Bei den Geflügelten
Ich hatte nie gewusst, wie groß so ein Wald sein konnte. Aber die Tage, die ich mit dem kleinen Mädchen verbrachte, um ihn zu durchqueren, kamen mir endlos vor. Und obwohl sie bei mir war, fühlte ich mich einsam. Sie redete nie und zeigte auch so gut wie gar keine Emotionen.
Es war tatsächlich fast so als würde sie gar nicht bei mir sein.
Je tiefer wir in den Wald kamen, desto mehr hatte ich das Gefühl, dass wir im Kreis liefen, obwohl das nicht sein konnte, zumindest sagte mir mein gesunder Menschenverstand das.
Immerhin gingen wir nie um eine Ecke und es gab auch keine Kurven.
Wie konnten wir also im Kreis laufen?
Dawn sah mich emotionslos an, als ich schließlich stehenblieb, um mich genauer umzusehen.
„Wo sind wir nur gelandet?“, murmelte ich, um die Stille zu vertreiben.
Die Vögel waren inzwischen verstummt, auch die anderen alltäglichen Geräusche waren nicht mehr zu hören. Wann waren sie verstummt?
Es war eindeutig, dass etwas nicht stimmte. Ich wusste nur nicht, was. In solchen Dingen war ich immer sehr unaufmerksam gewesen – obwohl meine Mutter versucht hatte, mich gerade auf so etwas zu trimmen. Leider hatte sie es nicht geschafft, sonst hätte mir das sicherlich einiges erspart.
„Dawn, meinst du, wir kommen irgendwohin, wenn wir uns quer durch das Gebüsch schlagen?“
Sie antwortete nicht, aber ich hatte das auch nicht erwartet.
„Gehen wir weiter.“
Bevor wir die kleine Lichtung wieder verließen, markierte ich mit meinem Messer einen der Bäume. Nur um sicherzugehen, dass wir nicht wirklich im Kreis liefen.
Doch nicht lang danach kamen wir wieder an eine Lichtung. Mein Blick suchte sofort den Baum – ich erstarrte. Tatsächlich war die Markierung zu sehen.
„Verdammt. Was soll das?“
Dawn begutachtete inzwischen interessiert das Gebüsch. Ich weiß bis heute nicht, was sie da gesehen hat und in dem Moment war ich zu sehr mit meinen eigenen Gedanken beschäftigt als dass ich mich darum hätte kümmern können.
Was war das nur für ein Wald?
Und wie würden wir hier wieder rauskommen?
Würden wir überhaupt wieder hinauskommen?
Ich war zum Glück immer gut darin, nicht in Panik auszubrechen, egal wie auswegslos eine Situation erschien. Allerdings suhlte ich mich immer gern in Selbstmitleid und den schlimmsten Vorstellungen. Nie wieder würde ich meine Freunde und meine Eltern wiedersehen, nie wieder zurück nach Cherrygrove kommen.
Die Tränen brannten in meinen Augen und machten mich augenblicklich völlig blind. Erst als ich spürte, wie jemand an meinem Ärmel zupfte, riss ich mich wieder zusammen.
Dawn sah zu mir hinauf. In ihrem Blick lag eine unausgesprochene Frage.
Ich schüttelte den Kopf. „Schon okay. Alles in Ordnung. Ich finde hier einen Weg heraus. Versprochen.“
Womöglich war das der Grund, warum uns niemand in den Wald gefolgt war. In der Gegend war dieser Zauber bestimmt bekannt. Aber wie hätte ich das ahnen sollen?
„Na ja, zumindest solange wir nicht im Wald der Geflügelten gelandet sind.“
Eine andere Frage erschien in ihrem Blick. Ich grinste leicht. „Na ja, weißt du, meine Mutter hat mir früher oft Geschichten erzählt. Auch von einer Rasse, die man Geflügelte nennt. Sie sind wie Menschen, nur dass sie eben... Flügel haben. Und sie leben angeblich abgeschottet von allen anderen Menschen in einem Wald in Király. Ich habe das natürlich nie geglaubt... aber wenn ich mich hier so umsehe, kommen mir Zweifel...“
Um sie und mich von unserer Situation abzulenken, erzählte ich ihr mehr darüber. Ich erzählte ihr von der Zeit, als die Geflügelten noch gemeinsam mit den Menschen gelebt hatten. Doch die Ausschreitungen zwischen den beiden Völkern waren immer brutaler und grausamer geworden.
Schließlich hatten sich die Geflügelten entschlossen, sich von den Menschen zurückzuziehen. Sie hatten sich tief in einem Wald ein neues Dorf aufgebaut und als ihr gesamtes Volk sich dorthin zurückgezogen hatten, hatten sie einen Zauber auf den Wald gelegt.
Fortan sollten sich alle Menschen, die sich dorthin verirrten, auf ewig auf den Pfaden herumirren.
Beim letzten Teil der Geschichte wurde ihr Blick wieder besorgt, genau wie meiner.
Möglicherweise hatten wir uns wirklich in eben diesem Wald verlaufen.
Würden wir dann je wieder hinausfinden?
Ich schüttelte heftig meinen Kopf und lachte über mich, als ich mir dieses Gedankens bewusst wurde. Aber das Lachen klang gekünstelt und überzeugte nicht einmal mich selbst.
Dawns Blick war ebenfalls skeptisch geworden. Wenigstens wurde das mit ihren Emotionen endlich was.
„Jetzt schau mich nicht so an. Wir kommen hier schon wieder raus. Ganz sicher. Selbst wenn wir in 'nem menschenfressenden Wald landen. Nicht, dass es so etwas geben würde, versteht sich.“
Ich lachte noch einmal, aber sie dagegen sah eher ängstlich aus.
„Nur keine Sorge, alles wird gut.“
Ich kniete mich neben sie und umarmte sie, um sie zu beruhigen. Ich konnte spüren, wie sie wieder ruhiger wurde, also ließ ich sie wieder los. „Besser jetzt?“
Sie nickte lächelnd.
„Gut, dann lass uns zusehen, wie wir den Weg nach draußen finden.“
Sie nickte noch einmal und nahm meine Hand.
Gemeinsam liefen wir in die andere Richtung weiter. Ich wusste nicht, ob die andere Richtung funktionierte, aber ein Versuch würde bestimmt nicht schaden. Aber warum hatte ich die ganze Zeit das Gefühl, dass ich etwas sehr Wichtiges bei diesem Märchen vergessen hatte?
Wir liefen bis es Abend wurde. Kaum war die Sonne untergegangen, herrschte tiefe Dunkelheit im Wald. Ich beschloss, es für diesen Tag gut sein zu lassen.
Dawn und ich legten uns auf den Boden und waren schon bald vor Erschöpfung eingeschlafen.
Ich erinnerte mich nicht mehr an das, was ich träumte, aber ich erinnerte mich an das laute Geräusch, das mich plötzlich aufweckte, gefolgt von einem starken Schmerz an meinem rechten Arm.
„Au! Was zum...!?“
Als ich meine Augen öffnete, glaubte ich mich in einem Traum. Der Mann, der mich festhielt, hatte lederne Flügel, die aus seinem Rücken wuchsen.
Ein anderer hielt Dawn auf seinen Armen. Das Mädchen sah teilnahmslos zwischen allen Beteiligten hin und her.
„H-hey, können wir das nicht irgendwie anders klären?“, fragte ich. „Ihr müsst mich doch nicht gleich festnehmen und so.“
„Schweig!“
Die Stimme des Geflügelten war tief und kehlig. Ich wunderte mich, ob er immer so sprach oder ob er extra für mich eine Ausnahme machte.
„Du bist unrechtmäßig in unseren Wald eingedrungen und hast einen unserer Bäume verletzt.“
Ich erinnerte mich an den Baum, in den ich die Markierung geritzt hatte.
„Ups. Äh, weißt du, ich habe das nicht absichtlich gemacht. Ich... ich... ich... bin nicht hier aus der Gegend und so, weißt du.“
„Ich sagte, Schweig! Das kannst du unserem Anführer erzählen.“
„Und der wird mir zuhören?“
Der Geflügelte schwieg. Ich hoffte, das hieß so viel wie „Ja“.
Er zog mich mit sich, den Weg hinunter, der uns zuvor immer nur im Kreis herumgeführt hatte. Obwohl ich dasselbe erwartete wie zuvor, eröffnete sich uns ein neuer Anblick.
Staunend blieb ich stehen. Die Bäume ragten hinauf in den Himmel, viel höher als die im Rest des Waldes. Viele hundert Meter über dem Boden klebten Häuser am Stamm, Hängebrücken waren zwischen den Häusern gespannt, Kinder, deren Flügel noch nicht ausgewachsen waren, spielten darauf.
Der Geflügelte, der mich am Arm hielt, ließ mich gewähren. Er war wohl auch in gewissem Maße stolz auf das, was ich da sehen konnte. Doch schließlich zog er mich weiter mit sich, weitaus weniger brutal als zuvor.
Dawn sah sich neugierig um, ihr Blick zeigte das erste Mal so etwas wie Leben.
Entgegen meiner Erwartung, wurden wir nicht zu den Häusern nach oben gebracht. Stattdessen führten die beiden Geflügelten uns zu dem einzigen Gebäude, das auf dem Boden gebaut worden war.
Im Inneren saß ein alter Mann mit weißem Haar, einem langen Bart und geschlossenen Augen. Seine Flügel wirkten verkümmert.
Wenn ich das richtig sah, war die Zeitspanne, in der die Geflügelten ihre Flügel benutzen konnten sehr kurz. Als Kinder und alte Menschen konnten sie offensichtlich nicht fliegen.
„Archont, wir bringen Euch zwei Menschen aus dem Wald.“
Der Geflügelte öffnete seine stahlblauen Augen und musterte uns. Ich lächelte verzweifelt, hoffend, dass man Gnade mit uns walten lassen würde.
„Was sollen wir mit ihnen tun?“
Der Archont schloss seine Augen wieder. „Sie sollen für eine Weile hier bleiben.“
Die beiden Geflügelten sahen ihn überrascht an, genau wie ich selbst.
Normalerweise waren Menschen in diesem Dorf nicht gestattet, was brachte ihn also dazu, gerade uns hier behalten zu wollen?
Die beiden Geflügelten, die uns gefangen genommen hatten, warfen sich verwirrte Blicke zu.
„Habt ihr das verstanden?“, fragte der Archont.
„A-aber weswegen?“
„Das hat euch nicht zu interessieren. Bringt die beiden in ein leeres Haus.“
Die Geflügelten seufzten. „Wie Ihr wollt, Archont.“
Ich atmete erleichtert aus. Wieder wurde ich am Arm gepackt und rausgezerrt, weitaus grober als vorhin.
Ich seufzte innerlich. Wie lange würden wir wohl hierbleiben müssen?
Und was wollte der Archont von uns?
Es gab wohl nur einen Weg, das herauszufinden und das war, abzuwarten.
Die Zeit im Dorf der Geflügelten schien langsamer zu vergehen als irgendwo sonst.
Jedenfalls kam es mir so vor während Dawn und ich dort unsere Zeit verbrachten. Ich weiß nicht, wieviel Zeit es war, es muss mehr als ein Jahr gewesen sein, aber mir kam es nur wie ein Monat vor.
Der Himmel war durch das Blätterdach nicht zu sehen, nicht einmal Sonnenstrahlen drangen herunter.
Die einzigen Lichtquellen waren fluoriszierende Pflanzen an den Bäumen, die ein unheimliches grünes Glühen verbreiteten und die Atmosphäre damit einzigartig machten. Golden leuchtende Käfer umschwirrten das Grün immerzu. Ich habe Stunden damit verbracht, das zu beobachten. Noch nie zuvor hatte ich so etwas Wundervolles gesehen.
Der Geflügelte, der mich gefangengenommen hatte, trug den Namen Lloyd, wie ich schon bald erfuhr. Er beobachtete mich häufig und versuchte auch, mich über alles, was in dem Dorf vorging, aufzuklären.
Die Geflügelten interessierten sich nicht für den Wechsel zwischen Tag und Nacht. Sie brauchten ohnehin weniger Schlaf als Menschen und kümmerten sich deswegen nicht darum, wann sie denn nun zu schlafen hatten. Wer müde war schlief und wer es nicht war, blieb wach, bis er müde wurde.
Da es keine Arbeitseinteilungen wie bei uns gab, war das auch kein Problem.
Im Prinzip war einer der Wächter des Dorfes immer wach, so dass es nie einen Zeitpunkt gab, zu dem das Dorf unbewacht war.
Immer wieder stellte ich mir grinsend vor, wie der Großteil der angehenden Kavalleristen nachts trainierte, da sie tagsüber einfach nur schlafen wollten. So nahtlos und flüssig wie hier würde das aber bestimmt nicht ablaufen.
Als einer der wenigen Geflügelten, der sein Dorf auch verließ, wusste Lloyd, wie es um die Menschenwelt bestellt war und ich war mir ziemlich sicher, dass er sie und alle Menschen – einschließlich mir – abgrundtief hasste. Ich versuchte, mich nicht zu auffällig zu verhalten, um ihn keinen Grund für Misstrauen oder gar Maßnahmen gegen mich zu geben. Aber wie so oft, wirkte ich gerade in der Phase am auffälligsten, was er allerdings auch zu wissen schien und deswegen nichts unternahm, außer mich weiter im Auge zu behalten.
Aber was sein Oberhaupt von Dawn wollte, wusste er ebenfalls nicht.
Die Tatsache, dass auch seine Intelligenz Grenzen hatte, beruhigte mich ein wenig, wenngleich ich nicht sagen konnte, weswegen. Wahrscheinlich war ich nur neidisch auf ihn gewesen.
Ich verschwendete keinen Gedanken an Flucht, aus Furcht, Lloyd könnte meine Gedanken lesen und mich dafür schon bestrafen, obwohl ich sicher war, dass er das eben nicht konnte.
Aber ich beschloss, kein Risiko einzugehen.
Den Wechsel der Wachposten beobachtete ich lediglich aus Neugierde und stellte mir dabei gleichzeitig die Frage, wovor die Geflügelten sich hier zu schützen gedachten.
Doch die Antwort darauf sollte ich früher bekommen als mir lieb war.