auf damit, seine Mutter mit einzubeziehen! Landis ist nicht Asterea! Und außerdem war sie keine schlechte Frau!“
Er seufzte. „Du redest genau wie Nolan.“
„Hast du ihm das etwa auch schon gesagt!?“
„Ja, natürlich.“
Oriana schnaubte. „Wie kannst du nur herumlaufen und Lügen über Landis erzählen!?“
„Es sind nur Vermutungen und wenn du mich fragst, ziemlich stichhaltige. Aber ich hätte mir denken können, dass du mir nicht glaubst. Dir ist es wahrscheinlich egal, ob er ein Mörder ist oder nicht, dich interessiert nur, ob er dich mit sich nimmt, wenn er verschwindet!“
„Raus!“
Ihre Stimme war nur noch ein einziges, kaltes Zischen.
„Ria...“
Sie fuhr so abrupt hoch, dass ihr Stuhl krachend zu Boden fiel. Mit der Hand deutete sie zur Tür. „RAUS!“
Seufzend stand Kenton auf. Er sah Oriana mitleidsvoll an, dann ging er hinaus. Als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, stellte sie den Stuhl wieder aufrecht hin.
Mit heftig klopfendem Herzen dachte sie darüber nach, was er gesagt hatte.
Landis sollte ein Mitglied dieser Organisation sein?
Er sollte für den Tod diverser Menschen verantwortlich sein?
Wie sehr musste er sich verändert haben?
Der Landis von damals hätte das nie gemacht.
Aber vielleicht gab es den Landis von damals nicht mehr.
Allein der Gedanke schmerzte Oriana. So lange hatte sie auf seine Rückkehr gewartet und dann sollte er nur noch sein Aussehen mit seinem früheren Ich gemeinsam haben?
Es durfte nicht sein. Nicht gerade jetzt.
Kenton hatte recht, zum Teil: Oriana war es egal, ob Landis gemordet hatte oder nicht – aber sie konnte niemals mit ihm zusammen sein, wenn er damit weitermachen würde.
Hastig schüttelte sie den Kopf.
So darf ich nicht denken. Es ist noch nichts bewiesen. Und selbst wenn Landis ein Mitglied von denen ist, so heißt es nicht, dass er auch ein Mörder ist. Daran muss ich mich erinnern. Landis...
Sie atmete tief durch. Noch ist es nicht erwiesen, dass Lan zu ihnen gehört.
Ihr Blick wanderte zu dem noch zu spülenden Geschirr.
Sie beschloss, sich darum zu kümmern, um abgelenkt zu werden.
Waschen und putzen half ihr dabei immer.
Kurzentschlossen krempelte sie die Ärmel hoch und begann mit dem Abwasch.
Prinz Svarog hatte das Ergebnis von Landis' Arbeit persönlich und gründlich unter die Lupe genommen und sie schließlich für gut befunden und seinen Pagen für den Rest des Tages entlassen.
Müde und erschöpft, schleppte Landis sich in die Küche, in der Hoffnung, dort noch etwas zu essen zu bekommen.
Da es nicht Zeit für eine Mahlzeit war, befanden sich nicht viele Leute in der Küche. Aber einen von ihnen kannte Landis nur zu gut. „Aidan!“
Der braunhaarige Junge mit den gleichfarbigen Augen, sah von seiner Arbeit auf. „Oh, Lan!“
Landis setzte sich an die Theke, an der Aidan gerade Gemüse schnitt. „Und, hast du dich hier schon eingearbeitet?“
Der Junge nickte. „Oh ja. Ich finde es toll. Es macht richtig Spaß, hier zu arbeiten.“
„Wie geht es deiner Zwillingsschwester?“
„Nadia sagt, es gefällt ihr gut in dem Restaurant und die Kollegen sind sehr nett.“
Landis lächelte. „Das ist gut.“
Aidan stellte ihm ungefragt etwas zu essen hin. „Das ist vom Mittagessen übrig geblieben. Lass es dir schmecken, du kannst es vertragen.“
Der Page bedankte sich lächelnd und begann gierig zu essen.
Man konnte gegen den Palast sagen, was man wollte, aber das Essen schmeckte wirklich ausgezeichnet. Inzwischen bereute Landis es, nicht doch Kavallerist geworden zu sein. Immerhin hätte er das dann jeden Tag essen können.
Als Page bekam er nur die Reste. Und er war sich sicher, dass Frediano bestimmt alle Hebel in Bewegung setzen würde, damit es zukünftig keine Reste mehr geben würde.
Aidan schnitt unterdessen weiter. „Übrigens gibt es schon einige Gerüchte über dich. Sie sagen, du gehörst zu Sicarius Vita.“
„Oh ja?“
Landis schmunzelte, während er weiteraß.
„Und sie sagen, du wärst Mitglied der Rebellen.“
„Aha.“
Aidan beendete das Schneiden und gab das geschnittene Gemüse in eine Schüssel. „Willst du nichts dazu sagen?“
Landis schob den leeren Teller von sich. „Aidan, du musst unbedingt lernen, wie man mit Gerüchten umgeht. Wenn du einem widersprichst, heißt das für alle anderen nur, dass es wahr ist. Bei Gerüchten musst du einfach still sein und wenn du darauf angesprochen wirst, einfach vielsagend lächelnd und gar nichts sagen. Wenn du es verneinst, schürt das nur noch mehr Gerüchte.“
„Verstehe. Also wirst du nichts zu den Gerüchten sagen?“
„Absolut nichts. Und du gefälligst auch nicht. Hast du verstanden?“
Aidan nickte.
Zufrieden lächelnd stand Landis wieder auf. „Mein Kompliment an die Küche. Ich geh mich mal umziehen und dann nach Hause.“
Der Junge nickte noch einmal und sah Landis besorgt hinterher.
Ich hab ein ganz ungutes Gefühl dabei.
„Herein!“
Frediano betrat das Zimmer des Prinzen, schloss die Tür hinter sich und verneigte sich. „Mein Prinz.“
Svarog runzelte seine Stirn. „Was kann ich für Euch tun, Kommandant?“
Frediano stellte sich wieder aufrecht hin. „Mein Prinz, ich wollte wissen, wie zufrieden Ihr mit Eurem neuen Pagen seid.“
„Ihr stellt seltsame Fragen, Kommandant. Liegt es daran, weil Ihr Landis misstraut? Ich habe gehört, dass Ihr bereits Gerüchte geschürt habt. Habt Ihr ihn zumindest endlich getroffen?“
„Oh, vorhin während seiner Arbeit für Euch. Er ist immer noch genau so aufmüpfig wie früher.“
Svarog warf sein Haar zurück. „Ich finde, er ist ein sehr guter Page. Er tut alles, was ich ihm auftrage, ohne zu meckern oder zu jammern. Und er ist immer noch da.“
Frediano schmunzelte. „Ich rate Euch, vorsichtig zu sein, mein Prinz. Ich kenne Landis schon lange und weiß, dass er etwas im Schilde führt.“
„Danke für Eure Fürsorge, Kommandant. Ich möchte Euch nun bitten, mein Zimmer zu verlassen und Gerüchte über meinen Pagen zu unterlassen.“
Der Kommandant verneigte sich erneut, verabschiedete sich und ging wieder hinaus.
Genervt ließ Svarog sich auf seinem Stuhl nieder.
Ich muss darüber nachdenken, was ich gegen diese Gerüchte tun kann. Er ist ein guter Arbeiter und ich will ihn nur ungern deswegen wieder verlieren. Hmm, ich werde da als Prinz einschreiten. Anders geht es wohl nicht.
Er griff nach Pergament, Feder und Tinte und begann einen palastinternen Befehl aufzusetzen.