Zum Inhalt der Seite

A new Story

Die Geschichte einer Tänzerin~
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

~ Silas Vergangenheit – Teil 2 ~

Als Sila als kleines Baby das Licht der Welt erblickte, nannten die Ärzte sie „Das kleine Wunder“. Silas Mutter war eine warmherzige und anmutige Frau. Jedoch hatte sie so ein schwaches Immunsystem, dass ihr die Ärzte immer wieder prophezeiten, sie wäre nicht in der Lage Kinder zu bekommen. Riah und Jace gaben jedoch nicht auf. Auch nach zwei Fehlgeburten wollten sie die Hoffnung nicht aufgeben. Und dann gebar Riah Kendall ihrem amerikanischen Ehemann eine gesunde Tochter. Die Freude war unerschöpflich. Sila wuchs in einem wohlbehüteten Umfeld auf. Dadurch, dass Riah nicht wieder schwanger wurde, blieb sie ein Einzelkind. Die Eltern erfüllten ihr jeden Wunsch fast augenblicklich. Besonders der Vater war ihr hoffnungslos verfallen. Sila genoss die Aufmerksamkeiten ihrer Eltern und nutze es auch hin und wieder für ihre Wünsche aus. Sie wusste genau wie sie ihren Willen bekommen konnte.
 

Eines Tages begann die Mutter ihr Geschichten vorzulesen. Sie sagte ihr, dass sie daraus sehr viel Gutes für ihr Leben mitnehmen könnte. Sila hörte ihr zwar gerne zu, sie mochte ihre Stimme, aber die Geschichten berührten nie ihr Herz. Dafür war sie zu hochmütig geworden. Gerade als sie neun Jahre alt wurde, bekam sie vor allen geladenen Gästen ein letztes Geburtstagsgeschenk von ihren Eltern. Es war ein kleiner Babystrampler. Verwirrt starrte Sila das kleine Stoffstückchen an und wollte gerne wissen wo sich die Puppe dafür befinden würde. Doch was die Eltern daraufhin mit voller Freude verkündigten, sollte ihr Leben für immer verändern.

„Nein Liebes“, sagte Riah, „Es ist kein neues Kleidungsstück für eine Puppe, sondern für das kleine Geschwisterchen, das du bekommen wirst.“ Die Eltern wurden von allen Freunden und Bekannten hoch umjubelt. Niemand achtete mehr auf das eigentliche Geburtstagskind. Als Sila die Eltern so strahlen sah, brannte sich nur ein Gedanke in ihr Herz: „Sie wollen mich ersetzen!“
 

Bekannte und Freunde, deren sich die verzweifelten Eltern anvertrauten, beteuerten immer wieder, es sei normal, wenn Einzelkinder mit Eifersucht reagieren würden.

„Spätestens wenn das Baby da sein wird, ändert sich alles“, hieß es dann immer. Das Problem war jedoch, dass es bei Sila keine reine Eifersucht mehr war. Es war Hass. Hass auf das ungeborene Wesen im Bauch der Mutter. Sila konnte es nicht ertragen ihre Eltern mit irgendjemanden teilen zu müssen. Niemals hatte sie sich Gedanken darüber gemacht wie sehr sie ihre Eltern damit verletzte. Nachdem alle Versuche missglückten die Eltern zu überzeugen „das Ding“ zu entfernen, griff Sila auf andere Mittel. Es verging kein Tag, an dem Sila den Eltern in reiner Böswilligkeit zu verstehen gab, dass sie das Baby niemals lieben würde und es jetzt schon verabscheue. Die Mutter, die ohnehin schon sehr viel schwächer geworden war als bei Silas Schwangerschaft musste schließlich im Haus, am besten im Bett, bleiben. Der Arzt schüttelte immer nur dem Kopf und warnte Jace, dass er im Fall einer Entscheidung zwischen Kind und Mutter, sich für die Mutter entscheiden würde. Alle hatten Angst. Nicht nur um das ungeborene Leben, sondern auch um die Mutter. Nur Sila trampelte auf den Gefühlen ihrer Eltern herum. Für sie war es ein Eindringling, der ihre Eltern stehen wollte. Doch egal was sie tat, Riah blieb nach außen hin sanftmütig und geduldig mit ihrer Tochter. Sie hatte längst erkannt, dass die Erziehung einen großen Teil zu dem beigetragen hatte, was aus ihrer Tochter geworden war. Hin und wieder machte Jace das Angebot Sila auf ein Internat für talentierte Kinder zu schicken.

„Sila ist sehr kreativ und sie interessiert sich sehr für Musik. Die Privatlehrer haben ihr alles an Wissen beigebracht, was sie braucht, aber sie konnten keine Spielgefährten für sie sein. Sila muss unter Menschen kommen, damit sie lernt auf andere zu achten und nicht so stolz zu sein.“

Aber Riah wollte anfangs nichts davon wissen. Sie konnte den Gedanken nicht ertragen sich von ihrem Kind trennen zu müssen.

„Und wenn es nur für die kurze Zeit ist, in der du schwanger bist“, bat Jace, aber Riah blieb bei ihrer Meinung. Jace machte sich große Sorgen und lebte jeden Tag in Angst seine geliebte Frau zu verlieren. Das Leben hatte es gut mit ihm gemeint. Er leitete eine gute Firma, die auch ins Ausland hin einen guten Ruf genoss. Er war fair zu seinen Angestellten und durfte die wundervollste Frau „sein“ nennen. Als Sila auf die Welt kam, schien alles perfekt zu laufen, bis auf ihre Erziehung. Nun mussten sie bitter die Früchte ernten, die sie von klein auf gesät hatten.
 

Als er eines Tages nach der Arbeit nach hause kam, fand er das Haus still wieder. Er rief nach Riah und nach Sila aber es kam keine Antwort. Erst als er sich im Badezimmer frisch machen wollte, entdeckte er seine Frau ohnmächtig auf dem Boden liegend. Von einer Platzwunde auf der Stirn rann das Blut auf den Boden. Wie war so blass, dass er dachte, jede Hilfe würde bereits zu spät kommen. Aber er konnte noch einen schwachen Puls spüren. Panik überkam ihn, als er sie nicht aufwecken konnte. Schnell trug er sie ins Ehebett und rief dabei die ganze Zeit nach Sila. Es kam keine Antwort. Nachdem er den Notdienst alarmiert hatte, lief er zu Silas Zimmern. Als er die Tür aufriss und Sila so zufrieden mich sich und der Welt vor dem Schreibtisch sitzen sah, stieg eine Wut in ihm hoch, der er nicht gewachsen war. Es war, als wäre all der angestaute Frust von Silas unmöglichem Benehmen auf einmal über ihn gekommen.

„Was ist, Papa? Du hast so laut gebrüllt, dass ich die Musik lauter stellen musste um was zu hören. Wieso kommst du nicht einfach ins Zimmer und sagst mir was du willst?“
 

Sila hatte nicht mitbekommen wie ihre Mutter bewusstlos im Badezimmer wurde. Selbst wenn sie ein Geräusch gehört hätte, wäre es ihr egal gewesen. An diesem Nachmittag hatte die Mutter ihr liebevoll, aber bestimmt gedroht sie in ein Internat zu schicken, wenn sie nicht damit aufhören würde sich so aufzuführen. Beleidigt rannte Sila in ihr Zimmer und machte Musik an.
 

Kaum hatte Sila dem Vater geantwortet, da spürte sie einen harten Griff um ihren Oberarm. Er gab ihr einen starken Ruck, so dass sie vom Stuhl auf dem Teppich landete.

„Hast du nun völlig den Verstand verloren? Denkst du ich schreie hier zum Spaß?“, fuhr er seine eingeschüchterte Tochter an. „Deine Mutter liegt ohnmächtig im Badezimmer und du sitzt hier schmollend im Zimmer und drehst die Musik laut, wenn ich dich um Hilfe rufe?“ Sila verschränkte ihre Arme vor dem Gesicht, als sie sah wie Jace ihr eine Backpfeife verpassen wollte. Aber er besann sich und tat es nicht. Stattdessen riss er die Türen von ihrem Kleiderschrank auf und warf einige Kleidungsstücke auf den Boden und ihr Bett. Wütend befahl er ihr die Kleidungsstücke in ihren kleinen Koffer zu packen, weil sie am gleichen Tag noch ins Internat gebracht werden würde. Dann knallte er die Tür zu und schloss mit dem Schlüssel ab. Sila saß lange Zeit nur stumm auf dem Boden und rieb sich den schmerzenden Arm, den der Vater so hart angefasst hatte. Als sie einen Krankenwagen am Eingang vorfahren sah, stürmte sie ans Fenster. Es dauerte nicht lange, da wurde die Mutter, kreidebleich in einer Trage in das Fahrzeug geschoben. Sila wusste damals noch nicht, dass ihre kleine Schwester zu dem Zeitpunkt bereits tot war. Sie konnte nur ein weißes Lacken sehen, das einige blutige Stellen hatte.
 

Irgendwann am Abend kam eine Bekannte, schloss die Tür auf und lächelte Sila stumm an. Als sie die Kleidungsstücke in wilder Unordnung im Zimmer verstreut fand, nahm sie den kleinen Koffer, der bereits vor dem Bett stand und begann diese in den Koffer zu räumen. Stumm sah Sila ihr zu. Sie wusste genau, dass sie nun in ein Internat gebracht werden würde. Den Vater sah sie noch einmal kurz, aber er blickte sie nicht an. Zu tief saß der Schmerz des Verlustes ihres ungeborenen Kindes.

Sie war keine zwei Tage im Internat, da erhielt sie einen Brief, der nur wenige Zeilen enthielt:
 

„Als deine Mutter im Krankenhaus ankam gab es keine Hilfe mehr für deine kleine Schwester. Hätten die Ärzte nicht die Blutungen stillen können, hättest du nun auch keine Mutter mehr. Bist du jetzt zufrieden? Hast du endlich deinen Willen bekommen?“
 

Ohne es zu wissen, brannten sich die letzten Worte, die sie von ihrem Vater lesen würde in ihr Unterbewusstsein ein. Während bei ihr zuhause eine Trauer herrschte, ließ Sila einen Jubelruf ertönen. Niemand wusste warum die verärgerte und tobende neue Schülerin plötzlich so fröhlich geworden war. Nun gehörten die Eltern wieder ihr.

Doch sie sollte sie niemals wieder sehen.

Einige Monate später erreichte ein Mann das Internat und berichtete:

„Es gab in der Nacht einen schrecklichen Brand. Die Eltern von Sila Kendall sind im Feuer ums Leben gekommen!“
 

*** ** * ** ***
 

Als Skyre ihr die Frage stellte, weshalb Sila mit neun Jahren in ein Internat musste, lichtete sich der Nebel um ihre Erinnerungen wie auf einen Schlag. In wenigen Sekunden erlebte Sila ihr Leben noch einmal vor ihrem inneren Auge. Alles war so klar wie das Wasser des Baches in den Bergen. Sie konnte schon fast die Blumen auf der Wiese hinter ihrem Haus riechen, auf der sie mit der Mutter zusammen Blumengirlanden geflochten hatte. Sie sah die schönen Jahre mit den Eltern und dann kam der Geburtstag. Sie fühlte den abstoßenden Hass, den sie ihrer kleinen ungeborenen Schwester entgegensetzte. Als ihre Erinnerung an den letzten Tag in ihrem Elternhaus wieder kam, sie erneut aus dem Fenster blickte und die Mutter so leblos auf der Trage sah, füllte sich ihr Herz mit tiefer Trauer. Ihre Mutter trug eine kleine Schwester unter ihrem Herzen, aber zu dem Zeitpunkt war diese schon tot und die Mutter nicht weit davon entfernt. Als sie den Jubel fühlte, den die Schreckensnachricht ihres Vaters auslöste, empfand Sila eine bodenlose Leere. Wie konnte sie so blind, so kalt sein? Wie konnte sie sich über die Nachricht freuen, dass ihre Schwester gestorben war? Nun spürte sie nur noch die Schuld! Sie war für den Tod der Schwester verantwortlich und auch für das Leiden der Mutter. In diesem Moment fühle sie tiefe Reue für alles, was sie in ihrem Stolz, ihrem Hochmut zerstört hatte. Aber es war zu spät. Die Schwester war tot und die Eltern waren tot. Sie konnte ihnen noch nicht einmal mehr „Lebe wohl“ sagen.

Der Ballsaal war auf einmal nichts weiter als ein dunkler Raum, erfüllt mit Kälte. Das Kleid, das ihr noch vor wenigen Minuten so eine Freude gemacht hatte, war vergessen. Auch Skyre hörte sie nicht mehr. Sie wollte nur noch aufwachen aus diesem schrecklichen Alptraum.
 

Gestalten kamen auf sie zu, riefen nach ihr. Sie drehte sich um und wollte fliehen, aber ihre Beine fühlten sich taub an. Erst eine leise Stimme ließ sie aufhorchen. Jemand griff nach ihr und schlang die Arme um sie. Dann wurde der dunkle Raum nach und nach heller, wärmer. Sie hörte nun die bekannte Stimme ihres Bruders. Wie oft hörte sie ihn in ihren Alpträumen? Wie oft konnte er sie beruhigen und in einen langen, traumlosen Schlaf hüllen? Sie fühlte seinen gleichmäßigen Herzschlag, spürte den warmen Körper, fühlte seine Hand auf ihrem Haar und hörte seine ruhige Stimme. Sila hob die Augen auf und sah Kiso. Er klagte sie nicht an, er schrie sie nicht an, er gab ihr nur Sicherheit. Sie wollte sich dem Drang hingeben in die Dunkelheit zurück zu fliehen, aber irgendetwas hielt sie davon ab.

'Lass es raus', hörte sie in ihrem Herzen, 'Lass es raus und du wirst Frieden finden.' Sila bemühte sich etwas zu sagen, aber ihre Worte hörten sich so taub an. Doch dann beugte sich Kiso vor und sie fing erneut an. Es dauerte ziemlich lange, aber sie konnte in knappen Sätzen alles erzählen, was Kiso wissen musste. 'Lass es raus', hallte es in ihren Gedanken wieder. Kiso hielt sie fest, bis sie nicht mehr zitterte und ihre Schultern nicht mehr bebten. Auch die Tränen wurden weniger.

„Du hast getrauert, Liebes. All die Jahre hast du es bereut und bedauert.“ Kisos Stimme klang sanft. Sila blickte ihm in die Augen. Eine Träne rann die Wange hinunter.

„Erinnerst du dich an deine Fieberanfälle? Als du so lange im Bett gelegen hast?“

Ja, sie erinnerte sich gut daran. Tagelang hatte sie dann geschlafen.

„Da hattest du die gleichen Attacken wie jetzt. Manchmal hast du stundenlang geweint. Mutter und Vater hatten irgendwann keine Kraft mehr dir das zu erzählen. Du hast dich nachher nie daran erinnert.“

Silas Augen wurden groß. „Ich habe mich nicht daran erinnert? Wie kann es sein?“

„Die Ärzte vermuteten, dass die Erinnerungen so schmerzhaft waren, dass dein Körper entschieden hatte dich davon lieber fern zu halten.“

Sila runzelte die Stirn. Sie sah wie Kiso aufstand. Er reichte ihr die Hand und hob sie vorsichtig auf die Beine. Silas Augen brannten, ihre Kehle fühlte sich wie Staub an und das Gesicht glühte. Aber sie weinte nun nicht mehr und sie fühlte sich, als wäre sie der Dunkelheit, die so lange für sie so viel besser erschien als das Licht, entkommen. Ihr Herz schmerzte und Schuldgefühle nagten an ihr, aber trotz allem fühlte sie sich freier. Unbeschreiblich frei. Jetzt erst sah sie die großen Fenster des Ballsaals. Sie trug ein wunderschönes Kleid in ihren Lieblingsfarben und Schuhe, die sie niemals zuvor gesehen hatte. Eine Schwäche überkam sie und sie wäre wieder auf den Boden gefallen, wenn Kiso sie nicht aufgefangen hätte und sie zu einem Stuhl geführt hätte. Für kurze Zeit verschwamm der ganze Raum vor ihren Augen und alles schien wieder dunkel zu werden. Aber dann sah sie etwas vor ihren Augen funkeln. Sie blinzelte und sah wie Philphlader ihr ein Glas mit Wasser reichte. Sie hatte rote Augen und sah auch etwas blass aus. Doch das Lächeln ihrer Freundin baute Sila etwas auf.

„Danke Imôto“, flüsterte sie und leerte durstig das Glas. Jemand anders kam näher und sie sah Skyre neben Kiso stehen. Sila seufzte:

„Entschuldigt bitte … Ich … weiß nicht was in mich gefahren war.“ Jetzt sah sie zu Skyre ins Gesicht. „Du hast mir so eine schöne Überraschung gemacht und ich habe mich aufgeführt wie jemand, der in die Anstalt gehört.“

Sie stellte das Glas auf den Boden und vergrub ihr Gesicht in ihren Hände. „Ich hätte damals auch im Feuer sterben sollen. Ich verdiene es nicht zu leben!“

„Vielleicht solltest du weniger Selbstmitleid haben und stattdessen mehr Dankbarkeit für deine zweite Chance zeigen?“ Kiso und Philphlader drehten sich verwundert zu Skyre um. Er beachtete sie aber nicht weiter und ging geradewegs auf Sila zu. Erinnerst du dich noch was du zu mir gesagt hast, als ich mit meiner Identität zu kämpfen hatte?“

Sila schluchzte noch ein paar mal, dann hob sie ihren Kopf und wischte sich die Tränen von der Wange. Skyre ging ganz ruhig zu seiner Sporttasche und nahm eine Packung Taschentücher heraus. Dann kam er wieder zu ihr, hockte sich vor sie hin und reichte ihr ein Taschentuch. „Hier, nimm. Es wird dir gut tun.“

Sila nahm das Taschentuch und schnäuzte sich ausgiebig die Nase. Dann atmete sie tief durch und wollte wissen: „Was habe ich dir denn gesagt?“

„Du sagtest mir, dass du wüsstest wer der echte Sky wäre. Woran hast du das aus gemacht, Sila?“

Sila brauchte nicht zu überlegen: „An dem Leuchten in deinen Augen.“ Ihre Mundwinkel zogen sich leicht nach oben. „Deine Augen leuchten immer so wenn du tanzt oder wenn du ein Lied summst.“ Ein Anflug von einem Lächeln erhellte ihr gerötetes Gesicht. „Und als du mir das traurige Lied gesungen hast, da haben deine Augen auch geleuchtet...“

„Siehst du? Was glaubst du warum du so treue und liebe Freunde hast? Warum deine Zieheltern sich so um dich kümmern, oder dein Bruder jedem die Knochen brechen würde, der dir auch nur unerlaubterweise zu nahe kommen würde?“ Kiso schmunzelte bei der Anspielung mit den Knochen. Auch Sila ließ ein Lächeln sehen. „Ich weiß es nicht...“ Skyre nahm ihre Hand und führte sie an ihr Herz. „Du bist liebens- und lebenswert. Leider hast du zu deiner Vergangenheit auch selbst beigetragen, aber heute bist du nicht mehr das Mädchen, das nur an sich gedacht hat. Heute bist du Sila Diamon und solltest dankbar sein, dass du aus deinen Fehlern lernen konntest.“

In dem Raum herrschte Stille. Sila fing nicht wieder an zu weinen, sie sah nur eine lange Zeit auf ihre Hände. Dann nickte sie leicht, blickte Skyre an und flüsterte: „Ich habe dich nicht umsonst den tanzenden Poeten genannt... Danke.“
 

Seit ihrem Zusammenbruch waren mehrere Stunden vergangen. Draußen war es bereits dunkel. Sila bat ins Apartment zurück begleitet zu werden, aber Kiso ließ sie erst gar nicht ausreden.

„Unter keinen Umständen lassen wir dich heute Nacht alleine, Sis. Du kommst zu uns!“

„Ja bitte Neechan. Du kannst in unserem Gästezimmer schlafen. Was ist, wenn es dir wieder schlechter geht?“, sorgte sich Philphlader.

Sila wollte widersprechen, aber sie hatte keine Wahl. Mit Kiso konnte man sich schlecht anlegen. Er war einfach stärker. Beim Gehen stützte Kiso seine Schwester, aber schon in der Lobby schüttelte Skyre den Kopf.

„Lasst mich wenigstens ein Taxi für euch bestellen. Es ist zwar nicht weit weg, aber Sila ist momentan nicht in der Verfassung zu laufen. Du bist zwar stark, Kiso, aber sie den Weg zu tragen ist auch nicht drin.“ Der Vorschlag wurde gerne angenommen. Obwohl die Tage warm waren, kühlte es in der Nacht doch spürbar ab. Skyre zog sein Sportoberteil aus der Trainingstasche und bedeckte Sila, die in ihrem neuen Kleid leicht zitterte. Ein dankbarer Blick war alles, was sie ihm dafür geben konnte. Sila war müde. Sie fühlte sich ausgebrannt und wollte nur noch ins Bett und schlafen. Sie merkte kaum noch wie sie in das Taxi kam oder in ihr Bett. Sie fühlte nur eine warme Decke, die um ihren Körper geschlungen wurde. Ihm Halbschlaf sah sie Philphlader leise das Zimmer verlassen. Dann schlummerte sie ein.
 

*** ** * ** ***
 

Als sie wach wurde, befand sie sich wieder im Dunkeln. Sofort roch sie den beißenden Rauch. Insgeheim wusste sie wo sie war. Schon sah sie das Gebäude, von dem das Feuer ausging. Als sie an die Gestalten dachte, die sie Traum für Traum quälten, fiel sie zu Boden. Es brach ihr erneut das Herz als sie sich erinnerte wie sie ihre kleine Schwester gehasst hatte. Sie wusste, dass der Mann sie bald schon anschreien würde und sie zwingen würde die Frau anzusehen. Als sie an der Schulter berührt wurde, zuckte sie zusammen. Doch nichts geschah. Verwundert sah Sila auf. Wo waren die beiden Schreckensgestalten, die in den Nächten immer wieder ihr Unwesen trieben? Sila sah nur das Feuer vor ihr. Dann spürte sie die Anwesenheit jener Gestalt, die sie bereits beobachtet hatte. Als sie sich darauf konzentriere sah sie weder einen Mann noch eine Frau. Aber die Silhouette deutete ihr an sich hinzustellen und mit zu gehen. Sila wollte nicht ins Feuer, sie wollte sich wehren. Aber als die Gestalt von ihr weggehen wollte, in das Feuer hinein, da lief sie hinterher. Kaum war sie einige Meter weiter gelaufen, da erlosch das Feuer und sie stand vor ihrem alten Internatsgebäude. Völlig verblüfft starrte sie das Gebäude an. Es sah genau so aus wie in ihren Erinnerungen. Die Gestalt vor ihr ging durch die Eingangstür. Sie folgte und sah jede Menge Kinder in den Klassenräumen sitzen. Plötzlich war die Gestalt verschwunden. Sie suchte es, konnte es aber nicht mehr finden. Da stand sie nun in diesem Flur und blickte durch die Glastür in die Klasse. Plötzlich erschrak sie. Was war denn das? War sie tot oder warum sah sie sich selbst mitten in der Klasse, zwischen den Schülern sitzen? Dann bemerkte sie wie eine Dame eilig den Flur entlang ging. Sila hatte keine Angst gesehen zu werden. Sie wusste, dass sie gar nicht dort sein durfte. Die Dame öffnete hastig die Tür und rief Sila Kendall ihr zu folgen. Die kleine Sila erhob sich stumm von ihrem Platz und ging der Dame hinterher. Sila folgte den beiden durch den Flur zu einem Platz, an dem ein Telefon auf einem Tischchen stand.

„Deine Mutter ist am Telefon“, sagte die Dame zu der Kleinen. „Es scheint wichtig zu sein. Wenn du fertig bist, gehst du wieder in deine Klasse, hast du verstanden?“

Die Kleine nickte kurz und führte den Hörer ans Ohr.
 

„Es tut so gut deine Stimme zu hören, Liebes“, hörte sie die vertraute und sanfte Stimme ihrer Mutter sagen. „Ich weiß, dass du böse bist, weil wir dich ins Internat geschickt haben. Vielleicht denkst du jetzt endgültig, dass wir dich nicht mehr lieben. Aber so ist es nicht. Dein Vater war sehr wütend auf dich. Aber er tat es aus Angst um mich und um deine kleine Schwester. Ich weiß, dass er sich bei dir Entschuldigen wird und dass es ihm von Herzen leid tut, wie er dich behandelt hat. Weißt du? Er brauchte nur etwas Zeit das ganze zu verarbeiten. Ich auch...“ Die Stimme brach ab. Riah sammelte sich aber schnell wieder und sprach ruhig weiter: „Aber jetzt ist alles wieder gut. Bitte komm nach Hause, Sila. Ich vermisse dich schmerzlich.“

Als Sila schon dachte, dass die Mutter fertig war und sich gerade verabschieden wollte, hielt Riah sie auf. „Es gibt noch etwas, dass ich dir sagen muss. Vielleicht machst du dir Vorwürfe, aber du bist nicht schuld am Tod deiner Schwester. Mir ging es nicht gut, deswegen bin ich aufgestanden und ins Badezimmer gegangen. Dann habe ich das Gleichgewicht verloren und bin im Krankenhaus aufgewacht, als alles schon zu spät war. Was ich dir jetzt sage, ist sehr wichtig! Es lief nicht alles so wie wir uns das vorgestellt hatten, aber egal was war, du warst nicht schuld an dem Tod! Du wirst einen Brief erhalten. Darin habe ich dir alle Einzelheiten aufgeschrieben. Vielleicht bist du noch zu klein um jetzt schon alles zu begreifen, aber falls du jemals an der Wahrheit zweifeln solltest, dann musst du diesen Brief lesen. Versprich es mir!“
 

Dann schien die Welt stehen zu bleiben. Silas Augen füllten sich mit Tränen als sie sich selbst so klein und schuldbeladen mit dem Telefonhörer in dem Flur stehen sah. Sie hatte so viel kaputt gemacht, so viel Hass verteilt, aber ihre Mutter hatte ihr vergeben. Diese Erinnerung hatte sie auch völlig vergessen.
 

*** ** * ** ***
 

Als Sila erwachte, wusste sie zuerst nicht wo sie sich befand. Dann erkannte sie das Gästezimmer von Kiso und Philphlader. Sie richtete sich auf.

'Das war ein komischer Traum'. Sie atmete ruhig ein und überlegte, wann sie das letzte mal nicht schreiend und schweißnass aus einem Traum erwacht war. Sie konnte sich nicht erinnern. Es war das erste mal seit langer, langer Zeit, dass sie wieder normal geträumt hatte. Oder auch nicht. Der Traum fühlte sich viel realer an als andere Träume.

'Der Brief!', fiel Sila wieder ein. 'Was ist mit dem Brief von Mutter geschehen?' Sie erinnerte sich nun, dass der Anruf ihrer Mutter nur wenige Tage vor der Todesnachricht war. Plötzlich erinnerte sie sich wieder. Als sie wie im Traum ihre Sachen gepackt hatte, weil sie die Eltern identifizieren musste, lag ein Brief auf ihrem Bett. Sie hatte ihn in den kleinen Koffer gelegt, den sie seit dem zwar überall hin mitgenommen hatte, aber niemals wieder geöffnet hatte. Sie musste zu dem Brief!
 

Doch wie konnte sie unbemerkt das Apartment verlassen? Wenn Kiso merken würde, dass sie nicht da wäre, gäbe es ziemlich viel Ärger. Als sie in die Richtung der Tür ging, schien der Mond durch die Fenster und sie sah nun, dass die Tür offen stand. Leise schlich sie in das Wohnzimmer. Gerade als sie an dem Schlafzimmer ihres Bruder vorbei wollte, sah sie, dass auch deren Tür offen stand. Das war die Gelegenheit, stellte sie fest. Sie schlich auf Zehnspitzen an Kisos Seite und hoffte sie könnte ihn aufwecken, bevor Philphlader auch aufwachen würde. Sie flüsterte seinen Namen. Nichts. Sie zuppelte an seinem Pyjama. Kein Ton. Sie schüttelte ihn leicht. Keine Regung. Aus Frust hielt sie ihm die Nase zu. Das half. Er wetzte sich plötzlich auf ihre Seite und starrte sie ungläubig an.

„Sila?“ Dann war er auf einen Schlag wach: „Was ist passiert? Geht es dir nicht gut?“

„Sei bitte leise! Lass Imôto bitte schlafen. Komm raus!“

Sie schlich wieder leise aus dem Zimmer raus, dicht gefolgt von ihrem Bruder. Als die Tür zum Schlafzimmer zu war, verlor Sila keine Zeit.

„Ich muss den Brief haben!“

„Was? Welchen Brief?“

„Meine Mutter hat mir kurz vor ihrem Tod einen Brief geschrieben. Diesen Brief muss ich haben! Jetzt auf der Stelle! Es hängt alles daran!“

Kiso fragte sich zum ersten Mal in seinem Leben ob seine Schwester schlafwandeln würde. Als Sila sah, dass er sie nicht für voll nahm, kniff sie ihn in den Arm. „Hör auf mich anzusehen als wäre ich verrückt. Ein bisschen überfordert mit jahrelangen verdrängten Erinnerungen, aber ich bin klar im Kopf! Ich brauche den Brief, Kiso! Er ist in meinem Apartment.“

„Mitten in der Nacht?“

„Ja! Kommst du jetzt mit oder muss ich alleine gehen?“

Nun war Kiso wirklich wach: „Du willst tatsächlich ins Apartment um einen Brief zu holen?“

Silas Entschlossenheit zeigte, dass er keine Wahl hatte, wenn er sie nicht alleine auf die Straße lassen wollte. „Also gut. Zieh dich an, wir gehen.“
 

Als er fertig angezogen aus dem Badezimmer kam, stand Sila schon ausgehbereit vor der Eingangstür.

„Beeil dich doch!“

„Wenn dein Brief in deinem Apartment ist, wird er schon nicht weglaufen oder gestohlen werden!“

Kiso war ein echter Morgenmuffel und auch wenn er sich Mühe gab nicht zu mürrisch zu wirken, so mochte er es gar nicht aus seinem Tiefschlaf aufgeweckt zu werden. Sila schmunzelte etwas, als er sich müde die Augen rieb. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass es erst drei Uhr morgens war. Fast hatte sie Mitleid mit ihm, aber weil er sie ja geradezu gezwungen hatte bei ihnen zu übernachten, fand sie es als fairen Ausgleich. Draußen wollte Kiso gerade ein Taxi rufen, als Sila ihn bat, das Handy wegzulegen. Sie fühlte sich fit genug den kurzen Weg zum Apartment zu Fuß zurückzulegen. Kiso gab sich geschlagen. Die Energie seiner Schwester wunderte ihn sehr. Die Augen waren zwar noch vom vielen Weinen geschwollen, aber der Ehrgeiz funkelte in den Augen wider. Sila nutze die Zeit um Kiso zu erzählen warum ihr der Brief der Mutter so wichtig war. Sofort verstand er warum sie so gedrängt hatte. In das Frauenapartment durfte Kiso nicht hinein gehen. Er brauchte aber auch nicht lange draußen zu warten, denn Sila war schneller zurück als er gedacht hatte.

„Hast du ihn gefunden?“, fragte er vorsichtig, weil sie so schnell wieder bei ihm war.

Als Antwort hob sie den Brief vor sein Gesicht. Im schwachen Schein der Laterne konnte er die Anschriften auf dem Umschlag und die Briefmarke erkennen. Auch sah er, dass der Brief noch völlig ungeöffnet war.

„Du hast ihn nicht aufgemacht?“

Sila schüttelte den Kopf. Er gehörte zu dem Teil ihrer Vergangenheit, den sie unterbewusst vergessen hatte. Sie wollte den Brief erst in ihrem Zimmer bei den Diamon's öffnen um ihn in Ruhe lesen zu können.
 

*** ** * ** ***
 

Gerade als sich Kiso und Philphlader an den Küchentisch zum Frühstücken setzen wollten, klingelte es an der Tür. Verwundert stand Kiso auf um nachzusehen wer um diese Zeit zu ihnen wollte. Mit einem Lächeln sah Philphlader wie ein leicht verlegener Skyre den Flur betrat. Sofort stand sie auf, um ein weiteres Gedeck auf den Tisch zu stellen.

„Komm nur herein, aber sei nicht so laut. Sila schläft noch“, hörte sie ihren Mann sagen. Die Tür in der Küche wurde geschlossen und das Frühstück eröffnet. Skyre wollte zwar nichts annehmen, weil er unangemeldet vorbei gekommen war, aber Philphlader nötigte ihn herzlich reinzuhauen.

„Isst du in deinem Junggesellenapartment überhaupt ordentlich?“ Ein prüfender Blick zeigte ihr, dass Skyre anscheinend genau so hausen würde wie es Kiso tat, bevor sie geheiratet hatten. Kiso grinste Skyre in vollem Verständnis an:

„Eine Frau, die den Haushalt zu schmeißen versteht ist ein Segen. Merk es dir Kumpel.“

Nun griff Skyre auch zu. Nach dem Essen stand Kiso auf, um den Tisch abzuräumen. Philphlader verließ die Küche, um sich die Sachen für ihr Examen zusammen zu suchen.

„Wird sie das Examen schreiben können?“, fragte Skyre besorgt, nachdem er mitgeholfen hatte den Tisch abzuräumen und Kiso wieder am Tisch gegenüber saß.

„Ja, ich denke schon. In solchen Dingen ist sie sehr gewissenhaft. Sila hatte mich heute Nacht geweckt. Anata hat gesagt, dass sie nichts davon mitbekommen hat. So konnte sie sich wenigstens ausschlafen.“ Wie aufs Stichwort gähnte Kiso erst einmal ausgiebig. Skyre erkundigte sich wie es Sila ginge und warum sie ihn Nachts geweckt hätte. Kiso erzählte ihm knapp von dem Brief:

„Sie hat sich sofort zurückgezogen um den Brief zu lesen. Danach habe ich sie noch weinen gehört. Ich blieb so lange wach, bis ich nichts mehr im Zimmer hören konnte. Okay,“ fügte er grinsend hinzu, „Ich gestehe ich bin auf dem Sofa eingeschlafen. Als ich aufwachte, hörte ich keinen Mucks mehr in ihrem Zimmer. Als ich die Tür aufgemacht habe, lag sie im Bett und hielt den Brief umarmt.“

Es entstand eine Stille, bis Kiso sich zurücklehnte und zufrieden sagte: „Ich glaube der Heilungsprozess hat eingesetzt. Ich bin froh, dass sie sich wieder an den Brief erinnern konnte.“
 

Ende Kapitel 27:

~ Silas Vergangenheit - Teil 2 ~



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück