Edinburgh: die letzte Nacht
Professor Knox allein in der Unterwelt auf Vampirjagd. Ob das gut geht? Und wen hat der Inquisitor warum in Verdacht?
6.
The city is a nightmare, a horrible dream
Some of us will dream it forever
Look around the corner and try not to scream:
It´s me
Abba: Tiger
Sarah schmiegte sich an eine gotische Hausmauer der Altstadt, froh um den harten Druck gegen ihre Taille. Ihre Handtasche hatte sie ja nicht mitnehmen können.
Sie war Michael schon fast eine Stunde durch das nächtliche Edinburgh gefolgt. Es waren nach den Morden weniger Menschen unterwegs als gewöhnlich, da war sie sicher. Er hatte ein ganze Weile gesucht, ehe er sich einem potentiellen Opfer vor einem Lokal näherte – einer englischen Studentin wohl. Nach einem kurzen Gespräch hatte er sie überzeugt, mit ihm noch einen trinken zu gehen – nette Umschreibung, dachte Sarah, die das selbst auch schon so formuliert hatte. Allerdings hatte sie ihr Opfer stets fast unverzüglich in einer stillen Ecke durch den geistigen, elektrischen Angriff betäubt und nicht erst die Vampirzähne gezeigt, es buchstäblich in Todesangst versetzt und laufen lassen, um dann die Verfolgung aufzunehmen.
Was sollte das? Sicher, wenn er das Mädchen endlich betäuben und dann trinken würde, würde sie sich am nächsten Tag an nichts erinnern, außer an einen schrecklichen Alptraum, aber….Das war unzivilisiert!
Sie bemerkte, dass er endlich die geistige Macht einsetzte, die die Jäger der Nacht auszeichnete, und sein Opfer bewusstlos zu Boden fallen ließ. Sie wartete, bis er sich seinen Anteil Blut geholt hatte, ehe sie sich näherte.
Er richtete sich auf: „Ihnen gefällt meine Jagdmethode nicht.“ Das war eine reine Feststellung.
„Vampire jagen, weil sie von menschlichem Blut leben müssen. Eine solche Hetze ist dagegen unserer unwürdig.“
„Schotten wurden schon ganz anders gehetzt, glauben Sie mir. Und die Kleine wird aufwachen, sich an nichts erinnern. Das ist gnädiger.“
„So rächen Sie die Vergangenheit? An Menschen, die damals noch nicht einmal geboren waren?“
„Ich erwarte nicht, dass Sie das verstehen. Sie waren ja immer auf Seiten der Sieger.“
„Was macht Sie so sicher?“
Er zuckte ein wenig die Schultern: „Ich hatte mein Vergnügen heute. – Gute Jagd, Lady Sarah.“
Mit dem alten Abschiedgruß der Vampire verschwand er in der Dunkelheit.
Sie starrte ihm nach. Sollte sie ihm nun folgen? Ging er seine Gebissenen holen? Oder kamen Thomas oder Frances in die Altstadt? Oder ein anderer? Musste sie sie nun suchen? Sie hatte einen Fehler begangen, als sie ausschließlich Michael beobachtet hatte. Wo waren die anderen? Doch zuhause? Sie hatte zwar einen Hauptverdächtigen, aber sie war sich wirklich nicht sicher, ob er es war. Sie konnte jetzt doch kaum die gesamte Altstadt abpatroullieren? Zwar war jeder Vampir in der Lage, einen anderen zu spüren, aber…
Nun, etwas anderes blieb ihr kaum übrig, entschied sie resignierend. Sie musste sich eben bemühen, möglichst konzentriert zu bleiben, zu versuchen, einen Artgenossen selbst dann zu erspüren, wenn er sich unter ihr in dem Labyrinth aufhielt. So machte sie sich auf den Weg durch das nächtliche Edinburgh, die Royal Mile entlang, systematisch die seitlichen kleinen Closes und Wynds absuchend, bemüht, sich nichts entgehen zu lassen.
Ein Geräusch, mehr geahnt als gehört, selbst für das übermenschliche Gehör eines Vampirs, ließ sie plötzlich herumfahren. Das war der Klang eines Schusses gewesen, der aus einem Tordurchgang ein gutes Stück hinter ihr geklungen war. Und es hatte äußerst gedämpft geklungen. Unter der Erde?
Sie rannte los, so rasch sie es vermochte. Nur kurz darauf befand sie sich in einem kleinen Hinterhof. An einer Stelle war ein Loch in der Wand, nein, ein wohl altes Portal, das nach hinten geschwungen war. Sie trat näher. Eine Treppe führte dort ins dunkle Nichts – keine Situation, die einen Vampir abgeschreckt hätte. Überdies erkannte sie unten einen schwachen Lichtstrahl. Ein jäher, nie zuvor gefühlter Schauder, der in ihr aufstieg, ließ sie ahnen, dass sich da Gebissene befinden mochten. So sprang sie förmlich die Stufen hinunter, als sie spüren konnte, dass sich dort auch Menschen aufhielten.
Sie erstarrte vor dem Bild, das sich ihr bot.
Es war ein Raum, der wie ein kleiner Platz geformt war, aus Ziegeln gemauert. Geradeaus führte ein Gang weiter, ebenso nach rechts. Fast in der Mitte des Raumes lag Professor Knox. Der Parapsychologe hielt noch ein Kreuz in der einen Hand, ein angespitzter Holzpflock war ihm entfallen. Seine Stirnlampe war das Licht, das sie hergelockt hatte. Neben, über ihm knieten zwei Wesen, die sie als Gebissene erkannte. Es waren noch vor wenigen Tagen Menschen gewesen, aber wie sahen sie nun aus: die Augen leuchteten feuerrot, das Gesicht war verzerrt, die Fangzähne hatten sie in den regungslosen Körper geschlagen, sättigten sich an dem mittlerweile sicher Toten.
Ein drittes dieser, ja, Monster, hatte sich dagegen der anderen, wohl neuen, Beute im Raum zugewandt, die fast noch am Fuß der Treppe stand. Kenneth Cuillin hatte instinktiv Rückendeckung an der Wand gesucht, mehrfach auf die Angreifer geschossen. Natürlich vergeblich. Und der Gebissene griff soeben nach dem Inspektor.
Ohne weiter nachzudenken, schleuderte Sarah ihre geistige Macht in den Raum, mit aller Kraft, die sie aufbringen konnte.
Ein Mensch würde davon lange bewusstlos werden, aber auch ein Gebissener sollte erst einmal zu Boden gehen. So war zumindest die Theorie ihrer Ausbilder gewesen.
Sie wartete einen Moment, ehe sie erkannte, dass sie in der Tat als Einzige in dem Raum noch stand. Es war das erste Mal gewesen, dass sie ihre Fähigkeit wirklich gegen Gebissene eingesetzt hatte. Sie wusste nicht, wie lange diese ohnmächtig bleiben würden. Professor Knox war tot, da war sie überzeugt, aber Kenneth Cuillin konnte sie noch helfen.
So trat sie zu ihm und zog ihn ein wenig auf, um ihn zur Treppe zu schleifen, an die Stufen zu lehnen. Sie wagte es nicht, ihn aufzuheben und zu tragen. Zwar hätte sie die körperliche Kraft dazu besessen, aber dann hätte sie den Gebissenen den Rücken zuwenden müssen, und das war ihr doch zu unsicher. Ihre Anspannung näherte sich fast Angst.
Sie spürte das leise Geräusch mehr, als sie es hörte, und ließ den Inspektor eilig zu Boden und starrte in den Gang ihr gegenüber. Wenn sie die Hinweise richtig gedeutet hatte, wusste sie, wer da kam. So oder so wäre es bedauerlich. Ein wahrer Vampir, der aus Menschen solche seelenlosen Monster schuf, war jedoch der unreine Abschaum des Volkes. Und hatte nach dem uralten Gesetz selbst auf sein Lebensrecht verzichtet.
„Guten Abend, Lady Sarah. Wie bedauerlich, dass Sie das kleine Siegesfest meiner…Untergebenen stören.“
„Siegesfest? Untergebenen?“ Sie starrte Thomas fassungslos an, der aus dem Gang in das matte Licht der Taschenlampe trat, und ging ihm einige Schritte entgegen, um den bewusstlosen Polizisten im Rücken zu haben, ihn so zu decken. „Die Jagd auf Menschen, ihnen ein wenig Blut abzunehmen, ist eine Notwendigkeit für einen Vampir. Aber man raubt ihnen nicht die Seele, verdammt sie so in alle Ewigkeit!“ Sie wollte fragen, warum, aber sie sparte es sich. Die Gebissenen begannen sich zu bewegen, ja, würden gleich erwachen. Das war eine Situation, in die sie lieber nicht gekommen wäre.
Auch Thomas hatte bemerkt, dass seine Gehilfen aufstehen würden: „Ich weiß nicht, wie es Ihnen gelang, sie bewusstlos zu bekommen, Lady Sarah…“ Der Titel war fast unmerklich betont: „Aber das wird Ihnen nichts nützen. Ich werde mir jetzt Ihr Blut nehmen. Das ach so vornehme Blut einer englischen Lady. Mal sehen, ob es besser schmeckt als das einer schottischen.“
Sie musste einfach versuchen, zu ihm durchzudringen. War sein Verstand durch die Anspannung der kritischen Jahre denn vollkommen verwirrt? Konnte sie ihn wieder zurückbringen? Vielleicht konnte man ihn dann von seinem Wahn heilen, ihm den Tod ersparen? Kein wahrer Vampir tötete – mit einer einzigen Ausnahme. „Kein Vampir kann das Blut eines anderen trinken! Das wäre tödlich!“
„So sagen unsere Meister. Aber ich glaube es nicht. Es ist nur, um uns daran zu hindern, selbst mächtiger zu werden. – Ah, meine Freunde, darf ich euch Lady Sarah vorstellen…? Geht zu ihr und hindert sie daran, zu fliehen, während ich sie mir heute vornehme…“
Sarah blieb regungslos stehen, als sich die Gebissenen ihr näherten, im Halbkreis hinter ihr hielten, ohne sich um den noch immer bewusstlosen Inspektor zu kümmern. Anscheinend waren sie durch das Blut des Professors gehorsam genug, im Moment zumindest. Sie wollte sich nicht vorstellen, was geschähe, würden diese drei ohne Kontrolle oben in der Altstadt wüten. Aber sie hatte ein mehr als unbehagliches Gefühl in der Wirbelsäule, als sie erkannte, dass die drei sich nur zwei Schritte von ihr postiert hatten, hinter ihr, rechts und links. Unwillkürlich versuchte sie, sie alle im Auge zu behalten, als sie Thomas antwortete: „Als Sie mich vorhin nach den Adelstiteln fragten, fiel mir auf, dass alle Opfer, außer den ersten, ein Sir oder einen anderen Adelstitel vor dem Namen hatten. Sie haben sich darauf beschränkt, nicht wahr?“ Sie musste zugeben, keine Ahnung zu haben, über was man sich mit einem Geisteskranken unterhalten sollte, der einen umbringen wollte. Aber sie ging von der menschlichen Vergangenheit aller Vampire aus: Menschen redeten gern über das, was sie getan hatten.
„Aber ja. Das haben Sie ja direkt schlau erkannt. – Soll ich Ihnen auch sagen, warum? Hat Ihnen Sir Angus …auch wieder ein Sir…gesagt, wie ich zu ihm kam?“
„Nein. Das wäre sehr unhöflich.“
Thomas lachte auf. „Darum kümmern Sie sich? Nun, ich kam 1924 zu ihm. Ich lebte in einem Haus, hier in Edinburgh. Nicht so, wie hier die Altstadt. Draußen, wo die Armen lebten, in einer Mietskaserne. Es war sehr beengt, aber Mutter konnte nicht weg. Vater war auf See geblieben und sie hatte Arbeit in einer Fabrik gefunden. Und das Haus gehörte dem Fabrikbesitzer.“
„Einem Adeligen?“
„Oh, Sie fangen ja an, zu begreifen! – Es war gut, billige Arbeitskräfte an sich zu fesseln…aber es war noch besser, sie auch billig wohnen zu lassen. Das Haus war die Hölle, heruntergekommen und weiß Gott nicht auf irgendeinem sanitären Stand. Das Gaslicht, das er eingebaut hatte, brachte dann die Explosion. Das Haus war zerstört, meine Mutter tot. Ich war schwer verletzt. – Im Krankenhaus lernte ich dann Sir Angus nennen. Und mit ihm meine Chance auf Rache.“
Sarah starrte ihn an: „Chance auf Rache? Indem Sie alle Leute töten, die irgendwie einen Adelstitel tragen?“ Sie versuchte, irgendeinen Fanatismus in seinen Augen zu erkennen, Hass, aber es war nichts zu sehen. Er stand vollkommen ruhig, ja, gelassen da. Und plötzlich begriff sie: der Hass hatte sich zu tief in ihn eingefressen. So tief, dass weder Sir Angus noch sonst jemand ihn mehr hatte erkennen können. Wie ein Wurm musste er sich in den Jungen gebohrt haben, auch in seiner Vampirzeit, immer tiefer. Leute wie Michael hatten ebenfalls in ihrer Menschenzeit gelernt, was Hass war, das hatte er zuvor bewiesen. Henry und die anderen hatten es besser verkraftet und schlugen nur noch mit Worten um sich, Michael jagte dagegen hart am Rande dessen, was unter Vampiren noch als zivilisiert galt. Aber es war doch noch ein Unterschied, Menschen im wahrsten Sinne des Wortes zu jagen, ihnen Alpträume zu verschaffen, oder sie in Gebissene zu verwandeln, buchstäblich die Seele zu rauben. Und noch einmal etwas anderes war die Last, die allein der Kadash trug: die Blutschuld am Leben der eigenen Artgenossen. Zum ersten Mal begriff sie, wie unendlich schwer diese Bürde war.
„Oh ja, das werde ich tun. Bald werde ich nicht mehr nur drei Gebissene haben, sondern mehr. Und sie werden aus immer mehr Menschen Untote machen, die nur noch meiner Kontrolle unterliegen. Und ich werde allen ach so tollen Adel ausrotten!“ Aber er lächelte sie an: „Und mit Ihnen mache ich jetzt erst einmal weiter. Leider bin ich mir sicher, dass es stimmt, und ich keinen Vampir zu einem kontrollierten Gebissenen machen kann. Aber ich werde Ihr Blut trinken, Sie leer trinken, und damit Ihrer Seele berauben. Dann sind Sie wahrhaft tot.“
Sarah sparte es sich, ihn erneut darauf hinzuweisen, dass das vollkommen anders als menschliches geartete Vampirblut in ihr ihn bereits beim ersten Schluck töten würde. Das hatte er schon zuvor nicht geglaubt. Außerdem: wie wollte er diese Menge in sich aufnehmen? Hatte er das schon bei den Morden getan, ebenso blindwütig wie eines seiner gebissenen Opfer? Sie hatte nie zuvor einen wahnsinnigen Vampir getroffen.
Sie bemühte sich mit wachsender Anspannung, die drei Gebissenen um sich nach wie vor im Auge zu behalten, als sie bemüht ruhig meinte: „Das wird nicht funktionieren. – Und es muss für Sie eine Enttäuschung gewesen sein, als Sir Angus und die anderen den Hohen Rat informierten, den Inquisitor riefen.“ Ihre Hände bewegten sich unruhig an ihrem Bauch, ihrer Hüfte. Ihr war klar, was sie tun sollte, aber sie schreckte davor zurück. Es war etwas anderes, Menschen oder die Gebissenen zu betäuben…
Thomas entging ihre Nervosität nicht: „Natürlich war das eine unangenehme Überraschung. Aber ich bemerkte bald, dass ja nicht der Inquisitor gekommen war. Der Rat hielt das hier für unbedeutend genug, nur Sie zu schicken. – Oder wollen Sie mir weiß machen, dass Sie nur zu rufen brauchen, und der Inquisitor käme? Gegen den hätte ich vielleicht wirklich keine Chance. Aber immer gegen eine aufgeblasene, arrogante Lady.“
Sarah blickte in den dunklen Tunnel hinter ihm: „Oh, Thomas, “ flüsterte sie, als sie ihre Hände vor sich übereinander legte. Er tat ihr so Leid: so jung und so wahnsinnig….
Sein nächstes Wort galt den Gebissenen: „Lasst sie nicht entkommen, wenn ich sie mir jetzt schmecken lasse. Und Sarah-Schatz: spar es dir, vergeblich zu rufen…“
„Haben Sie es denn nicht begriffen?“ fragte sie leise, bemüht, ihren instinktiven Ekel vor den Gebissenen zu unterdrücken, die sie anfassen wollten, und sich zu konzentrieren: „Der Inquisitor ist doch schon hier!“
Kenneth Cuillin erwachte mit ziemlichen Kopfschmerzen. Was war nur geschehen? Er hatte Professor Knox gesucht und war dem in die unterirdischen Gänge der Closes gefolgt. Er allein, ja, was an sich dumm war, aber er hatte diesen Volltrottel möglichst unauffällig zurückholen wollen, ehe dem noch etwas passierte. Sein Vorgesetzter hatte diesem Vorhaben ja auch zugestimmt…Und hier waren …war wer gewesen?
Jemand umfasste ihn und zog ihn auf.
„Geht es Ihnen gut?“
„Lady Sarah!“
„Sie müssen ein Held gewesen sein.“ Ihre Stimme zitterte.
Er sah sich verwirrt im Raum um. Professor Knox lag da und er hatte in der letzten Zeit zu viele blutleere Leichen gesehen, um nicht zu wissen, was mit diesem passiert war. Aber da waren noch drei andere Tote. Er erkannte Einschusswunden. Hatte er…?
Doch, diese drei Jungen waren aus den dunklen Gängen gekommen und hatten den Professor unverzüglich attackiert, als er selbst soeben wieder die Treppe hinunter gekommen war. Er hatte sich orientieren wollen – gegen den Willen des Professors, der etwas von: „sie sind nahe“ geredet hatte. Er hatte dann sofort zu seiner Dienstwaffe gegriffen: „Was...was machen Sie hier?“
„Ich hörte Schüsse, durch die offene Tür dort oben“, gab sie ehrlich zu: „Und irgendwie dachte ich mir, dass Sie es sind. Der Professor ist tot. Die Drei auch. Sind das…das die Freunde Mary Duncans?“
„Ja, ich denke schon.“ Er fühlte sich vollkommen schwach, ja, verwirrt. Was war nur geschehen? Er neigte doch sonst nicht gerade zu Ohnmachtsanfällen? Aber da war das Bild, das er noch vor Augen hatte, dieser Verrückte, mit blutunterlaufenen Augen und blutigem Mund, der sich ihm genähert hatte, auf den er geschossen hatte…
Sarah leckte sich rasch über die Lippen. Sein Blut war so appetitlich gewesen, wie sie es erwartet hatte. Natürlich würde er sich durch die Schocks der geistigen Attacken und den Blutverlust noch schwach fühlen, aber sie hatte ihm das Leben gerettet – und da war ein halber Liter Blut sicher kein Preis. Und sie hatte nach den nervenaufreibenden vergangenen Minuten dringend etwas zu Trinken gebraucht, um sich einigermaßen zu beruhigen. „Sie rufen Ihre Kollegen?“ Irgendwie war sie froh, im Moment nicht allein zu sein – und das hatte nichts mit dem belebenden Trunk zu tun, den er ihr ohne Wissen spendiert hatte.
„Ja.“ Der nüchterne Polizist kam wieder zum Vorschein, als er seine Waffe aufnahm und in das Halfter steckte: „Vier Tote. Aber wenn damit diese Mordserie ein für alle Mal ein Ende findet…Warum nur haben sie Knox angegriffen?“
„Vielleicht ging er einfach vor Ihnen?“ schlug sie vor, da sie nicht direkt danach fragen wollte, was passiert war. An je weniger sich Kenneth Cuillin erinnerte, umso besser.
Er griff in seine Jackentasche: „Ich suchte ihn. Ich hatte, zu Recht, angenommen, dass dieser Vollidiot sich selbst und noch dazu allein auf die Fahndung nach den Killern machen wollte. Nach Rücksprache mit meinem Vorgesetzten kamen wir überein, dass ich ihn einzeln suchen sollte, um kein Aufsehen zu erregen, und ihn wieder zurückhole. Ich fand ihn hier unten, aber er wollte nicht aufgeben. Ich begleitete ihn ein gutes Stück durch diese Gänge und versuchte, ihn zu überzeugen, dass man mit einem Kreuz nicht gegen drei Mörder ankommt. Hier ging ich die Treppe empor, um mich zu orientieren, nun, und um ihn dann einfach zu zwingen, mit mir in Sicherheit zu gehen. Als ich zurückkehrte, hatten sie schon den Professor in der Mangel. Sein Kreuz war vollkommen wirkungslos. Und ich dachte auch schon, meine Schüsse…- Hier unten funktioniert das Handy nicht. Kommen Sie, gehen wir hoch.“ Er wollte sie nicht allein in einem dunklen Keller mit vier Leichen lassen. Sie sah blass aus und hatte nur langsam wieder ihre Stimme vom Zittern befreien können. Sicher war es das erste Mal, dass sie solche Toten sah.
„Können Sie mich raushalten?“ fragte sie, als ihr plötzlich klar wurde, dass sie vor der menschlichen Polizei Aussagen machen müsste. Das wäre unangenehm.
„Warum? Sie wären eine wichtige Zeugin.“
„Wofür? Dass ich Sie bewusstlos gefunden habe?“
„Hm…“
„Sie haben versucht, den Professor zu beschützen, wenn auch vergeblich. Und Sie haben selbst den Angriff überlebt. Das ist doch offensichtlich.“
„Ja.“ Er sah sich um. Dass die Kugeln in drei der Toten aus seiner Dienstwaffe stammten, würde die Untersuchung sicher bestätigen. Sie mussten vollkommen verrückt geworden sein. An ihren Mündern hing noch immer Blut. Und der arme Knox lag da, eindeutig ohne einen Tropfen Lebenssaft… „Ich denke schon, dass es offensichtlich ist“, meinte er langsam. „Kommen Sie.“
Sarah warf noch einen raschen Blick zurück, als sie ihm folgte. Die drei Gebissenen waren wieder zu Menschen geworden, in dem Moment, in dem sie den wirklichen Tod gestorben waren. Und das Häufchen Asche dort hinten würde in dem geringen Luftzug in den Gängen endgültig verweht sein, bis die anderen Polizisten hier waren. Die Bedingung der Unauffälligkeit war erfüllt.
***************************
Diese Nacht dürften weder Sarah noch der Insektor je vergessen, hat sie das Erlebte doch recht mitgenommen.
Im nächsten Kapitel erfahrt ihr, was geschehen ist, bevor Mr. Cuillin aufwachte - und was der Hohe Rat meint.
bye
hotep