Satz 13 - Der Neue
Der Neue
Sie mochte keine medizinische Ausbildung haben, doch sie hatte ihre Hypothese durch Beobachtung und das Sammeln empirischer Beweise entwickelt und war auf diesem Weg zu einem zwar unglaublichen, aber dennoch möglichen Schluss gelangt.
Sie hatte ihn bisher zwar erst zweimal gesehen, doch für sie war es eindeutig. Ihre Hypothese konnte nicht falsch sein und das verwirrte sie nur noch mehr. Wie kam der Meister darauf, so einen in ihren Clan aufzunehmen? Sie hatte kurz überlegt mit den Zwillingen über den Neuling zu reden, doch das hatte sie sofort wieder verworfen. Die hätten nur irgendwelche kryptischen Sätze von sich gegeben, die Victoria so oder so nicht verstanden hätte. Mit Kryl oder Rak'shir zu reden, wäre auch komplette Zeitverschwendung gewesen. Der Hüne und der Melancholische hatten den Neuling natürlich direkt ins Herz geschlossen. Aber was konnte man auch anderes von Männern erwarten?
Weil Victoria es einfach nicht verstand und es ihr auch keine Ruhe ließ, beschloss sie persönlich mit dem Meister über dieses Problem zu sprechen. So bat sie um eine Audienz. Es war immer die gleiche Prozedur, wenn sie ihren Meister sprechen wollte. Sie musste sich davor anmelden und die Erlaubnis des Meisters abwarten. Obwohl Victoria eigentlich immer willkommen war. Doch diese Regel galt für Alle, auch für den persönlichen Lieblings des Meisters. Victoria war es gleich, dieses Spiel mitzumachen, solange alle wussten, dass sie in der Rangliste direkt nach dem Meister kam. Und das wussten natürlich alle, Victoria sorgte oft genug dafür, die anderen Vampire daran zu erinnern.
Sie trat in den großen Saal, wo der Meister sich immer aufhielt. Man konnte fast meinen, dass er sich nie bewegte, denn es sah jedes Mal, wenn sie den Raum betrat, gleich aus. Der Meister saß wie üblich auf seinem großen Sessel und musterte Victoria. Rechts und links zu seinen Beinen hockten die Zwillinge. Victoria spürte auch deren Blick auf sich ruhen, was sie jedes Mal als sehr unangenehm empfand. Sie wusste nämlich immer noch nicht, wozu die Zwillinge alles fähig waren. Wenn der Meister sie die ganze Zeit über an seiner Seite duldete, mussten sie erstaunliche Kräfte haben.
Victoria riss sich jedoch zusammen und konzentrierte sich auf den Grund, weshalb sie hergekommen war. Sie verbeugte sich einmal kurz vor ihrem Meister und fing dann an, ihr Problem zu schildern: „Meister, ich muss dringend mit ihnen sprechen.“ Ihr Meister sah sie nur aus seinen uralten Augen an. Er sagte nichts und zeigte auch keine einzige Regung. Victoria wusste jedoch, dass sie seine Aufmerksamkeit hatte. „Es geht um den Neuen, den sie einfach in den Clan aufgenommen haben. Ich bin mir nicht so sicher, ob er wirklich zu uns passt.“ Sie machte eine kurze Pause, um ihren Meister die Zeit zu geben, das Gesagte aufzunehmen. Er brauchte immer etwas länger, da er schon sehr alt war.
„Kryl war auch bereits hier, um mit mir über dieses Thema zu sprechen.“ Seine Stimme war leise und rau. Trotzdem wirkte sie angsteinflößend für jeden normalen Menschen. Bei Vampiren erzeugte sie nur Respekt vor einem so hohen Alter.
„Ehrlich?“ Victoria war wirklich erstaunt. Normalerweise begab sich Kryl nie zum Meister. Nur in ganz besonderen Notfällen.
„Er schien mir keine Bedenken zu haben. Wie sagte er so schön: Er ist zwar ein bisschen klein und mager, aber wirklich ein Supertyp oder wie man das heutzutage sagt.“
Das klang eindeutig nach Kryl. Aber Kryl war auch niemand, der oft skeptisch oder misstrauisch war. Niemand in diesem Clan war von dieser Sorte. Deshalb musste Victoria diesen Clan beschützen, in dem sie ihn vor Gefahren bewahrte, die die Anderen nicht sahen. „Meister, ich weiß, es steht mir nicht zu, dass zu sagen, aber ich glaube, eure Einschätzung des Neuen ist falsch. Er führt irgend etwas im Schilde, da bin ich mir hundertprozentig sicher.“
„Nana, mein Kind. Komm zu mir her.“ Er streckte seine Hand aus. Victoria ging vorsichtig näher, ergriff zögernd seine Hand und ließ sich zu seinen Füßen nieder. Ihr Meister streichelte ihr zärtlich über ihre roten Haare. „Ich glaube, ich weiß, was dein Problem ist. Dir gefällt der Gedanke nicht, dass ich ihn mag. Du bist eifersüchtig.“
„Nein, das stimmt nicht.“ Entsetzt riss sie ihren Kopf hoch und sah ihren Meister an.
Die beiden Zwillinge rechts und links neben ihr, fingen synchron an zu kichern. „Sie lügt, Meister“, sagte die Eine. „Wir können es fühlen“, sagte die Andere.
Empört und beschämt über diese Aussage, stand sie wütend auf. „Victoria“, kam es leise und ruhig von ihrem Meister. Victoria drehte sich noch einmal widerwillig um. „Ich mag ihn, weil ich das Potential erkenne, was in ihm schlummert. Aber du bist und bleibst meine kleine Tochter, vergiss das nie. Du wirst immer an erster Stelle stehen.“
„Danke, Meister.“ Ein kleines Lächeln stahl sich auf ihre Lippen. Dann wandte sie sich zum Gehen.
„Und vielleicht schließt du ja sogar Freundschaft mit ihm. Er ist nicht so übel, wie du denkst.“
Vielleicht war er wirklich keine Gefahr und sie hatte überreagiert. Aber Victoria war sich noch immer sehr sicher, was ihre Hypothese betraf. Dieser Jüngling von einem Vampir war nicht gesund im Kopf.
Genau in den Moment kam Seth um die Ecke. Sein breites Grinsen auf dem Gesicht, ohne das ihn Victoria bisher noch nicht angetroffen hatte. „Na, Süße, was hat der Alte gesagt? Mag er mich lieber als dich?“
Victoria fletschte die Zähne und war kurz davor, Seth anzugreifen. Der Meister und auch alle anderen konnten ihr erzählen, was sie wollte. Dieser Kerl war nicht gesund. Er war ein widerlicher und selbstverliebter Idiot. Victoria würde sich nie mit ihm anfreunden.