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be my magician

von

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2009: Die Geschichten der Wolken (4) - Die andere Seite der Wolken 2

2009 – Die andere Seite der Wolken 2
 

Der Pinsel glitt so leicht über das Papier, dass sie ihn kaum vernahm. Wörter tropften heraus. Fünf, acht, fünf Silben. Kitzelten in ihren Ohren, rannen den Rücken hinunter. Er legte den Pinsel beiseite, pustete einmal und schaute sie an. Ein weiteres Kitzeln. Ihre Hände schwitzten. Sie spürte die Wärme seiner Arme neben ihrem Gesicht und dann auf ihrer Schulter das Ende einer Kordel, über ihrer Nase die leichten Luftwirbel, die unter dem Papier entstanden, welches jetzt wie eine Maske über ihren Augen lag. Der Geruch von Pflanzenfasern und Tinte.

»Es ist sicher kein Meisterwerk«, sagte Mint ruhig. »Aber ausreichend für den ersten Versuch.« Und nach einer Pause: »Du hast sie doch schon gespürt, oder?«

Sie hatte. Die Wörter. Und trotzdem. Zwanzig Jahre hatte sie nicht sehen dürfen, jetzt war sie nur noch einen Millimeter davon entfernt. Aber wenn der Zauber nicht gelungen war, wenn das Tor in ihren Augen, das alles auffraß, was sie sah, doch nicht verschlossen war, was würde dann mit Mint geschehen, wenn sie die Augen öffnete?

»Vertraust du mir nicht?« Er legte seine Hände auf ihre Wangen und hielt ihren Kopf fest. Schaute ihr direkt in die Augen, durch das Papier, durch die schwarze Augenbinde.

»Doch!« entfuhr es ihr leicht entrüstet. »Ich glaube schließlich an die Ewigkeit!«

»Ha«, lächelte er. »Natürlich tust du das.« Natürlich. Er war schließlich der 16. Bibliothekar der Ewigen Bibliothek. Um ihn zu fressen, erforderte es, eine unendliche Menge an Zeit hinunter zu schlingen. Nicht einmal die Andere Seite konnte das. Davon ging er zumindest aus. Und sie? Natürlich. Schließlich trug sie die Ewigkeit in ihrem Namen. »Dann werde ich es jetzt lösen.«

Sie nickte. Und er entknotete die Augenbinde, zog sie sanft weg. Licht. Langsam öffnete das Mädchen die Augen. Licht. Trotz des Papiers vor ihren Augen, kein Papier. Stattdessen … Grün. Ein Hellgrün so scharf wie Diamant, das überging in ein tiefes Dunkelgrün. Tief und weit. So weit. »Ah«, sagte sie nur. »Deine Augen haben die Farbe der Zukunft.«

»Grün.«

»Ich weiß.« Schwungvoll stand sie auf und lief ein paar Schritte. »Ich darf jetzt den Magischen Zirkel verlassen, oder?«

»Mh.«

»Dann …« Sie hüpfte durch die große offene Tür auf die Holzterrasse nach draußen. Der Boden davor war bedeckt von abgestorbenen Blättern und ein wenig Gras. Hohe Bäume ragten empor, wiegten ihre erstaunlich braunen Kronen. Der Herbst war noch einen Monat entfernt. Und dort, zwischen den Blättern hoch über den weißen Flecken aus Licht, war Blau. Sie taumelte. Blau. Griff nach Mint’s Hand, der jetzt hinter ihr stand.

»Blau«, sagte er.

»Ich weiß …« Es war das erste Mal, dass sie sah, und doch erkannte sie alles sofort. Es war einfach nur betäubend schön. Ihr schwindelte und sie schloss die Augen, wischte sich die Tränen weg. Nie hätte sie damit gerechnet, dass er sein Versprechen so schnell einlösen würde. Nie hätte sie damit gerechnet, dass er es überhaupt einlösen würde. Dass er es konnte. Die Magie, die er benutzt hatte, war schon lange nicht mehr gebräuchlich. Aber schließlich war er der Wächter jener Bibliothek, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gleichermaßen kannte. Er hatte Zugang zu jedem Wissen, das Zauberer über Jahrtausende gesammelt hatten.

»Warte nur ab, bis du die Sterne siehst. Und Regen und Schnee.«

»Schnee? Hier oben?«

»Und Sonnenblumenfelder und Meer und …«

»Die Bibliothek?«

Zufrieden schob er sein Kissen mit dem Fuß zurecht und ließ sich wieder auf dem Boden nieder. »Wenn das Siegel erst mal stabil genug ist, könntest du ohne Gefahr für deine Umwelt auch außerhalb der Wizardry leben.«

Sie setzte sich ebenfalls wieder und betrachtete in Ruhe das Zimmer, in dem sie seit nunmehr zwölf Jahren wohnte. Der rote Stuhl, den SU ihr gebaut hatte, die Kalligrafien an der Wand. Es war seltsam, wie fremd ihre eigene Handschrift aussah. Ihr gegenüber gähnte und streckte sich der Junge und rollte sich dann zusammen.

»Das Siegel hält allerhöchstens bis Sonnenuntergang, eher kürzer«, sagte er mit geschlossenen Augen. »Weckt mich zum Essen.«

Yuu genoss noch eine Weile, was sie sah. Dass sie sah. Die Lichtflecken zwischen den Bäumen draußen, der kühle Schatten hier drinnen. Ein schlafendes Kind. Genau das Gesicht, das sie sich vorgestellt hatte, als sie sich damals zum ersten Mal trafen. Genau die Farbe, die sich vorgestellt hatte. Ein Sonnenstrahl durch ein Laubblatt. Schließlich erhob sie sich und verließ das Zimmer, um die anderen zu suchen.
 

*
 

Leise knirschte das Holz unter seinen Füßen. Dünne Zweige, sprödes Gras, das Rascheln gefallender Blätter. Durch die Lücken der Baumkronen fiel warmes Licht. Bildete Flecken, malte die Luft weiß. Gern hätte Mint den Blick gehoben in die Bäume direkt über ihn, doch der Weg hielt ihn zurück. Er wusste, wenn er den Weg aus den Augen verlor, würde er ihn nicht mehr wieder finden. Einmal zu weit nach links oder zu weit nach rechts und das, was eben noch klar zu sehen war, würde sich auflösen in einen Irrgarten aus Bäumen. Und wer sich umdrehte, stolperte mit hoher Wahrscheinlichkeit geradewegs auf die Andere Seite. So funktionierte dieser Wald, dieser Berg. Nicht umsonst war es hier, wo sich die Wizardry befand. Hier, wo die Grenze zwischen dieser und der Anderen Seite so ausgesprochen dünn war. Der Junge konnte sie fast in seinem Rücken nagen spüren. Er atmete tief durch und schritt unbeirrt weiter. Aber bald traten ihm trotz des kühlen Schattens der Bäume Schweißperlen auf die Stirn. Außer den eigenen Schritten vernahm er kein Geräusch, dennoch war sich sicher, zu den Schatten, die ab und zu in seinen Augenwinkeln herum sprangen, auch das eine oder andere Wispern zu hören. Er hätte doch nicht alleine gehen sollen, ging es ihm durch den Kopf. SU oder Yuu hätten ihn abholen können. Aber es war ja auch nicht so, dass er den Weg nicht kannte. Im Gegenteil. Für ihn, für seine Augen, war es leicht den Weg nicht zu verlieren. Aber so gut er sah, war es heute nicht gut. Er hatte das Gefühl, dass er beobachtet wurde. Dass etwas hinter ihm stetig näher kam. Und wenn es sich zeigte, würde er es sehen. Das macht ihm Angst. Nicht dass er vom Weg abkommen und sich auf der Anderen Seite verirren könnte. Er würde nicht abkommen und er würde sich nicht verirren. Aber er würde Dinge sehen, die nicht dazu bestimmt waren von Menschenaugen gesehen zu werden.

Linkerhand streifte sein Blick einen See, der vom Fuße eines Abhangs her in der Sonne glitzerte. Jedes Mal fragte sich Mint, ob es einen Weg gab, der tatsächlich an seine Ufer führte. Als er Yuu einmal danach gefragt hatte, hatte sie nur gelacht und geantwortet, dass es hier keinen See gäbe.

Noch etwas höher, etwas steiler, vorbei an den Ausläufern des Friedhofs mit den wenigen verrosteten Eisenstangen, die von dem Zaun übrig geblieben waren. Noch ein wenig höher und zwischen den Bäumen erhob sich endlich die Wizardry, die alte Zaubererschule, die seit jeher diejenigen Menschen und Zauber beherbergte, die in der normalen Welt keinen mehr Platz fanden. Unscheinbar. Drei flache gemauerte Häuser. Einen Moment noch blieb der Junge stehen, schloss erleichtert die Augen. Hier oben wehte sogar etwas Wind, stellte er fest. Die Blätter der Bäume schaukelten leise mit. Das Knarren von Holzdielen. »Ah, Mint! Da bist du ja endlich!« rief ihm jemand von der Terrasse des nächsten Hauses zu. Eine Stimme mit dem klaren Klang von Quellwasser.

»Morgen, Yuu«, antwortete Mint knapp und stieg zu ihr hinauf auf die Terrasse. »Wie geht es dir?«

Sie strich ihm kurz mit der Hand über die Wange, wie um sicher zu gehen, dass er es wirklich war. Der schwarze Stoff um ihre Augen lag so fest gebunden wie eh. »Gut, danke. Uns geht es allen gut. Nur Master Virgil ist schon seit dem Morgen verschwunden.« Sie liefen die Terrasse entlang zu Yuukyuu’s Zimmer. »Heute Nacht ist Vollmond.«

Kein Grund darüber nachzudenken. Virgil Loco war so. Mint stellte seine Tasche ab setzte sich auf eines der Kissen, die in der Mitte von Yuu’s Zimmer auf dem Boden lagen, und beobachtete, wie das Mädchen Tee zubereitete. Eine Weile später stand eine Tasse dampfenden schwarzen Tees vor ihm. Schwarzer Tee, der eigentlich nicht zu Yuu passte. Mint hatte ihn mitgebracht und nur für Mint brühte sie ihn. Endlich setzte auch sie sich. Und weitere Minuten zogen vorüber. Wie der Dampf des Tees sich langsam im Wind bog. Durch die große geöffnete Tür konnte sogar noch ein Stück vom Himmel sehen. Ein wenig Blau zwischen den Baumkronen, welche erstaunlich braun waren und sich kaum unterschieden von den abgestorbenen Blättern am Boden. Noch war der Herbst einen Monat entfernt. Über das Blau schob sich eine Wolke. Die Lichtflecken in der Luft flackerten. Lautlos.

»Ist es schön?« fragte Yuu lächelnd.

Mint wandte den Blick zurück in das schattige Zimmer zu dem Mädchen ihm gegenüber, das aufrecht und still auf ihren Unterschenkeln saß, in einem roten mit Blumen bemusterten Yukata und pechschwarzen leicht gewellten Haaren. Und einer schwarzen Augenbinde. »Ja«, antwortete er. Trotzdem beide wussten, dass sie die Welt nicht so sahen wie die meisten Menschen. Yuu, die sehen konnte, aber nicht durfte. Und Mint, von dem man sagte, sein Blick erreichte sogar die Zukunft.

Er nahm seine Tasse und nippte am Tee. Dann begann er zu sprechen. »Ich habe Papier und Tinte mitgebracht. Ich werde etwas ausprobieren. Wenn du mich lässt.«

»Etwas?«

Langsam begann er seine Tasche auszupacken. Eine Mappe mit Papier, das er letzte Woche selbst geschöpft hatte. Eine Schachtel mit Pinseln. Ein Tuschestein und ein kleines Schälchen. »Du erinnerst dich sicher, wie wir darüber gesprochen haben, wieso deine Augen sind, wie sie sind. Und dass wir zu dem Schluss gekommen sind, dass es sich wahrscheinlich um eine Art Tor handelt, welches auf die Andere Seite führt.« Sie nickte. »Wenn es ein Tor ist, kann es verschlossen werden. Ganz so wie Lian damals das Tor geschlossen hat, das Lirith May geöffnet hatte. Nur ein wenig kleiner.«

»Hmm. Verstehe.« Sie nickte bedeutend. »Deswegen bringst du Papier mit.«

Er blinzelte. »Kein Grund mich zu verspotten. Das ist schließlich mein Job.«

»Natürlich, Herr Bibliothekar.« Sie grinste.

»Pff. Du wirst schon sehen.«

»Wirklich?«

Er spürte, wie sie unsicher wurde. Die gespielte Unernsthaftigkeit hielt nicht mehr. Die Hände in ihrem Schoß verrieten ihre Anspannung. Ein wenig unangenehm wurde dem Jungen schon. »Ich kann nicht garantieren, dass es klappt. Ich hatte noch nicht viel Gelegenheit mit solcher Magie umzugehen. Und die Umgebung hier ist auch nicht gerade gut geeignet für Zauber von dieser Seite.«

»Mh«, antwortete sie nur und lauschte. Um sie herum hatte es angefangen zu rascheln. Mint bedeckte den Boden um sie herum mit Blättern. Und … der Geruch von Tinte und … Blut? »Was machst du?«

»Einen magischen Zirkel, der die störenden Einflüsse von draußen eindämmen soll.« Nach und nach bemalte er das Papier mit der Tusche gemischt mit seinem Blut, sodass sich bald über die zusammengelegten Blätter ein schwarzer Kreis erstreckte, in dessen Mittelpunkt Yuukyuu saß. Mint entfernte noch den Tee und seine leere Tasche, das Kissen, stellte sich dann vor das Mädchen, legte die Hände vor seiner Brust aneinander und konzentrierte sich.

Ein heftiger Windstoß durchfuhr plötzlich das Zimmer. Einen Augenblick lang fürchtete Yuu, die Blätter wären davon geflogen. Doch weder hatte sie sie gehört, noch machte Mint den Anschein, dass etwas nicht stimmte. Stattdessen kniete er sich wieder vor sie hin.

»Eine Säuberung«, erklärte er. »Jetzt ist nichts mehr innerhalb des Kreises, was hier nicht hin gehört.« Yuu nickte. »Und jetzt werde ich das Siegel schreiben.«

»Eeeeh… Wie machst du das? Ein typischer einundzwanzigsilbiger RA-Zauberspruch?«

»Ha. No way. Ein Haiku. Das passt besser zu dir.«

Sie kicherte. »Dann bist du also ein Poet.«

»Sicher. Aber nur auf Englisch. Mein Japanisch ist noch nicht gut genug zum dichten. Und jetzt still. Ich schreibe.«
 

*
 

Vor ihm erstreckte sich die sanft gewellte Oberfläche des Sees, reflektierte die Dunkelheit des Universums. Mint seufzte. Er hatte genau gemerkt, als sich der Weg verändert hatte. Aber hatte nichts dagegen tun können. Er hatte nicht einfach umdrehen können. Für seinen nächsten Besuch hatte Yuu ihm eine ihrer speziellen Laternen versprochen, die immer den rechten Weg leuchteten, aber jetzt stand er hier, am Ufer des Sees, zu dem kein Weg führen sollte. Vollmondnacht. Auch der anstrengende Aufstieg am Morgen hatte ihn keines besseren belehrt. Vielleicht sollte er einfach hier sitzen bleiben und warten, bis die Sonne aufging. Master Virgil würde ihn finden.

Mint zog seinen Schal fester um den Hals. Von der anderen Seite des Sees hauchte ihm eine kühle Brise entgegen. Und … er lauschte plötzlich aufmerksam. Von drüben drangen Geräusche. Ein Rascheln? Eher ein Scharren … Dem Jungen schauderte. Da war etwas Lebendiges am gegenüberliegenden Ufer. Etwas, das … Pfeife rauchte und eine etwas merkwürdige Silhouette hatte. Vielleicht war es nur Master Virgil, folgerte Mint. Doch dann rann ein erneuter Schauder über seinen Rücken, als der Wind eine Stimme zu ihm herüber trug.

»Seid gegrüßt, einsamer Wanderer. Was führt euch zu dieser Stunde hierher?«

Mint war nicht danach mit jemanden zu reden, der die ganze Zeit klang, als würde er grinsen. Überhaupt war ihm gar nicht nach reden mitten in der Nacht an einem unbekannten Ort. Dementsprechend frostig antwortete er. »Der Weg.« Er konnte sehen, wie der andere an seiner Pfeife zog und weißen Qualm ausstieß, der im Mondlicht glitzerte.

»Ich würde lügen, wenn ich sagte, dass das nicht meine Intention war, aber weißt du, ich lüge nicht so gern. Eigentlich wollte ich dich nur kennen lernen. Sie reden viel von dir. Dem, der die Zukunft sehen kann.«

»Vielleicht kann ich das, vielleicht auch nicht. Ich bin nur ein Bibliothekar. Aber wer sind sie?«

Wolken verdeckten den Mond, tauchten für Minuten alles in Dunkelheit und Schweigen. Mint hörte sein eigenes Herz schlagen, während er darauf wartete, dass das weiße Licht zurückkehrte. Und als er die Silhouette des anderen endlich wieder an alter Stelle auf der anderen Seite des Sees ausmachen konnte, war er fast erleichtert.

»Was ist mit deinem Großvater? Geht es ihm gut? Er kam früher oft hierher.«

Früher, das war über ein Jahrhundert her.

»Er verdankt mir sein Leben, weißt du?«

»Ach wirklich? Und was willst du jetzt von mir?«

»Ich mochte, wonach Jacob damals suchte. Er hat es letztendlich gefunden. Kaum zu glauben. Ein wirklich hartnäckiger Mann.« Und nach einer Pause. »Ich möchte, was du sehen kannst, diese Seite, die andere Seite, die Zukunft …«

Mint steckte die Hände in die Hosentaschen und nahm sich Zeit, darüber nachzudenken. Er hatte eine Ahnung, mit wem er es zu tun hatte. Aber es war zu absurd. Dann wiederum, wenn man bedachte, was damals im Lirith May-Fall passiert war und danach mit Virgil Loco, war es nicht so unwahrscheinlich. Aber trotz allem, trotzdem er Bibliothekar der Ewigen Bibliothek war und tagtäglich mit Buchgeistern und Zauberern, Flüchen, Dämonen und dem Holy Dark zu tun hatte, er selbst fühlte sich nicht wie ein Zauberer und er war der Meinung, dass es Dinge gab, mit denen Menschen sich einfach nicht beschäftigen sollten, die für immer den Märchen und Legenden vorbehalten bleiben sollten. Die Feenwelt gehörte dazu. »Ich kann mich nicht erinnern, mit der Fähigkeit geboren zu sein, die Andere Seite sehen zu können.«

»Aber wie falsch du liegst. Es schlummert seit Generationen in deiner Familie! Du gibst dir nur große Mühe, sie nicht zu sehen.« Der andere kicherte. »Aber sorge dich nicht, ich kann ich davon befreien.«

»Oh bitte. Das ist genau das, was ich mir immer gewünscht habe. Im Ernst jetzt, ich rede nicht mal mit Leuten – oder Wesen – die nicht die Höflichkeit besitzen, sich vorzustellen. Egal welcher Welt sie angehören. Dementsprechend werde ich jetzt nach Hause gehen und kein weiteres Wort an jemanden verschwenden, der überhaupt nicht da ist.« Das war es. Mint hatte seine Entscheidung getroffen. Was auch immer es war, das der andere mit ihm oder seinen Augen vorhatte, das war nichts, an dem er teilnehmen wollte. Er würde den Weg schon finden …

»Ah ja?« kicherte der andere und zog an seiner Pfeife. »Und wie willst du denn den Weg finden? Es gibt keinen anderen Weg als den, auf dem du gekommen bist. Was wirst du tun? Traust du dich, dich umzudrehen?«

Mint stand noch immer am Ufer und starrte in die Dunkelheit. Er hatte nicht ein Mal den Blick abgewendet. Auch wenn Yuu gesagt hatte, es gäbe hier keinen See, was ungefähr gleichbedeutend damit war, dass es keinen Weg gab, der zu ihm hinführte, trotzdem hatte der auf der anderen Seite des Sees einen geschaffen; trotzdem war sich jeder sicher, dass wohin man sich auch auf diesem Berg verirrte, Master Virgil einen finden würde. Also musste es doch Wege geben, die überall hinführten. Wie in jedem anderen Wald auch. Nur waren sie vielleicht schmaler und feiner und für die meisten Menschen schwierig zu sehen. Doch wenn es etwas gab, dem Mint vertraute, waren das seine Augen. Viele Jahre lang hatte er gehasst, dass er sah, was er sah. Er war nur hier hinein geraten, weil er sehen konnte. Er würde nur wieder herauskommen, weil er sehen konnte.

Der auf der anderen Seite kicherte immer noch, doch Mint überhörte es. Er atmete durch und fasste sich ein Herz. Der Grund, warum Yuu den See nicht kannte, war nicht, weil kein Weg hierher führte. Er machte einen Schritt über das Ufer hinaus. Es war, weil es keinen See gab.

Natürlich hatte er nie etwas anderes geglaubt, aber ein Funken Erleichterung schoss doch durch Mints Gedanken. Der Boden unter seinen Füßen war derselbe wie vorher. Trockenes Gras und Erde. Der Weg war nie verloren.

Der junge Bibliothekar lief schnurstracks über die Lichtung auf den wieder beginnenden Wald zu. Auf ein paar Steinen zu seiner Linken lungerten seltsame Schatten, doch er beachtete sie nicht weiter. Auf dem größten dieser Steine verstummte der andere, verfolgte Mint mit seinen stechenden Augen, bis er ihn passierte, scharrte mit seinem Huf und schnaubte weißen Pfeifenrauch aus. Aber selbst wenn er etwas Anerkenndes geäußert hätte, Mint hätte ihn nicht gehört. Er tauchte wieder in den Schatten der Bäume ein, die schnell dichter wurden und dunkler. Das Unterholz knisterte und manches Dickicht reichte dem Jungen bis zur Hüfte und er musste aufpassen, nicht zu stolpern. Der Weg war tatsächlich schwieriger als der übliche für den Abstieg. Aber er war da. Und er war weit. Schweißperlen traten Mint auf die Stirn. Wie heute morgen hörte er unter dem Knistern des Holzes und dem Rauschen der Blätter, Wispern und Murmeln von Stimmen. Schatten, die zwischen den Bäumen umherhuschten. Aber anders als heute morgen waren sie hier viel näher. Der Weg war nur mehr ein schmaler Pfad mit schlechtem Untergrund und Mint dachte sehnsüchtig an die Laterne, die Yuu ihm versprochen hatte, die immer den richtigen Weg leuchten sollte.

Plötzlich wurden seine Schritte langsamer. Vor ihm war beinahe nur Dunkelheit. Und etwas wie eine Gabelung … Mint holte Luft. Welcher Weg war der richtige? War einer eine Sackgasse? Oder eine Täuschung? Oder führten doch beide zum Ziel? Er kam immer näher und gerade als er sich endgültig entscheiden musste, erhaschten seine Augen etwas in einem der Bäume weiter hinten des linken Weges. Eine rote Schleife hing in einem Ast. Leuchtete matt. Mint schlug erleichtert nach links ein. Rot war die Farbe von Virgil Loco. Schnell wurde der Weg wieder breiter und leichter zu begehen und nicht lange danach erkannte Mint die Umgebung wieder. Es war der reguläre Weg und da erhob sich auch schon der weiße Torbogen, der den Eingang kennzeichnete und böse Geister fernhalten sollte. Der Junge atmete auf. Die ganze Anspannung fiel von ihm ab und er hatte keinen Zweifel, dass die Geister dasselbe taten, als er endlich das Tor durchschritt.

Vor ihm lag wieder der große staubige Platz und dahinter das kleine besonnene Städtchen, das seit Jahrhunderten im Dienste der RA und der Wizardry stand und sich um Besucher und Bewohner des Berges kümmerte.

Schon sprang im nächsten Haus ein Licht an und ein Mann trat aus einer Tür und rief zu ihm herüber. »Guten Abend, Herr Bibliothekar! Möchten Sie sofort abreisen oder erst morgen früh?«

»Sofort bitte«, antwortete Mint befreit. Er fühlte sich, als wäre sein letztes normales Gespräch Ewigkeiten her gewesen.

»Dann bereite ich sofort eine Kutsche vor. Kommen Sie und warten Sie solange hier im Haus. Meine Frau macht Ihnen einen schönen heißen Tee.«

Er nickte und schmunzelte einmal mehr innerlich bei dem Gedanken an die altmodische Kutsche. Manche Dinge änderten sich eben auch in einhundert Jahren nicht.

Einmal noch drehte er sich um. Der Mond warf einen unheimlichen Schein auf das Tor. Und dahinter … Mint hätte schwören können, in der Dunkelheit einen Schatten gesehen zu haben. Das Scharren eines Hufs. Einen Moment noch schaute er. Dann wandte er sich ab. Das gehörte nicht zu seiner Welt. Er überquerte den Platz und folgte dem alten Mann ins Haus, um auf die Kutsche zu warten.

Vollmond. Hinter den Toren wartet die Andere Seite.
 

End of Act 8



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