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Der Malar

Die Jagd nach der Kreatur der Untiefen
von

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Zwanzig Sommer später

Die wuchtige Porzellantasse schoss zischend an meinem linken Ohr vorbei und zerschellte melodramatisch klirrend an einer der holzvertäfelten Wände des gemütlichen Baumhauses.

„Das ist ja nicht auszuhalten! Wie oft habe ich dir jetzt erklärt, wie du den Bogen zu halten hast, Tilya?“ tönte eine ölige Stimme durch die urige Wohnküche, die mit ihrem rustikalen Charme eine behagliche Atmosphäre hätte ausstrahlen können, würde nicht ein wildes Chaos aus Instrumenten, Büchern, Papierbögen, stinkenden Farbtöpfen und Lebensmitteln die Holzdielen des Fußbodens beherrschen, zu dem sich jüngst auch noch die Scherben einer großen Teetasse gesellen durften.

Fassungslos starrte ich auf meinen Lehrmeister hinab, der eben noch mit unerschütterlicher Gleichgültigkeit dem schrillen Kreischen meines laienhaften Cellospiels gelauscht hatte, bevor er plötzlich mit der für ihn so typischen unberechenbaren Impulsivität seiner gelegentlichen Wutausbrüche das besagte Trinkgefäß nach mir geschleudert hatte.

„Bist du bescheuert, Myroon?“ fuhr ich den exzentrischen Mann an, während ich fahrig durch die Unordnung zu seinem Sessel hin stapfte, in welchem er sich bereits angriffslustig vorgelehnt hatte und mich aus seinen stechend gelben Verliekenaugen herausfordernd anfunkelte.
 

Trotzig warf ich dem vierzehn Sommer älteren Myroon sein verdammtes Streichinstrument in den Schoß.

Der Alverliek japste empört und erhob sich geschmeidig von seinem wurmstichigen Thron.

„Bescheuert bin ich keineswegs, was man von dir allerdings nicht behaupten kann, Drachenmädchen.“ säuselte er gereizt.

Bei dem Klang des verhassten Spitznamens durchzuckte es mich wie ein Blitz.

Ich biss mir auf die Zunge und ließ meine scharfen Eckzähne unter der geschürzten Oberlippe blitzen, was wie ein überlegenes, zynisches Grinsen aussehen sollte.

Innerlich aber bebte ich vor unterdrückter Wut.

„Als ich dreiundzwanzig Jahre zählte, gab es bereits kein Instrument auf der Insel, welches ich nicht beherrschen konnte!“ bemerkte Myroon schnarrend und blickte herablassend auf mich herunter.

„Du hast ja auch viel früher als ich damit angefangen, Musik zu machen!“ entgegnete ich ihm flapsig.

„Schließlich wurdest du schon mit Fünfzehn in deiner ersten Ausbildung in den schönen Künsten darin unterrichtet!“

„…und habe danach niemals aufgehört dazuzulernen, Mädchen! Diesen Ehrgeiz will ich bei dir einmal sehen! Bei den talentiertesten Künstlern dieser Insel habe ich mich fortgebildet, jeder eine Kapazität auf seinem Gebiet. Ich habe hart dafür gearbeitet, mir dieses breite Spektrum an Fähigkeiten anzueignen, und dabei in jeder Disziplin zu überzeugen. Du genießt bei mir die vielfältigste Ausbildung der schönen Künste, die du auf der ganzen Insel hättest bekommen können! Und was machst du daraus? Diesen Herbst wirst du fertig und kannst nach vier Jahren anspruchsvollstem Unterricht noch nicht einmal Cello spielen, ohne deinen Zuhörern das Trommelfell zu zerreißen? Schande bringst du über mich!“

Myroon redete sich in immer mehr Rage, wobei er mit seinen feingliedrigen Händen gefährlich nahe vor meinem Gesicht herum gestikulierte.
 

Das Cello ruhte jetzt übrigens unbeachtet in einer frischen blauen Farblache unbekannten Ursprungs. Mir wurde es langsam zu bunt. Genervt packte ich die herumfuchtelnden Hände meines Lehrmeisters und erhob meinerseits die Stimme.

„Es tut mir unendlich leid, deinen Erwartungen nicht gerecht zu werden, Myroon, aber ich wollte bei dir verdammt noch mal nur die Kunst der Malerei erlernen und sonst nichts! Schauspiel, Gesang, und auch Musik und Dichtkunst interessieren mich überhaupt nicht! Ich wollte nur so gut wie nur irgend möglich zeichnen können um das Buch über Heilpflanzen, das ich schreiben will, mit eigenen, naturgetreuen Bildern zu illustrieren!“

Myroon rollte theatralisch mit den Augen, schüttelte mit einer ungeduldigen Bewegung meine Hände ab und verzog die schmalen Lippen zu einem süffisanten Grinsen.

„Oho, die junge Frau Heilkundlerin misst den vier anderen schönen Künsten keine Bedeutung zu…fein! Kunst ist ja auch nicht eindeutig fassbar, nicht beweisbar, nicht kalkulierbar! Gut, dass dir nach vier Jahren endlich mal klar geworden ist, dass wir beide bisher nur unsere Zeit hier verschwendet haben!“

„Ich habe nie gesagt, ich wüsste die Künste nicht zu schätzen, Myroon! Ganz im Gegenteil, ich bewundere alle Leute, die mit ihren kreativen Fähigkeiten unsere Welt bereichern, aber ich habe einfach andere Pläne für meine Zukunft! Begabung kann man eben in keiner Weise erzwingen, also muss ich meine eigentlichen Stärken fördern“ lenkte ich in einem versöhnlichen Ton ein, meinen Ärger tapfer hinunterschluckend.

Myroon fühlte sich augenscheinlich hinreichend gebauchpinselt, er fuhr sich geschmeichelt mit der Hand lässig durch sein seidiges, weißblondes Haar, nicht ohne mich meiner ungewohnt diplomatischen Worte wegen noch einmal argwöhnisch zu mustern.

Dann schlug mir der lange Alverliek zum Zeichen der Vergebung zweimal grob auf den Rücken, so dass ich erschrocken nach Luft schnappend über das Cello stolperte und fast auf der blauen Farblache ausgerutscht wäre.

Fluchend, hustend und blaue Schuhabdrücke auf dem kaum als solchen zu erkennenden Fußboden hinterlassend, bahnte ich mir den Weg zur Abstellkammer, um Eimer, Lappen, Besen und Kehrblech herbeizuholen.

Lehrzeit war Knechtzeit. Besonders unter Myroon, der es in vollen Zügen auskostete, dass der Lehrling sich um den Haushalt seines Meisters zu kümmern hatte.
 


 

Die Sonne war bereits untergegangen und nur noch das schwache kaltblaue Licht des jungen Nachthimmels erhellte die Zimmer des Blockhauses, das Myroon vor einigen Jahren in der Krone eines Korallensteinbaumes am Rande des Hügeldorfes errichtet hatte.

Ich hatte bereits aufgeräumt, geputzt, gefegt, gewischt und widmete mich nun intensiver den blauen Farbflecken, die hartnäckig die Dielen zu zieren pflegten.

Meine verliekischen Augen reflektierten das spärliche Abendlicht, was mir glücklicherweise ersparte, Kerzen an der flackernden Glut, die müde im Inneren des Ofens knisterte, entzünden zu müssen.
 

Vier mal schon hatte ich an diesem Abend ächzend an dem Flaschenzug kurbeln müssen um meinen Eimer mit frischem Wasser aus dem Brunnen, den Myroon vor vier Jahren zusammen mit meinem Vater direkt unter dem Waschzimmer installiert hatte, zu füllen und in die Hütte hinauf zu ziehen.

Weniger mühsam wäre es zwar gewesen, wenn ich stattdessen die Pumpe bedient hätte, die sich ebenfalls im Waschzimmer befand, doch mir graute es vor den unheimlichen gurgelnden Geräuschen, die durch die kupfernen Rohre tönten. Besonders schaurig schien es dabei zu blubbern, wenn ich nachts alleine im Baumhaus war.

Myroon war wieder mal losgezogen, umschwärmt von einigen hübschen Alwinnen und hatte mich mit dem widerwilligen Versprechen, bei seiner Rückkehr wenigstens die trockene Wäsche mit ins Baumhaus zu nehmen, zurückgelassen.

Coatl, der armlange wilde Schnabelgecko, der sich jeden Abend von mir eine Schale Piragienkerne vor den Korallensteinbaum stellen ließ, hatte nämlich das Tau, an dem der Korbaufzug befestigt war, durch geknabbert und ich weigerte mich nun, mit dem schweren Wäschebündel beladen, einhändig die Strickleiter ins Haus hinaufzuklettern.

Ich seufzte schwer, als ich feststellen musste, dass die blauen Farbkleckse am Boden sich durch das ganze Geschrubbe nur noch vergrößerten anstatt zu gnädiger weise zu verblassen.

Missmutig schlurfte ich in die Küche, ließ das alte Spülwasser vom Nachmittag in einen rostigen Blechkanister laufen und stellte ihn zusammen mit dem Eimer erblauten Putzwassers ins Waschzimmer neben die Toilette.

Aus dem Spiegel über dem Waschbecken blickte mir mein eigenes abgekämpftes, hochrotes Gesicht entgegen und ich verfluchte Myroon, der stets alle anfallenden Hausarbeiten mir überließ, um sich währenddessen außer Haus zu amüsieren.

Dabei hätte er mir mit seinem kinetischen Talent, das er für einen Alverlieken außerordentlich gut zu kontrollieren wusste, hervorragend so manche mühselige Tätigkeit erleichtern können.

Doch Myroon interessierte sich kaum für seine seltene Begabung und zierte sich, mir oder den übrigen Bewohnern des Hügeldorfes mit seinem Talent unter die Arme zu greifen. Stattdessen zog der Alverliek es vor, seinen persönlichen Neigungen zu frönen und die Leute damit zu unterhalten.

Zum Glück würde ich nach wenigen Monden die Tortouren unter Myroons Fuchtel mehr oder weniger erfolgreich hinter mich gebracht haben und aus diesem verrückten Haus mit seinem noch verrückteren Besitzer ausziehen können.
 

Es war hier auf der Insel so üblich, dass man als Lehrling in den Haushalt seines Meisters zog, um bei ihm zu lernen, mit ihm zu arbeiten und ihm hilfreich zur Hand zu gehen.

Bei Vilthon jedoch, den ich seit ich mich zurück erinnern konnte wie einen Bruder liebte, hatte ich es wesentlich angenehmer gehabt als hier bei diesem verantwortungslosen, cholerischen und exzentrischen Alverlieken Myroon.

Und das lag nicht nur daran, dass eine tüchtige Hausfrau zu der Zeit, als ich mit fünfzehn Sommern die Lehre bei Vilthon begann, noch mit diesem anständigen Alwen verheiratet gewesen war.

Den sanftmütigen Vilthon kannte ich schon solange ich denken konnte, denn er war ein enger Freund meiner Eltern.

Er entsprang einer alwischen Familie von angesehenen Heilkundlern, welche viel Wert darauf legten, ihren Nachkommen schon sehr früh, lange vor ihrer eigentlichen Ausbildung, ihr kostbares Wissen zu vermitteln.

So zählte Vilthon erst dreizehn Sommer, als er zusammen mit seiner Mutter meinem nervösen Vater Chareleo und meiner Mutter Auriannah bei meiner Geburt beistand.

Vilthon war es, der mich als erster in seinen Armen hielt, und er war es auch, der mir meinen Namen geben durfte, welcher auf altalwisch „ferner Stern“ bedeutete.

Und er war der erste und lange Zeit der einzige, dem meine Eltern die Geschichte um mein verlorenes Totem anvertrauten.

Über sein Totem zu sprechen, geschweige denn über die Alpträume, die der malarische Einfluss verursachte, galt seit jeher als Privatangelegenheit, über die es sich herumzuplaudern nicht gehörte, und es zählte als Zeugnis größten Vertrauens, dass meine Eltern den heranwachsenden Vilthon in diese unglaubliche Begebenheit, die ihrer Tochter widerfahren war, einweihten.

Auch ihnen hatte ich aber niemals vollständig geschildert, was genau sich in jener Nacht ereignet hatte.

Ich zählte damals keine drei Sommer und meinen Eltern antwortete ich auf deren behutsam gestellte Fragen meist nur mit hartnäckigem Schweigen und so nahm man bald an, ich könne mich nicht mehr an die furchtbaren Details des grauenhaften Ereignisses erinnern. Man beschloss, nicht weiter nachzuhaken, um das traumatisierte Kind nicht noch mehr zu quälen.

Außerdem fand ohnehin niemand eine Möglichkeit, mir zu helfen, und so blieb es meinen Eltern nur, abzuwarten, wie ihre ich mit meiner außergewöhnlichen Situation fertig werden würde.
 

So wie meine Eltern wusste auch Vilthon jahrelang nur, dass mein Malar in der Nacht des Bündnisses mein Totem vernichtet hatte, bevor ich dem verständnisvollen Alwen irgendwann die Einzelheiten der Begebenheit jener Nacht schilderte.

Obwohl auch dem gebildeten Vilthon noch niemals eine derartige Geschichte zu den spitzen Ohren gekommen war und er ahnte, dass es wohl keine zweite Person geben würde, dem ein ähnliches Schicksal wie mir beschieden worden war, mit dem ich meine Erfahrungen hätte teilen und der mich mit seinem Rat hätte unterstützen können, hielt er mich dazu an, niemals meine Hoffnung und meinen Glauben an mich und an andere zu verlieren.

Eine innige, sehr tiefe Freundschaft begann sich zwischen dem sonst so reservierten jungen Alwen und dem neugierigen, aufgeweckten Kind, das ich damals war, zu entwickeln.

Vilthon konnte mich begeistern, meine Interessen fördern und mir das Selbstvertrauen geben, meiner Zukunft mit Optimismus entgegenzublicken.

Durch die Ausbildung bei ihm erkannte ich erst meine Stärken und die Möglichkeiten, die sich aus ihnen erschlossen, wenn man die Dinge aus unkonventionelleren, weniger traditionsbewussten Perspektiven betrachtete.

Es war Vilthons waghalsige Idee, sein kühnster Traum, irgendwann mit mir über das Meer zu segeln, und auf dem Kontinent, den die Menschheit bevölkerte, fremdartige Pflanzen zu erforschen und alles in einem bebilderten Buch festzuhalten.
 

Diesen übermütigen Plan trug ich dankbar in meinem Herzen und bald wurde er mir zu einem der wenigen Lichtblicke in meinem Leben, denn dieses begann sich mit der Zeit immer schwieriger für mich zu gestalten.

Besonders hart traf es mich in den Momenten, in denen mein Vater abrupt in bedrücktes Schweigen verfiel, wenn er eben noch wilden Ideen über mögliche Zukunftsaussichten seines einzigen Kindes nachgehangen hatte.

Niemals hätte mir der gutmütige Verliek seine Enttäuschung über den Verlust meiner Begabung gezeigt, aber dennoch war mir schmerzhaft bewusst, dass er schon seit meiner frühesten Kindheit unzählige abenteuerliche Pläne für mich geschmiedet hatte, je nachdem, in welche Richtung sich mein Talent entwickelt hätte, von denen sich aber kein einziger jemals erfüllen würde.

Man wusste zwar, dass die Kinder, die Alwen mit Verlieken bekamen, oft ein problematisches Verhältnis zu ihren Malaren entwickelten, was sich negativ auf ihre Begabung und manchmal auch auf ihre Persönlichkeit auswirken konnte; andererseits waren alverliekische Talente, so schwer sie auch meist zu kontrollieren waren, häufig von so außergewöhnlicher Natur, dass sie bei den Insulanern höchste Wertschätzung erfuhren.
 

So hörte man von Alverlieken, die wie Myroon Gegenstände in Bewegung versetzen konnten, ohne dass das Talent des Windes anzuwenden, massive Materialien konnten ohne das Entstehen von Hitze verformt werden, in einem Dorf am Rande des Gebirges sollte es gar einen einsiedlerisch lebenden Alverlieken geben, der mit seinen Händen die Begabung der Kälte zu beherrschen verstand.

Mein Vater hoffte insgeheim für mich, ich möge doch noch meine Begabung finden, vielleicht gar mit dem Talent gesegnet werden, mit Tieren kommunizieren zu können, damit ich irgendwann zusammen mit meinem Onkel glücklich und zufrieden in der Tierpflege tätig sein konnte.

Denn genau wie sein Riesenkäfer züchtender Bruder, liebte ich Tiere über alles, so groß, so seltsam und so furchteinflößend sie auch sein mochten, und seit jeher war ich total verrückt nach den Botenraben meines Onkels, die neben seiner Hütte in einer großen Voliere ein und aus flogen.

Mit sanfter Gewalt musste man mich oft von den Roonengräbern und Querkenkneifen wegzerren, um die sich mein Onkel zu kümmern pflegte.
 

Die Tragödie, die mir damals widerfahren war, blieb meinen Eltern ein unerklärliches, unverständliches Phänomen, dass sie kaum zu hinterfragen wagten, es kaum als überhaupt jemals geschehen anerkennen wollten.

Meiner Mutter fiel es jedoch später leichter als meinem Vater, mit meinen Problemen umzugehen.

Als die Alwin endlich akzeptieren konnte, dass mein Totem tatsächlich meinem Malar zum Opfer gefallen zu sein schien, verstand sie es als Selbstverständlichkeit, dass ich meine zukünftigen Tätigkeitsschwerpunkte in der Dorfgemeinschaft nach meinen eigenen Interessen auszusuchen hatte.

Dennoch konnte sie auch meine Frustration nachvollziehen, denn als mir als Heranwachsenden so richtig bewusst wurde, was es für mich bedeuten würde, niemals mit meiner speziellen Fähigkeit die Gemeinschaft unterstützen zu können, niemals die Freude und Leidenschaft zu erfahren, die der Einsatz seines Talentes zum Wohle des Zusammenwirkens aller Insulaner mit sich bringt, begann ich mehr und mehr an mir zu zweifeln und mich von den Dorfbewohnern abzukapseln.

Ich wusste, dass die Leute heimlich über mich tuschelten, was eigentlich vollkommen natürlich war, denn meine Andersartigkeit wurde spätestens nach meinem elften Lebensjahr für jedermann offen sichtbar, als zwischen meinem Haar, das seit der gewissen Nacht in einem blassblauen Farbton nachwuchs, schillernde Federn zu sprießen begannen.

Auch, wer bisher immer noch nicht über den kuriosen Verlust meines Totems einschließlich meines Talents Bescheid wusste, erkannte an der sporadischen echsenhautartigen Schuppenzeichnung meiner Haut an Armen und Beinen, dass mit mir irgendetwas nicht stimmen konnte.
 

Obwohl niemand aus dem Dorf; wohl niemand auf der ganzen Insel mich in irgendeiner Weise angeklagt, oder mir unangenehme Fragen gestellt hätte, nagten die eigenen Selbstzweifel, das Wissen um meine Unzulänglichkeit und die Tatsache, dass ich den an mich gestellten Erwartungen nicht gerecht werden konnte, so sehr an mir, dass ich die musternden Blicke der Dorfbewohner kaum zu ertragen vermochte.

Sogar in der schönsten Jahreszeit bevorzugte ich deshalb lange Kleidung, die die Schuppen in der hässlichen Farbe frischer Blutergüsse verdecken konnte.

Am Schlimmsten machten mir die jüngsten Dorfbewohner zu schaffen, die in kindlicher Naivität mit dem Finger auf mich zeigten, und lautstark ihre Verwunderung über mich äußerten und entweder zu lachen oder vor Schreck zu weinen anfingen.

Ich fühlte mich schuldig an meiner Misere, überflüssig in der Gemeinde und viel zu sonderbar, um Anschluss an andere Leute meines Alters knüpfen zu können.

Als sich meine Ausbildung bei Vilthon schließlich langsam dem Ende neigte, und ich zu einer jungen Frau geworden war, war aus dem lustigen Ding mit der einstigen verhältnismäßig positiven Lebenseinstellung ein sarkastisches, introvertiertes Mädchen geworden, das verbissen ihren Aufgaben in der Dorfgemeinschaft nachging, und dabei jedes Gespräch und jeden unnötigen Blickkontakt mit anderen Leuten vermied.

Niemand der Bewohner des Hügeldorfes wollte sich ausmalen, womit ich jede Nacht zu kämpfen hatte.
 

Inzwischen hatte ich mich gewaschen, meine durchgeschwitzte Kleidung gegen einen weißen, weiten Leinenschlafanzug getauscht und mich in meine Hängematte in der Ecke der Wohnküche gelegt.

Von der Decke hing in einem Netz direkt über mir eine Rebe fast vertrockneter Glühbeeren, die bereits sehr schwächlich vor sich hin leuchteten.

Der muffige Geruch, den sie inzwischen von sich gaben, war gewöhnungsbedürftig.
 

Die Lebensbedingungen in Myroons Junggesellenwohnung muteten spartanisch an.

Zu Zeiten meiner Ausbildung in Heil- und Pflanzenkunde hatte ich mein eigenes kleines Zimmer in Vilthons Haus einrichten dürfen, morgens wurde vor den Lehrstunden gemeinsam gefrühstückt, mittags bereitete seine wunderschöne alwische Frau Calissa stets eine herrliche warme Mahlzeit für alle zu, und abends, nach den Dorfarbeiten saß man noch gemütlich beisammen und unterhielt sich miteinander, wenn man einmal nicht loszog, um noch etwas zu unternehmen.

Bei Myroon sah der Alltag anders aus. Mich hatte er zu seiner persönlichen Haussklavin erklärt und kümmerte sich nicht sonderlich um meinen immer schlechter werdenden Gemütszustand.

Ich vermisste Vilthon und auch meine Eltern, die ich nur noch selten zu Gesicht bekam, seit ich die Ausbildung bei Myroon begonnen hatte und dieser meine Freizeit so radikal beschnitt.
 

Unruhig lauschte ich dem Knarren der Holzdielen und dem nerv tötenden Fauchen der paarungsbereiten Riesenwollspinnen aus dem Wald.

Auf dem Schemel neben der Hängematte stand die große Tasse selbstgemischten Beruhigungstees, die ich jeden Abend in einem Zug leerte.

Ohne dieses Gebräu war es mir mittlerweile nicht mehr möglich, einzuschlafen; zu sehr hielt mich die Furcht vor meinen Träumen wach.

Zum Glück verstand Myroon nichts von der starken Wirkung der in dem Tee enthaltenen Heilpflanzen, ansonsten hätte sogar dieser leichtfertige Lebemann sich langsam ernsthafte Sorgen um seinen Schützling machen müssen.

An manchen einsamen Abenden kam mir nämlich tatsächlich der verführerische Gedanke, diesen Tee ein letztes Mal in einer toxischen Konzentration zu genießen, um meinem inzwischen von Angst und Zweifeln beherrschten Leben ein Ende zu setzen.
 

Der Malar suchte mich jede verdammt Nacht mit grauenhaften Alpträumen heim, und inzwischen war es so weit gekommen, dass ich mich mehr vor dem Malar selbst fürchtete, als vor den scheußlichen Wesen, die er auf mich hetzte, und den grässlichen Situationen, denen er mich auslieferte.

Die permanente Angst vor der Nacht, vor den Begegnungen mit ihm in meinen Träumen, ohne die Hoffnung hegen zu können, mein Totem würde erscheinen, um ihm die Stirn zu bieten, bestimmte meine Gedanken, meine Gefühle und mein Handeln.

Es war kaum auszuhalten.
 

Mit drei großen Schlucken trank ich meinen Tee aus und kuschelte mich in die weiche Decke aus Wollspinnengarn.

Sehnsüchtig erinnerte ich mich an das letzte Treffen mit meinem besten Freund, das schon einige Tage zurücklag.

Calissa hatte ihn vor einigen Monden verlassen und wohnte jetzt angeblich mit einem Verlieken in ihrem einstigen Heimatort.

So Leid Vilthon mir auch tat, so verständlich schien mir die Entscheidung der schönen Alwin.

Ihren Mann, der seit Jahren die gemeinsame Freizeit für die Durchführung seiner Forschungen und diverser Experimente beanspruchte, bekam sie kaum noch zu Gesicht und sie erwartete mehr von einer jungen Ehe als Vilthon ihr geben konnte.

Auf eine stille Art und Weise gönnte ich ihr das Glück mit dem als sehr heißblütig und leidenschaftlich beschriebenen Verlieken. Den Gerüchten zufolge gaben die beiden ein harmonisierendes, traumhaftes Paar ab, das perfekt zueinander zu passen schien.
 

Als Vilthon mir von ihrer Trennung berichtete, gab er sich erstaunlich locker und gefasst und ich vermutete, dass er schon seit längerer Zeit damit gerechnet haben musste, dass es soweit kommen würde.

Trauerte Vilthon tatsächlich um den Verlust seiner Frau, so ließ er sich nichts anmerken und er lehnte jeden Versuch, ihm gut zuzusprechen lächelnd mit der Bemerkung ab, dass man eine Veränderung der Lebensumstände niemals bedauern sollte, wenn sie für alle Beteiligten etwas Gutes bedeutete.
 


 

Und so lenkte Vilthon auch an jenem Abend das Gespräch schnell auf ein anderes heikles Thema, bevor ich die Gelegenheit dazu bekommen konnte, mich näher nach seinem Gemütsleben zu erkundigen.
 

„Jetzt genug von meinen Problemen, Tilya. Wie geht es dir? Du siehst schlecht aus, hast du wieder zu wenig geschlafen in der letzten Zeit?“

„Sieht man mir das an?“

„Es ist schlimmer geworden, mit dem Malaren, nicht?“

„Vilthon, ich weiß wirklich nicht, wie lange ich das noch aushalte. Ich kann einfach nicht mehr. Den ganzen Tag über muss ich daran denken, dass es bald wieder soweit ist und ich schlafen muss.“

„Du weißt, dass du ihn auch mit der Angst, die du im wachen Zustand vor ihm hast, stärkst, oder Kleines?“

„Was soll ich denn machen? Ich habe ihm ja nichts zuzusetzen!“
 

Ich schloss ihre Augen, damit Vilthon nicht die Tränen sehen konnte, die verräterisch in meinen Augenwinkeln glitzerten.

„Es ist meine eigene Schuld, dass ich jetzt in dieser ausweglosen Situation bin. Warum hat mir der Malar damals mein Totem geraubt? Wie konnte unsere erste Begegnung nur so außer Kontrolle geraten? Irgendetwas habe ich falsch gemacht.“

Der Alwe seufzte und setzte sich zu mir auf den abgestorbenen bleichen Querkenstamm, der durch das Licht des fast vollen Mondes den unheimlichen Vergleich mit einem riesigen fahlen Knochen nahe brachte.

„Tilya, ich glaube nicht, dass du es allein zu verantworten hast, dass das Besiegeln eures Bündnisses dermaßen abstrus verlaufen ist. Ich vermute, dass dein Malar einfach damit überfordert war, dir den ersten entscheidenden Schrecken einzujagen, der euch beide aneinander schmieden sollte. In seiner Verzweiflung hat er sich dann an deinem Totem vergriffen.“

„Siehst du, Vilthon! Es war mein Fehler! Ich hatte damals keine Angst vor dem Malar. Eher hatte ich den Eindruck, er würde sich vor mir fürchten. Wenn jemand die Verantwortung dafür trägt, dass sich unser Verhältnis in abweichende Bahnen gelenkt hat, dann bin ich es!“

Vilthon schüttelte den Kopf. „Ich habe damals Botenraben in alle Dörfer der Insel geschickt, und allgemeine Schreiben auf den Brettern der Tafelnachrichten aushängen lassen. In den Briefen habe ich um Auskunft über ähnliche Schicksalsschläge gebeten. Doch außer diesem fadenscheinigen Märchen, was man sich im Hafendorf über die Fuchsfrau erzählt, ist kein weiterer Fall überliefert, in dem es ein Malar gewagt hat, sich an dem Totem seines Opfers zu vergehen. Sein Verbrechen ist widernatürlich, unverzeihlich und nicht zu entschuldigen.“

„Doch, Vilthon. Wenn ich ihn dazu gezwungen habe, dann schon. Es ging um seine Existenz. Und da ich dem Malar bei unserer ersten Begegnung keine Furcht, sondern Interesse, Mitleid und Sympathie entgegengebracht habe, sah er in seiner Not keinen anderen Weg, mich zu entsetzen.“
 

Der Alwe presste die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen und atmete tief durch.

„Viele alverliekische Kinder haben unter einem unausgewogenen Verhältnis zu ihrem Malaren zu leiden, der überwiegend die Kontrolle über ihre Träume erlangt, über das Totem triumphiert und somit auch das Talent beeinträchtigt. Aber dein Malar hat es eindeutig zu weit getrieben, Tilya, und du solltest ihn nicht auch noch in Schutz nehmen.“

Ich zog die Nase kraus. „Was konnte der Malar denn dafür, dass mir meine Eltern nie die schaurigen Geschichten über das rote Monster erzählt haben? Warum sollte ich Angst vor einem Wesen entwickeln, von dem man sich erzählt, es würde deine langweiligen Träume in spannende Abenteuer verwandeln können? Ich habe mich auf die Begegnung mit dem Malar fast genau so sehr gefreut, wie auf die mit meinem Totem!“

„Ach, Tilya“! Gib jetzt bitte nicht deinen Eltern die Schuld an der Misere, sie wollten nur dein Bestes! Du bist ihr einziges Kind, sie lieben dich über alles und machen sich noch heute die schlimmsten Vorwürfe. Glaube mir, hätten sie damals geahnt, unter welchen Folgen du heute zu leiden hast, hätten sie dir soviel Angst vor dem Malaren eingejagt, dass du dich kaum getraut hättest, einzuschlafen!“

„Dieses Problem habe dafür jetzt noch zur Genüge…“

„Trotzdem kannst du nicht deine Eltern wegen dieser Sache zur Verantwortung ziehen, Liebes. Jeder weiß, dass dich seit deiner frühesten Kindheit alles Lebendige begeistert, besonders, wenn es dir unbekannt ist. Das war schon immer so. Sei es noch so hässlich, noch so ekelig und noch so monströs. Ich weiß noch genau, wie du als kleines Kind deine ersten Schritte zum Stall der Wollspinnen getapst bist und sie unbedingt streicheln wolltest.“
 

Ich musste grinsen. Vilthon hatte Recht. Ganz gleichgültig, was mir meine Eltern über den Malar erzählt hätten, ich hätte mir trotz allem gewünscht, ihm nahe zu kommen, ihn zu bestaunen und zu berühren. Selbst wenn er mir vorher offen angekündigt hätte, mich mit Haut und Haar verspeisen zu wollen.

Im Stillen entschuldigte ich mich bei meiner Mutter und meinem Vater für meine ungerechten, anklagenden Gedanken.

„In meinem alverliekischen Blut muss sich die natürliche Urangst vor dem Malar ausgemischt haben!“ ulkte ich, wurde dann aber wieder ernst.

„Vilthon, könntest du dir vorstellen, dass ich einfach nicht das richtige Kind für diesen Malar war? Dass stattdessen ein anderes Kind für ihn geeigneter gewesen wäre, und dem ihm mit meinem Malar ebenso schlecht ergangen ist, wie mir mit seinem?“

Vilthon überlegte kurz.

„Ich denke nicht, dass uns ein entsprechender Malar vorherbestimmt wird. Unserem Verständnis nach sind Malare einsame Jäger in den undurchsichtigen Schatten Untiefen, die darauf warten, dass ein Totem zu seinem Kind findet. Von diesem Moment an stellen die Malare dem Kind hinterher, und wer von ihnen als erster mit ihm in Kontakt kommt, hat das Privileg, das Bündnis mit ihm einzugehen. Von den Totemtieren aber glaubt man, dass sie von vorneherein zu einem bestimmten Kind gehören.“

„Wie sieht dein Totem aus, Vilthon?“ fragte ich schüchtern.

„Wie eine Libelle.“ antwortete mir Vilthon sofort und ich konnte an seiner Stimme erkennen, dass er lächelte, obwohl mein Blick einzig und allein der Meeresoberfläche galt, die frenetisch das Mondlicht in den fernen Wellen brach.

Vilthon konnte, wie die meisten Alwen, den Wind und die Wasserströme mit seiner Begabung beeinflussen.
 

„Stimmt es, dass ein Totem im Traum dasselbe Talent gegen den Malar einsetzt, das es seinem wachen Besitzer verleiht?“ wollte ich wissen.

„Ja, das ist richtig, Tilya. Man geht davon aus, dass das Totem die Quelle unserer Begabung ist. Von meinem Totem geht beispielsweise eine Kraft aus, die sich stets in tosenden Stürmen äußert, wenn sie sich gegen den Malar richtet. Leider ist es im Traum nicht möglich, selbst auf seine Begabung zuzugreifen, um gegen den Malaren vorzugehen. Man muss sich auf sein Totem verlassen.“

Ich zwirbelte an einer Feder, die ich mir hinter mein alwisches Spitzohr gestrichen hatte.

„Weiß man auch, warum die Malare unsere Träume immer in Alpträume verwandeln wollen, Vilthon? Was haben sie davon, uns zu erschrecken und unser Totem zu schwächen?“

„Nun ja. Man vermutet zumindest, dass sie sich in erster Linie von den Ängsten ernähren, die ihre Staubgebilde hervorrufen. Die Aufgabe des Totems ist es, den Malar in Schach zu halten, damit er nicht so mächtig wird, dass er den gesamten Traum mit seinem Staub kontrollieren kann. Also greift es ihn mit seinem Talent an, was alle Staubgebilde zerfallen lässt. Natürlich setzt sich der Malar dagegen zur Wehr, indem er das Totem seinerseits mit reinem Staub attackiert. Das Totem wird geschwächt, was sich negativ auf die Begabung seines Besitzers und auch auf dessen psychische Verfassung auswirkt. Normalerweise wechseln sich die Machtverhältnisse von Malar und Totem in einem ausgeglichenen Verhältnis ab.“

Ich hatte den Worten meines Freundes gebannt gelauscht.

„Woher weißt du das eigentlich alles, Vilthon?“ fragte ich ihn interessiert.

Vilthon schmunzelte. „Von meinem ehemaligen Mitlehrling, mit dem ich damals gemeinsam Heil-und Pflanzenkunde studiert habe. Als Jugendliche wussten wir kaum was miteinander anfangen, er war vier Jahre älter als ich und es war schon seine zweite Ausbildung, als ich mit ihm zusammen beim alten Meister Dalyazyn angefangen habe. Der muss übrigens auch schon längst das Zeitliche gesegnet haben. Greyan hat sich jedenfalls schon immer für alles interessiert was geheimnisvoll, außergewöhnlich und gefährlich war. Fast so wie du, Tilya.“

Ich grinste.

„Er kennt sich sehr gut mit Malaren aus, wie mir zu Ohren gekommen ist, und es konnten sich schon viele Leute mit schwindenden Talenten von ihm helfen lassen. Als deine Eltern mir damals von deinem Unglück erzählten, habe ich sofort an Greyan geschrieben. Er ist zwar ein etwas eigenbrötlerischer Alverliek, mit einem schroffen, wenig einfühlsamen Umgangston, aber wenn es um Malare geht, kann man sich blendend mit ihm unterhalten. Die Botenraben flogen einige Zeit geschäftig zwischen uns hin und her. Das ganze liegt jetzt zwar schon bestimmt fünfzehn Sommer zurück, aber er hat mir damals angeboten, irgendwann einmal mit dir zu ihm zu kommen. Er wohnt am anderen Ende der Insel, in der Nähe des Gebirges. Greyan hat mittlerweile so viele Erfahrungen auf seinem Gebiet gesammelt, dass er dir vielleicht auch helfen könnte, Kleines.“
 

Ich legte den Kopf schief und blinzelte meinen Freund mit meinen Verliekenaugen scharf an.

„Vilthon, weder habe ich eine Begabung noch habe ich ein Totem, wie soll mir jemand helfen, wenn es nichts mehr gibt, was man retten kann?“

„Mädchen, du tust ja grad so, als gäbe es nur das Talent, das an einer Person wertzuschätzen und zu behüten ist!“ entrüstete sich Vilthon. „Ich rede davon, dass man dich vielleicht irgendwie dabei unterstützen könnte, den Malar soweit unter Kontrolle zu bekommen, dass er nicht mehr die größte Rolle in deinem Leben spielt!“

„Na klar, Vilthon! Und das ganz ohne ein Totem! Natürlich!“

„Tilya, wie viel wissen wir wirklich über Malare und über unsere Totemtiere? Diese Themen werden weitgehend tabuisiert. Kann es nicht sein, dass es irgendwo auf der Insel irgendwem gelungen ist, mehr über sie herauszufinden, als allgemein bekannt ist? Kann es nicht sein, dass es möglich ist, die typische Beziehung zu einem Malar unter gewissen Umständen zu modifizieren? Wer sagt, dass es unmöglich ist, das gegenseitige Verhältnis zu reformieren?“

„Bestimmt.“ knurrte ich verbittert. „Meinen Malaren hat ja auch keine Tradition davon abgehalten, das Totem seines Opfers am Leben zu lassen, richtig?“

„Genau das meine ich, Tilya“ antwortete Vilthon sanft.

Ich schwieg eine Weile. Vilthon rückte etwas näher auf dem Baumstamm an mich heran und legte mir freundschaftlich seinen Arm um die Schultern.

„Im nächsten Frühling will ich Greyan mit dir besuchen, Tilya. Wir wollten doch schon immer mal gemeinsam eine große Reise machen. Was ist, bist du dabei?“

Mein Herz klopfte wild gegen meine Rippen.

„Nur wir zwei?“ flüsterte ich benommen, wobei das Rauschen des Meeres und das Rascheln der Bäume im salzigen Wind meine brüchige Stimme beinahe übertönten.

Vilthon nickte lächelnd. „Einen Versuch ist es doch wert, oder nicht?“
 


 

Dieses Gespräch hatte mir neue Hoffnung gegeben, und jetzt klammerte ich mich an den Gedanken an das gemeinsame Vorhaben, wie eine Ertrinkende an den Strohhalm.

Die sedierende Wirkung des Tees begann allmählich seine Wirkung zu entfalten.

Ich spürte, wie sich die Verkrampfungen meiner Muskulatur lösten und mein Atem ruhiger und tiefer zu werden begann.

Immer noch plagte mich das schlechte Gewissen, für einen kurzen Moment meinen Eltern die Schuld an meinem Schicksal in die Schuhe geschoben zu haben.

Ehen zwischen Alwen und Verlieken, wie meine Eltern sie führten, galten lange Zeit als unschicklich, weil befürchtet wurde, die Reinheit der typischen Begabungen beider Völker dadurch zu entmischen.

Während die meisten Alwen die Ströme von Wasser und Luft beeinflussen konnten, was ihnen als alten Nomaden der See von großem Vorteil gewesen war, wurde der Mehrheit der Verlieken die Gabe zuteil, über ihren Fingerspitzen Energien zu erzeugen, die Gegenstände erhitzen, entzünden oder schmelzen lassen konnten.

Die Alverlieken, die aus der Verbindung beider Kulturen hervorgingen, entwickelten allerdings einige ganz individuelle Fähigkeiten, was sich später für das reibungslose und bequeme Zusammenleben der Völker auf der Insel als einen nahezu unverzichtbaren Vorteil herausstellen sollten.

Die höchste Ehre fiel den Alverlieken zuteil, die das Wachstum der Pflanzen beeinflussen konnten, denn sie waren dazu in der Lage, auch in unfreundlichen Zeiten die Versorgung der gesamten Insel mit Nahrung und wichtigen Rohstoffen sicherstellen.

Leider blieb allen Alverlieken und Alverliekinnen der Wunsch nach Nachwuchs unerfüllt.
 

Ursprünglich wurde die Insel ausschließlich von Verlieken bewohnt; die Alwen lebten auf dem benachbarten Festland gegenüber, an der langen Küste des Kontinentes, den die Menschheit bevölkerte.

Die Verlieken, selbst geschickte Handwerker und Jäger, bewunderten die Alwen für ihre Häfen und Schiffe, und fanden wiederum bei den Alwen höchste Anerkennung für ihre Materialkunde und ihre einzigartige Fähigkeit, Stoffe zu verändern und miteinander reagieren zu lassen.

Als die Menschen damals in das alwische Küstengebiet einwanderten und ihre Ureinwohner zu verdrängen drohten, begannen die Alwen allmählich, auf die große verliekische Insel umzusiedeln.
 

Die Gier, der Egoismus, die Gewaltbereitschaft und die Missgunst der Menschen erschütterten die Alwen ebenso wie ihre selbsterschaffenen Systeme, denen sie so blind folgten, ihre seltsamen Gesetze und Verordnungen und der Missbrauch ihres technischen Fortschrittes. Sie fanden in den Verlieken, die sie herzlich bei sich aufnahmen, ein Volk ihres Schlages, das weit mehr mit ihnen gemeinsam hatte als nur eine ähnliche Weltanschauung und nahezu identische Wertmaßstäbe.

Gleichwohl waren sie nämlich allesamt dazu verflucht, in ihren Träumen von Malaren heimgesucht zu werden, und sie alle besaßen auch eine Gabe, die von ihrem Totem bestimmt wurde.

Dieses Schicksal, welches den Menschen fremd war, verband Alwen und Verlieken, und überrascht stellten beide Völker fest, wie ähnlich sie mit ihm umzugehen pflegten, und wie verblüffend sich ihre darauf bezogenen Riten, Sitten und Bräuche entsprachen.
 

Die Verlieken hießen die Innovationen, die die Alwen auf die Insel brachten, in ihrer neugierigen Offenheit willkommen, und bald wurden die ersten Ställe mit domestizierten Wollspinnen, Querkenkneifern und Roonengräbern errichtet. Die beiden letztgenannten Rieseninsekten wurden auch bald bei den Verlieken als große Hilfe bei der Handwerksarbeit geschätzt.

Des Weiteren brachten die Alwen ihre fortgeschrittenen Kenntnisse um die Kultivierung von Nutzpflanzen auf die Insel, nicht verwunderlich, ernährte sich dieses Volk doch fast ausschließlich vegetarisch. Der Verzehr von Fleisch, den die nachtsichtigen Verlieken nach ihren abendlichen gemeinsamen Jagden durch die anliegenden Wälder zelebrierten, war ihnen zuwider.
 


 

In diesem Sinne entwickelte sich bald eine unwillkürliche Arbeitsteilung der beiden Stämme; während die Verlieken sich um die Zucht und Pflege aller Tiere kümmerten, die kamelartig anmutenden Zaronnen schoren, die Weibchen der Betoolenspringböcke molken, nach Eiern auf den Leguanfarmen suchten und die Fäden der Wollspinnen auflasen, bestellten die Alwen meistens die Felder und übernahmen die Erntearbeiten.

Natürlich brachten nach einiger Zeit des Zusammenlebens die charakteristischen Eigenarten der beiden Völker auch einige geringfügige Unstimmigkeiten zwischen ihnen zu Tage.

Beispielsweise konnten die reservierten, kühlen Alwen schlecht auf das überschwängliche, herzliche Temperament der Verlieken eingehen, welche die Alwen daraufhin als distanziert und höchst unkommunikativ einstuften.

Auch mit dem spontanen, teils vulgären Humor der impulsiven Verlieken konnten die pingeligen Alwen wenig anfangen, was den Verlieken den berechtigten Anlass gab, ihre Nachbarn für ein übertrieben empfindliches, nachtragendes, etwas hochmütiges Volk von Spitzohren zu halten.

Trotz dieser kleinen Differenzen entwickelte sich jede Zusammenarbeit zwischen ihnen unter der genauen, pragmatischen Planung der Alwen und der Toleranz der freundlichen, tüchtigen Verlieken hervorragend.
 

Da alle lebensnotwendigen Ressourcen nicht zuletzt bedingt durch den Einsatz der von ihren Totemtieren verliehenen Begabungen im Überfluss auf der fruchtbaren Insel vorhanden waren, wurde Besitz bald zu einem relativen Begriff.

Das Fehlen einer Währung und einer starren Arbeitsteilung, die bescheidene, selbstlose Natur der Insulaner und ihr unermüdliches Bestreben, das Funktionieren der Gemeinschaft aus eigener Initiative heraus zu unterstützen, verwirklichte ein stabiles, intaktes System, ein vertrauensvolles Geben und Nehmen, das niemals in einer menschlichen Gesellschaft so problemlos funktioniert hätte.
 

In jedem der mehr oder weniger großen Dörfchen auf der Insel setzte sich die Einrichtung der Tafelnachrichten durch; an einem Holzbrett im Zentrum jeden Dorfes, meist neben dem Gemeindehaus, brachte man täglich Aushänge an, auf denen nachzulesen war, wer, wo, wann und wozu Hilfe benötigen konnte.

Entsprach die geforderte Tätigkeit den Fähigkeiten und Stärken eines Mitbewohners, der sich nicht gerade um sehr viel dringendere, schwerwiegendere Angelegenheiten kümmern musste, zeichnete er die Nachricht mit seinem Namen ab, und ging seinem Nachbarn unverzüglich zur Hand.
 

Auf diese Weise ließ sich am Aushang ablesen, ob ihrem Verfasser bereits Unterstützung widerfahren war, und in Notfällen konnte man leicht nachvollziehen, wo sich der Helfende aufhielt.

Fand man alle wichtigen Nachrichten an der Tafel als abgezeichnet vor, widmete man sich üblicherweise seiner eigentlichen Beschäftigung.
 

So arbeitete ich beispielsweise zusammen mit meiner Mutter und einigen Verliekinnen im Haus der Gesundheit, in dem man Kranke und Verletze versorgte, sich um die ältesten Mitbewohner kümmerte und dort gelegentlich auch kleine Kinder unterbringen konnte, die noch zu jung waren, um vormittags im Gemeindehaus vom Dorflehrer unterrichtet zu werden.

Mein Vater, der übrigens selbst einer Lehrerfamilie entsprang, beschäftigte sich mit der Herstellung und Reparatur von Arbeitsgeräten, wobei er meist über den Grenzen des eigenen Dorfes hinaus wirkte.

Er war ein passionierter Meister seines Faches und man sah ihn gerne in der Nähe, wenn irgendeine komplizierte Installation bevorstand.
 

Auf dieser Insel half tatsächlich jeder jedem ohne zu zögern, wann immer Not am Mann war.

Schließlich stand es auch jeder Person frei, all das zu beanspruchen, was eben benötigt wurde, seien dies nun Nahrungsmittel, Rohstoffe zur Weiterberarbeitung, Gerätschaften oder die Arbeitskräfte ihrer Mitbewohner.

Man hoffte, dass die unersättlichen, machthungrigen Menschen sich mit ihrer Herrschaft über den großen Kontinent zufrieden geben würden und nicht eines Tages auch noch in diesen letzten Zufluchtsort der Alwen und Verlieken einzuwandern und ihn zu besetzen gedachten.

Ich fragte mich, ob außerhalb der Insel noch weitere Alwen und vielleicht sogar Verlieken unter den Menschen lebten, die deren Lebensart bevorzugten oder die vielleicht einfach nicht wussten, dass es hier noch ein großes Reservoir ihrer Völker gab.

Ob diese Bedauernswerten, wenn es sie denn gab, sich auf eine ähnliche Weise unter all den Menschen einsam fühlten, wie ich es inmitten der lustigen Gesellschaft ihres Dorfes tat?

Dies war der letzte Gedanke, der in meinen Kopf herum spukte, bevor meine flackernden Lider sich schlossen und mein Bewusstsein hinab in die Untiefen driftete, wo ich bereits erwartet wurde.

Der volle Mond schien unbeteiligt auf das Holzhaus im Korallensteinbaum.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von: abgemeldet
2009-07-17T07:51:22+00:00 17.07.2009 09:51
Kann mich cayChi nur anschließen, man MUSS einfach weiterlesen...das ist wie bei einer dailysoap, wo man es gar nicht mehr abwarten kann, bis die nächste folge kommt!!
wie du die unordnung von myroons haus geschildert hast *brüll*
schon der anfang: >>Das ist ja nicht auszuhalten! Wie oft habe ich dir jetzt erklärt, wie du den Bogen zu halten hast, Tilya?“ tönte eine ölige Stimme durch die urige Wohnküche, die mit ihrem rustikalen Charme eine behagliche Atmosphäre hätte ausstrahlen können, würde nicht ein wildes Chaos aus Instrumenten, Büchern, Papierbögen, stinkenden Farbtöpfen und Lebensmitteln die Holzdielen des Fußbodens beherrschen, zu dem sich jüngst auch noch die Scherben einer großen Teetasse gesellen durften.>> -------> *lol!!!!!!*

aber myroon ist ja auch ein schnösel....und so eingebildet, und sicher auch eitel...kann ihn mir soooo gut vorstellen...würd gern noch ein bild von dem sehen, in deiner galerie *EMPFEHLENSWERT*!!!
>>>Das Cello ruhte jetzt übrigens unbeachtet in einer frischen blauen Farblache unbekannten Ursprungs>>> *muhahahaha*

die arme tilya...wird von ihrem lehrmeister sooo schikaniert :(...aber da läuft ja noch was, später, oder??? (Bild)

boah, du hast eine richtige neue welt erschaffen-bin immer wieder begeistert von den ganzen details, wie alles zusammenhängt... soooo gut durchdacht!!
man erfährt so viel über tilyas leben, alwen, verlieken, diese malare, die fremdartigeen tiere der insel, über das verhältnis zu ihrem bruderartigen freund vilthon...es ist einfach WOW

Von: abgemeldet
2009-07-15T22:03:21+00:00 16.07.2009 00:03
Yeah! Erstes Kapitel zu Ende gelesen. Ganz gut, dass hier erst mal Schluss ist, sonst würde ich hier noch die ganze Nacht sitzen.
Du hast die Charaktere und die Historie gut vorgestellt. Ich konnte mir alles richtig gut vorstellen. Meine Lieblingsstelle hier war ganz am Anfang: "[er] erhob sich geschmeidig von seinem wurmstichigen Thron", so geil xD
Ich hab mir gleich mal deine ganzen Fanarts angeschaut und die Beschreibung dazu (die liefern ja ganz gute Spoiler ab ^^) und fiebere den entsprechenden Stellen in der Geschichte schon entgegen. Die mit dem Tee zum Beispiel *hüst* aber auch ihrer ersten Begegnung mit Greyan
UND wie Tilya nun doch noch ihre Fähigkeit erhält (bin gespannt, wahrscheinlich deichselt Greyan irgendwas...)
Interessant finde ich auch, das Tilya anscheinend durch den Vorfall mit ihrem Totem körperlich verschmolzen ist *mysteriös, mysteriös* ^^

Freu mich schon tierisch auf neue Seiten. Und ich mag deinen Schreibstil immer noch! So leicht lass ich mich nicht abschrecken =P
Nein ernsthaft, ich versteh überhaupt nicht, warum das damals keiner gelesen hat. Deine Geschichte ist einfach SUPER!


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