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Feuervogel

Ein Junge und sein Benu gegen den Rest der Welt
von

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Ende und Anfang

Merenseth war ohne Pause geflogen, jeden noch so kleinen Windhauch ausnutzend, um ihr Ziel schneller zu erreichen. Als sie schließlich den Turm der Zeit erreichte, wurde sie bereits erwartet.

Schweigend beobachtete Oreithys wie Merenseth Kisara in das Innere des Turmes trug, ihr kurz darauf folgend. ‚Es ist gegen die Regeln einen Menschen in das Innere des Turms zu bringen.’ Sanft hallte das Echo von den Wänden wider, als der Wächter der Zeit seinen Gast mit diesen Worten begrüßte.

‚Sie wird nie erfahren, dass sie hier gewesen ist, wenn du sie schlafen lässt. - Sobald sie geheilt ist, werde ich sie wieder fortbringen.’ Versuchte Merenseth ihn zu beruhigen, ihre Flügel anlegend und sich zu Oreithys herumdrehend.

‚Wirst du solange hier bleiben und sie bewachen?’ Es lang etwas Drängendes in dieser Frage, die Merenseth dennoch in einem um Verzeihung bittenden Tonfall verneinte. Oreithys schwieg darauf, duldete die kurze Berührung als Merenseth ihren Kopf gegen seinen lehnte, sodass die Schnäbel auf dem Hals des jeweils anderen zu ruhen kamen und sah zu, wie sie gleich darauf zu einem zweiten Durchgang flog, der sich hinter dem im Zentrum des Turms befindenden, ruhelos hin und her schwingenden Pendel befand und von außen nicht zu sehen war. Dieser Durchgang war nicht wie der andere, eine Verbindung zwischen der Welt und dem Turminneren, sondern eine Verbindung in die Welt Apepis.

‚Bleib. Es ist nicht dein Kampf. Menschen sind dafür verantwortlich’ forderte Oreithys plötzlich, brachte Merenseth dazu, dem Durchgang den Rücken zu zukehren. ‚Du vergisst, dass ich an ein Versprechen gebunden bin.’

‚Es lässt sich lösen. Du bist nicht gezwungen es einzuhalten.’

‚Ich werde es einhalten.’ Merenseth klang bestimmt, sie würde in diesem Punkt nicht mit sich reden lassen. Oreithys versuchte es dennoch: ‚Was findest du an diesem Menschen? Er ist bedeutungslos, schwach und sterblich. Was ist ein Menschenleben, gegen das Dasein eines Benu? Warum willst du sein Leben in dieser Welt verlängern, wenn er in Earu glücklich werden kann?’ Merenseth gab darauf keine Antwort, hörte nur mit leicht geneigtem Kopf zu, während Oreithys fortfuhr: ‚Du wirst einen neuen Menschen finden, wenn dir so an der Gegenwart von einem gelegen ist. Aber misch dich nicht weiter in diesen Kampf ein.’ Ihren Kopf ein wenig hebend und schief legend, betrachtete Merenseth ihr Gegenüber neugierig, hörte weiter zu und schwieg noch immer. Sobald sie glaubte, Oreithys habe alles gesagt, was er sagen wollte, wandte sie sich ab, um die Tür ins Jenseits zu durchqueren. Nur um erneut aufgehalten zu werden: ‚Wenn du gehst, wirst du sterben.’

‚Und wiedergeboren werden.’ In der Antwort Merenseths schwang ein Lächeln mit, während sie ihren Kopf wieder In Richtung Oreithys’ wandte.

‚Nicht dieses Mal’, der Hüter der Zeit klang ernst und etwas wie Traurigkeit lag in seiner Stimme. Wieder schwieg Merenseth, dieses Mal nachdenklich. Dann machte sie kehrte, ließ sich dicht neben Oreithys nieder, schmiegte erneut ihren Kopf gegen seinen und erwiderte: ‚Ich werde ihn nicht im Stich lassen. – Ich kann es nicht’, leise klang es, ruhig und bestimmt. Nur die Berührung und das unterschwellige Gurren, die diese Antwort begleiteten, verrieten das Bedauern ihren Bruder zu enttäuschen, das Bemühen ihn zu beruhigen. Dieses Mal erwiderte Oreithys die Zuneigung bekundende Geste, rieb mit seinem Schnabel über den der kleineren Benu, presste kurz den eigenen Schopf gegen ihren, trat dann ein wenig zurück und erklärte nur: ‚Geh. Ich kümmere mich um das Mädchen.’

Einen kurzen Augenblick schien es, als wolle Merenseth es sich anders überlegen. Dann neigte sie nur ihren schlanken Hals, bis ihr Kopf fast den Boden berührte, auf diese Weise Dank, Ehrerbietung zum Ausdruck bringend, sich zugleich verabschiedend.
 

Gleich darauf flog Merenseth durch die von kränklich trübem Licht durchzogene Dunkelheit der Unterwelt. Ohne menschliche Fracht war es möglich diesen kürzesten aller Wege zu nehmen, wenn auch nicht ganz ungefährlich. Apepi mochte noch nicht wieder zu voller Stärke gelangt sein, wie er es am Abend jeden Tages war, wenn Re seine Fahrt durch die Unterwelt begann, dennoch war dies sein ureigenes Reich, konnte er jedem, der ungebeten darin Einkehr hielt, dessen Reise so beschwerlich wie möglich machen. Oft genug gelang es ihm auch die Reisenden in seine dunklen Tiefen zu ziehen, sie darin untergehen zu lassen, auszulöschen mit allem was im Diesseits von ihnen geblieben war.

Dieses Mal jedoch war etwas anders. Es war fast als würde das dunkel schlammige Element, das beschönigend als Wasser bezeichnet wurde, und in dem Apepi sich verborgen hielt, bis er seine Opfer angriff, zufrieden glucksen. Hin und wieder tauchte die ölig schimmernde Schliere eines biegsamen Schuppenpanzers auf, der vor Vergnügen oder gespannter Gier freudig zu zitterte.

Beklommen beschloss Merenseth dem Kopf des riesigen Schlangendämons zu folgen, der mit gespannter Aufmerksamkeit lauernd Richtung Osten starrte, mit der Zunge zischelnd die Luft prüfend, zufrieden den mächtigen Leib windend. Sobald der Benu den für ihn passierbaren, nächstgelegenen Ausgang erspähte, hielt er darauf zu, kurz darauf durch das Benben eines Tehenpfeilers zurück ins Diesseits schlüpfend. Gerade rechtzeitig um zu sehen, wie sich der übermächtige Schattenriss eines Vogels über die Pharaonenstadt hinweg bewegte, der sich gleich darauf in eine Schildkröte wandelte, um ein Wesen zu verschlingen, das sich gegen die maßlose Dunkelheit winzig ausnahm.

Im letzten Moment gelang es dem Benu dieses Wesen zu erreichen, es mit seinen Krallen zu packen und fortzutragen, während er die unstillbare Gier Isfets an sich zerren fühlte und nur mit Mühe dieser alles verschlingenden Masse entkam.

Weder der Benu noch seine menschliche Last sahen, wie die Schnabelhälften des Schildkrötenmauls aufeinander trafen, das Wesen im gleichen Moment wieder seine Kontur verlor, verschwamm und als missgestaltiges Mischwesen aus Krokodil und Flusspferd neu erstand, den Leichnam Karims verschlingend und sich anschließend dem mit einem irren Gesichtsausdruck dastehenden letzten Menschen in unmittelbarer Nähe zuwendend.
 

Ninetjer verspürte bei dem Anblick dieses Wesens nicht die geringste Furcht, sondern nur ein berauschendes Machtgefühl. Er war es, ein Bauernsohn und Soldat, einer der nie für gut genug befunden worden war, der immer nur zu hören bekommen hatte, was er nicht durfte und dessen einziger Existenzgrund es stets gewesen war zu sterben, er war es, dem nun der mächtigste aller Dämonen Untertan war.

Als sich ihm der Kopf des riesigen Wesens näherte, streckte Ninetjer seinen gesunden Arm aus, als wolle er das Wesen umarmen. Noch immer verzerrte das fanatisch irrsinnige Lächeln sein Gesicht, während er dem Dämon vor sich verkündete, dass sie nun gemeinsam Pharao und seiner Stadt einen Besuch abstatten würden, von dem diese sich nicht mehr erholen sollten.

Für einen Moment verharrte der hässliche Kopf des Dämons reglos, als würde er versuchen die Worte des ehemaligen Soldaten zu verstehen oder überlegen, ob das gemachte Angebot verlockend genug war, um es anzunehmen. Dann kam wieder Bewegung in den Schattenriss, schob sich der massige Schädel über den weißhaarigen Mann und verschlang auch ihn. Lautlos, ohne zu zögern, ohne Hast, unaufhaltsam. Lediglich wieder etwas in sich aufnehmend, das von Anfang an zu ihm gehört hatte. Teil gewesen und ihm genommen worden war und was es sich nun wieder rechtmäßig aneignete.

Isfet kannte nicht Herr oder Verbündeten. Es lebte ausschließlich für sich selbst und seine Gier sich einzuverleiben, was nicht Teil seiner selbst war, gesteuert nur von dem blinden Verlangen mehr zu werden, größer, zu verschlingen was jenseits seiner selbst und eigenständig war. Es durfte nichts anderes geben als Isfet.

Kaum hatte der Dämon verschlungen, was ihn befreit, ihm den Weg ins Diesseits geöffnet hatte, verformte er sich abermals zu einer konturlosen Qualmwolke, die sich zum ebenso schwarzen Himmel auftürmte, als wolle er eins mit ihm werden. Wieder entstand ein Luftwirbel, der ein bedrohlich schrilles Pfeifen erzeugte, während die dunkle Masse schneller und schneller aufwärts bewegt wurde, sich wie eine dichte Wolkendecke über das gesamte Land ausbreitete und schließlich wieder stumm und bedrohlich still verharrte. Dann schossen plötzlich hunderte, tausende von schwarzqualmigen Tentakeln herab, versetzten das gesamte Land in Aufregung, verbreiteten das Chaos der Pharaonenstadt auch in die hintersten und abgelegensten Winkel des Reiches. Verschlangen alles, was mit ihnen in Berührung kam. Zersetzten die hergebrachte Ordnung, hoben angestammte Rechte und Gesetze aus ihrer Verankerung, ließen das tradierte Verhalten der Menschen lächerlich, bedeutungslos erscheinen und tauchten Kemet in eine Finsternis von nie gekannter Dunkelheit.
 

Sobald Seth Mana Shimon überlassen und dieser nur betroffen und müde auf die Nachricht genickt hatte, dass Isis tot im Vorhof des Palastes lag, hatte sich der Priester auf den Weg in die Stadt gemacht, auf der Suche nach dem König und seinem Begleiter. Er bedauerte, in diesem Moment nicht Merenseth an seiner Seite zu haben, hätte ihre Hilfe doch die Suche wesentlich vereinfacht. Stattdessen griff er schließlich auf die Hilfe eines geflügelten Dämons zurück, diesem den Auftrag gebend, nach dem König Ausschau zu halten, während er selbst weiter durch die Straßen eilte.

Es war ein merkwürdiges Gefühl durch Gassen zu laufen, in denen noch kurz zuvor blindwütende Menschen aufeinander losgegangen waren und die nun dalagen wie ausgestorben, nur noch die Spuren der Kämpfe zeigend. Der anhaltende Lärm warnte davor sich in Sicherheit zu wiegen. Waren die Auseinandersetzungen noch längst nicht beendet, hatten sich nur verlagert, wie eine alles niederwalzende Welle durch die Stadt rollend, jeder Zeit in der Lage die Richtung zu ändern, bereit zurückzufluten.

Seth achtete nicht weiter darauf, bemühte sich nur den Menschen auszuweichen, denen er begegnete, unbeirrt seinen Weg fortsetzend, ab und zu prüfend gen Himmel sehend, ob der ausgesandte Dämon zurückkehrte. Statt des Dämons, beobachtete er plötzlich wie sich der Himmel verfinsterte und ein Blitz darüber zuckte.
 

Aufgeschreckt hielten die Bewohner der Stadt in ihrem Tun inne, furchtsam nach der Quelle des auf einmal hörbaren Sturms Ausschau haltend, dabei den bedrohlich wirkenden Wirbel aus dunklen Wolken entdeckend, der immer größer und größer wurde und alles in seiner Reichweite mit sich riss.

Schließlich schien der Luftstrudel seine endgültige Ausdehnung erreicht zu haben, denn plötzlich versiegte das tobende Brausen der Luft, hörte die dichte Wolkenmasse auf sich zu drehen; waberte unruhig auf der Stelle, verzerrte Gestalten von Tierkörpern nachbildend, grotesken Schattenrissen gleich.

Dann hob sich die riesige Masse gen Himmel, die Gestalt eines schwarzen Vogels annehmend, der mit einem einzigen Flügelschlag über die Stadt hinweg schwebte. Trotz der plötzlich herrschenden Dunkelheit, schien der Vogel einen Schatten werfen, der die Stadt in noch tieferes Dunkel hüllte und ohne erkennbares Prinzip einem Teil der Bevölkerung den Verstand raubte.
 

Es war nicht so, dass man denjenigen sofort ansah, dass sie nicht mehr bei Verstand waren, standen sie doch ebenso wie die Unversehrten noch einen Moment im Bann des unheimlichen Vogeldämons. Kaum war dieser jedoch in stummer Ausdruckslosigkeit vorüber geflogen und die Stadt nicht mehr in seinem Schatten gefangen, begannen sich einige der Städter wie Wahnsinnige zu gebärden. Sie zerrten an ihren Kleidern, rissen sich die Haare mit blutiger Wurzel heraus, zerkratzen sich Arme und Gesicht, gaben ein unmenschliches Geheul von sich, während ihnen weißer Schaum aus dem Mund quoll, an den Mundwinkeln hängen blieb und zu Boden tropfte.

Versuchte jemand sie von ihrem Tun abzuhalten, griffen die Wahnsinnigen ihre Helfer an, geifernd und wild kreischend, erst Ruhe gebend, wenn sie glaubten ihr Opfer wäre tot.
 

Ebenso ungläubig wie alle Anderen hatte Seth die Ereignisse verfolgt, zu dem riesigen schwarzen Vogel hinaufgesehen und so beinahe nicht bemerkt, wie der Dämon zurückkehrte, den er ausgesandt hatte, Atemu zu finden. Bevor Seth jedoch dazu kam seinem dämonischen Diener zu folgen, geriet dieser in den unheimlichen Sog des über der Stadt schwebenden Schattens, wurde er von diesem ebenso vollkommen und lautlos verschlungen wie das klare Bewusstsein eines Teils der Bewohner.

Dann war der schwarze Vogel vorüber und Seth entdeckte, dass er im Mittelpunkt einiger Städter stand, die offenbar glaubten, der Priester wäre für den schwarzen Vogel verantwortlich.

Mit grimmigen Mienen umringten sie ihn, den Kreis immer enger ziehend, verlangend, dass der Priester den Vogel wieder dorthin sandte, woher er ihn gerufen hatte, ihre Forderung mit wütenden Schmähungen und eindeutigen Drohungen unterstreichend.

Seth machte sich nicht die Mühe auf die Forderungen einzugehen. Selbst wenn er gegen die Vielzahl der Stimmen angekommen wäre, hätten sie ihm nicht geglaubt, waren sie viel zu erpicht danach einen Sündenbock zu finden, um diesem Schuld und Verantwortung aufladen zu können. Es war unmöglich den immer näherkommenden auszuweichen; jeden von ihnen im Blick zu behalten, um einem möglichen Angriff rechtzeitig auszuweichen. Dieses Mal würde er nicht damit davon kommen einem seiner Gegner den Kopf in den Magen zu rammen. Auch nicht, wenn er noch die dafür passende Größe gehabt hätte. So rief der Priester stattdessen Kaiphas, der sich gleich darauf in beeindruckender Größe um seinen Wirt schlängelte und ein ohrenbetäubendes Brüllen hören ließ, die näher rückende Menge für einen Moment erschrocken innehaltend und leicht zurückweichen lassend.

Als die Leute jedoch bemerkten, dass der Priester glaubte ihnen auf diese Weise entkommen zu können, um nicht Rechenschaft für sein Tun ablegen zu müssen, gewann wieder der Zorn die Oberhand und sie begannen erneut ihr Opfer in die Enge zu treiben.

Kurz verengten sich die Augen Seths, als er sah dass allein der Anblick des Dämons die Menschen nicht dazu brachte ihn durchzulassen. Ihm blieben nicht all zu viele Möglichkeiten: Entweder er befahl Kaiphas ihn davon zu tragen, was für Seths Geschmack viel zu sehr nach feiger Flucht schmeckte. Oder er ließ den Dämon tatsächlich angreifen, um sich einen Weg frei zu schlagen, etwas dass ihm vielleicht für kure Zeit Luft verschaffen würde, aber die Menschen mit Sicherheit dazu bringen würde, zurückzuschlagen. Kaiphas mochte in der Lage sein die Mehrzahl von ihnen rechtzeitig auszuschalten, aber das würde wohl nicht reichen, um den Rest zu entmutigen.

Zu reden machte keinen Sinn, er brauchte nur in die Gesichter der Leute zu sehen, um zu wissen, dass sie entschlossen waren nichts von dem zu glauben, was er ihnen sagen würde. Wie er es auch drehte und wendete, seine Chancen standen nicht gut und je länger er zögerte, umso schlechter wurden sie. Eine Entscheidung treffend, glitt der Blick des jungen Priesters suchend über die ihn umringenden Menschen und fand schnell, was er suchte. Einen Mann der offenbar nur von der Menge mitgerissen worden war und sich unversehens in der ersten Reihe wiedergefunden hatte, nur halbherzig zu dem Chor der empörten und wütenden Stimmen beitragend, sich unsicher und nervös nach einem Weg umsehend, sich endlich davon stehlen zu können. Diesen Mann unverwandt ansehend, bemüht ihm seinen Willen aufzuzwingen, forderte Seth: „Lass mich durch!“

Unfähig dem intensiven Blick der blauen Augen standzuhalten, huschte der Blick des nervösen Mannes hin und her, panisch nach einem Ausweg suchend, doch noch mit heiler Haut davon zu kommen, während die Umstehenden empört protestierten, manch einer mit der Faust drohend.

Seth hielt sich nicht mit weiteren Worten auf, er hatte seinen Willen demonstriert, die Sache gewaltlos zu beenden. Sie hatten sich geweigert, also war es jetzt an Kaiphas sie umzustimmen. Noch während der Echsendämon in einem Scheinangriff nach vorn zuckte und sein beeindruckendes Gebiss nur Millimeter vor den ersten Gegnern zuschnappen ließ, rief Seth einen weiteren Dämon. Einen Mann, der beinahe vollkommen von dem riesigen Schild, das er trug verdeckt wurde und der nun den bloßen Rücken des Priesters deckte, während dieser ohne sich Angst oder Verunsicherung anmerken zu lassen, den Weg beschritt, den Kaiphas mit seinem ersten Angriff begonnen hatte freizulegen.
 

Dieser Weg war trotz des seinen Rücken schützenden Schilddämons und dem abwechselnd nach den Menschen schnappenden oder drohende Lichtkugeln erzeugenden Kaiphas’ keineswegs ungefährlich. Wagten es die Menschen auch nicht direkt anzugreifen, waren sie doch entschlossen genug, dem Priester mit Steinen zu zeigen, was sie von ihm hielten.

Die ersten dieser Geschoße wehrte der Schildträger ab, anderen wich der Priester rechtzeitig aus, während er Mühe hatte Kaiphas zu zügeln, der nur zu gern seine Drohungen wahrmachen und zu tödlichen Angriffen werden lassen wollte.

Erleichtert entspannte sich Seth bereits ein wenig, als er nur noch einen Schritt davon entfernt war, den lebenden Wall aus Menschen hinter sich zu lassen und seine eigentliche Suche fortsetzen zu können, als ihn unversehens von rechts ein Geschoß traf, während der Schildträger damit beschäftigt war Angriffe von der linken Seite abzuwehren. Kurz taumelte Seth, stolperte und erkannte einen Moment später verwirrt, dass er beinahe gestürzt wäre, sich gerade noch rechtzeitig abfangend und weiterlaufend, einige Sekunden lang orientierungslos und nicht wissend, wo genau er sich befand und warum. Dann nahm er plötzlich wieder die Geräusche der Menge hinter sich war, die begonnen hatte ihn zu verfolgen. Sie hatten gesehen, dass er verwundbar war, nun nicht mehr bereit sich von Dämonen einschüchtern zu lassen. Wieder traf Seth eines der nun unausgesetzt fliegenden Geschosse und er gab die Mühe auf, Kaiphas zu zügeln.
 

Mit ungehinderter Macht fraß sich ein greller Lichtblitz in das festgetretene Erdreich, riss eine tiefe Furche zwischen dem Priester und seinen Verfolgern in den Boden. Die Anführer der Meute zögerten nur Sekundenbruchteile, bevor die Nachdrängenden sie vorwärts und in den Graben hinein trieben. Mit dumpfem Krachen, Hals und Augen reizende Staubwolken aufwirbelnd, die den Jägern eine Zeitlang den Blick auf ihre Beute nahmen, brachte Kaiphas Häuser zum Einsturz, Barrikaden errichtend, die es den Verfolgern erschwerten dem Priester nachzusetzen und es diesem ermöglichten sich in Sicherheit zu bringen.
 

In der Nähe der Prunkstraße angekommen, lehnte sich der junge Priester schließlich gegen eine der noch intakten Hauswände. Ihm war merkwürdig schwindlig, sein Kopf schmerzte, Übelkeit verknotete Magen und Kehle und seine Augen schienen beschlossen zu haben ein Eigenleben zu führen und in ihren Höhlen tanzen zu lernen. Vorsichtig tastete er nach der Stelle an seinem Kopf, an der er getroffen worden war. Seine Haare fühlten sich klebrig und warm an, feucht von einer zähen Flüssigkeit. Als er seine Hand zurückzog und betrachtete, war er nicht überrascht Blut an den Fingerspitzen kleben zu sehen.

Für einen Moment neigte Seth den Kopf in den Nacken, ihn ebenfalls gegen die Hauswand stützend, die Augen geschlossen, sich darauf konzentrierend zu atmen und sein weiteres Vorgehen zu überlegen. Als er sich die Augen öffnend wieder aufrichtete, war sein Schildträger kaum noch unter den braungrünen, dornigen Zweigen eines biegsamen Schlingpflanzengewächses zu erkennen.
 

An dem Ende der Gasse, das auf die Prunkstraße hinausführte, stand nun ein in einen dunklen Umhang gehüllter Mann, der offenbar für den Pflanzendämon verantwortlich war. Ohne sich zu rühren, ließ Seth Kaiphas den Mann angreifen, dessen Silhouette ihm vage bekannt vorkam, ohne dass es ihn interessierte oder er eine Vermutung hatte, wo er den Mann schon einmal gesehen haben mochte.

Im gleichen Augenblick als der Echsendämon eine weitere seiner grellen Lichtkugeln erzeugte und auf sein Ziel schleuderte, hatte der Vermummte mit Hilfe des Pflanzendämons den Schildträger zu sich herangezogen und schützend vor sich gestellt.

Es war Seth der gleich darauf zu spüren bekam, wie ein Teil seines Ka aufgezehrt wurde, als der Schildträger unter der Wucht von Kaiphas Angriff zersplitterte. Wieder wurden die Augen Seths schmal, während er seinen Gegner taxierte und Kaiphas erneut angriff.

Mit ungeduldiger Anspannung wartete Seth darauf, dass dieses Duell nun sein Ende fand, als sich plötzlich die peitschenartigen Zweige des Pflanzendämons um ihn schlangen und er zum Schutzschild gegen das tödliche Licht des Echsendämons wurde. Es war unmöglich sich aus diesem enganliegenden Käfig zu befreien, dessen Dornen sich schmerzhaft in die Haut gruben. Unmöglich den heranrasenden Angriff Kaiphas’ noch aufzuhalten…

Lautlos traf das grelle Licht des Echsendämons auf den Kopfputz eines menschenähnlichen Wesens, das in den über der Brust gekreuzten Händen Krummstab und Wedel hielt, auf dem Kopf eine Mondscheibe tragend, scheinbar blind für das, was um ihn geschah.

Brüllend wich Kaiphas dem auf ihn zurückgeworfenen Angriff aus.

Wortlos verzog Seth die Lippen zu einem grimmigen Lächeln, während er durch die Zweige seines Kerkers spähend, zufrieden den Rücken seines neugerufenen Dämons betrachtete.
 

Einen Augenblick später stand der Dämon zwischen dem Vermummten und Seth, reglos in die Augen des Unbekannten starrend, während Kaiphas ein drittes Mal angriff, dieses Mal nicht nur den ungeschützten Rücken des Mannes ins Visier nehmend, sondern auch den Kopfputz des menschlichen Dämons, der leicht den Kopf neigte, als wolle er zustimmend nicken.

Kaum hatte der Vermummte im Spiegel der Mondscheibe den drohenden Angriff Kaiphas’ bemerkte, befahl er dem Pflanzendämon hastig, sich in seinem Rücken aufzubauen, den gefangenen Priester erneut als Ersatzopfer anbietend.

Dann geschah alles gleichzeitig. Noch während Seth durch den Pflanzendämon gezwungen erneut zum Schutzschild wurde, spie Kaiphas ein drittes Mal blendend helles Licht gegen den Angreifer, stürzte ein glutfarbener Schemen mit atemberaubender Geschwindigkeit vom Himmel, den pflanzlichen Käfig mit den Krallen packend, in der gleichen Sekunde wieder nach oben strebend, sprang der Vermummte hastig zur Seite, sich im Rücken des menschlichen Dämons in Sicherheit bringend. Der jedoch war ebenso plötzlich verschwunden, wie er aufgetaucht war und erbarmungslos gleißende Helligkeit erfüllt die Gasse bis in den entlegensten Winkel.
 

Weder der Benu noch seine beiden Passagiere achteten auf dieses Schauspiel. Seth nicht, weil er inzwischen völlig von den Zweigen des Dämons eingeschlossen war. Der Benu nicht, weil er sich auf die Richtung konzentrierte, in die er folg und Atemu nicht, weil er sich darum bemühte seinen Freund noch rechtzeitig aus dessen misslicher Lage zu befreien. Aber jeder dämonische Versuch Seth aus seinem Käfig zu befreien, scheiterte an der Eigenart des Pflanzendämons, die Folgen eines Angriffs auf sein Opfer zu übertragen.
 

Wenig später erreichte der Benu den Schlosshof und stieß bereits während er noch dabei war zu landen einen weithörbaren Schrei aus. Es war ein einzelner Schrei, tief und klar, beinahe menschlich klingend und eindeutig um Hilfe rufend. Kaum hatte der Vogel seine Last abgesetzt und selbst Boden unter den Füßen, begann er die Zweige der Schlingpflanze vom Gesicht des Priesters zu reißen, um zu verhindern, dass sich die spitzen Dornen in dessen Augen gruben.

Atemu beeilte sich vom Rücken des Benu zu gleiten und ebenfalls die dornigen Zweige mit bloßen Händen herunterzureißen. Immer wieder setzten sich die Zweige dabei zur Wehr, schienen wie zufällig den nach ihnen greifenden Händen und dem Schnabel auszuweichen, versuchend seine beiden neuen Angreifer ebenfalls einzuwickeln, jedes Mal hastig fortgerissen werdend.
 

Unterdessen schien der Ruf des Benu im Palast gehört worden zu sein, denn zwei nervös wirkende Diener kamen vorsichtig näher, sahen sich besorgt nach der Ursache des Lärms um, entdeckten den energisch Zweige herunterreißenden König und liefen zu diesem hinüber, um dessen Befehle entgegen zu nehmen. Der Befehl war kurz und klar, sodass sie gleich darauf zu viert Seth aus seinem Gefängnis befreiten und gleich darauf einer der Diener zu Shimon voraus lief. Während der zweite Diener den zerstochen und geschwächt wirkenden Priester stützte.

Ohne auf Atemu und den Diener zu achten, beugte Merenseth ihren Hals, sah Seth für einen Moment in die Augen und kniff ihn dann plötzlich schmerzhaft in die Nase, ein verärgertes „Lass das!“ provozierend, während sie den Kopf bereits wieder zurückzog und ein empörtes Tschilpen von sich gab. Gestützt auf den Diener, starrte Seth seinen Benu ungehalten an und knurrte missmutig: „Ich habe sie nicht gebeten mich umzubringen, hör auf dich zu beschweren!“ Merenseth schien davon nicht sonderlich beeindruckt. Stattdessen einen kurzen Pfiff ausstoßend, der von reiner Skepsis bis hin zu der Forderung sich behandeln zu lassen alles bedeuten konnte, und schlug mit den Flügeln, um davon zu fliegen, sich gleichzeitig zu normaler Größe verkleinernd.

„Ich hab nicht gesagt, dass du verschwinden darfst“, Seth klang noch immer verärgert, erhielt als Antwort jedoch nur einen weiteren Triller, dieses Mal merkwürdig beruhigend klingend, bevor der Vogel endgültig davon flog, hinauf zu dem bedrohlich am dunkeln Himmel schwebenden Wolkenqualm.
 

Irritiert hatten sowohl Atemu als auch der Diener dieses mehr als eigenartige Gespräch verfolgt und schienen nun nicht recht zu wissen, wie sie reagieren sollten, war der Priest doch offenbar sehr viel schwerer mitgenommen, als es dem ersten Anschein nach ausgesehen hatte. Dessen ungeachtet sah Seth noch einen Moment dem sehr schnell kleiner werdenden glutfarbenen Punkt am Himmel nach, ehe er sich, den Diener noch immer als Stütze gebrauchend, umwandte und dem Inneren des Palastes zustrebte.
 

Schwer und bedrohlich hing die riesige dunkle Wolke Isfet über dem Land, schien allein durch ihre Gegenwart Maat und das Leben selbst zu ersticken. In Wahrheit kopflos aufgeregtes Durcheinander verursachend. Immer schneller und gieriger streckte Isfet seine Glieder aus, um sich zurückzuholen, was ihm einst von den Göttern geraubt worden war. Immer auswegloser wurden die Versuche der Menschen sich in Sicherheit zu bringen.
 

Zwischen den stetig aufs Neue herabzuckenden qualmschwarzen Tentakeln flog nun ein einzelner, glutfarbener, im Vergleich zu der Größe Isfets verschwindend kleiner Benu. Immer wieder hastig ausweichend, zielsicher auf die Mitte des riesigen Wesens zu haltend.

Keiner der Menschen bemerkte etwas von diesem Schauspiel, hörte die Melodie, die der Vogel begonnen hatte zu singen.

Das mächtigste Lied der Benu, einzig zu hören dem Gott Re bestimmt, wenn er am Ende der Nacht die Unterwelt verließ, als Cheper wiedergeboren einen neuen Tag verkündete. Jenes Lied, das es diesem König der Götter die Tore zwischen den Welten öffnete, das Lobpreis und Jubellied, Dank und Bittgesang zugleich war.

Isfet vernahm den Gesang. Hörte ihn nur zu gut, diesen Spottgesang auf seine Ohnmacht, seine Niederlage und Knechtschaft. Ein klangloses Brüllen brachte die Luft zum Brodeln, fegte über den Boden und entwurzelte alles, was nicht genügend Halt besaß, verursachte Risse in Felsen und presste die Menschen erbarmungslos zu Boden.

Nur der Benu flog weiter unbeirrt zwischen den wild tänzelnden Raucharmen Isfets hindurch, noch immer singend, Isfet reizend. Gleichzeitig begann am Boden als Folge der Melodie das Leben mit aller Kraft hervorzubrechen. Ungestüm zu wuchern, in aller erdenklichen Pracht zu erblühen, um nur Sekunden später unter der wütenden Wucht Isfets zu vergehen und gleich darauf neu zu erstehen.

Isfets unzählige Glieder hatten längst aufgehört sich wahllos das Land und was darin lebte einzuverleiben, nur noch daran interessiert diesen höhnisch singenden Störenfried zum Schweigen zu bringen. Bestrebt ein unzweifelhaftes Zeichen zu setzen, wer am Ende der Sieger sein würde. Es konnte nur Isfet geben.

Aber noch immer erklang das Lied, das ihn verspottete. Entfloh der Bote der Götter noch immer unermüdlich den Fängen Isfets. Peinigte er ihn mit der Macht Res, schwächte ihn mit der Wahrheit Maats. Trieb ihn dazu in dumpfer Wut blindlings um sich zu schlagen, ohne dabei etwas anderes in Bewegung zu versetzen als Luft.
 

Im Palast hatte Shimon unterdessen die Verletzungen Seths behandelt, während Atemu berichtete was mit Karim geschehen war und was es mit dem Schatten auf sich hatte, der über die Stadt geflogen war. Sobald der König seinen Bericht beendet hatte, verlangte er zu wissen: „Wo ist der Tjt? Er wird wissen, wie wir Isfet besiegen können.“

Unwissend schüttelte Shimon den Kopf, während Seth nur knapp und sachlich erklärte: „Er ist tot.“

„Tot?!“ echote Atemu völlig verblüfft, als wäre Akunemkanon in seiner Vorstellung stets ein unsterbliches Wesen gewesen, während Shimon aufmerksam seinen Patienten betrachtete und schließlich die Frage stellte: „Was ist passiert?“

Ohne dem Blick des alten Arztes auszuweichen, erwiderte Seth noch immer vollkommen sachlich: „Ich habe ihn umgebracht. In dem Raum, in dem die Beschwörungen durchgeführt werden.“

„Aber warum?“ Atemu klang noch immer fassungslos, während er die Stirn in dem Bemühen runzelte zu begreifen.

Langsam wandte Seth den Blick von Shimon ab und dem König zu, nicht wissend was er auf diese Frage antworten sollte, bis er seine eigenen Worte hörte: „Weil es nötig war.“

„Nötig?!“ wiederholte Atemu gereizt, „warum soll es nötig gewesen sein den Bruder meines Vaters zu töten?“

Seth schwieg darauf, sah den König nur abwartend an und als dieser ihn anfuhr: „Was ist? Hast du auf einmal deine Sprache verloren? Oder fällt dir nicht ein, wie du deinen Verrat rechtfertigen kannst? Haben dir die Toten nicht gereicht, dass du auch noch den Tjt ermorden musstest?“

Kurz glitt ein zynisches Lächeln über das Gesicht Seths, bevor er erwiderte: „Ich habe keinen Verrat begangen.“

„Willst du vielleicht behaupten, Akunadin hätte mich verraten und du mir einen Gefallen getan, ihn zu töten?“

Seth blieb die Antwort auf diese Frage schuldig, wandte stattdessen seine Aufmerksamkeit wieder Shimon zu, Atemu nur noch mehr in Rage bringend. „Weißt du, was wir tun können?“

„Ich?“ fragte der alte Arzt erstaunt, der nicht damit gerechnet hatte, dass ihm jemand mehr als medizinisches Wissen zutraute.

Ein wenig abfällig taxierte der Priester den Arzt für einen Moment, ehe er sich doch zu einer Erklärung herabließ: „Du bist Arzt. Du bekommst vieles zu sehen, was anderen verborgen bleibt. Und du kanntest Akunemkanon und seinen Bruder besser als irgendwer sonst in diesem Palast.“

Neugierig musterte Shimon seinen Patienten, ohne sich an dessen Herablassung zu stören, bevor er nur bestätigend nickte und erwiderte: „Ich kannte sie – und ich denke, ich weiß, wer du bist.“

Wieder verengten sich die Augen Seths für kurzen Moment, während er schneidend erwiderte: „Ein Amunpriester, deine Auffassungsgabe ist beeindruckend.“

Bevor der alte Arzt darauf etwas sagen konnte, mischte sich Atemu wieder in das Gespräch ein. „Hüte dein Zunge, Hemneter, oder sie wird das Erste sein, das dir genommen wird“, dann wandte sich der König an Shimon, diesen mit wesentlich mehr Beherrschung fragend: „Hat er recht, weißt du etwas darüber, wie wir Isfet aufhalten können?“

Shimon nickte. „Ich möchte dir etwas zeigen, wenn du erlaubst.“

Kaum hatte Atemu sein Einverständnis signalisiert, wandte sich der Arzt ab und lief dem König voraus aus dem Zimmer, Seth allein zurücklassend, der ihnen nachdenklich nachsah.
 

In einem kleinen, bescheiden eingerichteten Raum angekommen, der Shimon offenbar als Schlafzimmer diente, blieb der Arzt neben dem Bett stehen und Atemu konnte sehen wie er nach der am Bettende stehenden Kopfstütze griff, gleich darauf die beiden nur ineinander gesteckten Hälften von einander trennend. Die halbmondförmige Auflage legte Shimon achtlos beiseite. Den Sockel behielt er in der Hand, sich dem hinter ihm stehenden König zuwendend. Auf den ersten Blick schien der Sockel recht plump gemacht zu sein, einfach ein rechteckiger Kasten, der mit Schnitzereien versehen worden war. An den vier Ecken des Sockels waren die Namen der vier Horussöhne eingraviert und über diesen der jeweilige Name der Schutzgöttin.

Irritiert verzog Atemu das Gesicht und sah den alten Mann fragend an. Was hatten Kanopengötter auf dem Sockel einer Kopfstütze verloren?

Shimon lächelte, während er die unausgesprochene Frage des Herrn der beiden Länder beantwortete: „Sie sind nicht nur Totengötter, sondern ebenso Wächter, Sternengötter und Krönungsboten.“

„Und was sind sie in diesem Fall?“

„Entscheide selbst“, erwiderte Shimon nur, während er den Deckel des Kästchens anhob und es Atemu hinhielt, damit dieser hineinsehen konnte.

„Papyrus?“ Atemu klang überrascht und ein wenig zweifelnd; was sollte das alles?

„Sieh es dir genauer an“, forderte der Arzt nur geduldig und sah zu, wie Atemu nach den kleinen, rechteckigen Stücken bemalten Papyrus’ griff. Es waren drei an der Zahl. Wie alt sie sein mochten, ließ sich nicht sagen, aber es war ihnen anzusehen, dass sie nicht erst vor kurzem entstanden waren. Auf jedem der drei Papyri war ein Dämon abgebildet, zusammen mit einem darunter befindlichen Beschwörungstext. So handlich klein diese Papyrusstücken waren, vermittelten sie doch schon eine Ahnung, wie machtvoll die Dämonen sein mochten, wenn sie gerufen wurden.

„Welcher ist der mächtigste?“ verlangte Atemu zu wissen und sah von den Papyri in seinen Händen in das Gesicht Shimons, der ihn mit einem seltsamen, schwer zu deutenden Ausdruck betrachtete und nun behutsam erwiderte: „Du wirst sie alle drei benötigen.“

Irritiert runzelte Atemu die Stirn, „man kann immer nur einen Dämon beschwören.“ Dass er Gelegenheit haben würde einen weiteren herbeizurufen, sollte Isfet dem ersten überlegen sein, wagte er zu bezweifeln.

Unterdessen hatte Shimon das Kästchen noch einmal zu sich herangezogen, um ein ungewöhnliches und recht unhandliches Amulett hervor zu holen, auf das Atemu bisher nicht geachtet hatte, zu fasziniert von den Dämonenpapyri. „Damit wird es gehen.“

Verdutzt sah der König Shimon an, kam jedoch nicht dazu seine Frage laut zu stellen, denn der alte Arzt erklärte: „Die Legende besagt, dass Re dieses Kästchen und seinen Inhalt seinem Sohn, dem ersten Horus auf Erden gab, um das Land nicht an Isfet fallen zu lassen. Seitdem blieb es im Besitz der rechtmäßigen Könige Kemets. Dein Vater vertraute es mir vor langer Zeit an, damit ich darauf Acht und es dir weitergebe, sollte ihm etwas zustoßen. Es ist an der Zeit, dass du dein Erbe antrittst - und dich dessen würdig erweist.“

Schweigend, mit gesenktem Kopf hatte der junge König zugehört und ein warnendes Prickeln im Nacken verspürt. Es gab da etwas, dass der alte Arzt ihm verschwieg, das vielleicht wichtig war und er wissen sollte. Aber etwas hielt ihn zurück zu fragen. War es Furcht? Vielleicht. Aber viel mehr als das, war es die feste Überzeugung, dass das, was Shimon ihm verschwieg nichts an seiner Aufgabe als Horuserbe ändern würde. Und so streckte er schließlich nur wortlos die Hand nach dem verzierten Kästchen aus und legte die drei kleinen Papyri wieder hinein, nachdem Shimon es ihm zusammen mit dem Amulett überlassen hatte.
 

Nachdem er das Zimmer des Arztes verlassen hatte, lief Atemu auf direktem Weg zu den Stallungen, um sich ein Pferd zu holen. Zu seiner Überraschung erwartete ihn im Hof bereits Seth, zwei Pferde am Zügel haltend. Wortlos nahm Atemu den Zügel entgegen, den ihm der Priester reichte und saß auf. Erst danach erklärte er in unnachgiebigem Tonfall an Seth gewandt, der ebenfalls aufsaß: „Ich brauche keine Hilfe von einem Verräter!“

„Sehr heroisch und noch viel dümmer“ lautete das mit solcher Herablassung vorgebrachte Urteil des Priesters, dass der König im ersten Moment nur wütend mit den Zähnen knirschte, bevor er erwiderte: „Ich habe dich bereits mehr als einmal gewarnt, deine Zunge zu zügeln. Treib es nicht zu weit!“

Wieder verzog einen Wimpernschlag lang ein zynisches Lächeln Seths Gesicht, ehe er ungerührt konterte: „Was willst du tun? Mich mehr als einmal hinrichten?“

Statt einer Antwort durchbohrte Atemu nur mit Zorn sprühendem Blick den gleichgültig kühlen Seths, gleich darauf abrupt sein Pferd antreibend, sich nicht länger darum kümmernd, was der ehrlose Priester tat.
 

Ohne dass König und Priester darauf geachtet hatten, hatte sich die Form Isfets ein weiteres Mal verändert. Den Blättern einer herabhängenden Blüte ähnlich, hatte sich die Wolkendecke zu einer Art prallen Knospe geschlossen, groß genug um mit ihren Enden Himmel und Erde zugleich zu berühren. Reglos verharrte die dunkle Masse einige Zeit in dieser Form, als müsse sie etwas in ihrem Inneren erst verdauen.
 

In vollem Galopp sprengte Atemu unterdessen durch die Straßen der Stadt, zufällig im Weg stehende Menschen zwingend ihr Heil in hastigen Seitensprüngen zu finden, ritt hinaus in die Wüste, auf den unheilvollen Dämon zu.
 

Isfet schien bemerkt zu haben, dass sich jemand näherte, denn auf einmal fiel die konische Säule in sich zusammen, wallte über den Boden, zog sich zurück und nahm wieder die Gestalt einer Schildkröte an. Den beeindruckenden Schnabel öffnend, neigte Isfet den Kopf, dem so bereitwillig herbei reitenden Opfer zu.

Atemu hatte Mühe sein Pferd unter Kontrolle zu halten, dessen Nervosität angesichts des riesigen, dunklen Schattens vor sich in helle Panik umgeschlagen war; bockend und an den Zügeln zerrend, versuchend seinen Reiter abzuwerfen und sich in Sicherheit zu bringen.

Unaufhaltsam senkte sich der Schildkrötenkopf herab. Bockte das Pferd zu sehr, als das der König hätte das Kästchen öffnen und den ersten der drei Dämonen beschwören können. Kurz bevor der Schnabel der Schildkröte über Pferd und Reiter zuschnappen konnte, traf ein greller Lichtstrahl auf die Stirn des Dämons, drang in dessen Kopf und ließ diesen in unzählige winzigste Rauchwölkchen zerstieben, während sich das Licht schwächer werden im Hals Isfets verlor.

Endlich gelang es Atemu das Pferd so weit zu beruhigen, dass er das Kästchen öffnen konnte.

Der kopflose Rumpf der dunklen Schildkröte war in sich zusammen gefallen, im nächsten Moment als züngelnde Riesenschlange zu neuem Leben zu erwachend.

Und wieder ließ Seth Kaiphas angreifen, die Schlange von ihrem eigentlichen Ziel ablenkend, dem Erben des Horus Zeit verschaffend, hastig das Amulett überzustreifen und nach dem obersten der drei Papyristücken zu greifen.

Bemüht die Anwesenheit des Priesters ebenso auszublenden wie die Angriffe und Ausweichmanöver Kaiphas’, konzentrierte sich Atemu einzig auf Bild und Inschrift des Papyrusstückchens in seiner Hand. Er konnte sich keinen Fehler erlauben. Die Beschwörung musste beim ersten Mal gelingen oder Kemet war endgültig dem Untergang geweiht. Aber es war nicht eben einfach eine uralte, umständliche Beschwörung zu intonieren, wenn man in der akuten Gefahr schwebte jeden Augenblick umgebracht zu werden.

Es war bei weitem nicht der beste Sprechgesang, den man sich vorstellen konnte, aber er genügte, seinen Zweck zu erfüllen. Mit einem bedrohlichen Brüllen erschien der erste der drei Dämon. Schlangenähnlich, rot wie die Wüste und wie der unablässig wandernde Sand, befand sich sein Leib in ständiger Bewegung, zog Schlingen und Achten, wand sind und erzeugte auf dies Weise das dauernde Geräusch aufeinander reibender Schuppen.

Beruhigt sah und hörte Atemu diesen Erfolg, bereits die nächste Karte hervorholend, während nun auch der schlangenähnliche Dämon dazu beitrug Isfet in Schach zu halten.

Gleich darauf erschien der zweite Dämon. Von der Farbe der Sonne, strahlte er in der Dunkelheit Helligkeit und Wärme aus. Erinnerte er in seiner Gestalt halb Vogel, halb Katze an Re und Horus zugleich.

Erleichtert atmete der König aus, nur noch einer und Isfet würde besiegt werden. Er hatte den Gedanken kaum zu Ende gedacht, als ihn unvorbereitet ein Schmerz durchfuhr, der ihn in seiner Intensität beinahe vom Pferd gerissen hätte, der das Kästchen seiner plötzlich kraftlosen Hand entgleiten ließ. Seine Umgebung verschwamm, wurde konturlos, schien sich aufzulösen. Zusammengekrümmt und hilflos saß er tief über den Hals seines Pferdes gebeugt da und nur der eine Gedanke hallte unverwandt klar durch seinen Kopf: Er durfte jetzt nicht aufgeben, es brauchte nur noch einen Dämon und Kemet war gerettet. Er bemerkte nicht, dass Seth von seinem Pferd gestiegen war und das Kästchen aufhob. Sah nicht, wie der Priester das letzte Stück Papyri in die Hand nahm. Hörte nicht wie Seth den dritten und letzten Dämon beschwor, der der Erde entstieg wie ein Skarabäus, von ebensolcher Farbe. Ein Wesen von kantig menschlichem Aussehen und beeindruckender Größe.

Allmählich ließ der Schmerz nach, spürte der Erbe des Horus, wie sich eine Hand auf seine Schulter legte und ihm etwas in die Hand gedrückt wurde, hörte er die ruhige Aufforderung: „Bring es zu Ende. Ruf die Boten.“

Die Boten? Atemu war verwirrt, richtete sich jedoch mühsam auf und erstarrte für einen Moment überrascht als er den blauen Riesen zu sehen bekam, sah dann jedoch wieder auf das Kästchen hinab, dass Seth ihm in die Hand gedrückt hatte und verstand. Auf dem Deckel war eine weitere Beschwörung eingraviert, die er bisher nicht beachtet hatte, in der Annahme sie wäre reine Zierde.

Während jeder der vier Dämonen Isfet auf seine Art aus der Distanz angriff, wann immer sich eine Möglichkeit ergab, jeder für sich allein kämpfte, den Versuchen Isfets ausweichend, sich die Angreifer einzuverleiben, sprach Atemu die in den Deckel der Schatulle gravierte, letzte der Beschwörungen. Seine Stimme klang geschwächt, war teilweise kaum mehr als ein Flüstern, einzig getragen von einem unbeugsamen Willen. Es mocht dieser Wille sein, der die Angerufenen überzeugte, denn kaum war die letzte Silbe verklungen, wurden die Namen der Horussöhne zu deren Verkörperungen, wandelten sich die Namen der Schutzgöttinnen in deren Abbilder, errichteten sie ein Bannfeld um Isfet, das es diesem unmöglich machte sich hinauf in den Himmel zu heben oder sich über die Erde auszubreiten. Nahmen sie den Dämon gefangen in einem unsichtbaren Käfig, der jedes Entkommen verhinderte.

Gereizt brüllte Isfet vor Wut. Selbst dieser Ausbruch war noch darauf ausgerichtet Existierendes in sich einzusaugen. Statt eines ohrenbetäubenden Schreis, war dieses Gebrüll wie ein tiefes, schreckliches Einatmen, das einem das Gefühl vermittelte, die Haut würde einem abgezogen und das Mark aus den Knochen gesaugt werden. Selbst den Dämonen bereitete es Mühe, sich gegen diesen Sog zur Wehr zu setzen und erst der gleichzeitige Angriff aller Vier brachte Isfet für einen Moment zum Verstummen.

Reglos lag das formlose Schattenwesen am Boden, ein scheinbar harmloser Haufen schwarzen Qualms, der von einem starken Windstoß zerstoben und davon getrieben werden konnte.

Reglos verharrten die vier Dämonen, ihre Köpfe noch immer Isfet zugewandt, wartend.

Reglos standen auch die Horussöhne und Schutzgöttinnen und ein wenig ratlos sahen sich König und Priester an: War es geschafft? Sollte es das wirklich gewesen sein und Kemet gerettet?

Plötzlich zuckten aus der schwarzen Masse gleichzeitig vier Tentakel hervor, schlangen sich um die vier Dämonen, die durch den Sog Isfets in das Innere des Bannfeldes geraten waren. Mit aller Kraft wehrten sich die Opfer Isfets dagegen in dessen ewige Dunkelheit gezogen zu werden, mit voller Wucht bekamen Atemu und Seth zu spüren, was es hieß in die Fänge Isfets zu geraten. Stürzten sie zu Boden, nicht einmal mehr in der Lage ihre Qual herauszuschreien.
 

Es war die Schutzgöttin des östlichen Horussohnes, Neith, die mit Hilfe von Pfeil und Bogen Isfet in die Schranken wies, die vier Dämonen befreite, für ein weiteres Unentschieden in diesem Kampf sorgte.

Geschwächt brachten sich die vier Dämonen jenseits des Bannfeldes in Sicherheit.

Entkräftet richteten sich der Erbe des Horus und sein Begleiter auf, sahen sie das nun wieder schlangengestaltige Wesen, das zischend nach einem Ausweg aus seinem Gefängnis suchte.

Besorgt musterte Atemu die an den Ecken des Bannfeldes stehenden Götter, was wenn es Isfet gelang sie zu verschlingen, wie sollten sie es dann noch aufhalten?

Unvermittelt traf sein Blick auf den Imsetis, des südlichen Sterngottes, der ihn auffordernd anzusehen schien, als warte er auf etwas. Wie hypnotisiert erwiderte der Herr der beiden Länder diesen Blick. Dann war es, als würde etwas in seinem Kopf an die richtige Stelle verschoben werden, sodass er plötzlich wusste, was zu tun war.

„Lass mich deinen Dämonen befehlen“, Atemu hatte sein Gesicht Seth zugewandt. Seine Stimme war zugleich Bitte und drängende Forderung. Er wusste, was er da verlangte und verstand nur zu gut, warum ihn der Priester einen Moment nur schweigend ansah, ohne zu reagieren. Wenn sein Plan fehlschlug, würde nicht nur er sterben, sondern auch Seth. Andererseits würde bei einem Fehlschlag ohnehin niemand überleben.

Etwas Ähnliches schien wohl auch dem Priester durch den Kopf zu gehen, denn er nickte nur wortlos.

Erst als er erleichtert aufatmete, bemerkte Atemu, dass er vor Anspannung unwillkürlich die Luft angehalten hatte. Sobald er das Einverständnis Seths hatte, wandte er seine Aufmerksamkeit wieder Isfet und dem Bannfeld zu und sandte die vier Boten aus, Nachricht zu bringen zu Osiris im Norden, Thot im Westen, Seth im Süden und Re im Osten, dass das Menschengeschlecht ohne sie verloren war und demütig um Hilfe bat, um zu besiegen, was das Leben aller, Menschen wie Götter bedrohte.

Als nächstes erhielt Kaiphas Befehl seine Lichtattacken auf die Grenzen des Bannfeldes zu speien, sodass im nächsten Moment gleißend helle Lichtwände aus dem Boden emporwuchsen und Isfet blendeten, das gepeinigt blindlings angriff und ins Leere stieß, auf sich selbst zurückgeworfen durch die Macht der Göttinnen und das Licht des Echsendämons.
 

Imseti kehrte aus dem Süden zurück, das Einverständnis des Herrn der Wüste mit sich bringend und Atemu befahl dem roten Schlangendämon, dem gelben Katzenfalken und dem blauen Riesen sich zu vereinigen, im Namen des Gottes Seth, dem Bezwinger Apepis. Kaum war das geschehen, befahl der Herr der beiden Länder dem auf diese Weise neuentstandenen Wesen Isfet erneut anzugreifen.

Im gleichen Augenblick als der dreifach Eine auf Isfet traf, kehrten auch Hapi und Kebechsenuef aus dem Westen und Norden zurück, die Gabe Osiris’ und Thots mit sich bringend: Einen Kanopenkrug, dessen Außen- und Innenseiten dicht beschrieben waren und dessen Deckel fehlte. Den leeren Krug in den Bannkreis legend, kehrten sie an die Seiten ihrer Schutzgöttinnen zurück und überließen es dem Dämon Isfet in das Innere des Kruges zu drängen.

Nun kehrte auch der letzte der vier Horussöhne zurück, auf seinem Weg von Osten her die noch immer herrschende Dunkelheit zerreißend, das Sonnenlicht mit sich bringend und das Siegel des Gottes Re, das Isfet im Inneren der Kanope verschloss. Den Dämon zurückzwingend in jene Welt, aus der er gekommen war. Die Kanope in ein Uschebti mit geschlossenen Augen wandelnd, über dessen Körper sich eingravierte Bänder von Hieroglyphen zogen, in den über der Brust gekreuzten Händen die Symbole der Göttinnen Hathor und Serqet haltend.
 

Ebenso wie Isfet verschwunden war, hatte sich auch der Bannkreis zusammen mit den Horussöhnen und den Schutzgöttinnen aufgelöst. Waren der Schlangendämon, der Katzenfalke und der Riese in ihre Reiche zurückgekehrt und hatte sich Kaiphas in die Seele seines Wirtes zurückgezogen.

Die einzigen, die übrig geblieben waren, waren der Herr der beiden Länder und der Priester des Amun. Mühsam erhoben sich die Beiden aus dem Sand, lehnten sich gegen ihre Pferde, sich nicht einmal mehr darüber wundernd, dass diese an ihrer Seite ausgeharrt hatten. Noch zu sehr im Bann des Kampfes gegen Isfet, sich in diesem Moment darauf konzentrierend die Uschebtifigur zu erreichen und in ihren Besitz zu bringen. Bei ihr angelangt, blieben sie stehen und sahen die im Sand liegende Figur einen Augenblick nur an, bemüht zu begreifen, dass es ihnen tatsächlich gelungen war, Isfet zu besiegen, Kemet zu retten.

Dann entschied der Horuserbe: „Nimm du sie, bis wir wissen, was wir mit ihr machen.“

Überrascht sah Seth aus den Augenwinkeln kurz zu seinem Begleiter, ehe er wortlos die tönerne Figur aus dem Sand hob und sie sich abwandten, um langsam in die Stadt zurückzukehren, unsicher was sie dort erwarten würde.

Auf halbem Weg kam ihnen bereits Shimon mit einigen Begleitern entgegen, der sie mit einer Mischung aus Freude und unverhohlener Überraschung betrachtete, ihnen bereitwillig positive Auskunft auf die Frage gebend, wie es in der Stadt aussähe. Anschließend bestand der alte Arzt energisch darauf, dass sich König und Priester in der mitgebrachten Sänfte zurückbringen ließen.
 

Als Seth erwachte, konnte er sich nicht erinnern, wie er in den Palast und sein Bett gekommen war. Verwirrt sah er sich um, bis ihm klar wurde, wo er sich befand, als nächstes nach dem Uschebti suchend, befürchtend, dass es ihm abgenommen worden war, während er geschlafen hatte. Erleichtert entdeckte er, dass die Figur unangetastet neben seinen anderen Sachen lag und nahm sie wieder an sich, nachdem er sich angekleidet hatte.

Sobald es ihm gelungen war, den bohrenden Hunger zu stillen, der ihn seit dem Aufwachen plagte, sah er nach Mukisanu. Der junge Hethiter schien friedlich zu schlafen, um den Kopf einen weißen Verband tragend und so machte sich der Priester auf die Suche nach Shimon. Er fand den alten Arzt neben dem Bett des Herrn der beiden Länder, der offenbar noch immer schlief.
 

„Was ist mit ihm?“ fragte Seth, während er neben den Arzt trat, ohne sich mit irgendeiner Form der Begrüßung aufzuhalten.

Shimon schüttelte in einer Mischung aus Ratlosigkeit und Trauer den Kopf, „Ich weiß es nicht. Als ich euch beide zurückkommen sah, habe ich geglaubt, er würde es überleben…“, einen Moment betrachtete Shimon den jungen König in trauerndem Schweigen, dann musterte er fragend Seth. „Dir geht es gut?“

Bestätigend nickte der Priester nur, ehe er zu wissen verlangte, was es mit der Andeutung Shimons auf sich hatte. Der zögerte zunächst, erwiderte dann jedoch bedrückt: „Auf dem Boden des Kästchens, das ich ihm gab, steht eine Warnung. Wer die Hilfe der Götter in Anspruch nimmt, gibt sein Leben auf. Du bist nach einem halben Tag Schlaf wieder vollkommen hergestellt, aber sie dir ihn an, er scheint mit jedem Atemzug schwächer zu werden.“

„Du musst dich irren oder hast etwas übersehen“, stellte Seth überzeugt fest und fügte auf die Nachfrage Shimons erklärend hinzu: „Ich habe einen der drei Dämonen gerufen.“

„Du hast…?“ wiederholte Shimon ungläubig, schwieg nachdenklich und murmelte dann mehr für sich als an den Priester gewandt: „Dann bist du der Grund, warum er noch lebt?“

Seth kam nicht dazu, mehr zu tun als dem Arzt einen skeptischen Blick zu zuwerfen. Denn gleich darauf wurde ihre Aufmerksamkeit von einer Bewegung Atemus in Anspruch genommen, der zumindest einen Teil des Gesprächs mit angehört zu haben schien und nun bestimmt, wenn auch sehr leise erklärte: „Deshalb wird er auch die Regierung übernehmen, bis ich es wieder kann.“

Verdutzt starrte der alte Arzt auf seinen Patienten, dessen Verhalten dem Priester gegenüber in so vollkommenem Gegensatz zu seinen letzten Anschuldigungen stand. Konnte ein einziger Kampf tatsächlich einen solchen Sinneswandel bewirken?

Seth war nicht weniger überrascht, prüfte in Gedanken die Worte und den Gesichtsausdruck des Königs, ob sich irgendein geheimer Sinn hinter dessen Befehl verbarg, der ihm im ersten Moment entgangen sein mochte. Aber er konnte nichts dergleichen erkennen und so verneigte er sich schließlich nur knapp, mit einem bestätigenden „Majestät“ den Auftrag annehmend.
 

Als Zeichen seiner neuen Autorität hatte Seth einen reichverzierten Binsenbehälter erhalten. Einst hatten die Schreiber in diesen schlanken Röhren verschiedene Binsenstengel bei sich getragen. Inzwischen waren sie jedoch aus der Mode gekommen und dienten nur noch einige wenige dieser stabförmigen Behälter als Statussymbol und Machtanspruch.

Auf dem Weg durch den Palast, um als erstes mit Benteschina von Amurru zu reden und herauszufinden, ob von dieser Seite neue Gefahr für Kemet drohte, ließ Seth die Uschebtifigur in das leere Innere des Binsenbehälters gleiten, um sie nicht versehentlich zu zerbrechen oder zu verlieren.

In Gedanken war er bereits bei der Zeit nach der Genesung des Königs. Er entschied zu reisen. So weit weg wie möglich. Vielleicht würde er auch eine Weile in Hatti leben oder es gab einen Ort, den Meren gern besuchen wollte.

Merenseth.

Abrupt blieb Seth stehen. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass der Benu nicht neben seinem Kopf gehockt hatte, als er aufgewacht war. Dass er sie nicht mehr gesehen hatte, seit sie sich im Palasthof unnötig aufgeregt hatte und davon geflogen war.

Wo mochte sie abgeblieben sein? Es sah ihr nicht ähnlich ohne Grund so lange fort zu bleiben. – Vielleicht war sie bereits auf dem Weg Kisara zurückzuholen.

Das musste es sein, entschied Seth, bevor er sich wieder in Bewegung setzte, das mulmige Gefühl in seinem Magen ebenso ignorierend wie den kleinen schweigsamen Schatten mit traurigen Augen, der sich ihm an die Fersen geheftet hatte. Ihm still überall hin folgte wie ein kleiner Hund, der Angst hatte noch einmal verlassen zu werden.
 

In den folgenden Tagen verbrachte Seth seine Zeit damit dafür Sorge zu tragen, dass die Aufräumarbeiten in Gang kamen, die Verhandlungen mit Benteschina begannen, Bitten, Gesuche und Forderungen überprüft und gebilligt, Berichte aus den Provinzen entgegengenommen und Audienzen abgehalten wurden. Die verbliebenen Generäle mussten versammelt werden und einen Nachfolger für Karim bestimmen, anschließend wies Seth sie an die noch lebenden Anhänger Ninetjers gefangen zu setzen, damit sie vor Gericht gestellt werden konnten.

War der Priester anfangs nicht nur wegen seiner Jugend mit einiger Skepsis behandelt worden, sondern auch wegen dem kleinen Mädchen, das ständig an seinem Rockzipfel zu hängen schien, gelang es ihm doch innerhalb kürzester Zeit diese Zweifel zu beseitigen.
 

Es gelang ihm allerdings nicht Mana erfolgreich los zu werden. Wenn Diener versuchten sie von dem beschäftigten Priester zu trennen, krallte sie sich mit aller Macht in dessen Kleidung und begann zu schreien. Erst wenn Seth den Dienern bedeutete sich zurückzuziehen und dem Mädchen befahl mit dem Geschrei aufzuhören, beruhigte Mana sich wieder.

Seth bemühte sich die meiste Zeit Mana einfach zu ignorieren. Aber es war schwer jemanden nicht zu bemerken, der sich immer wieder verängstigt gegen die eigenen Beine presste und seine Triefnase in den eigenen Kleidern abwischte. Irgendwann hatte Seth genug davon, dass seine Kleidung beständig Manas Spuren aufwies und gab ihr ein Tuch mit der Anweisung Mana solle ihre Nase da hinein stecken, statt in seine Sachen. Das Mädchen starrte ihn aus großen Augen an und trug das Tuch fortan ständig mit sich herum, ihre Nase auch weiter an Seths Kleidern sauber reibend und fortan Schreikrämpfe bekommend, wenn es jemand wagte ihr das Tuch wegnehmen zu wollen, sei es auch nur, um es zu säubern.
 

War Seth nicht damit beschäftigt Arbeiter und Beamte im Auftrag Atemus anzuweisen und zu kontrollieren oder Vertragsverhandlungen mit Benteschina zu führen, Petitionen, Protokolle, Zusammenfassungen und Verfügungen zu lesen, Boten zu empfangen und auszusenden, saß er im Zimmer des Herrn der beiden Länder und erstattete diesem Bericht oder beriet sich mit ihm, wenn es dessen Zustand zuließ und nicht gerade ein ständig wachsender Stab von Ärzten unter Federführung Shimons versuchte das Leben des Herrn der beiden Länder zu verlängern und ihn zu heilen.
 

Erst gegen Abend, wenn die Arbeiter ihr Tagwerk für die Nacht niederlegten und die Ärzte darauf bestanden, dass der König der absoluten Ruhe bedurfte, blieb dem jungen Priester Zeit nach Merenseth Ausschau zu halten, ungeduldig darauf wartend, dass sie endlich zusammen mit Kisara zurückkehrte. Bisher hatte er jeden Abend vergeblich den dunkler werdenden Himmel gemustert, auf der Suche nach der vertrauten Silhouette des glutfarbenen Vogels.

Auch an diesem Abend schien es, als würde er vergeblich auf die Rückkehr Merenseths warten, als er am Horizont schließlich doch noch einen schnell näherkommenden Punkt entdeckte. Der Punkt nahm bald schon die Gestalt eines großen, majestätischen Benu an, der in seinen Krallen die Enden eines beutelartigen Tuches trug.

Im ersten Augenblick verspürte Seth bei diesem Anblick nichts als Erleichterung, ehe er bemerkte, dass das Gefieder des Vogels sehr viel heller war als bei Merenseth. Das Ziel des Benu schien dennoch der königliche Palast zu sein, dem er sich unbeirrt näherte, während er allmählich an Höhe verlor.

Direkt vor Seth in der Luft schwebend verharrte der Vogel schließlich, das von seinen Krallen gehaltene Tuch auf dem Boden absetzend und dessen Enden loslassend.

Aufmerksam hatte Seth das Geschehen verfolgt und entdeckte nun, dass sich Kisara im Inneren des Tuches befand.

Beim Anblick des Priesters sprang das Mädchen hastig auf und lief zu ihm, erleichtert seinen Namen rufend, froh zu sehen, dass es ihm gut ging.

Im Reflex schloss Seth die Arme schützend um das Mädchen, während er nur ein beschwichtigendes „Schon gut“ von sich gab, die Augen noch immer auf den unbekannten Benu gerichtet.

Dieser schien seine Aufgabe als erfüllt zu betrachten und schlug mit den Flügeln, um wieder an Höhe zu gewinnen, gleichzeitig auf die Größe eines Graureihers schrumpfend, als der Priester ihn mit der Frage aufhielt: „Wo ist mit Merenseth?“

Für einen Moment schien der Vogel über eine Antwort nachzudenken, dann jedoch schlug er nur erneut mit den Flügeln und flog davon.
 

Es war bereits nach Mitternacht, bald würde Re seine Fahrt durch das Jenseits vollendet haben, Cheper wiedergeboren werden und Kemet den Beginn eines neuen Tages erleben.

Seth hatte in dieser Nacht nicht viel Schlaf gefunden und sich unruhig auf seinem Lager hin und her gewälzt, bis er schließlich kapitulierte und sich erhob.

Er kehrte in den Garten zurück. Zu der Stelle, an der Kisara am Abend abgesetzt worden war, unwillkürlich erneut den Himmel nach einem Zeichen Merenseths absuchend. Als er schließlich enttäuscht den Blick abwandte, entdeckte er halb in den Schatten der mondhellen Nacht verborgen die hohe Gestalt eines hellhaarigen Mannes, der auf ihn zutrat, als er sah, dass er bemerkt worden war.

Nicht nur die langen, glatten Haare von metallisch gelber Farbe waren an diesem Mann ungewöhnlich, sondern auch das lange, fließende Gewand mit weiten Ärmeln, die bis zu den Handgelenken reichten und der hohe Wuchs, mit dem er selbst noch Seth überragte.

„Wer bist du?“, die in eisigem Ton gestellte Frage, schien den Mann nicht weiter zu beeindrucken, denn er erwiderte nur gelassen, mit einer Stimme, die bei seinem Zuhörer Bilder von schneebedeckten Berggipfeln und nebelgefüllten Schluchten wachrief: „Oreithys.“ Kurz verengten sich die Augen Seths. „Der Hüter der Zeit. Du verlässt deinen Turm für einen Menschen?“

Oreithys schien die unverhüllte Skepsis nicht zu bemerken, widersprach auch nicht der damit verbundenen Andeutung, dass er Menschen für unwichtig hielt, sondern erwiderte lediglich sachlich: „Eine Ausnahme.“

„Warum?“ Unwillkürlich spannte sich Seth in der Erwartung schlechter Nachrichten. Dass Merenseth bisher nicht zurückkehrt war und Oreithys die Aufgabe übernommen hatte Kisara zurück nach Kemet zu bringen, konnte nichts Gutes bedeuten.

Als Antwort auf Seths Frage streckte Oreithys ihm eine geöffnete Hand entgegen, in der ein Lapislazuliring lag, der trotz der überstandenen Abenteuer noch immer unversehrt und vollkommen wirkte. „Sie wird nicht zurückkehren.“

In dumpfer Betäubung starrte Seth auf den Ring in Oreithys Hand, während er dessen Worte nur am Rande wahrnahm, abrupt den Kopf schüttelnd. „Sie ist ein Benu, kein Benu kann sterben.“

„Niemand der von Isfet verschlungen wurde, kann einfach wieder zurückkehren, selbst wenn es ein Benu ist.“

„Ohne sie wäre Kemet untergegangen, die Götter werden sie nicht Isfet überlassen.“ Wilder Trotz schwang in Seths Stimme mit, als wolle er die Götter selbst davor warnen, einen solchen Fehler zu begehen.

„Sie hat gegen das Gesetz verstoßen. Hätten die Götter sie gerettet, statt sie Isfet zu überlassen, wäre Kemet am Ende dennoch untergegangen.“

„Welches Gesetz?“, verlangte Seth herrisch und noch immer ungläubig zu wissen und erhielt die Antwort: „Was von Menschen heraufbeschworen wurde, muss von Menschen bezwungen werden. Sie dagegen hat an deiner Seite gegen Isfet gekämpft. Missbrauchte das Lied, das allein der Wiedergeburt des Re vorbehalten ist, um Isfet zu schwächen.“

„Wenn sie das nicht getan hätte, wäre es uns nicht gelungen Isfet zu besiegen.“

„Dann wäre es das gewesen, was euch bestimmt war.“

„Wenn Kemet so oder so dem Untergang geweiht war, warum haben die Götter sich dann geweigert sie zu retten, es hätte für sie keinen Unterschied bedeutet.“

„Du irrst. Die Tatsache, dass Nimaat bereit war gegen die Gebote zu verstoßen, trotzdem sie wusste, welche Strafe darauf steht, hat den Untergang verhindert. Hätten die Götter sie gerettet, wäre ihr Opfer ebenso wie die Opfer des Königs und seiner Anhänger vollkommen sinnlos gewesen.“

Bemüht die Fassung zu wahren, starrte Seth in das mondbeschienene Dunkel des Gartens, unfähig die Worte des fremden Benu zu akzeptieren, sich schließlich auf ein nebensächliches Detail konzentrierend: „Warum nennst du sie Nimaat?“

„Es ist ihr Name. Bist du nie auf den Gedanken gekommen, dass sie längst einen Namen besaß, ehe ein Bauernjunge sie in den Bergen gefunden hat?“

Seths Kiefer spannten sich bei diesen Worten, nach kurzem Schweigen sehr bestimmt klarstellend: „Ihr Name ist Merenseth.“

Oreithys schwieg auf diese Feststellung nur, legte stattdessen den Ring auf dem steinernen Sockel einer Statue ab und schien der Ansicht zu sein, dass es für ihn an der Zeit war zu gehen. Ehe er dieses Vorhaben noch in die Tat umsetzen konnte, stellte Seth ihm die Frage: „Gibt es eine Möglichkeit sie zurückzuholen?“

Aufmerksam betrachtete Oreithys den Priester, als prüfe er dessen Entschlossenheit, erklärte dann jedoch nur ruhig: „Das liegt allein im Willen der Götter.“

„Die nicht einmal im Traum in Erwägung ziehen sie zu befreien“, Seths Stimme klang bitter, als er diese Feststellung traf.

„Götter können nicht träumen“, erwiderte Oreithys milde und ergänzte: „Merenseth war ein schlechter Lehrer, wenn sie dir nicht einmal das Grundlegendste beigebracht hat.“

Der Blick mit dem Seth ihn bei diesen Worten bedachte, enthielt eine eindeutige Warnung: Er würde eine Beleidigung seines Benu in keinem Fall dulden. „Was sie war oder nicht, steht dir nicht zu zu beurteilen. Sie stand in meinem Dienst, nicht in deinem. - Sag, worauf du hinaus willst, statt dich in irgendwelchen Anspielungen zu versuchen.“

Ein winziges Zucken huschte bei diesen Worten über Oreithys Gesicht, bevor er gelassen erklärte: „Hoffnung. Der Grund warum Menschen existieren ist, dass sie in der Lage sind zu hoffen. Und weil sie hoffen können, sind sie auch diejenigen, die träumen können - und glauben. In mancher Hinsicht sind sie damit mächtiger als Götter. Götter wissen, das macht es für sie unmöglich zu hoffen und zu träumen. Sie bedürfen der Menschen, die ihnen mit ihren Wünschen, Sehnsüchten und Vorstellungen Grund geben zu sein. So lang du die Hoffnung nicht aufgibst, Merenseth eines Tages wiederzusehen, sei es nun in diesem oder einem anderen Leben, besteht die Möglichkeit, dass es wahr wird. Gibst du die Hoffnung auf, wird Merenseth Isfet niemals entkommen.“

Ein verächtliches Geräusch entfloh Seths Lippen als er das zu hören bekam, ehe er eisig entschied: „Leeres Geschwätz. Such dir einen Dümmeren für diesen Unsinn.“

„Du bist undankbar, Iripat“, erwiderte Oreithys ruhig.

„Und du schlecht informiert“, schoss Seth bissig zurück. Es gab keine Worte um auszudrücken, wie sehr ihn dieser Benu erzürnte.

„Besser als du glaubst, Nebtawej.“

„Schweig!“, wies der Priester den Benu mit scharfer Stimme zurecht. „Ich bin und werde nicht der Herr Kemets!“

„Das ist nicht mehr an dir zu entscheiden. Noch bevor Re seine Fahrt durch die Unterwelt erneut beginnt, wird der Sohn Akunemkanons seine Eltern wiedersehen.“

„Das werden sie nicht tun, er ist der rechtmäßige Erbe.“

„Gönnst du deinem König dieses Wiedersehen so wenig?“ Oreithys Stimme klang gleichmütig.

„Nein. Die Menschen brauchen ihn. Er ist derjenige an den sie glauben, auf den sie vertrauen. Wenn er stirbt, wer soll ihnen dann deine gepriesene Hoffnung geben?“

„Du“, erklärte Oreithys vollkommen nüchtern und ohne das geringste Zögern.

„Ich?“ echote Seth fassungslos und hätte den hellhaarigen Mann neben sich am liebsten niedergeschlagen. Er konnte spüren, wie der Dämon in seiner Seele gespannt das Haupt hob, begierig darauf diesem unzumutbaren Boten die Kehle zu zerfetzen.

Ohne jede Neugier in der Stimme fragte Oreithys unterdessen: „Wovor hast du Angst? Du hast längst bewiesen, dass du die Fähigkeit zu herrschen besitzt. Glaubst du, ohne Merenseth bist du nicht in der Lage dazu?“ Für einen kurzen Moment schwieg der hellhaarige Benu, gab dem Priester Zeit das Gehörte zu verarbeiten und sprach dann gleichmütig das feststehende Urteil: „Du brauchst sie nicht. Du hast Kisara und Mukisanu an deiner Seite. Du wirst neue Träume haben und Menschen kennen lernen, die dir helfen diese Träume zu verwirklichen. Und Kemet wird der Benu sein, der für dich aus der Asche ersteht.“

Kaum hatte Oreithys ausgesprochen, verwandelte er sich wieder in seine Vogelgestalt und flog davon, einen Priester zurücklassend, der mit geballten Fäusten und finsterem Gesicht ins Leere sah, den Eindruck erweckend, jeden Moment die Uschebtifigur aus ihrem Binsenbehälter hervor zu holen und zu zertrümmern, in der Absicht den Göttern selbst eine Lehre zu erteilen. Stattdessen griff er schließlich nur nach dem zurückgelassenen Ring, wandte sich mit eckigen Bewegungen ab und kehrte in den Palast zurück, auf direktem Weg die Räume des Königs aufsuchend.
 

Ohne auf den vorgebrachten Protest des Wache haltenden Dieners zu achten, betrat Seth den Raum und starrte eine Weile auf den schlafenden König herab, ehe er sich schließlich auf einen neben dem Bett stehenden Hocker niederließ und darauf wartete, dass Atemu erwachte.

Sobald dieser die Augen aufgeschlagen und den Priester an seinem Bett entdeckt hatte, erklärte Seth sachlich: „Ich werde den Hof verlassen. Du musst jemand anderen ernennen, der dich vertritt.“

Schweigend erwiderte der König den entschlossenen Blick des Priesters, als warte er auf eine Erklärung, dann sagte er nur ein einziges Wort: „Nein.“

Aus zornhellen Augen durchbohrte Seths Blick den des Herrschers, während er erwiderte: „Das war keine Bitte um Erlaubnis. Ich habe dir eine Tatsache mitgeteilt.“

„Und ich habe sie abgelehnt“ konterte Atemu ruhig, „ich werde weder jemand anderen mit der Regierung beauftragen, noch dich gehen lassen. Du wirst meinen Platz einnehmen, wenn ich nicht mehr bin.“

Das konnte doch wohl kaum sein Ernst sein! Wahrscheinlich benebelten die Medikamente seinen Verstand, mutmaßte Seth, während er in provozierendem Tonfall fragte: „Du willst den Mörder Akunadins zu deinem Nachfolger machen? Einen dahergelaufenen Dieb und Bauernjungen, der dich hintergangen hat?“

„Ich weiß, dass du mich nicht verraten hast“, erwiderte der König, „selbst wenn Oreithys mir nicht berichtet hätte, was tatsächlich geschehen ist, hätte ich dich zu meinem Nachfolger bestimmt.“

Offenbar hatte die Kälte den Verstand des Benu eingefroren und die Einsamkeit ihn ungesund schwatzhaft gemacht. Wie kam er dazu Atemu Dinge zu erzählen, die diesen absolut nichts angingen?! „Ich kenne keinen Oreithys“, erklärte Seth bestimmt und fügte hinzu: „Bestimme Shimon als Nachfolger, er ist treu genug um dir auch diese letzte Bitte zu erfüllen. Ich werde es nicht tun.“

Wieder sah Atemu den Priester einen Moment schweigend an, bevor er schlicht feststellte: „Ich will, dass du mein Nachfolger wirst.“

Wortlos starrte Seth ihn an, während er nach einer Möglichkeit suchte, dieser Aufgabe doch noch zu entgehen. Er wollte kein willfähriges Werkzeug der Götter sein, wollte seine eigenen Entscheidungen treffen, wollte nicht länger in diesem Land leben, das ihn beinahe jede Person gekostet hatte, die ihm wichtig gewesen war.

Als er Atemu schließlich antwortete, klang seine Stimme nicht mehr gereizt, sondern vollkommen ruhig, den letzten Trumpf ausspielend, den er hatte: „Wenn du mich zu deinem Nachfolger bestimmst, hat Akunadin doch noch erreicht, was er wollte. Wenn wir seinen Willen erfüllen, den Willen eines Verräters, welchen Sinn hatte es dann, das wir gekämpft haben? Welchen Sinn hatte dann der Tod von Mahaado, Isis, Karim und all den anderen?“

So schwer wie die Frage, wog das folgende Schweigen, in dem Atemu sich mit geschlossenen Augen zurückgelehnte und Seth angespannt darauf wartete, dass der König seine bereits getroffene Entscheidung widerrief.

„Es war nicht die Idee Akunadins, die schlecht war“, erwiderte Atemu schließlich ruhig, noch immer mit geschlossenen Augen, „es war der Weg, den er einschlug, um seine Idee zu verwirklichen. Nur weil du mein Nachfolger wirst, heißt das nicht, dass Akunadin gewonnen hat. Es heißt, dass er und ich der gleichen Überzeugung sind.“ Wieder schwieg der König einen Augenblick, öffnete die Augen und bohrte den unerbittlichen Blick seiner klaren Augen in den des Priesters. „Du wirst mein Nachfolger. Lass Kemet auferstehen und mach es zu einem besseren Ort, als er das bisher war.“

Einen kurzen Moment verzogen sich Seths Mundwinkel in einem zynischen Eingeständnis seiner Niederlage, während er Oreithys im Stillen dazu gratulierte ganze Arbeit bei der Überzeugung des Königs geleistet zu haben, dass dieser selbst die Benu-Metapher verwendete. Sich erhebend und eine Verneigung andeutend, erklärte er schließlich lediglich: „Ich werde über deine Worte nachdenken.“

Atemu nickte zustimmend, während er erwiderte: „Ich werde veranlassen, dass alle nötigen Vorbereitungen getroffen werden, damit es keine Zweifel an meiner Entscheidung gibt.“

Seth biss die Zähne zusammen, während er sich ein weiteres Mal verbeugte und gleich darauf das Zimmer verließ, ziellos durch die Gegend streifend, ohne sich um irgendwelche Regierungsaufgaben zu kümmern.
 

Schließlich kehrte er in das kleine Zimmer zurück, das ihm drei Jahre lang als Schlafraum und Studierzimmer gedient hatte.

Mana war er mit der Rückkehr Kisaras glücklich losgeworden, zumindest solange, bis es dem kleinen Mädchen gelang zu entwischen und wieder zum Schatten Seths zu werden. Für den Moment jedoch saß er allein auf dem kahlen Bett, das dienstbare Geister bereits ebenso von allen Spuren seiner Gegenwart befreit hatten, wie den Rest des Zimmers. Offenbar hatte Atemu seiner Drohung, ihn als seinen Erben bekannt zu machen, bereits Taten folgen lassen und angeordnet, dass seine Besitztümer in ein anderes Zimmer gebracht wurden. Nur die Vogelstange Merenseths stand noch verweist an ihrem Platz, anscheinend hatte niemand gewusst, was mit ihr geschehen sollte.

Seth starrte auf den bevorzugten Sitzplatz seines Benu und versuchte zu entscheiden, ob er tatsächlich die Verantwortung für Kemet übernehmen sollte oder ob er sich nicht besser einfach davon schlich.

Wie sehr vermisste er in diesem Moment seinen Benu. Ihre Art zuzuhören, das tröstende Kitzeln ihres Gefieders an seiner Wange, das leichte Gewicht auf und die Krallen, die sich Halt suchend in seine Schulter bohrten. Vermisste das irritierte Heben der Schopffedern, das aufmunternde Tschilpen, ja selbst ihre Unart ihn in die Nase zu kneifen, wenn sie mit etwas nicht einverstanden war und wollte, dass er sich anders verhielt. Vermisste die warmen, klugen Augen, die ihn ansahen, als könnten sie in die tiefsten und dunkelsten Ecken seiner Seele sehen, ohne davon angewidert zu sein. Vermisste die Tatsache, dass sie ihm eine Wahl ließ und selbst dann noch zu ihm hielt, wenn sie mit seiner Entscheidung nicht unbedingt einverstanden war. Vermisste den Freund, der seit Kindertagen sein Begleiter war und von dem er überzeugt gewesen war, dass er sich stets an seiner Seite befinden würde, selbst über den Tod hinaus. Vermisste sie…

Ein leises Klopfen drang von der offenstehenden Tür her in seine Gedanken und ließ ihn desinteressiert aufsehen.

Noch immer mit einem Verband um den Kopf, aber bereits wieder mit dem ersten Anflug seines ansteckenden Grinsens im Gesicht stand Mukisanu in der Tür und betrachtete ihn neugierig.

„Was ist?“ Seths Stimme klang gleichgültig als er diese Frage stellte, während Mukisanu langsam näher kam, sich neben ihn setzte und berichtete: „Im Palast sagen sie, dass du der nächste König Kemets wirst.“

„Sagt man das“, war die nichtssagende Erwiderung Seths darauf, während er den Kopf abwandte und in Richtung des schmalen Fensters sah, durch das Merenseth so häufig ein- und ausgeflogen war.

„Ja“, bestätigte Mukisanu unverdrossen die Aussage Seths, als wäre es eine Frage gewesen, und fuhr ohne sich von der abweisenden Haltung beeindrucken zu lassen fort: „Wirst du echt König?“

Statt zu antworten erhob sich Seth, um an das Fenster zu treten und nach draußen zu sehen, während Mukisanu laut überlegend weitersprach: „Es muss toll sein, König zu sein. Alle müssen sich vor dir verbeugen, du kannst jeden Tag die leckersten Sachen essen. - Du kannst einen ganzen Harem haben! Und alle müssen immer tun, was du sagst.“ Mukisanu klang begeistert, im nächsten Augenblick wurde seine Stimme nachdenklicher, als er ergänzte: „Andererseits darf man als König viele Sachen nicht mehr machen, oder?“

Seth wandte dem Jungen auf dem Bett leicht den Kopf zu, während er fragte: „Was für Sachen?“

„Na zum Beispiel kannst du nicht mehr in Schlossgärten steigen und Obst klauen. Auf Meren fliegen, geht vermutlich auch nicht mehr. Fehler machen darfst du auch nicht; ein König muss doch immer alles richtig machen und schrecklich würdevoll sein. Du dürftest den Anderen nicht mehr sagen, was du von ihnen hältst, weil man als König doch alle gleich behandeln muss... - Vielleicht solltest du doch nicht König werden. Komm doch mit nach Hatti, dann machen wir unsere eigene Bande auf und Urija wird auf Knien angekrochen kommen, um bei uns mitmachen zu dürfen.“ Mukisanu schien von dieser letzten Idee so begeistert, dass sie Seth ein kurzes Lächeln entlockte, bevor er den Blick wieder aus dem Fenster richtete, sich seinen eigenen Überlegungen zuwendend.

Er wusste einfach nicht wie er sich entscheiden sollte. Die Tatsache, dass Akunadins Plan sich letztendlich doch noch erfüllt hätte, wenn er den Thron bestieg, spielte dabei nur eine sehr untergeordnete Rolle. Nur weil er dem Wunsch seines Vaters nachkam, hieß das nicht, dass er werden musste wie dieser. Er war immer noch Seth. Ein Mensch, der seine eigenen Entscheidungen traf und dabei nicht von einem machthungrigen Tjt gelenkt werden würde, wie es bei Akunemkanon der Fall gewesen war.

Der Gedanke, das Werk Ninetjers fortzuführen und zu beenden, Kemet vollends auszulöschen und auf diese Weise seine Freiheit zu gewinnen, besaß noch immer einen gewissen Reiz. Nicht nur, um auf diese Weise die Götter zu bestrafen, sondern auch, um so allen Ballast, alle drohenden Verpflichtungen aus dem Weg zu räumen und Rache zu nehmen, für das, was ihm genommen worden war und vorenthalten bleiben würde. Er spürte, wie der Dämon in seiner Seele unruhig wurde und bei dem Gedanken an Rache ein zustimmendes Grollen von sich gab. Gleichzeitig führte dieses Grollen dazu, dass er an Kisara denken musste, an Mana, an alle, die nicht weniger verloren hatten als er selbst. Er hatte Mana versprochen, dass ihr nichts passieren würde, Kisara vertraute darauf, dass er sie beschützte. Mit welcher Ausrede hätte er sie im Stich lassen können? Mit welchem Argument hätte er rechtfertigen können, dass Mukisanu ein weiteres Mal verletzt wurde?

Plötzlich hatte er das Gefühl Merenseth zu hören, die aufmunternd tschilpte, ihm mit einem weiteren Tschilpen zu verstehen gab, er solle aufhören das Königtum als Strafe zu betrachten, daran denken, welche Möglichkeiten mit diesem Amt und seiner Macht verbunden waren. Ungläubig blinzelnd starrte Seth auf die flirrende Vogelgestalt vor dem Fenster, während sein Nasenrücken plötzlich schmerzte, als hätte Merenseth wieder einmal energisch zugekniffen. Als er jedoch die Hand nach dem Benu vor dem Fenster ausstreckte, verschwand dieser ebenso plötzlich wie er erschienen war und das, was für Sekundenbruchteile ausgesehen hatte wie ein Vogel, war nun wieder nur warmes Sonnenlicht und in Hitze und Wind tanzende Staubkörner.

Zurück blieben ein schaler Geschmack auf der Zunge, ein seltsames Gefühl im Bauch und die Erkenntnis, dass Hoffnung etwas sehr Grausames sein konnte. Sie schlug einem schmerzhaft die Klauen ins Fleisch und war nicht mehr dazu zu bringen los zu lassen. Sie weckte Sehnsucht, die nicht gestillt werden konnte; zwang einen dazu durchzuhalten, weiter zu machen und war es noch so aussichtslos.

Er hatte seine Entscheidung getroffen. Er würde König werden. Er würde Kemet in neuem Glanz auferstehen lassen - und er würde ändern, was nicht seinem Willen entsprach. Sie wollten, dass er die Macht übernahm und er würde sie nutzen.

„Sag mal, wenn du König bist, darf ich dann überhaupt noch mit dir reden?“ drang die Stimme Mukisanus wieder in sein Bewusstsein und ein spöttisches Lächeln umspielte Seths Mundwinkel, als er sich herumdrehend statt einer Antwort die Frage stellte: „Wärst du denn in der Lage, es nicht zu tun?“

Mukisanu starrte ihn ein wenig nachdenklich an, „weiß nicht. Ich war bisher noch nie mit einem König befreundet.“

„Dann bleib und finde es heraus.“

„Ernsthaft?“ Mukisanu strahlte vor Begeisterung bei dieser Frage.

Seth nickte nur.

„Uhm… könntest du vielleicht mit Amurru reden? Ich glaub, wenn das ein König tut, macht das mehr Eindruck, als wenn ich frage“, druckste Mukisanu im nächsten Moment ein wenig verlegen herum und zappelte unter dem ausdruckslos durchdringenden Blick seines Gegenübers solange nervös herum, bis dieser schließlich erneut nickte und entschied: „Gehen wir.“
 


 

Letzte Erklärungen für Interessierte

Hemneter (Hm-ntr) = Gottesdiener/Priester

Iripat (jrj-pat) = Erbrinz; Kronprinz

Nebtawej (nb-tA.wj) = Herr der beiden Länder
 

Mukisanu = hethitisches alter Ego Mokubas

Ninetjer = ägyptisches alter Ego Bakuras



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Tweetl
2010-05-07T08:11:52+00:00 07.05.2010 10:11
Eine wirklich sehr schöne Geschichte, auch wenn das Ende sehr, sehr traurig ist.
Manchmal waren die Kapitel doch recht lange, aber daran bin ich wohl selbst Schuld, wenn ich es auf einmal druchlesen muss. ;'D

Bei Mukisanu dachte ich mir von Anfang an, dass es Mokuba darstellen soll. Die erste Beschreibung auf ihn ließ schon darauf schließen.

Die ägyptischen Götter, Sagen und Wörter hast du sehr gut umgesetzt, ich finde, man merkt, dass du sehr viel Ahnung von diesem Thema bzw. dich sehr gut informiert hast.
Und beim Schreiben dadurch nicht durcheinander zu kommen, Hochachtung!


Grüße,
Tweetl
Von:  Hotepneith
2010-05-07T04:12:51+00:00 07.05.2010 06:12
Ein wunderschöner, langer aber auch trauriger Abschluss. Irgendwie habe ich die ganze Zeit befürchtet, dass der Feuervogel nicht überleben wird, dachte mir dann doch immer noch, dass er/sie ja der Titelheld ist...Nunja.
Nichts wird gewonnen ohne ein Opfer.
Und in diesem Fall musste auch noch Atemu dran glauben.
Aber eigentlich ist es nur konsequent. Wie sagte schon Dürenmatt: eine Geschichte ist dann erst zu Ende gedacht, wenn sie die schölimmstmögliche Wendung genommen hat. Und du hast Kisara und Mukisaba immerhin bei Seth gelassen, er wird nicht ganz allein sein. Immerhin also doch ein etwas versöhnliches Ende.

Als Schluss: du hast m.E. die gesamten ägyptischen Sagen und Glaubensbilder wirklich wunderschön umgesetzt.

bye

hotep


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