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Der Malar

Die Jagd nach der Kreatur der Untiefen
von

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Wiedersehen - Tag 5

Vilthon rutschte unglücklich mit der Rasierklinge ab, als ich ohne vorher anzuklopfen in den Waschraum stolperte und lauthals verkündete, dass Mirlien und ich schon unten beim Frühstück auf ihn warten würde.

Er bedachte sich für diese Information bei mir mit einem für ihn so typischen vernichtenden Blick unter der hochgezogenen Augenbraue und wischte verärgert das Blut von seinem Kinn. „Ich bin gleich fertig, Kind, immer mit der Ruhe! Du bist heute ziemlich früh aufgewacht, nicht wahr? Man konnte dich nämlich die Treppen rauf und runter trampeln hören, noch bevor die ersten Vögel zu zwitschern begonnen haben. Ist Mirlien auch schon so lange auf wie du?“

„Ja, ich glaube, ich habe ihn geweckt, als mir im Waschraum der Kamm auf den Boden gefallen ist.“ gab ich zu.

„Was du nicht sagst…“ raunzte der Alwe sarkastisch.

Ich grinste frech und rannte hinunter in den Speiseraum, um mich Mirlien gegenüber an den vom goldenen Kerzenschein beleuchteten Esstisch zu setzen.
 

Ein großes Glas, gefüllt mit bernsteinfarbenem Honig stand zwischen etlichen filigranen Blumenvasen, welche bestückt waren mit den schönsten und wohlriechendsten Blüten, die auf den Wiesen des Blumendorfes gediehen.

Oh, wie begann dieser Tag doch gut!

Als endlich auch Vilthon die Treppen herabstieg, seinen gepackten Rucksack zu unseren beiden anderen ausgebeulten Taschen gesellte und sich nun ebenfalls an der liebevoll gedeckten Tafel nieder ließ, fiel ich wie ein ausgehungerter Wolf gierig über die heiß ersehnten Honigbrötchen her.

Das Blumendorf gehörte zu den wenigen Honig herstellenden Gemeinschaften, und der süße Nektar war ein seltenes und allseits hoch geschätztes Gut auf der Insel.

Vilthon verdrehte die Augen, als ich mir auf Biegen und Brechen noch ein drittes Brötchen zwischen die Zähne stopfte, während die beiden Männer schon ihre Taschen geschultert hatten und sich bereit zum Gehen machten.

Schließlich kam ich aber dennoch seiner energischen Aufforderung, ihnen zu folgen, nach, und hüpfte, immer noch kauend, meinen beiden Gefährten hinterher.
 

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Über einem Xeraatfeld sichteten wir einen wohlbekannten grauen Raben, der gemächlich seine Kreise am kaltblauen Himmel zog.

„Darf ich dir Schwarzfuß vorstellen, Mirlien? Mit diesem Raben halten wir den Briefkontakt zwischen uns und unserem Heimatdorf aufrecht. Kwantsch ist der andere unserer beiden geflügelten Boten, aber den wirst du noch früh genug kennen lernen.“ klärte Vilthon Mirlien auf, der den eleganten Flug des Vogels mit Faszination verfolgte.

„Was für ein schönes Tier. Wie majestätisch er durch die Lüfte gleitet.“ flüsterte er andächtig.

Ich griente und fragte mich, was Mirlien wohl erst zu den akrobatischen Flugkünsten des frechen Kwantsch sagen würde.
 

Während wir unseren Weg entlang zahlreicher Feldern beschritten, konnten Vilthon und ich staunend beobachten, mit welcher Ehrfurcht der neue Gefährte die langsam erwachende Welt um sich herum erfasste, mit welcher Bewunderung ihn der Anblick scheinbar selbstverständlicher Dinge wie Bäume und Blumen erfüllte.

Beinahe zärtlich kniete er sich plötzlich auf die morgenfeuchte Erde und las vorsichtig eine kleine Schnecke vom Straßenrand auf, bevor sie von dem entgegenkommenden Salzkarren überrollt werden konnte.

Strahlend vor Begeisterung wandte er sich Vilthon zu und hielt ihm unvermittelt das glitschige Weichtier unter die Nase. „Sieh dir nur diese perfekte Struktur der Schale dieser kleinen Schönheit hier an! Hoffentlich verlernt man niemals die vielen unfassbaren Wunder zu schätzen, die die Natur hervorgebracht hat.“

Das Schneckchen zog verstört die kleinen Fühler ein, als hätte die pikierte Miene des Alwen es zutiefst gekränkt.

Ich fand dies äußerst amüsant.

Mit unendlicher Behutsamkeit setzte Mirlien das Tierchen auf eine Kohlsprosse im Salnachfeld.

Vilthon wechselte einen amüsierten Blick mit mir, dann klopfte er Mirlien freundschaftlich auf die Schulter und wir drei setzten unseren Weg fort.
 

Ich versuchte mein Glück, und stellte Mirlien eine Frage nach der anderen, in der Hoffnung, dass sich dadurch in der verdunkelten Erinnerung des neuen Freundes ein kleiner Funke schlagen ließ, der etwas Licht in seine Vergangenheit bringen konnte, aber es war vergebens.

Weder wusste er zu sagen, ob er eine Familie, Frau oder Kinder hatte, noch konnte er mit Sicherheit klären, ob er tatsächlich vom Kontinent der Menschen stammte oder aber gebürtiger Insulaner war.

Die Vermutung lag allerdings nahe, dass keiner der beiden letztgenannten Optionen zutraf.

Auch waren Mirlien Alwen und Verlieken zwar als Begriffe geläufig, doch mit den Eigenarten beider Völker schien er ebenso wenig vertraut, wie mit der besonderen Bewandtnis, die es mit ihren Totemtieren, ihren Talenten und den Malaren auf sich hatte.

Zu diesen Themen warfen sich Mirlien etliche tiefgründige Fragen auf, als wir ihn ausführlich in die Geheimnisse der Insel und ihrer Bewohner einweihten. Peinlicherweise waren Vilthon und ich nicht dazu in der Lage, sie ihm auch alle zu beantworten.

Die heimische Tier- und Pflanzenwelt schien Mirlien ebenfalls nur teilweise bekannt zu sein, und so lauschte er Vilthons langatmigen, weit ausholenden Schilderungen mit unstillbarer Wissbegier.
 

Plötzlich, als wir gerade an einem farbenprächtiges Sonnenbulbenzwiebelfeld vorbeikamen, über dem einige wilde Raben krächzend nach unvorsichtigen Nagetieren spähten, kam Vilthon der späte Gedanke, die geflügelten Briefboten in alle Dörfer zu schicken, um dadurch vielleicht doch noch Mirliens Herkunft auf die Spur zu kommen.

„Ja! Prima Idee!“ rief ich begeistert. „Wenn Mirlien tatsächlich schon vorher auf der Insel gelebt hat, dann kriegen wir das auf diesem Wege sicher schnell raus! Ich werde gleich Schwarzfuß mit der Information zum Hügeldorf senden, damit meine Eltern die anderen Raben so schnell wie möglich mit entsprechenden Briefen in alle Gemeinden schicken können.“

„Und was genau willst du schreiben?“ fragte mich Vilthon skeptisch, während ich bereits voller Eifer in seinem Rucksack nach dem Schreibzeug kramte.

„Na ja, ich dachte mir, ich schreib einfach die Wahrheit. Kurz und schmerzlos. Fremder Mann, nicht alwisch, nicht verliekisch, eventuell menschlich, mit außergewöhnlichen Augen, am… Vilthon, welchen Tag haben wir heute?“

„Fünfter Zypressentag…“ antwortete Vilthon, als er mir argwöhnisch über die Schulter spickte, während ich eifrig das Papier bekritzelte.

„…am vierten Zypressentag in Ufernähe beim Blumendorf gefunden. Groß, sehr schlank, meliertes blondes Haar, geschätzte vierzig Sommer. Von partieller Amnesie betroffen, deshalb sendet uns bitte alle brauchbaren Hinweise ins Hügeldorf an Chareleo und Auriannah zwecks Weiterleitung an die Wanderer, die das Tier vom Kontinent jagen. So. Und dazu schreib ich noch ein paar aufklärende Zeilen an meine Eltern. Wie findest du es, Vilthon?“
 

Der Alwe zog die Brauen zusammen. „Klingt seltsam, als wolltest du allerorts nach einer heiratswilligen Dame für ihn suchen.“

„Ach, Quatsch!“ ärgerte ich mich. „Kann ich das jetzt so lassen oder nicht?“

„Im Grunde ja, aber streich besser den Part, in dem du ihn als möglichen Menschen beschreibst, das sorgt nur für Beunruhigung. Denk an den schlechten Ruf, den die Menschen bei uns haben, ob berechtigt oder nicht, das wage ich ja gar nicht zu beurteilen. Mirlien sollte aber nicht mit dem Bild, was wir von ihnen haben, in Verbindung gebracht werden, denn das wird ihm nicht gerecht und würde nur dafür sorgen, dass man ihm mit Vorurteilen und Misstrauen begegnet.“

„Stimmt, daran habe ich nicht gedacht!“ rief ich bestürzt und strich schnell gewissenhaft die gewisse Stelle mit der dunklen Tinte durch.

Dann schrieb ich noch einige beschönigende Phrasen an meine Eltern und winkte nach Schwarzfuß, der sich überraschenderweise auf Mirliens Schulter niederließ. Der intelligente Vogel streckte geduldig seine rechte Kralle nach hinten, bereit sich von mir den Brief umbinden zu lassen.
 

Während ich der stummen Aufforderung des Tieres nachkam, beobachtete ich aus den Augenwinkeln, wie Mirlien und Schwarzfuß sich gegenseitig mit einer Mischung aus Respekt und unterschwelliger Sympathie musterten.

Dann flatterte unser gefiederter Freund mit der Botschaft in Richtung Heimat.

„Ich denke, in spätestens zwei, drei Tagen ist die Nachricht einmal als allgemeines Schreiben um die Insel gegangen.“ schätzte Vilthon, während er dem schwarzen Vogel noch einige Momente hinterher blickte.

„Habe ich das vorhin richtig verstanden, ihr jagt ein Tier?“ fragte Mirlien nachhaltig erschüttert, als wir unseren Weg fortsetzten.

Mit einem Seitenblick auf Vilthon verneinte ich.

Jetzt wurde es unangenehm.

Ich wusste nicht, ob ich imstande dazu war, jemanden wie Mirlien zu belügen. „Wir jagen es nicht, weil wir es etwa töten wollen, wir sind vordergründig erst einmal einfach nur auf der Suche nach ihm. Es ist fremd hier, und wir wissen nicht, ob es den Leuten hier großen Schaden zufügen wird, denn dazu wäre es durchaus in der Lage. Wir wollen das Tier finden, stellen, und herausfinden, ob es möglich ist, Seite an Seite mit ihm zu leben, oder ob wir etwas tun müssen, um die Insulaner vor ihm zu schützen.“

Mirliens besorgter Gesichtsausdruck hellte sich zusehends auf. „Es ist also fremd hier, so wie ich es bin. Es ist demnach wahrscheinlich, dass dieses Tier aus seiner Verwirrtheit heraus überstürzt handelt, wenn es sich in die Ecke gedrängt fühlt. Verurteilt es bitte nicht deswegen übereilt, vielleicht braucht es sogar unsere Hilfe, um hier zu überleben. Um was für eine Art von Lebewesen handelt es sich, so dass befürchtet werden muss, es könne Personen gefährden?“

Ich fuhr mir mit der Zunge über die trockenen Lippen und schielte zu Vilthon herüber.

Der Alwe musste denselben Gedanken gehabt haben, wie ich, denn er erwiderte fest meinen Blick und nickte in stillem Einverständnis.

Es war schon ein Vorteil, eine Person so lange und so gut zu kennen, dass man manchmal auf alle Worte verzichten konnte.

Ich überließ meinem Freund das Wort.

„Mirlien, was wir dir nun anvertrauen, sollte unbedingt unter uns bleiben, denn wir wollen verhindern, dass sich Angst und Gerüchte auf der Insel breitmachen. Du wirst gleich verstehen, warum. Das Tier, nach dem wir suchen, ist ein Malar. Um genauer zu sein, Tilyas Malar, der sich irgendwie aus ihren Träumen befreien konnte.“

Mirlien stand die Überraschung in sein Gesicht geschrieben. „Ich habe nun angenommen, ein Malar sei nicht wirklich körperhaft, sondern ein uraltes spirituelles Wesen, das das Erbe eurer Abstammung mit sich bringt. Ähnlich den Totemtieren, von denen ihr eure jeweiligen Begabungen empfangt, die mir zugegeben immer noch wundersam und rätselhaft erscheinen. Aber offensichtlich ist ein Malar unabhängiger von euch als wahrscheinlich vermutet, wenn er sogar die Dimension, die ihn bannt, verlassen kann. Wie aber kam es überhaupt zu dieser unüblichen Begebenheit?“

Ich nahm all meinen Mut zusammen und erzählte Mirlien stockend von meiner ersten Begegnung mit dem Malar, vom Verlust meines Totems, von den schrecklichen Alpträumen und von der Nacht, in der mein Malar mich verließ. Es fiel mir leichter, als ich angenommen hatte.
 

Mirlien hörte mir aufmerksam zu, bis ich mit der Schilderung der neuesten Ereignisse schloss.

„Nun habt ihr mir also alles erzählt, was ihr wisst, und dennoch ist mir immer noch Einiges schleierhaft.“ gab er schüchtern zu, als wir uns gerade durch einen kleinen, aber dichten Betoolenwald schlugen.

„Nicht nur dir, Mirlien.“ tröstete Vilthon ihn. „Jetzt erfährst du auch den wahren Grund, weshalb wir überhaupt ins Gebirge wandern wollen. Dort wohnt ein alter Bekannter von mir, der, sagen wir, Experte auf dem Gebiet der Malare und der schlechten Träume ist. Wir hoffen, dass er uns beratend zur Seite stehen kann und uns vorschlagen wird, was nun zu tun ist, denn momentan tappen wir im Dunkeln. Außerdem schwelgten wir in dem Erwarten, auf unserem Weg auf Spuren des Malars zu stoßen, oder neue Erkenntnisse über ihn zu erlangen, doch bisher haben wir nichts gefunden, was uns in irgendeiner Form weiter gebracht hätte.“

„Doch!“ widersprach ich dem Alwen keck. „Wir haben Mirlien gefunden!“
 

„Das ist wahr.“ grinste Vilthon. „Mirlien, ich denke ich spreche auch für Tilya, wenn ich dir hiermit erkläre, dass wir dir bedingungslos vertrauen. Und da du nun für eine unbestimmt lange Zeit mit uns reisen wirst, hielt ich es für unverantwortbar, dir die Wahrheit vorzuenthalten. Bisher sind nur ihre Eltern und ihr ehemaliger Lehrmeister Myroon mit den Tatsachen konfrontiert worden, doch ich glaube, dieses Geheimnis, das den Insulanern vor allem zu ihrem eigenen Schutz verschwiegen wird, ist bei dir in den denkbar sichersten Händen. “

Ich nickte bestätigend mit meinem Wuschelkopf und Mirlien dankte uns für unsere Offenbarung mit einem warmen Lächeln. „Dieses Vertrauen ehrt mich sehr. Und ich begreife allmählich die komplizierte Situation, in der ihr euch befindet, auch wenn mein Verstand noch nicht die Hintergründe sämtlicher Zusammenhänge erfassen kann, die den Segen und den Fluch eurer Völker für die Bewohner dieser Insel bedeuten. Es ist richtig, dass herausgefunden werden muss, ob dieser freie Malar ein Risiko für sie darstellen könnte, und ich hoffe, dass ein Kompromiss gefunden wird, aus dem beide Seiten ohne Verluste herausgehen können. Ich weiß zwar nicht, ob ich euch beiden bei eurem Vorhaben in irgendeiner Weise behilflich sein kann, aber ihr könnt euch darauf verlassen, dass ich euch in jeder Hinsicht unterstützen werde, soweit ich es denn vermag.“ versprach er uns fest.

Ich ergriff seine Hand und drückte sie dankbar. „Und wir hoffen, dass sich die Lücken in deiner Erinnerung bald wieder füllen, auch wenn ich zugeben muss, schon jetzt gar nicht mehr auf dich verzichten zu wollen, Mirlien.“

Sichtlich erfreut blickte Mirlien Vilthon und mich aus seinen strahlenden Augen an.

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Wir drei hatten uns so sehr in unser Gespräch vertieft, dass wir viel zu spät bemerkten, dass wir bereits das Korkdorf hinter uns gelassen hatten, was schade war, denn es hätte mit seinen vielen Baumhäusern und den schaukelnden Hängebrücken, die ähnlich der Struktur eines Spinnennetzes zwischen ihnen aufgespannt waren, bestimmt einen sehr interessanten Anblick geboten.

Doch nun führte uns unser Weg bereits über endlose Weiden, auf denen Betoolenspringbockherden friedlich grasten.

Ich schmunzelte.

Gestern Abend erst hatten wir Mirlien kennengelernt, und nun kam es mir so vor, als wären wir schon seit Ewigkeiten befreundet.

Dieser Mann strahlte eine geradezu rührende Naivität aus.

Er war so geduldig, so bescheiden und zurückhaltend in seinem ganzen Wesen, dass man einfach gar nicht anders konnte, als ihn gern zu haben und ihn vor allem Übel beschützen zu wollen.

Ich schaute an dem von weitem so unscheinbar wirkenden Mann hinauf und empfand eine wilde, unerklärliche Zuneigung für ihn, die mich selbst beinahe erschreckte, wenn ich bedachte, wie schwer ich sonst zu den Leuten Vertrauen fassen konnte.

Vilthon aber schien ähnlich zu fühlen, und ich spürte, dass es ein gnädiger Wink des Schicksals sein musste, dass ausgerechnet wir beide auf diese von Grund auf gütige Person treffen durften.
 

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Der Splitter des fahlen Mondes erhellte mit seinem kalten Licht die dunkle, schwül warme Nacht, als wir endlich durch die zarten Zweige eines lichten Nussbaumwäldchens die Glühbeersträucher des nächsten Dorfes schimmern sehen konnten.

„Du liebe, Güte, das wird aber auch Zeit!“ stöhnte ich erleichtert. „Hunger! Waschraum!“ japste ich erschöpft und schlurfte demütig hinter meinen beiden Freunden her.

Ein kleiner Fuchs kreuzte geschwind unseren den Weg und verschwand geräuschlos im Unterholz des nahen Eichenwaldes.

Ein Käuzchen schrie.

Rothörnchen raschelten über unseren Köpfen im Laub der Bäume.

Im Stillen bedankte ich mich für die verliekische Nachtsichtigkeit, die ich von meinem Vater geerbt hatte, welche es mir ermöglichte, auch zu später Stunde das Treiben der seltenen Waldbewohner zu beobachten.

Ich nahm mir fest vor, nach dem Abendessen und einem erfrischenden Bad noch etwas am Fenster meines Gästezimmers zu verweilen.

Füchse und Rothörnchen kannte ich bisher nur als Abbildungen in den Tierbüchern und wollte unbedingt noch einige weitere Blicke auf die seltenen, kupferpelzigen Tiere erhaschen.
 

Das Eichendorf, welches wir nun erreichten, bestand wie das Korkdorf hauptsächlich aus Baumhäusern, die durch Brücken miteinander vernetzt waren.

Es sah bei Nacht etwas unheimlich aus, aber dennoch märchenhaft.

Nach dem obligatorischen Befragen der Einwohner auf dem Gemeindeplatz beeilten wir uns endlich das Gästehaus aufzusuchen.

Ich nahm es mit einer egoistischen Dankbarkeit hin, dass niemand der Dorfbewohner Mirlien zu kennen schien, und dass außerdem niemand etwas Ungewöhnliches über ein fremdes Tier oder einen plötzlich erkrankten oder geschwächten Mitbewohner zu erzählen wusste, was mich länger von dem ersehnten Besuch des Bades abhalten konnte.

Jammernd quälte ich mich kurze Zeit später hinter Vilthon die Holzstufen in die geräumige Laube in der Krone einer alten Eiche hinauf, und lehnte beschämt Mirliens Angebot, mich hoch zutragen ab.

Nach dem üblichen Kampf mit Vilthon um die Vorherrschaft des Waschraumes und einem sehr gemütlichem Abendmahl in der rustikalen Speisestube wünschte man sich eine Gute Nacht um seinen jeweiligen Schlafraum aufzusuchen.

Wie ich es mir vorgenommen hatte, öffnete ich noch einmal das große Fenster, bevor ich mich zum Schlafen niederlegte und ließ meine Blicke, verträumt am Sims lehnend, über die herrlich romantische, mondbeschienene Landschaft mit ihren urigen Wäldchen schweifen.

Plötzlich setzte mein Herz für einen Moment lang aus.
 

In meinen Ohren begann es zu rauschen, mir schwindelte und ich fürchtete einige bange Sekunden lang, das Gleichgewicht zu verlieren, und aus dem Fenster hinaus, direkt in die Arme des Malars zu stürzen, der direkt unter mir stand, auf den ausladenden Wurzeln des Baumes, der das Gästehaus trug.

„Nein…“ hauchte ich.

Eiskalte Schauer jagten mir über den ganzen Körper, meine plötzlich taub gewordenen Hände fingen zu kribbeln an, meine Zähne begannen laut aufeinanderzuschlagen und mir wurde schlecht.

Ich schloss für einige Sekunden meine Augen, und öffnete sie dann wieder, in der verzweifelten Hoffnung, ich hätte mir nur eingebildet, meinen vertrauten Feind hier unten zu erblicken.

Doch ich wurde enttäuscht.

Nach wie vor stand er vor dem Gästehaus, direkt unter meinem Fenster und blickte mich aus glühenden, gierigen Augen an.

„Suchst du mich, mein Drachenmädchen? Komm doch hinab, zu mir!“ knurrte der Malar und bleckte herausfordernd sein gewaltiges, mörderisches Gebiss.

Ein selbstzerstörerischer Impuls, eine spontane Sehnsucht hätte mich beinahe dazu bewegt, der Aufforderung des Monsters kopflos Folge zu leisten, doch ich besann mich im letzten Augenblick, motivierte meine ganze Willenskraft, tief Luft zu holen, und panisch nach meinen beiden Freunden zu rufen.
 

Als mein gellender Schrei durch die Landschaft schallte, lösten sich die Konturen des Malars in dunklem Rauch auf, und nur noch sein tiefes, bellendes Lachen zeugte von seiner Gegenwart, als Vilthon und Mirlien in ihren weiten, weißen Schlafanzügen in meinen Schlafraum stürzten.



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Kommentare zu diesem Kapitel (4)

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Von: abgemeldet
2009-07-23T11:53:27+00:00 23.07.2009 13:53
hey du!
kapitel 8 war super spannend und total faszinierend. mirlien ist eine sehr geheimnisvolle person. und sehr liebenswürdig, wie ich auch in kapitel 9 feststellen durfte.
in diesem kapitel, da schließe ich mich meinen vor-lesern an, war auch wieder mehr komik zu genießen, die deine geschichte ebenso ausmacht, wie die spannung, die dann wieder am ende des kapitels mit aller kraft zugeschlagen hat! sehr eindrucksvoll!
Von: abgemeldet
2009-07-23T10:00:14+00:00 23.07.2009 12:00
XD
nach dem superspannenden kapitel von eben bringst du hier wieder den tilya-typischen humor mit rein!
schon der anfang, wo sich vilthon mit der rasierklinge schneidet und über tilya motzt war geil, dann tilyas verfressenheit,-ich sag nur honigbrötchen *ggg*,
und dann- die "beinnahe- partnerschaftsvermittlungsanzeige" für mirlien XD übrigens: vithon find ich immer schärfer, ich kann mir gut vorstellen, wie er den mundwinkel schürtzt, die braue hochzieht und an tilya rumkrittelt, als wäre er ihr großer bruder oder vater XD zu geil!!!

aber am ende...boah,- da wurds dann doch wwieder plötzlich richtig brutal spannend!!
Von: abgemeldet
2009-07-23T09:39:49+00:00 23.07.2009 11:39
der malar ist wieder da! hätte damit gerechnet, dass er länger auf sich warten lässt. eine ganz gruselige stimmung war das am kapitelende! hatte soagr damit gerechnet, dass er die hauswand hochklettert und tilya an den kragen geht.-doch die spannung hast du auch ohne blutvergießen auf den höhepunkt getrieben.
von mirlien bin ich übrigens immer noch hin und weg. der hat was! tilya hats gut! ^^
LG
timi
Von: abgemeldet
2009-07-22T19:08:30+00:00 22.07.2009 21:08
Wow. Gänsehaut.
Bei dem letzten Stück hab ich fast das Atmen vergessen. Wie gruselig, wenn man sich das mal vorstellt... Mir läuft immer noch ein Schauer über den Rücken.

Jetzt hab ich glatt vergessen was ich alles zu dem ersten Teil sagen wollte. Hmm...

Eigentlich ist dieses bedingungslose Vertrauen das die beiden Mirlien entgegenbringen ganz schön gefährlich. Okay, da ich weiß, dass du Mirlien sehr magst, kann ich ausschließen, dass er böse Absichten hat xD Aber wenn es anders wäre... sehr bedenklich...

Ahh, das mit der Schnecke war zu geil! Da wird sich der Besitzer der Salnachfeldes aber bedanken, dass man ihm das Vieh auf seinen Kohl gesetzt hat xD
Und Vilthons Reaktion war auch zu köstlich ^^


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