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Feuervogel

Ein Junge und sein Benu gegen den Rest der Welt
von

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Wer mit dem Feuer spielt

Mit wachsender Erregung hatte Seth die von Merenseth abgefassten Berichte der Überlebenden gelesen. Obwohl sich Merenseth beim Schreiben auf Tatsachen beschränkt, alles Emotionalisierende weggelassen hatte, riefen die Schilderungen unweigerlich Seths eigene Erinnerungen wach, beschworen wieder die Gefühle von Hilflosigkeit, Angst und Wut herauf, ließen den Wunsch Rache zu üben auflodern, wie damals die Flammen, in denen seine Mutter und Meni gestorben waren.
 

In keinem der Berichte fand sich ein Hinweis darauf, dass Karim gesehen worden war. Stattdessen hatte Merenseth mehrmals die genaue Beschreibung eines Mannes festgehalten, die hervorragend auf denjenigen zutraf, der Merenseth in der Nacht des Brandes getötet hatte, dem sie vor drei Jahren unerwartet wieder begegnet waren und dessen Spur sie bald darauf wieder verloren hatten. Seth nahm an, dass auch seinem Benu diese Tatsache nur zu bewusst war, sonst wäre sie wohl kaum so ins Detail gegangen.
 

Plötzlich schlangen sich zwei Arme von hinten um seinen Hals, drückte sich ein wohlgeformter Frauenkörper an seinen Rücken, viel eine Strähne nachtschwarzen, duftenden Haares nach vorn und streichelte über seine Wange, roch er den Duft sorgsam parfümierter Haut, spürte den sanften Atem an seinem Ohr als Meresankh mit einer noch vom Schlaf dunklen Stimme fragte: „Was liest du?“

„Nichts“ lautete die knappe, abweisende Erwiderung Seths, während er das gerade gelesene Papyrus fast hastig zusammenrollte. Es war ihm unangenehm, dass Meresankh ihn in einem Moment überrumpelt hatte, als er nicht mehr daran gedacht hatte, dass er nicht allein in seinem Zimmer war, seine Wachsamkeit und Vorsicht fallen gelassen hatte, sich schutzlos und ausgeliefert vorkam. Er wollte nicht, dass sie ihn so sah, verletzlich, wollte nicht, dass sie ihn für schwach hielt oder ihn am Ende vielleicht noch bemitleidete. So tat er das Einzige, was ihm in diesem Augenblick angemessen schien: Er stieß sie vor den Kopf, um sein Innerstes in Sicherheit zu bringen, um stark und unangreifbar zu erscheinen.
 

Meresankh hatte das Gefühl, als wäre ihr mit der knappen Antwort des jungen Priesters eine Tür vor der Nase zugeschlagen worden. Sie hatte jedoch nicht vor, so leicht aufzugeben, denn nun war ihre Neugier geweckt. Wenn er derart abweisend auf eine einfache Frage reagierte, mussten diese Papyri etwas enthalten, das für Karim und damit auch für den Tjt von Bedeutung war. „Komm ins Bett“, lockte sie sanft und leise, sicher dass er zugänglicher wäre, nachdem sie mit einander geschlafen hätten. Seth schaute jedoch nur flüchtig aus dem Fenster, erhob sich dann von seinem Stuhl, Meresankh auf diese Weise zwingend ihn los zu lassen und zurückzutreten, während er bestimmt erwiderte: „Nicht jetzt. Wir sehen uns später.“ Damit raffte er die auf dem Tisch liegenden Papyri zusammen und war im nächsten Moment auch schon ohne weiteres Wort aus dem Zimmer verschwunden. Eine ungläubig die geschlossene Tür anstarrende Meresankh zurücklassend. Er war genau wie Akunadin. Hatte er bekommen was er wollte, ließ er sie links liegen und wechselte in den Unantastbarkeitsmodus, gesteuert von unbestechlicher Vernunft. In diesem Moment wusste sie nicht, welchen der beiden Männer sie mehr verabscheute.
 

Zielstrebig lief Seth zu den Gemächern des Kronprinzen, wo er den vor der Tür wartenden Diener ignorierend, hart gegen die Tür pochte und, als er darauf keine Reaktion erhielt, kurzerhand versuchte ungebeten die Tür zu öffnen. Dabei stieß er allerdings unerwartet auf den Widerstand des Bediensteten, der ihm zunächst noch höflich versuchte klar zu machen, dass seine Hoheit im Augenblick nicht zu sprechen sei. Als sich jedoch der Priester von seinem Vorhaben den Kronprinzen sehen zu wollen, durchaus nicht abbringen ließ, sondern nur herrisch verlangte, der Diener solle ihm nicht im Weg stehen, er habe es eilig, wurde dieser energischer und immer weniger höflich im Beharren auf seiner Ansicht. Die verbissene Diskussion zwischen Priester und Diener fand ihr abruptes Ende, als sich plötzlich die Tür öffnete und ein recht zerzaust aussehender, ungeschminkter Atemu im Türrahmen stand, der missmutig und verschlafen zu wissen verlangte: „Was ist hier los?“

„Hoheit“, stammelte der Diener blass geworden, nachdem er sich hastig herumgedreht und zu Boden geworfen hatte. Weiter kam er jedoch nicht mit dem Versuch eine Erklärung und Entschuldigung zu formulieren, denn Seth erklärte statt seiner knapp: „Ich muss dich sprechen“, dabei bereits über den noch immer am Boden knienden Diener hinwegsteigend und an dem verblüfft dastehenden Kronprinzen vorbei das Zimmer betretend. Noch immer mehr als nur irritiert, schloss Atemu schließlich die Tür zu seinem Zimmer, etwas das für gewöhnlich irgendein beflissener Diener für ihn tat, und sah Seth fragend an.

„Ich habe die Berichte von Überlebenden erhalten, keiner von ihnen hat Karim gesehen.“ Mit einem Schlag hellwach, hatte Atemu den Worten Seths gelauscht und stellte überrascht fest: „Dein Bote ist schon zurück?!“

„War. Im Moment prüft sie, ob Sened die Wahrheit gesagt hat.“

„Dein Bote ist eine Frau?“, auf die fassungslos gestellte Frage erhielt der Prinz nur einen derart zurechtweisenden Blick, dass er sich verlegen räusperte und eilig zum eigentlichen Thema zurückkam. „Dann ist Karim also tatsächlich unschuldig. Sind das die Berichte, die du erhalten hast?“ Auf Seths knappes Nicken hin, ergänzte Atemu: „Wenn in keinem der Berichte steht, dass Karim während des Überfalls im Dorf war, brauchen wir den Bericht über Sened nicht mehr. Ich werde zu Vater gehen und ihm die Papyri zeigen, dann muss er Karim begnadigen.“

„Wir sollten die Texte kopieren“ erwiderte Seth ruhig und erklärte auf den erstaunten Blick des Prinzen: „Jemand hat sich viel Mühe gemacht, Karim als den Schuldigen erscheinen zu lassen. Wenn es dieser Person gelingt unbemerkt in den Harem einzudringen und eine Kette zu stehlen, dann wird er auch dafür Sorge tragen, dass Papyri, die seine Pläne stören, verschwinden.“ Atemu gab ein zustimmendes Geräusch von sich, zugleich nickend. „Vielleicht sollten, wir dafür sorgen, dass bestimmte Personen vor Vater von den Berichten erfahren. Wenn wir beweisen können, dass einer von ihnen versucht die Papyri zu vernichten, dürften wir auch denjenigen haben, der versucht Karim zu vernichten.“ Dieses Mal war es an Seth zustimmend zu nicken. „Es gibt jemanden, der an den Berichten sicher sehr interessiert sein dürfte“, spann er den Gedanken des Kronprinzen in trockenem Tonfall fort.

„Gut. Dann wirst du dich darum kümmern, dass dieser Jemand davon erfährt, dass die Papyri in meinen Zimmern verwahrt werden. Ich werde unterdessen dafür sorgen, dass ein Schreiber Kopien anfertigt und dann die Originale in Sicherheit bringen.“

„Was ist mit dem Schreiber, kann man ihm trauen?“ Obwohl Atemu in diesem Moment dachte, dass der Priester mit seinem Misstrauen ein wenig übertrieb, erwiderte er lediglich beruhigend: „Er kann nicht sprechen und er wird nicht erfahren, was mit den Texten, die er kopiert hat, geschieht.“ Zufrieden mit dieser Antwort stimmte Seth mit einem Nicken dem Vorgehen zu, reichte dem Prinzen die mitgebrachten Papyri, verbeugte sich und verließ gleich darauf den Prinzen, um seine Pflichten als Priesterschüler zu erledigen.
 

Im Tempel wurde Seth bereits ungeduldig von Sechemib erwartet, der ihn mit den Worten begrüßte: „Da bist du ja endlich. Du solltest deine Pflichten als Diener Amuns ernster nehmen, wenn du es eines Tages zu etwas bringen willst.“ Er ließ Seth keine Möglichkeit darauf zu antworten, sondern drehte sich nur mit der kurzen Aufforderung um, Seth solle ihm folgen.
 

In einem kleinen Nebenraum der weitläufigen Tempelanlage, in dem die Priester an Festtagen die Schreine der Götter vorbereiteten, bevor diese durch die Menge der Gläubigen getragen wurden, wurden Sechemib und Seth bereits von acht weiteren Priesterschülern erwartet, deren leise geführte Unterhaltungen sofort abbrachen, als sie ihren Lehrer bemerkten. Ohne sich lange mit einer Begrüßung aufzuhalten, erklärte Sechemib, sobald er sich der allgemeinen Aufmerksamkeit sicher war: „Da euch nach dem Willen des Tjt die Ehre zukommt, während der Eröffnung des Opetfestes als Reinigungspriester die Prozession anzuführen, wurde ich beauftragt dafür zu sorgen, dass ihr Amun an diesem Tag keine Schande bereitet.“ Auf diese Ankündigung erhob sich trotz der Ehrfurcht vor dem Priesterlehrer leises Gemurmel, als der Großteil der Anwesenden zum ersten Mal zu hören bekam, welches Amt ihnen übertragen worden war. Es hatte zuvor bereits Spekulationen darüber gegeben, warum sie zusammengerufen worden waren, dennoch sorgte die ausgesprochene Tatsache für Aufregung. Es genügte jedoch eine Mahnung Sechemibs und die Priesterschüler schwiegen, aufmerksam den weiteren Erklärungen und Anweisungen des älteren Amunpriesters lauschend. Keiner von ihnen wollte riskieren, sich am Tag der Zeremonie zu blamieren oder durch eine falsche Geste die Götter zu erzürnen und Unheil über Kemet zu bringen.
 

Schließlich schien Sechemib mit dem was er sah und hörte zufrieden zu sein, sodass er seine Schüler entließ und diese zu ihren eigentlichen Aufgaben zurückkehrten. Seth erhielt auf seinem Weg Gesellschaft von Sechemib, der würdevoll neben ihm ging und ohne seinen Schüler anzusehen erklärte: „Ich hoffe, du bist dir der Ehre bewusst, die dir zuteil wird. Es zeigt nur, wie sehr der Tjt dich schätzt, dass er dir trotz der Demütigung, die du ihm zugefügt hast, ein solches Amt überträgt.“

„Ich weiß nicht wovon du redest“, auch Seth sah seinen Begleiter nicht an, während er mit kühler Abweisung auf dessen Bemerkung reagierte und zugleich vor einem entgegenkommenden Tempelpriester höflich den Kopf neigte.

„Die Durchsuchung der Räume des Tjt nach der Kette Karims“, präzisierte Sechemib ruhig, „du willst doch nicht behaupten, nicht gewusst zu haben, was für einen Eindruck das hervorrufen musste.“ Ohne auf diese Worte einzugehen, erwiderte Seth mit ätzender Herablassung in der Stimme: „Was ist mit dir, Gottesvater? Du hast einen einzigen Zeugen gefunden, der Karim gesehen haben will, während der Kronprinz sich im mehr als zehnfachen Besitz von Zeugenaussagen befindet, die das Gegenteil besagen. Du hast dem Tjt einen schlechten Dienst erwiesen, als du einem zweifelhaften Mann, der aus Missgunst gelogen hat, mehr Glauben geschenkt hast, als zehn ehrlichen. Deine blinde Voreingenommenheit wird Akunadin sehr viel größeren Schaden zufügen als die erfolglose Suche nach einer Kette.“ Scheinbar unbewegt hatte Sechemib der Rede Seths gelauscht, lediglich die plötzlich blassere Farbe seiner Haut und der gestraffte Rücken gaben einen Hinweis darauf, wie sehr sich der Priester in diesem Moment um seine Selbstbeherrschung bemühen musste. „Sei vorsichtig! Sonst wird dir deine Unverschämtheit eines Tages zum Verhängnis. Die Gunst des Prinzen und das Wohlwollen des Tjt sind nicht unerschöpflich!“ Ohnmächtiger Zorn schwang in den leise vorgebrachten Worten Sechemibs mit, bevor er sich ohne eine Antwort abzuwarten abwandte und Seth allein ließ. Dieser war stehen geblieben und sah dem davon eilenden Priester prüfend nach, während kurz ein kleines, kaltes Lächeln um seine Lippen spielte. Gleich darauf änderte er ebenfalls seine Richtung und ging zurück in den Palast, um Atemu vorzuwarnen, dass die Falle gestellt worden war. Anschließend kehrte er in den Tempel zurück, um endlich die ihm übertragenen Aufgaben zu erfüllen.
 

Es war bereits Nachmittag und die Abschrift der Zeugenaussagen zu Atemus voller Zufriedenheit erledigt worden, als ein Diener den Prinzen informierte, dass der Priester Sechemib ihn sprechen wolle. Gnädig erklärte Atemu man solle den Priester zu ihm lassen und erkundigte sich gleich darauf bei Sechemib, nachdem dieser den Prinzen gebührend gegrüßt hatte: „Was führt dich her?“

„Mir wurde die ehrenvolle Aufgabe übertragen, mit dir den Ablauf der Eröffnungszeremonie des Opetfestes zu besprechen. Und wenn ich mir diese Bemerkung erlauben darf: Ich bin sicher, du wirst den Aufgaben, die nach dem Fest auf dich warten, vollauf Genüge leisten.“

Atemu wirkte von diesen Worten überrascht, neigte dann jedoch nur huldvoll das Haupt und bedankte sich angemessen, bevor er wissen wollte: „Wie kommt es, dass mein Onkel sich von dir vertreten lässt und es nicht einmal für nötig befindet mich darüber zu informieren?“

„Vergib, Hoheit. Der Tjt wäre nur zu gern zu dir geeilt, aber seine zahlreichen Pflichten im Dienst deines ehrwürdigen Vaters verwehren ihm dieses Vergnügen.“ Es gelang dem Prinzen trotz dieser gedrechselten Anbiederei sein Gesicht nicht skeptisch zu verziehen, sondern glaubwürdig vorzugeben, mit dieser Erklärung zufrieden gestellt worden zu sein, den Priester auffordernd mit seiner Aufgabe zu beginnen.
 

Während Sechemib nun ausführlich besprach wo Atemu am Tag der Zeremonie zu stehen, gehen, sitzen, was er zu tun und zu sagen hatte, wenn sein Vater ihn als Mitregenten bekannt gab, huschte sein Blick flink und unauffällig durch den Raum, auf der Suche nach einem Ort, an dem die von Seth erwähnten Berichte liegen mochten. Schließlich entdeckte er auf einem zierlichen Wandtisch eine kleine Truhe. Sobald er seine Ausführungen beendet und der Prinz keine Neigung zeigte Fragen zu stellen, erklärte der Priester mit gehöriger Unterwürfigkeit in der Stimme: „Verzeih, Herr. Aber du hast dort eine wunderschöne Truhe stehen, solche Kunstfertigkeit sieht man heutzutage immer seltener.“

„Sie gefällt dir?“, erkundigte sich der Prinz beiläufig und fügte ohne eine Antwort abzuwarten, mit einer auffordernden Geste, großzügig hinzu: „Dann sieh sie dir ruhig näher an, du wirst sie sicher mit der gebührenden Sorgfalt behandeln.“

Sich verbeugend und bedankend näherte sich Sechemib dem Kästchen und nahm es gründlich in Augenschein, dabei dessen Form, Holz und Einlegearbeiten wortreich bewundernd, während er prüfte, ob sich die kleine Truhe öffnen ließe, um einen Blick hinein werfen zu können. Sein vergebliches Bemühen blieb allerdings nicht unbemerkt. Mit einem Lächeln erklärte der Kronprinz freundlich: „Bemüh dich nicht. Diese Truhe gibt ihre Geheimnisse nur Auserwählten preis.“

„Natürlich, Hoheit. Verzeih meine Unverfrorenheit, ihre Schönheit hat mich verführt.“

„Schon gut. Es ist nichts geschehen. – Wenn deine Neugier nun befriedigt ist, darfst du dich zurückziehen.“

„Danke, Herr.“ Sechemib verneigte sich tief, bevor er den Prinzen gleich darauf wieder allein ließ.
 

Kaum war der Priester fort, befahl Atemu einem Diener Mahaado und Seth zu ihm kommen zu lassen, ihnen wenig später zufrieden erklärend, dass die Beute nach dem Köder geschnappt hatte. Nun hieß es, sich in Geduld zu üben und zu warten, was Sechemib als Nächstes tun würde.
 

Der Abend verging und es wurde Nacht, ohne dass irgendetwas geschah. Etwas, das nicht nur für die Ungeduld Mahaados eine schwere Prüfung darstellte. Auch Atemus und Seths Geduld wurde während der langen Stunden fruchtlosen Wartens zusehend schwächer. Während der eine jedoch versuchte Mahaado davon abzuhalten tiefe Furchen in den Fußboden des hoheitlichen Schlafgemachs zu treten, indem er ihn ein ums andere Mal zu einer Partie ‚Hund und Schakal’ herausforderte, stand der andere mit verschränkten Armen mitten im Raum, den stoischen Blick auf das Spielbrett zwischen den beiden Prinzen gerichtet und lauschte aufmerksam auf jedes Geräusch, das aus dem Nebenzimmer drang.

Der sonst offene Durchgang zwischen den Räumen, war auf Befehl des Kronprinzen bereits am Vormittag mit einem Vorhang aus dünnem Stoff versehen worden, der nun die drei Wartenden schützend verbarg. Die Diener hatten für diesen Abend die Anweisung erhalten, den Kronprinzen nicht zu stören.
 

Der Raum, in dem der Thronerbe für gewöhnlich schlief, besaß keine Fenster oder Durchgänge, abgesehen von dem einen, der in das angrenzende Zimmer führte. Nur knapp unter der Decke des kunstvoll mit Wandmalereien versehenen Raumes befanden sich kleine, quadratischen Öffnungen. Durch diese drang nur sehr wenig Licht, war es jedoch möglich den Raum mit frischer Luft zu versorgen, während zugleich die Geräusche der Nacht zu hören waren und sich in diesem Fall zunehmend störend bemerkbar machten, erschwerten sie es doch etwas aus dem Nebenraum zu hören.
 

Im Augenblick spendete nur eine einzelne Öllampe den Spielern flackernde Helligkeit. Gerade genug, um zu erkennen was sie taten und zu schwach, um durch den Vorhang im angrenzenden Zimmer bemerkt zu werden.
 

Plötzlich wandte Seth irritiert den Kopf in Richtung des Vorhangs, etwas hatte sich geändert, stimmte nicht mehr mit der eben noch ruhigen, fast schon friedlichen Stimmung überein. Sein Körper wusste es schon, noch bevor sein Verstand den stärker werdenden Geruch von brennendem Holz und Stoff registriert und verarbeitet hatte. Im gleichen Augenblick als er zum Vorhang eilen und ihn zur Seite reißen wollte, um bestätigt zu sehen, was er bereits ahnte, zischte plötzlich ein brennender Pfeil durch den Vorhang, verfehlte Seth nur knapp und verfing sich schließlich in den zurückgeschlagenen Bahnen durchscheinenden, hellen Stoffs, der Mücken und andere Insekten davon abhalten sollte den erlauchten Schlaf des Kronprinzen zu stören.
 

Der erste Pfeil hatte den Vorhang kaum passiert, als auch schon ein zweiter Pfeil gefolgt von einem dritten herangeflogen kam und es nur der reflexartig schnellen Reaktion der beiden Prinzen zu verdanken war, dass sie vorerst mit dem Schrecken davon kamen. Allerdings war diese Schonung nur von kurzer Dauer. Bei dem hastigen Bemühen rechtzeitig den Brandpfeilen auszuweichen, war das Öllicht ins Wanken geraten und zur Seite gekippt. Im Nu sog sich der Stoff des Bettes mit dem herausfließenden Öl voll und ließ die Flammen hell auflodern.
 

Während die Prinzen noch vergeblich versuchten das Feuer einzudämmen, indem sie Decken und Kissen aus der Reichweite des Bettes in die hinterste Zimmerecke zogen und kleinere Flammenherde austraten, war Seth zu dem bereits lichterloh brennenden Vorhang gestürzt, in der Hoffnung den Attentäter wider alle Vernunft doch noch aufhalten und festnehmen zu können.
 

Als der Priester versuchte, durch den Türbogen in das andere Zimmer zu hechten, gab ein Teil des Vorhangstoffes dem gierigen Fraß der Flammen nach und fiel zu Boden, einen in unmittelbarer Nähe liegenden, kostbaren Läufer entzündend, der offenbar zuvor mit Lampenöl getränkt worden war. Gerade noch rechtzeitig zuckte Seth zurück und starrte grimmig auf die lodernden Flammen. Plötzlich zwischen den Flammen hindurch die hochgewachsene Gestalt eines weißhaarigen Mannes in einem langen, dunkeln Mantel bemerkend, der höhnisch grinste, während er die um ihn züngelnden Flammen scheinbar nicht einmal bemerkte. Stattdessen schien er das Schauspiel einfach nur zu genießen, bevor er sich schließlich spöttisch vor Seth und den beiden, direkt hinter dem Priester stehenden Prinzen verneigte, die ihren vergeblichen Kampf gegen das Feuer in dem Schlafgemach eingestellt hatten und Seth in dem Bestreben gefolgt waren, das Zimmer zu verlassen, um den Flammen zu entkommen. Nun jedoch standen sie ebenso reglos wie Seth und starrten auf den Unbekannten, über den sie bisher nur in den Berichten der Zeugen gelesen hatten. Gelassen wandte der Fremde sich ab und verließ das Zimmer. Gleich darauf mit der nun im Gegensatz zu den hell erleuchteten Gemächern noch schwärzer wirkenden Nacht verschmelzend.
 

Für einen Augenblick standen die Männer starr, konnten die Prinzen nicht glauben, dass der in den Zeugenaussagen beschriebene Mann plötzlich leibhaftig vor ihnen gestanden hatte, während sich Seth mit der Frage beschäftigte, wie es dem Weißhaarigen gelungen war unbemerkt in den Palast zu gelangen und die Räume des Kronprinzen ausfindig zu machen. Dahinter konnte nur Sechemib stecken und die Tatsache, dass er nicht davor zurückschreckte das Leben des Thronerben zu gefährden zeigte nur wie ernst es ihm mit der Zerstörung Kemets sein musste. Sie hatten ihn vollkommen unterschätzt. Eine bittere Erkenntnis, die sie mit ihrem Leben bezahlen würden. Die Hitze in dem Zimmer war inzwischen so groß, dass er das Gefühl hatte bei jedem Atemzug Flammen einzuatmen, während sein Körper bereits nicht mehr in der Lage zu sein schien zu schwitzen. Die Haut fühlte sich unangenehm trocken und gespannt an, als würde sie allmählich immer kleiner und enger werden und ihn nach und nach ersticken lassen.
 

Den anderen Beiden ging es wohl nicht anders. Plötzlich kam wieder Leben in Mahaado als er hastig am Saum seiner Kleidung züngelnde Flammen ausschlug und im nächsten Moment auch schon Seth durch das entstandene Loch in dem Vorhang schubste, gefolgt von Atemu, während er atemlos hervorstieß: „Los, raus hier!“ Gleich darauf den andern Beiden bei ihrem Hindernislauf durch das brennende Zimmer Richtung Durchgang zu den Gärten dicht auf den Fersen folgend. Ringsum verzehrten die Flammen noch immer hungrig alles, dessen sie nur irgendwie habhaft werden konnten.
 

Schützend hielten sich die drei Männer je eine Hand vor Nase und Mund, während sie mit tränenden Augen durch den von Rauch vernebelten Raum mehr stolperten als tatsächlich liefen, mehr auf Verdacht die richtige Richtung einschlugen, als dass sie sahen, wohin sie traten. Nach Atem ringend, hustend und zitternd taumelten sie schließlich in den Garten hinaus, froh dem Inferno entkommen zu sein und bemüht genug Luft in die Lungen zu bekommen, damit der Kopf aufhörte zu dröhnen, die Kehle nicht mehr brannte und ihre Beine sie wieder sicher genug trugen, damit sie die anderen Palastbewohner alarmieren konnten, bevor das Feuer noch weiter um sich griff.
 

Als sie bemerkten, dass offenbar das Feuer inzwischen bereits ohne ihr Zutun entdeckt worden war, sackten sie erleichtert in sich zusammen, sahen in der sich nach der vorherigen Hitze eisig anfühlenden Nachluft, im Gras hockend zu wie immer mehr Diener herbeieilten, sich gegenseitig knappe Befehle oder Informationen zu riefen und sich mit Sand und Wasser daran machten, dass Feuer zu ersticken.
 

Eine Weile sahen der Priester und die beiden Prinzen den eifrigen Bemühungen der Bediensten schweigend zu, bis Mahaado plötzlich erklärte: „Das Gute ist, dass jetzt kein Zweifel mehr besteht, dass Karim und Isis unschuldig sind. Ich war der Einzige, der zu ihnen durfte, sie hatten keine Möglichkeit den Weißhaarigen zu alarmieren. Sie wussten nicht einmal von der Existenz der Protokolle.“ Atemu und Seth hatten zunächst mit abwartender Aufmerksamkeit den Prinzen angesehen. Kurz kreuzten sich ihre Blicke, ehe der Kronprinz schließlich zustimmend nickte, „spätestens Morgen wird der Arrest sicher aufgehoben werden.“ Seth hingegen schnaubte nur leise und abfällig, angesichts der naiven Meinung des Gauprinzen, sparte sich jedoch eine langschweifige Erklärung und erwiderte lediglich: „Du solltest deine Vorstellung von Realität besser schnell korrigieren. Wir können weder beweisen, dass Sechemib hinter der ganzen Sache steckt, noch dass er mit dem Weißhaarigen in Verbindung steht oder dass Karim es nicht tut.“

„Deine Zuversicht hilft uns natürlich sehr viel mehr weiter“, schoss Mahaado wütend zurück. Bevor Seth dazu kam dem Prinzen darauf die passende Antwort zu geben, dass es in diesem Moment nämlich nicht um schöngefärbte Hirngespinste ging, sondern um Fakten und Tatsachen, fuhr Atemu verärgert dazwischen: „Haltet den Mund, alle Beide! Wir sind gerade so mit dem Leben davon gekommen und ihr habt nichts Besseres zu tun, als euch in den Haaren zu liegen!“ Erstaunt betrachteten die beiden Streithähne den ungewohnt wütenden Thronerben, schienen sich dann jedoch die Worte für den Augenblick zu Herzen zu nehmen und schwiegen erneut einträchtig.
 

In diesem Moment näherten sich im Laufschritt, mit besorgten Gesichtern und ungewöhnlich nachlässig gekleidet Akunemkanon und sein Bruder. Eine kurze Musterung der drei im Gras hockenden, Ruß verschmierten, verschwitzten und angesengten Gestalten ergab zur Erleichterung der beiden mächtigsten Männer des Landes, dass sowohl die Prinzen als auch der Priester anscheinend wohlauf und weitestgehend unbeschadet geblieben waren. Dennoch entschied Akunemkanon in einem Tonfall, der keine Widerrede duldete: „Shimon soll sich um euch kümmern, danach werdet ihr uns erklären, was hier vorgefallen ist.“ Während sich Atemu, Mahaado und Seth ein wenig mühsam erhoben, sich vor dem König verneigten und anschließend dem Hofarzt folgten, der in einiger Entfernung geduldig darauf gewartet hatte, sich um die Verletzten kümmern zu können, wandte sich Akunemkanon bereits an einen vorbeieilenden Diener und befahl diesem, er solle die Soldaten, die dazu abkommandiert waren, die privaten Gärten des Königs zu bewachen, umgehend darüber informieren, dass sie vor dem König zu erscheinen hätten. Hastig verneigte sich der Diener und verschwand zwischen den dunklen Schatten der Bäume und Sträucher, auf der Suche nach den in dieser Nacht Wachhabenden, im Stillen bereits ein Gebet für ihre unsterblichen Seelen murmelnd Der sonst so nachsichtige Erbe des Horus, wirkte angesichts der Bedrohung für seinen einzigen Sohn, nicht mehr im Geringsten nachsichtig oder gütig. Auch der Tjt, der ohnehin nicht dafür bekannt war Versäumnisse mit Nachsicht zu behandeln, würde einen Angriff auf den Kronprinzen sicher nicht einfach dulden und wieder zur Tagesordnung übergehen.
 

Im Gegensatz zu der Aufgabe Überlebende ausfindig zu machen und zu befragen, war das Überprüfen der Frage, ob Sened in Bezug auf sein Leben im Dorf bei Gebtiu die Wahrheit gesagt hatte, beinahe lächerlich einfach gewesen. Die Pachtverträge hatten bestätigt, dass ein Freier namens Sened seit fünf Jahren gegen Abgaben ebenso Land bearbeitete, wie die anderen Bauern des Dorfes. Auch die Dörfler, die Merenseth noch einmal aufgesucht hatte, bestätigten ihr, dass Sened in ihrem Dorf gelebt hatte, obwohl niemand mit Sicherheit hätte behaupten können, ihn in der Nacht des Überfalls gesehen zu haben. Sie glaubten, dass er da gewesen sein musste, weil keiner von ihnen bemerkt hatte, dass er am Tag zuvor das Dorf verlassen hätte.
 

Versehen mit diesen Informationen kehrte Merenseth schließlich wieder in die Pharaonenstadt zurück. Sie war gerade durch das schmale Fenster in Seths Zimmer geschlüpft, hatte eine weitere Papyrusrolle auf dem Tisch abgelegt und sich auf ihrer Stange niedergelassen, als Seth gesäubert und verarztet, noch immer nach Rauch riechend in angekohlter Kleidung den Raum betrat. Verwundert musterte der Vogel den Priester, während sich die Schopffedern leicht hoben und Merenseth ein eindeutig fragendes Tschilpen hören ließ. Seth hob bei dieser Begrüßung den Kopf, während seine Miene schon nicht mehr ganz so missmutig wirkte. „Du bist zurück. – Hast du etwas herausgefunden?“ Mit einem weiteren Tschilpen, wandte Merenseth ihren Kopf Richtung des Tisches, auf dem die Papyrusrolle lag. Mit wenigen Schritten stand Seth an dem Tisch und las sich den Inhalt der Rolle durch, während sich sein Gesicht dabei erneut verdüsterte. Wieder eine Sackgasse. Verärgert ließ Seth das Papyrus auf die Tischplatte zurückfallen. Wie sollte er je herausfinden, wer tatsächlich hinter den Überfällen steckte, wenn alle seine Versuche mehr in Erfahrung zu bringen erfolglos blieben?! Je länger er auf das unschuldige Stück Papyrus starrte, umso wütender wurde er. Seine Hand ballte sich zur Faust; bevor er damit jedoch auf den Tisch schlagen konnte, um sich ein wenig Erleichterung zu verschaffen, klopfte es. Seth brauchte einen Moment, bis er sich wieder etwas beruhigt hatte, dann erkundigte er sich schlechtgelaunt: „Ja?“ Was die Person offenbar als Aufforderung nahm einzutreten. Denn gleich darauf öffnete sich die Tür und Meresankh betrat das Zimmer. „Ich habe es gerade erfahren. Ist mit dir alles in Ordnung, geht es dir gut?“

Nein, ging es nicht. Aber das dachte Seth nur, während er unwirsch etwas brummte, das man als Bestätigung auffassen konnte. Meresankh lächelte erleichtert. „Ich habe gehört, dass du zusammen mit den Prinzen dem König Bericht erstatten sollst.“

Richtig. Seth runzelte die Stirn, während er Meresankh nur noch mit halbem Ohr zuhörte. Dass hatte er über seinem Ärger tatsächlich für einen Moment vergessen. Mit einer schnellen Bewegung griff er nach dem Papyrus, ohne in diesem Moment sicher zu sein, dass er Gelegenheit haben würde es Atemu und Mahaado zu zeigen. Er war bereits auf dem Weg zur Tür, als ihn die Stimme Meresankhs noch einmal zurückhielt: „Solltest du dich nicht vorher angemessen kleiden?“

Seth knurrte leise. Langsam wurde offenbar wirklich sein Gehirn weich. Genau das war doch der eigentlich Grund gewesen, sein Zimmer aufzusuchen. Also machte er kehrt, legte das Papyrus wieder auf dem Tisch ab, wandte Meresankh den Rücken zu und zog sich eilig um. Als er sich wieder herumdrehte, reichte Meresankh ihm lächelnd die Papyrusrolle. „Es ist wirklich schade, dass du im Moment keine Zeit hast.“ Seth brummte nur zustimmend, während er den Bericht entgegennahm und erneut Anstalten machte den Raum zu verlassen, nur um noch einmal aufgehalten zu werden, als Meresankh eine Hand auf seinen Unterarm legte und sich erkundigte: „Sehen wir uns später noch?“

„Von mir aus“, Seth klang entnervt, er war nicht in der Stimmung für Gesellschaft, aber wie hätte er ihr ihre Bitte ausschlagen können.

„Ein wenig mehr Begeisterung wäre schön“, tadelte Meresankh ihn mit einem freundlichen Lächeln, ihm anschließend einen Kuss auf die Wange drückend, „aber ich verstehe schon, du hast im Moment Wichtigeres zu tun, als dich mit einer Frau zu befassen.“

„Das ist es nicht.“ Doch war es, dachte Seth im gleichen Moment als er das Gegenteil behauptete und sich zugleich angestrengt bemühte die aufkommenden Schuldgefühle darüber zu unterdrücken, dass er dem Zusammensein mit dieser überwältigenden Frau in diesem Augenblick so wenig abgewinnen konnte. Dass sie die ganze Zeit von den aufmerksamen Augen seines Benu beobachtet wurden, machte die Sache auch nicht besser. Aber wenigstens brauchte er sich keine Zurückhaltung dabei aufzuerlegen Merenseth einen ungehaltenen Blick zu zuwerfen. Pikiert hob der Vogel angesichts des ihm geltenden finsteren Starrens seine Schopffedern, bevor er demonstrativ seine Blickrichtung änderte. Im nächsten Moment auftschilpend, als er Kisara an der Tür entdeckte, die Meresankh nicht wieder geschlossen hatte.
 

Bemüht nicht aufzufallen hatte sich das Mädchen bis zu diesem Moment gegen das Türblatt gepresst. Als ihr nun nicht nur die Aufmerksamkeit des Benus sondern auch Seths und Meresankhs zuteil wurde, löste sie sich verlegen errötend von der Tür, krampfte ihre Hände in ihr Kleid und wirkte ziemlich unglücklich, während sie unsicher stammelte: „Ich… Ich… wollte nur wissen, ob es dir gut geht…“ Unruhig hatten ihre Hände begonnen den robusten Leinenstoff ihres Kleides zu kneten, während ihr Blick ziellos durch den Raum huschte, um letztendlich an ihren Füßen hängen zu bleiben.

„Es geht mir gut!“ Die Erklärung hatte lauter und ungehaltener geklungen, als sie eigentlich sollte und ließ Kisara erschrocken zusammen zucken, während sie sich in sich selbst zu verkriechen schien. Für einen Moment war der Blick des jungen Priesters missmutig auf das weißhaarige Mädchen gerichtet, während er ärgerlich dachte, dass so viel weibliche Besorgnis sehr viel schwerer zu ertragen waren, als sämtliche Schicksalsschläge zusammen genommen. Sollten sie doch Apophis begegnen, wenn sie ihn nur in Ruhe ließen!
 

„Sie meint es doch nur gut“, versuchte Meresankh zu beschwichtigen, während sie mütterlich Seths Arm tätschelte, „du bedeutest ihr nämlich sehr viel.“ Wenn möglich wurde Kisaras Gesichtsfarbe noch dunkler als zuvor, während sie in diesem Moment darum zu beten schien, dass der Boden sich auftäte, um sie zu verschlingen. Gleichzeitig hatte Seth sein Gesicht der Frau neben sich zugewandt und starrte sie mit so eisiger Wut im Blick an, dass Meresankh erschrocken ihre Hand zurückzog und nun ihrerseits unsicher wurde, während sie leise etwas murmelte, das wie eine Entschuldigung klang. Ohne darauf einzugehen, ließ Seth die beiden Frauen kurzerhand stehen und verließ seine Kammer, um dem Befehl des Königs nachzukommen. Er war der Ansicht, dass er mehr als genug Zeit für diesen Irrsinn verschwendet hatte.
 

Überrascht standen Kisara und Meresankh noch einen Moment bewegungslos in der Kammer, bevor sich zunächst das weißhaarige Mädchen abwandte und mit inzwischen nicht mehr rotem, sondern sehr blassem, unglücklichem Gesichtsausdruck und hängenden Schultern lautlos davon schlich. Meresankh wartete noch einen Augenblick, bis sich sicher war, dass das Mädchen tatsächlich gegangen war, dann verließ auch sie die Kammer, ebenfalls den Weg zu den Räumen des Königs einschlagend. Sie bemerkte nicht, wie hinter ihr Merenseth von ihrer Stange hüpfte und in elegantem Gleitflug das kurze Stück bis zur Tür zurücklegte, dort landend und die Tür in der für Vögel typischen Art zu laufen durchquerte. Kaum war sie in dem vor dem Zimmer verlaufenden Gang angekommen, breitete sie wieder die Flügel aus und erhob sich mit wenigen Schlägen in die Luft, bis sie knapp unter der Decke schwebend die Verfolgung Meresankhs aufnahm.
 

Sie hatte gesehen, wie diese Frau hastig den Bericht über Sened überflog, während Seth sich umzog und ihm darauf scheinbar vollkommen unschuldig das wieder zusammengerollte Papyrus hinzuhalten, als hätte sie keine Ahnung was darin stand. Merenseth war der Ansicht, dass es sicher nicht schaden konnte, diesem seltsamen Verhalten auf den Grund zu gehen.
 

Zunächst schien es jedoch so, als beabsichtige Meresankh lediglich vor den königlichen Gemächern auf den Ausgang der Unterredung warten zu wollen. Dann jedoch näherte sich Akunadin. Meresankh verneigte sich zunächst höflich und berichtete dann leise von dem Inhalt der Papyrusrolle. Der Tjt hörte sich den kurzen Bericht schweigend an, nickte dann lediglich und verschwand schließlich ohne ein Wort gesagt zu haben hinter der Tür zu den Räumen des Königs, die während der folgenden Unterredung für alle außer dem König, den beiden Prinzen, dem obersten Priester und seinem Lehrling verschlossen blieb.
 

Akunadin war der Letzte, der den Raum betrat. Sein Bruder saß mit angespannt düsterem Gesichtsausdruck in einem Stuhl, während sein Sohn und dessen Freunde in schweigend abwartender Haltung vor Akunemkanon standen, als würde er über sie zu Gericht sitzen. Erleichtert, dass sie nun vollzähligen waren und die Situation bald klären würden, sah Akunemkanon zu seinem Bruder auf, wies dann stumm auf einen im spitzen Winkel zu seinem stehenden Stuhl und erklärte, sobald sich der Tjt gesetzt hatte: „Die Wachen sind tot. Jemand hat ihnen die Kehlen durchgeschnitten.“
 

Für einen Moment herrschte betroffenes Schweigen, dann entschied Akunadin mit ruhiger Sachlichkeit: „Daran lässt sich nichts mehr ändern“, damit das Thema offenbar vorerst als erledigt betrachtend und sich direkt an Atemu, Mahaado und Seth wendend: „Wisst ihr wie es zu dem Feuer kam? Habt ihr jemanden gesehen, der dafür verantwortlich sein könnte?“ Die Antwort der Drei bestand in einem einhelligen Nicken, bevor der Kronprinz erklärend hinzufügte: „Wir haben gesehen, wer das Feuer gelegt und wohl auch die Wachen getötet hat.“

„Jemand den ihr kennt?“

„Es war das erste Mal, dass wir ihn sahen. Aber wir hatten bereits von ihm gelesen.“

Sowohl der König als auch sein Bruder wirkten bei dieser Antwort verwundert und Akunemkanon wollte wissen: „Was soll das heißen?“

„Wir haben Zeugenaussagen von Überlebenden des letzten Überfalls, in denen genau dieser Mann mehrmals beschrieben wurde.“

Hellhörig geworden richtete sich der König etwas höher auf, während der Tjt aufmerksam mit starrem Blick den Kronprinzen fixierte, als wolle er diesen hypnotisieren.

„Dann hat dieser Mann diese Berichte vernichten wollen“, Akunemkanon klang nachdenklich, fragend.

„Er kann nicht nur wegen der Berichte gekommen sein. Er scheint gewusst zu haben, dass wir im Nebenzimmer waren und versucht uns zu töten.“ Bei dieser Bemerkung Mahaados verfinsterte sich die Miene des Königs von neuem, während er eine Hand zur Faust schloss, als hätte er den Attentäter gern mit eigener Hand erwürgt.

„Was ist aus den Berichten geworden, sind sie verbrannt?“, verlangte Akunadin sachlich zu wissen, seinen Bruder auf diese Weise dazu zwingend, sich zu beherrschen und auf das Wesentliche zu konzentrieren. Vergeltung konnten sie üben, wenn sie den Schuldigen gefasst hatten.

Atemu nickte bestätigend, „Die Kopien, ja.“

Dieser Beweis vorausschauenden Denkens seines Sohnes sorgte sehr viel effektiver dafür, dass Akunemkanon ruhiger wurde, als zuvor die Worte seines Bruders. Für einen Moment erschien ein zufriedenes Lächeln im Gesicht des Herrn der beiden Länder, sein Sohn würde einen würdigen Mitregenten und Nachfolger abgeben, davon war er überzeugt. Unterdessen setzte der Tjt die Befragung fort: „Wo befinden sich die Originale?“

„Hier“, meldete sich erneut Mahaado zu Wort und hob den Leinenbeutel ein wenig höher, den er die ganze Zeit über schon in der Hand gehalten hatte. „Seine Hoheit vertraute sie mir an, nachdem er die Abschriften hatte anfertigen lassen.“

„Zeige sie mir“, entschied Akunemkanon bestimmt und streckte auffordernd eine Hand nach dem Leinenbeutel aus. Noch während Mahaado die kurze Distanz überwand, um dem Befehl des Herrn der beiden Länder nachzukommen, stellte Seth, der bisher schweigend zugehört hatte, plötzlich fest: „Jemand aus dem Palast muss den Mann informiert haben. Jemand der von den Berichten wusste und ihm auch geholfen hat, unbemerkt hier einzudringen und das Feuer zu legen.“

Überrascht sahen die anderen ihn an, entweder erstaunt über das, was er sagte oder darüber, dass er sich überhaupt zu Wort meldete.

„Sechemib!“, leise und triumphierend sprach Mahaado gleich darauf den Namen des Amunpriesters aus, überließ Akunemkanon den Beutel mit den Zeugenberichten und kehrte an die Seite Atemus zurück. Im nächsten Augenblick auch schon vom Tjt nachdrücklich aufgefordert werdend: „Ich erwarte eine Erklärung.“

„Er war der Einzige, der außer uns von den Berichten wusste. Er kam gestern Nachmittag zu mir, um alles Notwendige für das Opetfest zu besprechen und interessierte sich sehr für das Kästchen, in das ich die Kopien gelegt hatte“, erklärte Atemu anstelle Mahaados, die Aufmerksamkeit seines Onkels wieder auf sich ziehend, der mit gerunzelten Brauen zuhörte und sich versicherte: „Er kam wegen des Opetfestes zu dir?“ Wieder nickte Atemu, „er erklärte, er käme auf deine Anweisung, da du zu beschäftigt mit anderen Pflichten seist.“

„Ich habe keine solche Anweisung erteilt“, stellte der Tjt daraufhin knapp und bestimmt fest.

„Dann sollten wir am besten Sechemib selbst fragen, was er dazu zu sagen hat“, entschied Akunemkanon darauf und wies mit der Zustimmung Akunadins Seth an, einem Diener Bescheid zu geben, dass Sechemib umgehend in den Gemächern des Herrschers erscheinen solle.
 

Während sie darauf warteten, dass Sechemib dem Befehl folge leistete, überflogen König und Tjt die gesammelten Zeugenaussagen. Erfuhren, dass es der in diesen Berichten beschriebene weißhaarige Mann gewesen war, den die Prinzen und der Priester gesehen hatten und entdeckten, dass keiner der Dörfler einen Mann gesehen hatte, auf den die Beschreibung Karims auch nur ansatzweise zutraf.

„Der Mann, den Sechemib als Zeuge ausgewiesen hat, scheint der Einzige zu sein, der Karim tatsächlich gesehen zu haben scheint“, stellte Akunemkanon schließlich fest, während in seiner Stimme bereits erste Zweifel mitschwangen, ob die Aussage dieses Mannes tatsächlich noch als glaubwürdig angesehen werden konnte. Bevor einer der Anderen dazu kam, darauf zu reagieren, war es Mahaado, der auf die Bemerkung des Herrschers antwortete: „Der Mann, Sened, stand früher in den Diensten meines Vaters. Es wäre möglich, dass er wusste, wer Karim ist und in welcher Beziehung er zu meiner Schwester steht.“

„Du meinst, er könnte absichtlich gelogen haben, um über Karim deiner Familie zu schaden?“ Akunemkanon klang interessiert, während Mahaado auf dessen Frage bestätigend nickte. „Absurd“, die Stimme des Tjt klang kalt und herablassend. „Sened hat dazu beigetragen, den von seinem Herrn geplanten Aufstand rechtzeitig zu entlarven. Sollte jemand auf Rache aus sein, dann eher die Familie des Gaufürsten, nicht Sened. Darüber hinaus, hätte er kaum Gelegenheit gehabt, in seinem Dorf zu erfahren, dass Isis und Karim verheiratet sind.“

„Aber du musst zugeben, dass es ein mehr als seltsamer Zufall ist, dass ausgerechnet Sechemib den einzigen Zeugen auftreibt, der behauptet Karim in der Nacht des Überfalls gesehen zu haben, während alle anderen Dörfler das Gegenteil aussagen.“

Ungerührt sah der Tjt den König an und erwiderte ohne jede Unterwürfigkeit: „Derjenige, der heute Abend den Brand legte, hat bewiesen, dass er mühelos in der Lage ist, ausgebildete Wachen zu töten. Es sollte für ihn noch weniger eine Schwierigkeit darstellen, nicht im Kampf geübte Dorfbewohner zum Schweigen zu bringen, um seinen Kumpan zu schützen.“

„Und ausgerechnet den einen hat er übersehen?“ Mahaado klang mehr als nur skeptisch und kassierte für seine dreiste Einmischung einen strafenden Blick des Tjt, der ihn den Kopf senken ließ, während sich Akunadin zu einer weiteren Erklärung herabließ: „Sened hat sich von Anfang an unter den Schutz des Königs gestellt, ihn zu töten wäre für den Mörder mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden gewesen.“

„Deine Theorie besitzt einen Fehler“, mischte sich nun wieder Seth in die Diskussion ein. „Karim hatte keine Ahnung von den Zeugenberichten und auch keine Möglichkeit den Weißhaarigen zu informieren oder ihm dabei zu helfen in den Palast zu gelangen. Sechemib hatte Beides. Sened kann durch Karawanen auf dem Weg nach Gebtiu von der Heirat des obersten Befehlshabers erfahren haben. Und er war schon einmal bereit seinen Herrn für Geld zu verraten.“
 

In diesem Moment klopfte es. Unwillig rief Akunemkanon den Störenfried herein, sodass gleich darauf ein Diener den Raum betrat, sich unterwürfig zu Boden warf und demütig erklärte: „Vergib, Majestät, der Priester Sechemib ist nirgends im Palast zu finden.“

„Was ist mit Sened?“, verlangte Atemu aus einer vagen Ahnung heraus zu wissen und erhielt von dem Diener die verunsicherte Antwort: „Ich verstehe nicht, Hoheit.“

„Geh und sieh nach, ob Sened auch verschwunden ist oder ob er sich noch immer in seinem Zimmer befindet.“

„Ja, Herr.“ Und schon war der Diener wieder aus dem Raum verschwunden, um seinen neuen Auftrag zu erfüllen.
 

Ungeduldig warteten die Zurückgebliebenen darauf, dass der Diener wiederkam, was erfreulich schnell der Fall war. Allerdings nur bis zu dem Moment, als dieser berichtete, was er vorgefunden hatte: Die Wache hatte scheinbar dösend an der Wand gelehnt. Als der Diener versucht hatte sie zu wecken, hatte er feststellen müssen, dass sie erdrosselt worden war. Seinem Auftrag gemäß, hatte der Diener anschließend die Tür zum Zimmer Seneds geöffnet. Dieser stand eng gegen die am weitesten von der Tür entfernte Wand gepresst, mit einem zu unvorstellbarem Grauen erstarrten Gesichtsausdruck, den Mund zu einem stummen Schrei geöffnet.
 

Zögernd, voller Furcht war der Diener näher getreten und hatte den Mann vorsichtig berührt. Er war bereits vollkommen kalt. Was immer Geschehen war, es musste Sened zu Tode erschreckt haben, denn an seinem Körper war keine Wunde zu erkennen, die eine Erklärung für seinen Tod hätte geben können.
 

Nachdem der Diener seinen Bericht beendet hatte, entließ Akunemkanon ihn, anschließend nacheinander jeden der vier Anwesenden ansehend, als erwartete er irgendeine Reaktion. Als jedoch alle entweder in betroffenem oder emotionslosem Schweigen verharrten, stellte er schließlich fest: „Es scheint, als würde keiner von euch seine Theorie ohne Sechemib oder Sened beweisen können. Ich werde veranlassen, dass nach Sechemib und dem Weißhaarigen gesucht wird. Die Entscheidung über Karim werde ich Amun anvertrauen, er wird weise und gerecht richten.“ Es schien als wollte Atemu auf die Worte seines Vaters noch etwas sagen, doch der winkte beschwichtigend ab, „Ich denke, ich weiß, was du sagen willst. Aber deine Bedenken sind unnötig. Amun ist groß. Auch ich hoffe, dass Karim unschuldig ist, aber wir haben nicht genügend Beweise um ihn frei zu sprechen. Ein Gottesurteil hingegen wird von niemandem angezweifelt werden.“ Atemu hatte die bereits zum Sprechen geöffneten Lippen wieder geschlossen und nickte nun in ergebener Zustimmung. Kurz lächelte Akunemkanon seinem Sohn aufmunternd zu, bevor er die Besprechung beendete und die Versammelten entließ, gab es in dieser Nacht doch nichts mehr, das getan werden konnte, außer die Suche nach dem Priester und dem weißhaarigen Mörder beginnen zu lassen.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Hotepneith
2009-11-21T10:35:17+00:00 21.11.2009 11:35
Oh, das ist so spannend...
Echt, mit Intrigen hast du es wirklich dauf.

Und vor allem, du beherrscht die Gabe so viele Personen immer wieder auftauchen zu lassen, reden zu lassen, jedem seinem(ihren ) Platz zukommen zu lassen. Das ist wirklich eine Kunst. Du beschränkst dich nicht nur auf vier oder fünf Hauptpersonen, sondern nimmst alle immer her..

Ich muss sagen.Respekt.


bye


hoitep


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