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Tape 03 - Chapter IV - Because no one here gets out alive

Chapter IV

Because no one here gets out alive
 

Unschlüssig stand Chris vor dem Koloss von Krankenhaus. Er mochte es nicht besonders, aber wer mochte schon Krankenhäuser. Sie brachten nichts als Elend und Schmerz. Hier roch es nach Tod und wer es lebend wieder heraus schaffte hatte wohl mehr Glück als Verstand. Chris seufzte traurig. Die letzten drei Tage waren der blanke Horror gewesen. Davis hatte einfach seine Sachen gepackt und war ohne ein weiteres Wort verschwunden. Wohin, das wusste keiner von ihnen so genau. Tom vermutete nur, dass er seine Tage und Nächte jetzt komplett im Krankenhaus verbrachte und es kaum noch verließ.

Chris Vater hatte sich in seinem Schlafzimmer vergraben und sie konnten ihn nur mit viel Mühe dazu bewegen überhaupt etwas zu essen. Er lag den ganzen Tag nur da, den Kopf auf eines von Davis T-Shirts gebettet, das noch übrig geblieben war. Chris tat er Leid, auch wenn er genau wusste, dass der ganze Mist eigentlich seine Schuld war. Trotzdem … das musste ein Ende haben. Tom hatte Kevins Posten in der Agentur übernommen und war von früh bis spät auf Arbeit um alles möglichst am Laufen zu halten. Chris wusste, dass seine Abwesenheit Colin sehr belastete. Natürlich … sie waren siebzehn Jahre lang voneinander getrennt gewesen. Jetzt wollten sie jede freie Sekunde miteinander verbringen.

Chris fasste noch einmal Mut und trat auf die automatischen Glastüren zu, die fast lautlos zur Seite glitten. Er hatte noch ein einziges Ass im Ärmel und das wollte er gern ausspielen. Selbst wenn es ihm schwer fiel, vielleicht würde des Davis umstimmen. Das war die Hauptsache. Als er eintrat musterte man ihn sehr genau. Chris fühlte sich wirklich nicht wohl. Er ging auf eine Schwester zu und sprach sie an.

„Ist Dr. Young da?“ fragte er direkt und sie sah ihn kritisch an.

„Was fehlt Ihnen denn? Dr. Young ist im Moment sehr beschäftigt.“

Chris stutzte einen Moment, bevor er sagte:

„Mir fehlt nichts. Ich muss dringend mit ihm reden. Er ist mein Vater.“

Die Schwester musterte ihn jetzt unverhohlen neugierig. Scheinbar hatte Davis hier tatsächlich einiges verschwiegen.

„Nun … er ist in seinem Büro“, rückte sie schließlich heraus und Chris verschwand bevor sie noch einmal den Mund aufmachen konnte. Er kannte den Weg zu Davis Büro.
 

An der Tür zögerte er noch einmal und legte sich seine Worte zurecht. Er machte sich darauf gefasst betteln zu müssen. Chris atmete noch einmal tief durch und drückte schließlich die Klinke herunter. Als er die Tür öffnete blickten ihn zwei Augenpaare verwirrt an. Er ließ sich nicht beirren, trat ein und schloss die Tür hinter sich wieder. Davis stand hastig auf.

„Was machst du hier?“ fragte er.

Chris bemerkte traurig, dass Davis sehr müde und fertig aussah. Auch er schien erheblich unter der Situation zu leiden. Doch nur er konnte sie wieder beenden.

„Ich muss unbedingt mit dir reden“, sagte Chris und warf einen Seitenblick auf Davis Gast, der ihn interessiert musterte. „Es ist wichtig, bitte.“

„Ich habe keine Zeit“, blockte Davis ab und wollte Chris schon wieder zur Tür schieben, doch der wehrte sich energisch.

„Warte! Bitte ich muss mit dir reden! Dad!“

Davis erstarrte zur Salzsäure. Sein Blick suchte Chris, suchte nach einer Antwort darauf, was genau der Junge bewirken wollte. Er hatte ihn endlich Dad genannt. Wie lange hatte sich Davis danach gesehnt?

„Bitte“, sagte Chris eindringlich. „Bitte komm zurück. Seit du fort bist ist alles schrecklich. Bitte Dad komm zurück.“

Davis schwieg, konnte Chris immer noch nur ansehen. Es war als hätte er seine Zunge verschluckt und das machte Chris wütend. Er wollte weiter auf Davis einreden, als der schließlich den Mund aufmachte.

„Gib mir etwas Zeit. Ich kann nicht so einfach zurückkommen. Ich wurde sehr verletzt und das ist nicht leicht für mich.“

Chris wollte nicht aufgeben, doch Davis schüttelte bestimmt den Kopf.

„Gib mir einfach ein bisschen Zeit. Ich kann noch nicht“, sagte er und schob Chris in Richtung Tür. „Ich muss Arbeiten und du solltest in der Schule sein.“

Die Tür klappte hinter Chris zu und er konnte sie nur noch von draußen anstarren. Das war es dann wohl. Davis würde sich nicht so leicht überreden lassen. Vielleicht niemals. Chris zermarterte sich das Hirn darüber, was er als nächstes tun sollte, doch ihm wollte einfach nichts einfallen. Enttäuscht machte er sich zurück auf den Weg zur Schule.
 

Mario saß auf der Bank im Umkleideraum und starrte Löcher in die Luft als Chris hereingestürmt kam. Der junge Italiener sah seinen Cousin fragend an.

„Wo warst du?“

Chris der gerade hastig aus seinen Schuhen schlüpfte antwortete nicht sofort. Er ließ sich ebenfalls auf die Bank fallen und kramte in seiner Sporttasche.

„Im Krankenhaus“, sagte er knapp.

Mario beobachtete wie er wieder aufstand und sich sein T-Shirt über den Kopf zog.

„Warum?“ fragte er schließlich.

„Hab mit Davis geredet“, erklärte Chris und stülpte sich jetzt sein Sportshirt über. Hastig öffnete er seinen Gürtel und zog die Hose runter. Mario beobachtete ihn etwas zu intensiv dabei.

„Was sagt er?“

„Nichts. Er braucht Zeit.“

Mario nickte. Chris war endlich fertig mit seinem Rekord im Umziehen und stand fix und fertig vor ihm. Sie sahen sich einen Moment lang an. Chris hätte in diesem Moment zu gern gewusst, was Mario dachte.

„Ein Königreich für deine Gedanken“, sagte Chris und musterte Mario so eindringlich als wolle er seine Gedanken einfach auf seiner Stirn lesen. Mario lächelte nur.

„Wir sollten rein gehen.“

Chris blickte ihm nach, wie er den Umkleideraum verließ. Aus dem sollte mal einer schlau werden! Er folgte seinem Cousin in die Sporthalle und hoffte, dass diese Stunde ebenfalls so glimpflich ablaufen würde, wie die letzten beiden. Hinter Mario trat er in die Halle. Niemand hatte ein Volleyballnetz aufgebaut. Chris wusste nicht, ob das ein gutes oder eher schlechtes Zeichen war. Mario stand an die nächste Wand gelehnt da und betrachtete die weitläufige Sporthalle prüfend. Wieder hätte Chris zu gern gewusst woran er gerade dachte. Er konnte nicht glauben, dass sein Cousin sich für die Innenarchitektur einer Sporthalle interessierte. Seine Gedanken wurden jäh unterbrochen als er einen heftigen Schlag zwischen die Schulterblätter bekam und gerade noch das Gleichgewicht halten konnte indem er sich mit den Händen an der Wand abstützte. Allgemeines Gelächter erklang hinter ihm und Chris wurde klar, dass dieser Treffer kein Versehen gewesen war. Die Stelle gegen die der schwere Basketball geknallt war pochte im Takt mit seinem beschleunigenden Herzschlag. Was hatte er denn erwartet? Das sie ihn plötzlich anerkennen würden? Nicht im Geringsten. Er vermied es sich umzudrehen, vermied es auch nur einen Mucks von sich zu geben, auch wenn der Schmerz immer weiter anschwoll wie als wolle er gegen sein Schweigen protestieren. Hinter diesem Wurf hatte einiges an Hass gelegen.

Mario war sofort an seiner Seite.

„Alles okay?“ fragte er besorgt. Doch das Lachen klingelte so laut in Chris Ohren, dass er ihn fast nicht verstand.

„Na klar, alles toll“, log er sofort, wie automatisch und ließ sich gegen die Wand sinken. Wieso tat das so verdammt weh? Es war nur ein blöder Ball gewesen, nichts was ihm nicht schon hundert – nein tausend Mal passiert wäre. Chris suchte Marios Blick, wie um sich von seinem Schmerz abzulenken.

„Hey, passiert“, sagte er und vermied immer noch sich zu den Verursachern der ganzen Sache umzusehen. In Marios blauen Augen blitzte es gefährlich.

„Sicherlich kann das passieren, aber …“ fing er eine seiner energischen Reden an, doch Chris unterbrach ihn schnell.

„Dumm gelaufen!“ sagte er laut, nur um etwas leiser hinzuzufügen: „Eine Diskussion würde es nur schlimmer machen, als es ist. Legen wir einfach los. Hey, du hast eine neue Herausforderung. Bring mir bei wie man Basketball spielt.“

Mario war damit völlig unzufrieden.
 

Die Tür fiel hinter Chris ins Schloss und Davis bemühte sich nicht so verzweifelt dreinzublicken wie er sich wirklich fühlte. Jasons Blicke die diese Szene praktisch aufgesogen hatten, lasteten schwer genug auf ihm.

„Wo waren wir?“ fragte er deshalb sachlich und ließ sich wieder an seinem Schreibtisch nieder.

„Das war Ihr Sohn?“ fragte Jason, statt Davis Frage zu beantworten, die er scheinbar gar nicht ernst nahm. Davis hatte dies befürchtet. „Also haben Sie doch eine Frau?“

„Nicht im Geringsten“, murmelte Davis und betrachtete seinen Assistenten wütend. „Was interessiert Sie das so brennend! Ich habe Ihnen schon tausendmal erklärt, dass es Sie absolut nichts angeht.“

„Sir … niemand in diesem Krankenhaus weiß auch nur das geringste von Ihnen. Sie heißen Davis Young und sind Arzt, ja ein ziemlich guter sogar, doch dann hört es auf! Sie sind zusammengebrochen als Mister Jenkins fast gestorben ist, nachdem Sie veranlasst haben dass er hergebracht wird, warum das alles? Es gehen die wildesten Gerüchte darüber um. Und Sie schweigen wie ein Grab!“

„Weil es niemanden etwas angeht! Ich bin Arzt, reicht das nicht?“ hielt Davis dagegen und bemerkte, dass er sich ohne es zu wollen mit Jason auf eine Ebene begeben hatte. Er fühlte sich nicht mehr wie sein Chef, sondern eher wie ein normaler Kollege.

„Nein, das reicht nicht! Wenn sie nichts wissen, dann denken sie sich etwas aus und meistens ist es schlimmer als die Wahrheit!“ erklärte Jason mit Nachdruck. Er hatte gemerkt, wie bei Davis der Widerstand bröckelte.

„Fein“, seufzte Davis und warf noch einen Blick zur Tür. „Er ist mein Stiefsohn.“

Jason blickte ihn fragend an.

„Schön!“ rief Davis wütend. „Ich bin schwul und er ist der Sohn von meinem Lebensgefährten, zufrieden?“

Über Jasons Gesicht huschte ein Lächeln, doch er wurde schnell wieder ernst.

„Wer ist Ihr Mann?“ fragte er schließlich, nachdem er sich wohl überlegt hatte, wie er es ausdrücken sollte.

„Mr. Jenkins. Der Blonde von beiden. Sie sind Zwillinge.“

Es herrschte wieder einen Moment Schweigen, als Jason sich zu erinnern versuchte. Dann schien ihm ein Licht aufzugehen und dieses Mal grinste er breit.

„Der ist auch wirklich süß“, merkte er an und erntete von Davis damit einen vorwurfsvollen Blick der Extraklasse.

„Reicht das?“

„Eigentlich nicht“, behauptete Jason, grinste dann aber unverschämt. „Es ist allerdings ein Anfang.“

Davis blickte aus dem Fenster und schwieg. Sein Mann … sein Sohn … seine Familie … das klang so gut und tat gleichzeitig so weh. Er wollte nicht daran denken.

„Wir sollten weitermachen“, erklärte er und versuchte sich zusammen zu reißen.
 

„Scheiß Schwuchtel!“

Chris hatte gehofft, dass es nicht wieder passieren würde. Nachdem Mario aufgetaucht war, hatte sich einiges geändert, doch es gab eindeutig einige Grundlagen, die er auffrischen musste. Sein Hinterkopf knallte gegen die Wand und er schmeckte Blut im Mund. Der nächste Schlag landete in seinem Magen, brachte ihn fast dazu sich zu übergeben, doch er konnte sich beherrschen, stöhnte nicht mal vor Schmerz. Mehrere Hände packten ihn und er landete auf dem Boden. Seine Handgelenke, mit denen er versuchte sich abzustützen schrien unter der unvorhergesehenen Belastung auf. Chris wartete auf den nächsten Hieb. Die Umkleide war verlassen. Hier waren nur noch er und seine alten Freunde, die ihre Aggressionen so gern an ihm ausließen, als wäre das ein interessanter Sport. Wie weit würden sie dieses Mal gehen? So weit, dass er kein nächstes Mal gab? Chris kauerte sich zusammen, um ihnen eine möglichst kleine Angriffsfläche zu bieten. Sein ganzer Körper schien nur noch ein einziger großer Schmerz zu sein, den nichts und niemand mehr aufhalten konnte.

Am Ende der Stunde hatte die Lehrerin Noten verteilt. Die Blöde Kuh. Jeder der seine hatte durfte gehen. Mario war einer der ersten gewesen. Und nach einigen Diskussionen und hin und her, war fast eine halbe Stunde vergangen bis Chris und nach ihm diese drei Jungs übrig geblieben waren. Sie hatte wohl nicht die geringste Ahnung, was sie ihm damit angetan hatte.

Irgendwo hörte er jemanden seinen Namen rufen, doch das musste nicht stimmen. Er war einer Ohnmacht so nahe, dass er kaum noch bemerkte was um ihn herum passierte. Die Tritte hörten auf. Sie hatten wohl endlich genug. Jetzt musste er nur noch eine Weile hier liegen bleiben und darauf warten, dass niemand mehr zurückkam. Vielleicht konnte er dann …

Seine Hoffnung wurde jäh zerstört, als wieder jemand nach ihm griff. Man packte seinen Arm und drehte ihn herum. Man redete auf ihn ein, aber Chris konnte keinen Sinn aus den Worten entnehmen. Erst als ihm bewusst wurde, dass es eine Umarmung war in die man ihn geschlossen hatte, als er einen irgendwie vertrauten Geruch wahrnahm, verstand er, dass er doch nicht ganz allein war.

„Hey, sag doch was. Komm schon“, Chris wusste nicht ob er zitterte oder sein Retter. „Alles okay, ich bin bei dir. Alles wird wieder gut.“
 

Der Pieper ließ Jason zusammenfahren, was Davis ein triumphierendes Lächeln entlockte. Auch sein eigener Pieper ging gleichzeitig los, allerdings erschreckte ihn das kein bisschen.

„Der Papierkram muss warten“, sagte Davis während sie zusammen eilig sein Büro verließen und sich im Laufschritt der Notaufnahme näherten.

„Was gibt’s?“ rief Davis den Rettungssanitätern zu.

„Junger Mann, siebzehn Jahre alt. Es gab scheinbar eine Schlägerei. Kleinere Kopfverletzungen und Hämatome. Ich schätze es könnte eine Gehirnerschütterung sein, allerdings …“

Die Stimme des Sanitäters erstarb ganz plötzlich.

„Doktor, alles klar?“

Jason fuhr zu seinem Chef herum und bemerkte, wie er leichenblass geworden war. Erst jetzt betrachtete er den Patienten näher und erschrak selber. War das nicht der Junge von heute Vormittag? Davis fing sich wieder.

„Alles klar“, sagte er leise bevor er Jason neue Anweisungen gab.
 

Mario rannte bis seine Lungen zu ächzen begannen, doch er wollte nicht langsamer werden. Jede Sekunde war einfach zu wichtig. Er schnappte keuchend nach Luft, schlängelte sich zwischen einigen Passanten hindurch, die ihm unverständliche Sachen hinterher brüllten. Es war ihm egal. Sein Ziel schien immer noch so endlos weit weg. Würde er dieses Tempo durchhalten bis zum Ende? Seine Gedanken wanderten zurück zu Chris, lenkten ihn von seinen eigenen Leiden ab und bescherten ihm neue, viel schlimmere Schmerzen. Die Wut in seinem Bauch nahm ihm plötzlich den Atem und er musste etwas langsamer werden, wenn er nicht umkippen wollte. Diese Arschlöcher, wie konnten sie es wagen? Die Villa kam in Sicht und Mario gab noch einmal Gas. Warum hatte er auch sein Handy heute Morgen in all der Eile liegen lassen? Warum kam immer alles auf einmal?! Schleichend kam das große Tor des Grundstückes näher, fast als wolle es ihn verspotten. Wie eine Fata Morgana in der Wüste. Mario erreichte das Tor, kam keuchend zum stehen und starrte auf die kleine silberne Tastatur die ihm Einlass verschaffen würde. Einen erschreckend langen Moment war er sich sicher die Kombination vergessen zu haben, die Colin ihm eingetrichtert hatte, bis Mario Alpträume davon bekam. Er versuchte ruhiger zu atmen, doch sein Herz war gerade erst richtig in Fahrt gekommen.

„Sieben“, murmelte Mario und betätigte mit zitternden Fingern die Taste. „Dreizehn … fünf … dreiundzwanzig …“ Eine Zahl noch. Er schloss die Augen. „Acht!“

Das Tor glitt fast lautlos zur Seite und Mario stürmte herein. Hinter ihm schwangen die Torflügel zurück an ihren Platz. Mario nahm das schon gar nicht mehr wahr. Er stürmte auf die Haustür zu und kramte den Schlüssel aus seiner Hosentasche. Ein paar Mal verfehlte er das Schlüsselloch, doch dann traf er endlich und trat in den überdimensionalen Flur. Es war eher eine Eingangshalle. Hastig schlüpfte er aus seinen Schuhen, wohl wissend, dass Kevin einen Anfall bekam, wenn man den Boden schmutzig machte und hastete dann die große Treppe hinauf.

„Colin!“ rief er auf halbem Weg. „Colin!“

Dieses Haus war einfach viel zu groß. Wieder rief er Colins Namen und hoffte, dass dieser ihn hören würde. Die Tür direkt neben ihm ging auf und Mario zuckte zusammen, es war Kevins Schlafzimmertür. Daran hatte er kaum gedacht. Doch das machte nichts, denn er hatte einen ziemlich guten Grund hier herum zu brüllen.

„Süßer, was schreist du so?“ es war nicht Kevin, der aus dem Schlafzimmer trat. „Solltest du nicht in der Schule … Hey was ist los?“

Colin schloss leise die Tür hinter sich und trat an Mario heran, der ihn nur anstarren konnte vor Liebe. Es ging ihm immer so, wenn Colin unerwartet in sein Blickfeld geriet.

„Du siehst total verstört aus, Liebling. Was ist passiert?“ fragte Colin noch einmal und schloss Mario in die Arme. Er roch so gut. Man musste ihn einfach lieben. Mario machte seinem Vater nicht den geringsten Vorwurf.

„Chris ist im Krankenhaus“, erzählte Mario und war sich sicher, dass Colin sein wild pochendes Herz genau spüren konnte. Colin gab einen erschrockenen Laut von sich.

„Aber … was …“, er schob Mario um Armeslänge von sich, der am liebsten in Tränen ausgebrochen wäre. Hastig erklärte Mario was vorgefallen war. Er hatte die Sporthalle viel früher als Chris verlassen und war auch schnell mit dem Umziehen fertig. Weil er Hunger hatte wollte er schon in die Kantine vorgehen, um dort Plätze freizuhalten, doch Chris tauchte einfach nicht auf. Er hatte sich daraufhin Sorgen gemacht und war zurück in die Umkleideräume gelaufen, wo er Chris gefunden hatte und die drei Arschlöcher, die auf ihn eingeschlagen hatten, obwohl er längst am Boden lag. Mario war dazwischen gegangen, rasend vor Wut. Die drei Typen waren abgehauen. Er hatte nach Chris gesehen, in der Hoffnung, dass vielleicht nichts weiter Schlimmes passiert war, doch das viele Blut hatte ihm Angst gemacht und so hatte er einen Krankenwagen gerufen, der Chris ins Krankenhaus zu Davis bringen sollte.

Colin stand der Mund offen.

„Wir werden sofort hinfahren, aber erst …“ er wandte sich noch einmal zu Kevins Schlafzimmer um. „Werde ich ihn aus seinem Bett zerren.“

Colin verschwand wieder im Schlafzimmer seines Zwillings und keine zwei Minuten später kam dieser herausgestürzt.

„Wo sind die Autoschlüssel?!“
 

Tom legte auf und seufzte genervt. Dieser Job war absolut nichts für ihn. Er hasse es im Büro zu hocken, hasste es sich das Nörgeln der Kunden anzuhören und sich darüber den Kopf zu zerbrechen, welchem der Mitarbeiter er einen Auftrag anvertraute oder eben nicht. Einzig und allein die Präsentation der Ergebnisse machte das alles erträglich. Sich vor diese Männer zu stellen, die mit nichts zufrieden sein wollten und sie davon zu überzeugen, dass man der Beste war und die Idee die originellste die sie je bekommen würden. Das war jedes Mal ein kleiner Krieg und es machte Spaß. Tom konnte sich zu gut vorstellen, wie Kevin jedes Mal in dieser Aufgabe aufging und hätte es zu gern einmal gesehen. Tom lehnte sich in Kevins Chefsessel zurück und blickte hoch zur Decke. Eigentlich fühlte es sich ziemlich gut an wieder etwas zu tun zu haben, etwas zu schaffen und dabei kreativ zu sein. Seine Bürotür öffnete sich und Kevins Assistentin steckte den Kopf herein. Er hatte sich schon gar nicht blöd angestellt. Sich eine weibliche Arbeitskraft an die Seite zu stellen minderte das Risiko fremdzugehen für einen schwulen Mann gewaltig. Nur der Praktikant war immer noch hier. Kevin hatte Tom verboten ihn herauszuwerfen, oder in irgendeiner Weise schlecht zu behandeln. An den ersten Teil hatte Tom sich gehalten, an den zweiten eher nicht.

„Mr. Sander“, sagte die junge Assistentin. Sie war bildhübsch. Man konnte davon ausgehen, dass der Rest der Agentur dachte er hätte ein Verhältnis mit ihr. „Wir haben den Entwurf für die Sportkampagne fertig, Sie sollten da mal einen Blick drauf werfen. Ich denke Mister Jenkins würde das gefallen, aber ich möchte das nicht über Ihren Kopf hinweg entscheiden.“

Sie lächelte und Tom schüttelte belustigt den Kopf. Er hatte es schon nicht leicht als Ersatzchef. Jeder hielt ihm tagein tagaus vor, was „Mister Jenkins“ wohl getan hätte. Doch das ging ihm mittlerweile am Arsch vorbei. Schließlich hatte er seinen eigenen Kopf.

„Ich werde es mir ansehen und dann reden wir da nochmal drüber, wenn es sein muss. Danke.“

Sie lächelte immer noch.

„Mister Oliver möchte mit Ihnen sprechen, Sir.“

Tom zog eine Augenbraue hoch. Was sollte das denn werden? Also er würde sich nicht von einem kleinen Jungen verführen lassen. So ausgehungert war er nicht. Papa hatte genug Zucker um Blut um immun zu bleiben.

„Dann schicken Sie ihn rein“, sagte er deshalb, gespannt darauf, was jetzt wohl kommen würde.

Sie schwebte in ihren hochhackigen Schuhen davon und Tom fragte sich unwillkürlich, ob nicht doch noch ein klein wenig Hetero in Kevin steckte. Oder war das alles eine Art Tarnung? Kaum das sie verschwunden war betrat Mike Oliver den Raum. Er warf Tom einen unmissverständlich feindlichen Blick zu und schloss die Tür hinter sich.

„Was kann ich für Sie tun?“ fragte Tom übertrieben freundlich, als der junge Mann vor ihm Platz nahm.

„Ganz einfach“, sagte dieser völlig schmucklos. „Ich werde das Praktikum beenden und ich verzichte auf den Ausbildungsplatz.“

Tom war einen Moment platt, doch dann begann ihm das Spielchen Spaß zu machen.

„So so, das freut mich. Kevin hat mir verboten Sie einfach mit einem Tritt hinaus zu geleiten, doch in diesem Fall habe ich keine Befehle er halten. Sie wissen ja wo die Tür ist.“

Mike starrte ihn finster an.

„Ich möchte noch etwas dazu sagen.“

„Nur zu“, forderte Tom ihn auf. Lief doch gut bis jetzt.

„Es tut mir wirklich Leid was passiert ist. Ich wollte nicht, dass jemand Schaden nimmt, weder Mister Jenkins noch sein Bruder oder sonstwer. Ich würde mich freuen, wenn Sie ihm das sagen könnten und auch, wenn Sie mir irgendwie verzeihen würden. Es war nicht meine Absicht mich irgendwie hoch zu schlafen, falls Sie das denken. Nein, ich habe ihn wirklich und ehrlich verehrt, das ist alles. Bitte sagen Sie ihm das“, er schien es todernst zu meinen und Tom konnte sich ein klein wenig Bewunderung nicht verkneifen.

„Nun, wenn ich es nicht vergesse, dann werde ich es ihm sagen. Noch was?“

Mike schüttelte mit dem Kopf.

„Nein, das ist alles. Danke, dass ich für Sie arbeiten durfte.“
 

Als Kevin allen voran ins Krankenhaus stürmte, war das erste was er sah Davis. Sein Freund sah kaputt aus, blass und müde. Als ihre Blicke sich trafen, schienen sie beide einen Moment lang wie zur Salzsäule erstarrt, doch dann brach das Eis ganz plötzlich und Kevin warf sich in Davis Arme. Es war ein gutes Gefühl, es war alles, was sich Kevin die letzten Tage gewünscht hatte und er hatte endlich wieder ein wenig Hoffnung.

„Wie geht’s meinem Baby?“ fragte er Davis, der ein wenig irritiert darüber schien, wie plötzlich Kevin wieder in seinen Armen lag.

„Ihm geht’s gut. Keine Angst. Er ruht sich etwas aus, aber du kannst sofort zu ihm, wenn du willst.“

Kevin nickte und wischte sich die Tränen vom Gesicht. Auch er hatte Augenringe und sein Haar war zerwühlt.

„Ich danke dir. Für alles, was du für uns getan hast. Ich bin so ein Idiot, das alles so einfach aufs Spiel zu setzen und ich wünschte, du könntest mir verzeihen, aber …“ Kevin verstummt jäh als Davis ihn flüchtig auf die Lippen küsste.

„Ist schon gut. Wir sind eine Familie und wir sollten das durchstehen können. Aber schwöre mir, dass du es nie wieder tust.“

„Nie wieder“, flüsterte Kevin mit bebenden Lippen und wischte sich hastig die Tränen von den Wangen. „Davis ich …“

„Schon gut, lass uns zu Chris gehen. Er braucht dich jetzt.“
 

„Wie geht es dir?“ fragte Jason und betrachtete Chris besorgt.

„Beschissen, was glaubst du denn?“ bekam er als Antwort. Chris schien immer noch jeder einzige Knochen wehzutun, auch wenn Davis ihm Schmerzmittel verabreicht hatte.

„Was ist eigentlich passiert?“ Jason ließ sich neben Chris auf der Bettkante nieder.

Chris zögerte einen Moment, schien darüber nachzudenken.

„Ich weiß es gar nicht mehr so genau. Ich war in der Umkleide und dann … da nächste was ich weiß, ist das ich hier wieder aufgewacht bin.

Jason nickte. Chris hatte einige Verletzungen am Kopf davongetragen, es war also kein Wunder, dass ihm das ein oder andere entgangen war.

„Der Sanitäter sagte, es hätte eine Schlägerei gegeben“, erklärte er und sah Chris weiterhin prüfend an. „Genau danach sehen deine Verletzungen auch aus. Du kannst dich nicht daran erinnern wer das war?“

„Nein …“, sagte Chris bitter. Hätte er es gekonnt, dann hätten diese Typen nichts mehr zu lachen gehabt.

„Ich denke das wird zurückkommen und dann bekommen sie was sie verdienen. Doktor Young ist fast die Wände hoch gegangen.“ Er lächelte aufmunternd, doch Chris war grad nicht zum Lächeln zumute. Der junge Arzt wollte gerade wieder zum Sprechen ansetzen, als die Tür des Krankenzimmers leise aufging.

„Dad“, sagte Chris und versuchte sich aufzusetzen, doch die Schmerzen waren zu heftig. Kevin rannte auf sein Bett zu und nahm ihn in die Arme. Nur ganz sanft, als hätte er Angst Chris würde zerbrechen. „Du bist hergekommen.“

„Natürlich bin ich das!“

Jason war von der Bettkante gesprungen und zog sich zur Tür zurück.
 

„Es ist zum verrückt werden!“ Chris stellte seinen Milchshake vor sich ab und sah Jason verzweifelt an. „Ich kann mich an rein gar nichts erinnern! Schön, wenn Mario wenigstens weiß, wer die Kerle waren, aber was soll ich vor Gericht sagen? Ich weiß doch nichts mehr.“

„Na ja, dein Körper spricht für sich“, sagte Jason und tätschelte beruhigend seine Hand. „Das wird wiederkommen, reg dich nicht auf, du weißt, dass ist nicht gut für deinen Kopf.“

Chris seufzte genervt. Er war immer noch im Krankenhaus. Davis und Jason hatten einstimmig beschlossen, ihn erstmal unter Beobachtung zu halten, falls Komplikationen auftreten sollten. Das war nicht unbedingt toll, doch Chris genoss jede von Jasons freien Minuten, die sie zusammen verbringen konnten. Der junge Arzt hatte scheinbar einen Narren an Chris gefressen. Er tauchte öfter auf, als es nötig gewesen wäre und Davis warf ihm hin und wieder schiefe Blicke zu, wenn sie zu dritt in einem Raum waren. Aber Chris genoss Jasons Aufmerksamkeit. Auch das handelte ihm von Davis ab und an schiefe Blicke ein.

„Mahlzeit, ihr Turteltäubchen.“

Chris zuckte zusammen. Wenn man vom Teufel tratscht … dachte er und grinste Davis an.

„Hi Dad“, sagte er, obwohl es noch immer schräg in seinen Ohren klang.

„Wie geht’s dir?“ fragte Davis während er sein Essen inspizierte. Sie saßen in der Krankenhauskantine und das Essen hier war nicht immer das Beste.

„Mir würde es besser gehen, wenn ich wieder nach Hause dürfte“, sagte Chris und warf Davis einen flehenden Blick zu. Davis schien darüber nachzudenken und sah dann zu Jason hinüber.

„Das wäre unter Umständen nicht schlecht“, sagte er schließlich. „Aber ich mache mir noch ein wenig Sorgen um dich.“

Chris verdrehte die Augen und schlürfte wieder von seinem Milchshake.

„Mario vermisst dich, sagt Colin“, Davis stocherte ein wenig in seinem Essen rum, während Chris errötete.

„Wer ist Mario?“ fragte Jason sofort und handelte sich damit einen kritischen Blick a la Davis ein, der auch ihn erröten ließ.

„Er ist Chris Cousin, Flachzange und das weißt du auch!“

Chris kicherte und stellte den leeren Milchshake ab.

„Genau Flachzange, darüber haben wir doch eben geredet.“

Jason blickte ihn etwas säuerlich an.

„Stimmt, das habe ich ganz vergessen“, gab er zu.

„Genau so wie du ab und an vergisst, dich um deine anderen Patienten zu kümmern“, legte Davis nach, tat aber so als wäre sein Essen viel interessanter. „Ja vielleicht ist es wirklich besser, wenn ich dich nach Hause schicke Chris. Dann kann er sich wieder aufs Arbeiten konzentrieren und nicht nur auf deinen Arsch.“

„Nicht so vulgär“, sagte Chris lachend. „Du hörst dich fast an wie Colin.“

„Aber nur fast“, murmelte Davis.

Jason sah ziemlich pikiert aus. Es war ihm peinlich, dass Davis ihn so gut durchschaut hatte und ebenso, dass er tatsächlich ein oder zwei Patienten vergessen hatte. Keine schweren Fälle, aber dennoch … sein Herz hing etwas zu sehr an Davis blondem Sohn.

„Nun ja, wie dem auch sei“, sagte Davis. „Heute wirst du noch hier bleiben und ich werde zusehen, dass ich Mister Lover ein wenig auf Trab halte.“

„Schade“, sagte Chris leise und warf Jason dabei einen unmissverständlichen Blick zu, der sein Herz hüpfen ließ.
 

„Also das Projekt für Farel Athletics ist eigentlich fertig, du müsstest es nur noch vorführen. Garden ist über den Tisch und die neuen Aufträge sind noch nicht weit genug vorangeschritten, als das du viel verpasst hättest. Es gab keine Beschwerden und niemand hat sich aufgeregt“, sagte Tom und schob die Hände in die Taschen seiner Jeans. Er war heute nur mit Kevin in die Agentur gekommen, um noch einige Sachen abzuholen, die er da gelassen hatte. Schließlich kam Kevins Rückkehr ziemlich überraschend für alle Beteiligten.

„Ich danke dir“, sagte Kevin und umarmte seinen Bruder. „Du bist echt der Beste. Ich weiß nicht, was ich ohne dich gemacht hätte!“

Tom lachte, erwiderte die Umarmung aber.

„Schon okay, dazu bin ich doch da. Hat eigentlich Spaß gemacht dich zu vertreten.“

Kevin sah sich in seinem Büro um. Er war wieder der Alte, strahlte wieder voll und ganz.

„Wie sieht es aus mit … Mike?“ fragte er und ein Schatten legte sich über sein Gesicht.

„Er hat sich vom Acker gemacht“, sagte Tom und zuckte mit den Schultern, als Kevin ihn erschrocken ansah. „Er ist freiwillig gegangen, ich habe ihm nichts getan. Indianerehrenwort!“

„Na gut“, sagte Kevin und wirkte etwas erleichtert. „Dann wäre das Problem ja gelöst.“

„Sag mal“, fing Tom an, als Kevin ans Fenster trat um es zu öffnen. „Könntest du mir den Generalschlüssel geben?“

„Wozu?“ fragte Kevin, zog den Schlüssel aber schon aus seiner Tasche.

„Ich muss in Colins Büro, etwas holen.“

Kevin warf ihm den Schlüssel zu und Tom fing ihn mit einer Hand auf.

„Man bist du cool“, witzelte Kevin grinsend und Tom warf ihm eine Kusshand zu, bevor er aus dem Büro verschwand. Colins Zimmer lag genau am Ende des Ganges und hatte eine Milchglastür. Er trat näher und öffnete diese. Drinnen war es relativ Dunkel, vor allem da jetzt die Sonne genau auf der anderen Seite stand und nicht durch die spärlich bemessenen Fenster hereinfiel. Tom ging auf Colins Schreibtisch zu und setzte sich auf dessen Platz. Der ganze Raum roch nach seinem Geliebten und machte ihn fast verrückt. Tom legte den Generalschlüssel auf der absolut sauberen Schreibtischunterlage ab.

„Okay Baby“, flüsterte er in den leeren Raum. „Wo hast du sie versteckt?“

Er begann die Schubladen aufzuziehen, blickte unter Schnellhefter und Folien. Nichts. Nur Papierkram. Erst in der untersten der vier Schubladen wurde er fündig. Er zog sie soweit wie nur möglich heraus und entdeckte einige persönliche Sachen: Zigaretten, Kaffee sowie eine Tasse. Er nahm die Kaffeedose in die Hand und öffnete Sie.

„Von wegen. Jeder weiß, dass du keinen Kaffee trinkst!“

Darin befand sich ein Plastiktütchen mit Kokain. Tom nahm es heraus und hielt es einen Moment in den Händen. Schließlich stellte er die gefakte Kaffeedose zurück und schob die Lade zu. Er trat an eines der Fenster und öffnete es, dann kippte er das Kokain aus. Es wurde von Wind erfasst, schwebte umher, rieselte in die Tiefe auf die ahnungslosen Passanten herunter und verteilte sich im Nichts.

Tom klappte das Fenster wieder zu, schnappte sich den Schlüssel vom Tisch und verließ Colins Büro.

„Sag mal, Tomieh“, fing Kevin an, als er zurück in sein Büro kam, um den Schlüssel wieder abzugeben. „Kann ich dich was fragen?“

Tom zögerte, ließ sich dann aber Kevin gegenüber nieder.

„Klar, war gibt es denn?“

Kevin stützte das Kinn auf die Hand und musterte seinen Bruder einen Moment lang.

„Würdest du …“, fing er schließlich an und blickte aus dem Fenster, wobei seine Finger mit einem Kugelschreiber spielten. „Würdest du hier arbeiten wollen?“

„Mit dir als Chef? Oh mein Gott, nein“, scherzte Tom und lachte über Kevins pikierten Blick. „Vielleicht ja“, gab er schließlich zu. „Es macht Spaß diesen Geldhaien den Arsch aufzureißen und ihnen klar zu machen, dass sie von einem keine Ahnung haben: Was ihre Kunden dazu bringt ihr Geld auszugeben!“

Kevin grinste jetzt auch.

„Tolles Gefühl, nicht wahr?“

Es herrschte kurz Schweigen, dann fuhr Kevin fort.

„Ich hätte dich gern als meinen Partner. Meine reizende Assistentin hat mir nur von dir vorgeschwärmt, seitdem ich das Büro betreten habe. Ich denke du hast das Zeug dazu und du hast genauso ein Recht darauf wie Colin und ich. Natürlich hast du nicht dieselbe Ausbildung, aber die brauchst du gar nicht. Alles Notwendige könnte ich dir erklären und das dürfte sich ohnehin in Grenzen halten …“

„Hör mal auf zu schleimen, Kleiner.“

Kevin lächelte einnehmend.

„Du weißt schon, was ich sagen will. Bitte nimm den Job an. Ich wäre nur dankbar, wenn du und Colin nicht im Büro übereinander herfallt.“

Tom überlegte. Eigentlich war das gar keine schlechte Idee und die Feuerprobe hatte er mit Bravour bestanden. Warum es also nicht versuchen.

„Okay“, sagte er. „Ich nehme an, aber ich kann für nichts garantieren. Ich kann meine Mitarbeiter genauso vögeln wie du.“
 

Colin sprang als erster auf, als er Chris in der Tür stehen sah.

„Du bist wieder da!“ rief er und schloss Chris fest in die Arme.

„Vorsicht, Vorsicht meine Rippen“, sagte Chris und Colin lockerte sofort seine Umarmung.

„Wie geht’s dir, mein Süßer? Davis hat erzählt du hast dir im Krankenhaus einen heißen Assistenzarzt aufgerissen? Erzähl mir mehr!“ verlangte Colin und strahlte seinen Neffen an.

„Na ja“, sagte Chris und ließ sich von Colin an den großen Tisch führen, wo er Tom und Mario begrüßte. „Stimmt schon, Davis Assistent hat sich ein wenig auf mich eingeschossen, aber ich denke, dass liegt daran, das er auf Davis steht.“

„Fatal“, merkte Tom an.

„Auf jeden Fall ist er eigentlich ganz süß. Und er hat sich rührend um mich gekümmert. Als ich die ersten Nächte vor Schmerz kaum schlafen konnte, war er immer da und hat mich ein wenig abgelenkt.“

„Er kommt nach seinem Vater“, sagte Colin zu Tom. „Er lacht sich einen angehenden Arzt an.“

„Prima“, sagte Tom trocken, der bemerkt hatte, wie Mario neben ihm auf seinem Platz immer kleiner geworden war.

„Das müssen wir feiern“, sagte Colin und legte seine Arme um Chris Nacken. „Lass uns heute Nacht ins Adonis gehen.“

Colins Lippen waren so nah an Chris Ohr, dass er Gänsehaut am ganzen Körper bekam. Aber es fühlte sich unheimlich gut an.

„Heute Nacht?“ fragte er. „Dad wird das gar nicht toll finden.“

Colin schenkte ihm einen vorwurfsvollen Blick.

„Süßer, du bist doch kein kleines Kind mehr.“

„Ich nehme mal an, ihr habt uns ausgeplant?“ fragte Tom und Chris und Colin sahen ihn beide irgendwie schuldbewusst an.

„Wir haben schon ewig nichts mehr allein zusammen gemacht“, sagte Colin und setzte dabei seinen überzeugenden Blick auf. Tom hätte ihn am liebsten über den Tisch hinweg angesprungen und flach gelegt, doch er beherrschte sich mühsam.

„Na gut“, sagte er und stand auf. Er ging um den Tisch herum und küsste Colin. „Keine Drogen, hörst du?“

Colin biss sich auf die Unterlippe, als Tom ihm den Rücken zuwandte und mit Mario aus der Küche verschwand, der plötzlich irgendwie totunglücklich aussah. Trotzdem … es musste sein. Er verdrängte den Gedanken wieder und sah Chris an, der jetzt etwas unsicher wirkte. Auch er hatte sicherlich Marios Gesichtsausdruck gesehen.

„Also, was sagst du?“ fragte Colin.

Chris zuckte unsicher mit den Schultern.

„Meinetwegen.“
 

Es war genau wie das letzte Mal. Was hatte Chris auch großartig erwartet. Die Musik dröhnte laut in seinen Ohren, die sich noch nicht an die Lautstärke gewöhnt hatten und überall sah er im diffusen Licht des Clubs Massen von Männern tanzen. Manche mit nackten Oberkörper, manche fast so spärlich bekleidet wie die Gogotänzer zu denen einst auch Colin gehört hatte. Sie bahnten sich zuerst ihren Weg zur Bar, wo Colin überschwänglich einen wasserstoffblonden jungen Mann begrüßte, der die Getränke ausschenkte. Chris ließ sich dieses Mal nicht vom Strom der Tanzenden mitreißen, sondern blieb nahe bei Colin, der irgendwie eine Art Gasse durch die Massen zu schlagen schien. Niemand rämpelte ihn an, niemand drängte ihn von seinem Kurs weg. Ab und an blieb jemand stehen und sie begannen hastig zu tuscheln. Allerdings alles in respektvollem Abstand. Colin war hier ein Popstar der Extraklasse. Nur belästigte ihn niemand. Wie auch immer er das fertig gebracht hatte …

Chris ließ sich neben seinem Onkel an der Bar nieder.

„Was möchtest du trinken, Süßer?“ fragte Colin.

„Ähm … kein Plan“, gab Chris zu und überlegte einen Augenblick. „Wie wär’s mit nem Bier?“

„Oh nein“, sagte Colin und schüttelte den Kopf. „Keine Spartour. Ich bin für Wodka-Cola. Meinst du nicht auch?“ Colin lächelte einnehmen und es war unmöglich dieses Lächeln nicht zu erwidern.

„Na gut“, stimmte Chris zu. Warum eigentlich nicht? Er wollte keine Spaßbremse sein. Diesen Abend, ganz allein mit Colin sollte er genießen.

„Du bist also Chris ja?“ fragte der blonde Barkeeper, als er Chris sein Getränk hinstellte. Chris nickte und nippte an der Mischung. Sie schmeckte sehr nach Alkohol, aber mit der Cola zusammen ging es gerade noch.

„Wie hast du ihn am Türsteher vorbeibekommen?“ fragte der Blonde nun Colin, der nur anzüglich lächelte.

„Ich bekomme jeden an Fred vorbei“, sagte dieser nur. Beide lachten über einen Scherz, den Chris nicht verstand. Er sah sich weiter im Adonis um, während Colin und sein unbekannter Freund sich unterhielten. Die im Takt zuckenden Leiber und der laute Beat gewannen immer mehr Zauber und verlockten regelrecht dazu mitzumachen. In Chris Hosentasche begann es zu vibrieren, was er erst spät bemerkte, denn auch der Bass erschütterte alles wie ein kleines Erdbeben. Er zog das Handy aus der Tasche. Es war Kevin. Einen Moment überlegte er, doch dann schob er mit einem Seitenblick auf Colin das Handy zurück in die Tasche. Sein Onkel hatte behauptet, dass alles mit Kevin abgesprochen war. Dem Anruf zufolge stimmte das nicht. Doch Chris wollte sich um keinen Preis den Abend vermiesen lassen, selbst wenn er dafür hinterher von seinem Vater eine heftige Abreibung kassieren würde. Aber warum log Colin ihn an? Vielleicht nur, damit er keinen Rückzieher machte. Colin musste dieser Abend genauso wichtig sein, wie Chris selbst und das machte ihn unheimlich glücklich. Chris trank seine Wodka Cola langsam leer, während Colin noch immer mit seinem ehemaligen Kollegen Neuigkeiten austauschte. Er spürte, wie der Alkohol bei ihm ansetzte, denn er war noch nie in Verlegenheit gekommen welchen zu trinken. Mit wem auch? Davis war immer strikt dagegen gewesen, Colin tat die ganze Nacht nichts anderes und Freunde hatte er bis vor kurzem auch nicht gehabt.

„Hey Süßer“, Colin wandte sich plötzlich ihm zu und Chris schrak aus seinen Gedanken hoch. „Wollen wir tanzen?“

Chris schielte auf Colins fast unberührtes Glas, nickte dann aber. Colin rutschte von seinem Stuhl und zog Chris mit sich in die Masse. Hier schien die Musik noch lauter zu sein, der Beat noch intensiver. Colin legte die Arme um Chris Schultern und zog ihn so nah an sich heran, wie es nur ging, was Chris Herz zum Rasen brachte. Sie bewegten sich im Takt der Musik, wobei Chris sich Fragte, ob ihm wegen der Reibung so heiß wurde oder wegen Colins Nähe.

„Sei ehrlich, was läuft zwischen dir und diesem Jason?“ fragte Colin laut über den Lärm hinweg. Er musste immer noch fast brüllen, obwohl er direkt in Chris Ohr sprach.

„Nichts!“ sagte Chris aufrichtig, immer noch etwas zu sehr betört. „Nur ein bisschen Geflirte, nichts Ernsthaftes.“

Colin nickte, seine Hände landeten irgendwo gefährlich nahe an Chris Hintern, während er seinen Neffen sehr prüfend betrachtete.

„Ehrlich!“ fügte Chris hinzu. Colin lächelte verführerisch.

Wieder beugte er sich zu Chris vor. Seine Nähe fühlte sich so gut an, machte ihn irgendwie Schwindelig und brachte all seine Gefühle durcheinander. Doch es war gut so. Heute Abend gehörte die Welt ihnen allein.

„Wäre auch sehr schade“, sagte Colin.

Chris war sich nicht so sicher, ob er ihn richtig verstanden hatte.

„Was meinst du damit?“ fragte er deshalb verwirrt.

„Ich glaube Mario steht ziemlich auf dich“, erklärte Colin und Chris wurde augenblicklich rot. Im Diffusen Licht der Tanzfläche fiel das allerdings kaum auf. Colin lachte, als er Chris Reaktion bemerkte.

„Hör auf, Davis hat auch schon so komische Anspielungen gemacht!“ beschwerte Chris sich und legte den Kopf an Colins Schulter. Er wollte jetzt überhaupt nicht an Mario oder Jason oder irgendwen denken, nur bei Colin wollte er sein, das reichte ihm völlig.

„Meinst du nicht, dass er etwas für dich wäre?“ hörte er Colin fragen.

„Keine Ahnung …“, sagte Chris.

Vielleicht war die Idee ganz reizvoll, allerdings …

Die Situation in der Chris steckte war mehr als peinlich. Entweder entschied er sich für einen angehenden Arzt und eiferte so seinem Vater nach, oder er entschied sich für Mario und machte es unmissverständlich wie sein Onkel. Chris wäre es lieber gewesen eine neue Alternative zu haben, doch die gab es weit und breit nicht. Colin zog ihn noch etwas näher an sich heran. Chris wurde unvermittelt heiß.

„Du bist doch jetzt nicht traurig?“ fragte er nahe an Chris Ohr.

„Nein“, sagte Chris, der ihnen beiden den Abend nicht verderben wollte. „Nein überhaupt nicht.“

Ihre Gesichter waren jetzt so nah beieinander, dass sich ihre Nasenspitzen fast berührten. Colin lächelte auf eine Art, die Chris Schaudern ließ. Er konnte nicht einmal daran denken, es sich wünschen, so schnell schien Colin ihn plötzlich zu erhören. Er überbrückte die ohnehin geringe Distanz zwischen ihnen und küsste Chris. Es schien, dass die plötzlich allein auf der Tanzfläche waren, so egal wurde Chris seine Umwelt plötzlich. Colins Kuss war weich und doch fordernd, so dass Chris ganz schwindelig wurde. Er wollte mehr, viel viel mehr, viel viel weiter …

Um kurz nach zwei verschwanden sie aus dem Adonis. Es war eine extrem lange Nacht für Chris und eine sehr kurze für Colins Verhältnisse. Draußen schien ein heller Vollmond am wolkenlosen Himmel. Die Nächte waren schon wieder etwas kühler geworden, denn der August neigte sich seinem Ende zu. Bald hatte Chris seinen achtzehnten Geburtstag. Doch all das war ihnen im Moment so unwichtig, wie man es sich nur vorstellen konnte. Colin zog den Schlüssel aus der Tasche seiner leichten Jacke und sie betraten die große Eingangshalle. Alle Lichter waren bereits aus. Na klar, die anderen schliefen wahrscheinlich seit Stunden.

„Wo sollen wir hin?“ fragte Chris etwas atemlos und schlüpfte aus seinen Schuhen. Ihm war etwas schwindelig vom ganzen Alkohol. Er mochte diesen Zustand sehr, denn er ließ ihn vergessen, was er tun sollte und was nicht.

Colins Jacke flog auf den Boden, Chris Hoodie folgte auf dem Fuße.

„Lass das alles meine Sorge sein“, hauchte Colin in Chris Ohr. Sie stolperten halbwegs die Treppe hoch. Chris dachte nach. Es gab genau 4 Schlafzimmer in diesem Haus. Eines hatten Davis und Kevin, eines Colin und Tom und das dritte Chris und Mario. Das vierte allerdings gehörte Amanda und Jonathan, die allerdings kaum noch hier waren und ihre meiste Zeit in sämtlichen sonnigen Ländern der Welt verbrachten. Das musste Colin vorhaben. Und tatsächlich. Sie schlichen an allen Schlafzimmern vorbei bis auf jenes vierte. Colin ließ von Chris ab und öffnete die Tür. Drinnen schien alles ruhig. Das Zimmer war dunkel und leer. Chris folgte seinem Onkel langsam, zögerte jedoch. Ihm wurde klar, dass er dieses Schlafzimmer noch nie betreten hatte, zumindest konnte er sich nicht daran erinnern. Colins Hände schossen unvermittelt vor und zerrten Chris in den dunkeln Raum. Dieser musste sich stark zusammenreißen nicht zu schreien vor Schreck. Die Tür fiel hinter ihm leise ins Schloss. Er konnte es knacken hören, als Colin den Schlüssel drehte. Chris hatte ein wenig die Orientierung verloren, so wenig Licht ließen die schweren Vorhänge in den Raum. Doch Colins Hände führten ihn zielsicher immer weiter hinein. Chris stolperte, als etwas gegen seine Kniekehlen stieß und fiel rückwärts. Zu seiner Erleichterung empfing ihn ein weiches Federbett.

„Jetzt. Sind. Wir. Ganz. Allein“, Colin beugte sich über ihn und begann seinen Hals zu küssen. Chris spürte wie sich in seine Erregung ein klein wenig Angst mischte. Colins Hände schoben sein T-Shirt hoch, strichen über seine Brust und seinen Bauch als wollen sie eine fremde Welt erkunden.

„Sei ehrlich, hast du schon …?“

„Nein!“ sagte Chris schnell und bemerkte, dass es etwas zu schnell war. Colin würde denken dass er log, doch das stimmte nicht. Er hatte noch nie Sex gehabt. Mit wem denn auch. „Ehrlich“, fügte er des halb leise hinzu.

„Braver Junge“, Colin lachte leise.
 

Chris ließ sich auf seinem Platz in der Kantine neben Mandy nieder, die ihn fröhlich anstrahlte.

„Na?“ fragte Chris und stellte sein Tablett vor sich auf dem Tisch ab.

„Alles okay?“ fragte sie und tauschte einen ziemlich bedeutsamen Blick mit Mario, der schon dabei war sein Essen auf Verträglichkeit zu überprüfen.

„Ja, klar“, sagte Chris und öffnete seine obligatorische Flasche Cola. „Ich kann mich immer noch an nichts erinnern.“

Mandy nickte und überflog einen A3 großen Handzettel, der auf dem Tisch ausgelegt war.

„Wow“, sagte sie. „Ein Ball! Wie cool!“

„Ein Ball?“ fragten Chris und Mario ziemlich synchron.

„Sieh doch!“ Mandy schob den Zettel zu Chris hinüber.

„Der Septemberball“, sagte Chris und bekundete sogleich sein Desinteresse für diesen Event. „Das ist was für Heten“, er sah wie Mario neugierig den Handzettel studierte. „Und für solche die es werden wollen!“

Mario warf ihm einen wütenden Blick unter seinen dunklen Wimpern hervor zu und Chris grinste frech.

„Ich würde gern hingehen“, sagte Mandy und blickte verträumt hinab auf den rosa Zettel. „Stellt euch das vor! Ein wunderschönes Kleid – mh – rot vielleicht, trägerlos und mit Spitze. Ein wallender Rock und farblich passende Highheels. Da darf natürlich nicht der perfekte Mann dazu fehlen, mit dem man über die Tanzfläche schweben kann und …“, sie unterbrach sich und bemerkte wie Mario und Chris sie halb entsetzt, halb belustigt anstarrten. „Was denn? Man darf ja wohl träumen!“

Chris war der erste, der in lautes Gelächter ausbrach und Mario folgte sofort.

„Sorry“, sagte Chris unter unterdrückten Lachern, als er Mandys wütende Miene sah.

„Also meinst du wirklich ein rotes Kleid wäre was für dich?“ fragte Mario ernst und handelte sich einen verwirrten Blick von Chris ein.

„Etwa nicht?“ fragte Mandy entsetzt.

„Nein“, erklärte Mario fachmännisch. „Ich tendiere zu einem schwarzen Kleid. Wenn dir das zu klassisch schlicht ist könntest du allerdings ein dunkles rot nehmen. Bordeaux könnte man versuchen.“

„Schau mal, man kommt nur mit Tanzpartner rein!“ sagte Mandy plötzlich enttäuscht und deutete auf das Kleingedruckte. Sie sah Chris an, der mit den Schultern zuckte.

„Würdest du …?“

„Was?“

Mario begann wieder zu lachen.

„Würdest du mit mir hingehen? Nur damit ich reinkomme. Oh bitte!“

Chris sah sie entgeistert an, während Mario sich schüttelte vor Lachen.

„Geh doch mit ihm hin! Er freut sich doch schon so drauf!“ verteidigte Chris sich und deutete auf Mario der abrupt aufhörte zu lachen.

„Wie bitte!? Ich geh da nicht hin!“ weigerte er sich sofort.

„Ach ja? Eben hast du dir doch schon dein Kleid in Bordeauxrot vorgestellt, oder nicht?“ stichelte Chris und warf mit einem Pommes nach Mario.

„Nein, es ging um IHR Kleid!“ hielt Mario dagegen. „Ich gehe nicht hin … außer … du kommst mit!“

Chris zeigte ihm einen Vogel.

„Jungs!“ ging Mandy dazwischen und hielt Chris Handgelenk fest, als dieser schon wieder etwas nach Mario werfen wollte.

„Süße, ernsthaft. Ich tu mir das nicht an!“ sagte Chris, als er ihren flehenden Blick sah. „Ich geh nur noch irgendwo hin, wo ich nicht von aggressiven Heten umgeben bin – außer zur Schule – und der Septemberball ist nicht ganz ungefährlich für mich.“

Sie seufzte, schien das aber zu verstehen. Mario betrachtete sie nachdenklich. Mandy hatte sich doch nicht ernsthaft Hoffnungen gemacht. Und was wollte sie mit ihrem schwulen besten Freund auf einem Ball?

„Was ist jetzt?“ fragte sie zickig, als sie Marios Blick bemerkte. „Kein Grund eifersüchtig zu sein. Ich will nichts vom ihm! Aber du solltest mal sehen wie wunderbar er tanzen kann!“

Mario öffnete den Mund und schloss ihn dann schnell wieder. Er hatte sie zurechtweisen wollen, dass sie nicht zu viel erzählte, doch die Offenbarung über Chris Tanzkünste war viel interessanter.

„Stimmt das?“ fragte Mario.

„Glaub ihr kein Wort“, sagte Chris trocken und schob sein Essen beiseite. Er kramte sein Portmonee aus der Tasche und öffnete es. Ein Bild von Colin lächelte Mario an.

„Wow!“ sagte er und griff nach Chris Hand um sie so zu drehen, dass er das Bild genauer erkennen konnte. „Das ist wirklich wunderschön!“

„Ich weiß“, sagte Chris.

Auch Mandy beugte sich über das Bild.

„Wer ist das? Der ist ja hammer süß!“ sagte sie aufgeregt.

„Colin“, sagten Chris und Mario gleichzeitig.

„DAS ist Colin?“ fragte Mandy überwältigt.

„Meine Mama“, sagte Mario und zwinkerte Chris zu, der ihm nur einen verächtlichen Blick zuwarf.

„Ja, er ist mit deinem Dad zusammen, mehr aber auch nicht“, versetzte Chris und klappte das Portmonee wieder zu. Mehr nicht …

„Warum sind alle süßen Männer schwul“, brummte Mandy wütend und nahm einen Schluck von Chris Cola. Beide Jungs zuckten mit den Schultern. Mario betrachtete seinen Cousin. War Chris Blick eben wirklich so feindlich gewesen, oder hatte er sich das eingebildet?

„Wie läuft es eigentlich mit Jason?“ fragte Mario unwillkürlich.

Mandy betrachtete Chris gespannt.

„Was soll da laufen?“ fragte Chris. „Er ist n ganz netter Typ, aber sonst nichts.“

„Schade“, sagte Mandy.

„Ja, total Schade“, wiederholt Mario irgendwie lahm.
 

Chris machte die Tür hinter ihnen zu.

„Ich will es sehen“, sagte Mario. Schon auf dem gesamten Weg nach Hause hatte er mit dem Gedanken gespielt Chris dazu zu überreden. Chris sah ihn verständnislos an.

„Na wie du tanzt!“ sagte Mario. Beide Jungs bemerkten nicht, wie Colin hinter ihrem Rücken die Treppe hinunter huschte und dann stehen blieb, als er hörte was Mario verlangte.

„Hey Jungs“, machte er sich bemerkbar und Chris und Mario fuhren irgendwie ertappt zusammen.

„Solltest du nicht arbeiten?“ fragte Mario.

„Sollte ich“, war Colins Antwort dazu. Er trat an Chris heran und gab ihm einen Kuss auf die Wange. „Alles okay in der Schule?“

Chris nickte nur und betrachtete Colin mit einem so schmachtenden Blick, dass Mario ganz übel wurde.

„Du wolltest sehen, wie er tanzt?“ fragte Colin und lächelte Mario zu. Er war fast unerträglich schön.

„Ja, total gern“, sagte Mario wahrheitsgemäß und ließ seine Tasche auf den Boden sinken.

„Dann sollten wir es ihm zeigen“, meinte Colin und sah Chris herausfordernd an, der noch immer etwas weggetreten wirkte.

„Muss das wirklich sein?“ leistete er noch einmal schwach Widerstand, doch Colin hatte schon die linke an seine Hüfte gelegt und brachte sie beide in Position.

„Ich führe“, stellte Colin klar und Chris nickte und schon schwebten sie durch die Eingangshalle. Mario blieb der Mund offen stehen. Mit fließenden anmutigen Bewegungen bewegten sie sich durch den großen Raum und schienen dabei keine physikalischen Gesetze zu kennen. Nicht einmal blickte einer von ihnen zu Boden, um zu sehen ob ihre Füße auch das taten was sie sollten.

„Warum bist du hier?“ fragte Chris leise und hoffte, dass Mario ihn nicht hören konnte.

„Streit mit Tom“, sagte Colin ebenso leise. Ein dunkler Schatten huschte über sein Gesicht.

„Oh Gott, hat er … ich meine … weiß er, dass wir …“, Colin blieb stehen und legte einen Finger auf Chris Lippen. Sein Blick huschte hinüber zu Mario. Er lächelte unschuldig und Mario schien darauf reinzufallen.

„Nein“, sagte Colin leise. „Und du solltest nicht darüber reden.“

Chris nickte. Er war einen Blick über die Schulter zu Mario und lächelte – wie er hoffte – beruhigend. Das war nicht unbedingt leicht, denn sein Herz flatterte wie verrückt.

„Wir müssen unbedingt da hingehen!“ sagte Mario und grinste breit. Seine Begeisterung war nicht zu übersehen.

„Wohin?“ fragte Colin, während er sich anmutig eine Haarsträhne aus dem Gesicht strich.

„Zum Septemberball in der Schule“, verkündete Mario euphorisch.

„In die Hochburg der Heterosexualität“, sagte Colin und grinste schief. „Was Besseres ist dir nicht eingefallen?“

Mario wirkte einen Moment lang maßlos enttäuscht, dann fing er sich wieder.

„Aber wenn Chris doch so toll tanzen kann. Wo soll man tanzen, wenn nicht auf einem Ball?“ hielt er gegen Colins Argument.

„Süßer“, Colin seufzte. „Ich denken nicht, dass das eine so gute Idee ist. Außerdem kommt ihr ohne Mädchen gar nicht rein, stimmt‘s? Zumindest war das zu meiner Zeit so.“

Chris nickte beflissen.

„Genau“, sagte er. „Es gibt bestimmt kein Mädchen, das mit mir …“

„Mandy“, unterbrach Mario ihn. „Sie will mit dir gehen. Das hat sie ziemlich deutlich gesagt heute.“

„Wer ist Mandy?“ fragte Colin.

„Chris Freundin aus der Schule, also … Freundin, nicht Beziehung. Aber ich glaube sie steht auf ihn“, sagte Mario und handelte sich damit einen Schlag in den Bauch von Chris ein, der sich gewaschen hatte.

„Tut sie nicht!“ verteidigte Chris sich prompt. „Wir sind gute Freunde, nicht mehr. Sie versteht mich immer und nervt wenigstens nicht so wie du!“

„Sie steht auf dich“, behauptete Mario felsenfest und verschränkte die Arme vor der Brust. Er wirkte wie ein bockiges kleines Kind.

„Selbst wenn: Sie weiß, dass ich schwul bin. Jeder weiß das!“

„Jungs, nun hört doch auf euch zu streiten“, ging Colin mit einem gequälten Gesichtsausdruck dazwischen. Er nahm Chris Hand und zog ihn mit sich zur Treppe.

„Hey! Wo wollt ihr hin?“ rief Mario ihnen hinterher.

„Wir müssen was besprechen“, erwiderte Colin vage.

„Was ist denn los?“ flüsterte Chris, sobald Mario außer Sichtweite war. Seine Nerven waren zum zerreißen gespannt und er hatte fürchterliche Angst davor zu hören, was Colin ihm sagen wollte. Doch Colin schwieg. Er zerrte seinen Neffen hinter sich her in das Schlafzimmer von Amanda und Jonathan. Chris wurde heiß. Die Erinnerung an den lange vergangenen Abend schossen ihm durch den Kopf wie Bilder einer Diashow, die jemand zu schnell laufen ließ. Er bereute keine Sekunde davon. Colin drehte wieder den Schlüssel im Schloss.

„Ich habe ein Problem“, begann er schließlich. Chris setzte sich auf die Bettkante und wünschte sich so sehr, dass Colin zu ihm kommen würde, dass er es fast nicht schaffte seinen Worten zu folgen. „Eigentlich sind es zwei Probleme. Bitte hör einfach erstmal zu, okay? Es gibt niemand anderen, mit dem ich darüber reden könnte, sonst würde ich dich nicht damit belasten.“

Chris legte seine recht Hand auf die kühlen weichen Laken. Wieder schoss ihm die Wärme durch den ganzen Körper.

„Die erste Sache ist … na ja es sind Drogen“, begann Colin endlich und hob sofort abwehrend die Hände, als Chris den Mund aufmachte. „Bitte lass mich erst reden!“

Chris nickte resignierend und machte den Mund wieder zu.

„Also, Drogen … genau genommen Kokain. Das andere Zeug … ich meine, was anderes nehm ich nicht“, er grinste schief und Chris ahnte, dass er in diesem Punkt log. „Ich hab immer gedacht, das wäre kein Problem. Weißt du Kokain macht nicht physisch abhängig, dafür aber psychisch. Ich dachte, ich hätte es unter Kontrolle. Ich hab es nur ab und zu genommen, wenn ich mich völlig kaputt gefühlt habe. Tom hat es bemerkt. Er hat meinen gesamten Jahresvorrat einfach aus dem Fenster gekippt. Da – sind mir irgendwie die Sicherungen durchgeknallt. Wir haben uns wirklich heftig gestritten, bis ich mich einfach aus dem Büro verpisst habe. Unterwegs gingen mir tausend Möglichkeiten durch den Kopf, wie ich ihm das heimzahlen könnte. Ich habe mit dem Gedanken gespielt mich umzubringen, nur damit er es bereuen würde. Man, ich war so wütend, das kannst du dir nicht vorstellen! Aber … eigentlich weiß ich, dass er mich nur schützen wollte.

Und dann ist da noch etwas anderes. Mir geht unsere gemeinsame Nacht nicht mehr aus dem Kopf …“

Chris, der bis dahin mit gemischten Gefühlen zugehört hatte, wurde wieder heiß und dann kalt. Colin hatte sich endlich zu ihm auf das Bett gesetzt, dass er fein säuberlich wieder in Ordnung gebracht hatte.

„Ich muss ständig daran denken. Das hätte niemals passieren dürfen. Es tut mir wirklich Leid. Ich bin ein schrecklicher Mensch …“

Chris schüttelte sprachlos mit dem Kopf.

„Das Schlimmste ist“, Colin zögerte, unsicher ob er die nächsten Worte aussprechen sollte, oder sie lieber für sich behielt. Sein Blick sprach Bände über seinen inneren Zustand. Chris konnte ihn nur völlig gebannt anstarren und jeder klare Gedanke verschwand aus seinem Kopf.

„Das schlimmste daran ist, dass ich nicht aufhören kann daran zu denken und dass ich mir nichts mehr wünsche, als er wieder zu tun …“

Bevor Chris darüber nachdenken konnte, ja überhaupt verstehen konnte worum es eigentlich ging, lag er schon in Colins Armen, sog seinen Duft ein, als könne er niemals genug davon bekommen. Colins Küsse waren so leidenschaftlich, dass er fast vergaß zu atmen.
 

„Hast du es dir anders überlegt?“ fragte Mandy beiläufig.

„Warum sollte ich?“ meinte Chris etwas gereizt.

„Hätte ja sein können“, erwiderte sie enttäuscht. „Was hast du heute vor?“

Er sah sie verwirrt an und warf einen Blick auf Mario, der sie wachsam beobachtete.

„Eigentlich nichts. Hausaufgaben sind ja bis jetzt keine“, überlegte er.

„Ich habe bald Geburtstag“, platzte Mandy heraus. „Dieses Wochenende!“

„Ich auch“, sagte Chris trocken. Mandy sah ihn grinsend an.

„Echt?“

„Ja, am Samstag.“

„Wow, Chris! Wir haben am selben Tag Geburtstag!“ Sie schien ganz aus dem Häuschen zu sein, allein wegen dieser Tatsache.

„Vielleicht können wir zusammen feiern!“

Chris nickte nachdenklich.

„Es wär total schön, wenn mein Dad mal vorbeikommen würde“, sagte sie etwas traurig.

„Ist er nicht jeden Tag da?“ fragte Chris verwirrt.

„Nicht Rodrigo! Mein richtiger Dad!“ Sie betonte das Wort ‚richtig‘ als wäre es eine Art Zauberformel.

„Wer ist denn dein richtiger Dad?“ fragte Mario

„Ich habe keine Ahnung“, gab sie zu. „Zum Geburtstag und zu allen Feiertagen bekomme ich einen Brief von ihm. Es ist immer ziemlich viel Geld drin. Er schreibt ein paar Zeilen auf eine Postkarte, die in dem Umschlag liegt und unterschreibt sie dann mit K.T.J. Ich habe nicht die geringste Ahnung, wer er sein könnte.“

„Mysteriös“, sagte Mario und sah sie nachdenklich an. „Also müsste ich K.J. erraten in Zusammenhang mit viel Geld, dann würde ich auf Kevin tippen. Aber K.T.J. … kein Plan.“

Chris betrachtete Mario mit gerunzelter Stirn und schüttelte dann den Kopf.

„Oh man“, murmelte er nur und schob sein Tablett von sich.

„Wer ist Kevin?“ fragte Mandy etwas zu hoffnungsvoll.

„Chris Vater“, informierte Mario mit halbvollem Mund.

„Nein, das wäre zu krass“, tat sie die Idee ab.

Sie aßen noch eine Weile schweigend, bis sich die Kantine langsam leerte und Chris von seinem Platz aufsprang.

„Wir sehen uns in Englisch, Leute“, sagte er und huschte davon ohne sein Tablett mitzunehmen.

Mario stöhnte genervt.

„Kann er nicht einmal selbst abräumen?“ fragte er eigentlich niemanden und stand auch auf.

„Ach komm schon, du machst das doch gern für ihn“, ärgerte Mandy ihn sofort und Mario sah sie wütend an. Hätte er ihr nur nicht so viel erzählt!

Sie räumten ihre Tabletts und das von Chris weg und machten sich auf den Weg zu ihrem Chemiekurs, während Chris sich mit Biologie herumschlug. Allein vorn in der ersten Reihe, mit seinen Schlägern in einem Kurs. Doch das wusste er ja nicht. Mario war jedoch nicht besonders wohl bei dem Gedanken.

„Leute“, verkündete der Chemielehrer mit unheilvollem weißen Kittel bekleidet, als die beiden den Raum betraten. „Wir wechseln heute den Raum. Jemand hat es geschafft uns hier das Wasser abzudrehen und für unser heutiges Experiment ist Wasser ziemlich wichtig. Und zwar nicht nur zum Löschen.“

Die ganze Klasse dackelte hinter dem Lehrer mit dem Kittel her in einen anderen Gang des Schulgebäudes und Mario erkannte ihn als den, in dem Chris Biologie hatte. Er spähte in ein paar Räume und sichtete schließlich Chris, der etwas einsam auf seinem Platz saß, die Füße auf den leeren Stuhl neben sich gelegt und sein überdimensional dickes Lehrbuch auf den Knien. Er las wahrscheinlich nicht wirklich. Bevor Mario winken konnte, waren sie schon an dem Raum vorbei und blieben einige Türen weiter stehen.

„Ich wäre euch verbunden, wenn ihr nichts beschädigt. Mrs. Grady würde mich umbringen. Ich weiß, dass ist keine Drohung für euch, aber wenn ich ihre Wut zu spüren bekomme, dann gebe ich das gern an euch weiter!“

„Können wir das nicht einfach hinter uns bringen?“ fragte Mandy genervt und setzte ihre Tasche auf einem Tisch ziemlich weit vorn ab. „Kommst du zu mir?“

„Klar“, sagte Mario und zuckte mit den Schultern. Zu wem auch sonst?

Die Stunde begann ruhig und schlich monoton dahin, bis Mario fast ihren Tisch in Brand setzte. Doch das Problem war schnell gelöst und der Lehrer besänftigt, nachdem er die Unfallstelle besichtigt und als harmlos eingestuft hatte. Niemand rechnete im Traum mit dem, was als nächstes passierte.

Chris war halb über seinem Bio Buch eingeschlafen, als die Tür zu ihrem Klassenraum aufflog. Er fuhr hoch und blickte, wie seine 16 Mitschüler in den Lauf einer Waffe. Fast wäre Chris rückwärts vom Stuhl gefallen, doch letztendlich stolperte nur sein Herz ein paar Mal, bevor es anfing Marathon zu laufen. Ein recht schmächtiger Typ, mit zimtbraunem Haar stand dort in der offenen Tür. Chris hatte das seltsame Gefühl ihn schon einmal gesehen zu haben, wusste aber nicht wo er ihn einordnen sollte.

„Alle ganz ruhig bleiben und unter die Tische“, sagte der Mann mit der Waffe und richtete diese sogleich etwas ziellos auf die nervösen Schüler. Die Lehrerin sank nur schweigend unter ihren Tisch und Chris sah den Rest dieser skurrilen Aktion nichts mehr von ihr. Er rutschte unter seinen Tisch ohne nachzudenken und blickte unwillkürlich in Marc Olivers dunkle hasserfüllte Augen. In diesem Moment überkam es ihn wie ein Alptraum. Er sah Marc mit seinen beiden Kumpels in die Umkleidekabine stolzieren und dann …

„Was gaffst du Schwuchtel!“ Marcs Stimme überschlug sich fast in ihrem gebrüllten Flüstern.

„So bleibt schön brav und bewegt euch nicht von der Stelle, außer jemand von euch hegt einen ausgeprägten Todeswunsch!“

Marc Augen flammten auf, als er das hörte. Er sprang fast auf Chris zu, der sich instinktiv von seinem Angreifer wegrolle. Ein Aufschrei ging durch die Klasse und erst jetzt bemerkte Chris, dass er fast zu Füßen des Bewaffneten lag. Der Lauf der Waffe war auf ihn gerichtet. Er wartete nur darauf, konnte den Knall praktisch hören. Da musste etwas kommen, seien es Schmerzen oder der Tod, irgendwas. Doch quälend lang sah er nur den Lauf und dann ein paar brauner Augen, so identisch mit dem Haar, dass es fast unheimlich war. Chris fühlte sich wie zu Eis erstarrt, außer, dass ihm extrem heiß geworden war.

„Nicht ernsthaft?“ fragte der fremde Mann und hockte sich neben Chris, bis sie auf Augenhöhe waren. Die zimtbraunen Augen bohrten sich in Chris blaue, fast grüne. Eine Farbe wie das Karibische Meer. Dieselbe Farbe wie sein Vater sie hatte, wie Colin sie hatte. Die Hand des Fremden schoss vor und packte Chris am Kragen. Er war ziemlich stark für seine schmächtige Gestalt. Die Mündung der Waffe legte sich eiskalt an Chris Hals. Er hatte Mühe noch zu atmen.

„Wie heißt du?“

Die Frage verwirrte Chris so sehr, dass er den Braunhaarigen nur anstarren konnte.

„Sag es!“

Chris versuchte nach Luft zu schnappen, um genügend davon für seinen Namen zusammenzubekommen, doch seine Stimme blieb ein heiseres Flüstern.

„Christopher … Jenkins ….“, hauchte er.

Er wurde losgelassen und knallte rücklings auf den Boden. Den Schmerz spürte er vor lauter Angst kaum.

„Und du?!“ blaffte der Fremde jetzt Marc Oliver an und zerrte ihn unter seinem Tisch hervor. Alle Farbe war aus seinem Gesicht gewichen.

„Marc Oliver“, brachte er heraus.

„Und was denkst du dir dabei?!“ Chris rutschte ein paar Meter über den Boden davon. Der Fremde war so in Rage geraten, dass es nur noch Sekunden dauern konnte, bis er die Kontrolle verlor.

„Er ist ne Schwuchtel!“ hielt Marc dagegen, als müsse jeder verstehen, dass alle Schwuchteln sterben sollten. Der Blick des Fremden verhärtete sich.

„Ist das so?“ fragte er leise und drohend.

„Ja!“ sagte Marc mit zitternder Stimme. „Ja, man!“

Chris schlug die Hand vor die Augen, als er den Finger des Fremden am Abzug zucken sah. Dann folgte endlich der Knall, mit dem er längst gerechnet hatte und fegte Marc Olivers Leben aus seinem Körper. Die Angst verdrängte die entsetzten Schreie. Chris spürte, wie er am Arm gepackt wurde. Der Fremde zerrte ihn auf die Füße.

„Wir müssen reden, Christopher“, murmelte er und zog den vor Angst zitternden Jungen hinter sich her.

Hintern ihrem Rücken brach der Tumult los. Chris konnte hören wie Türen aufflogen. Doch er wurde ohne Zögern, ohne Gnade immer weiter die Treppen hoch durch das Schulgebäude gezerrt. Sein Herz hämmerte immer noch gegen seine Rippen, vor lauter Angst, dass jeder Schlag der letzte sein konnte. Sie waren in der obersten Etage angekommen. Unten war jetzt völliges durcheinander entstanden. Chris konnte einen Blick den Treppenaufgang hinunter werfen. Ihm war, als würde er Marios schwarzes Haar und Mandys blonden Schopf sehen, aber er konnte sich auch täuschen. Alles ging viel zu schnell.

„Da hoch!“ ordnete der Fremde an und stieß Chris auf eine steile Treppe. Die Treppe zum Dach. Chris kletterte die Stufen hoch, dicht gefolgt von dem Mann mit den zimtbraunen Haaren und zögerte, als er die Tür erreichte. Sie würde sicher verschlossen sein. Und dann? Der Mann drängt an ihm vorbei und stieß die Tür auf. Chris wurde hinterher gezerrt und krachend fiel die schwere Tür hinter ihnen zu. Ein heftiger Windstoß fuhr Chris in die Haare. Das Dach war leer, leer wie die Tanzfläche einer Disco wenn der Abend noch sehr jung war.

„Okay“, Chris wurde herumgewirbelt und wieder spürte er die Waffe an seinem Hals. „Ich werde dir ein paar Fragen stellen und du wirst sie mir beantworten, alles klar? Eine falsche Antwort und das war es mit dir!“

Das trug nicht unbedingt zu Chris Beruhigung bei, doch er brachte ein atemloses „Ja“, heraus.

„Kennst du Colin Jenkins?“

„Ja“, Chris fiel es schwer die Antwort herauszubringen. Wer wusste schon, wann sie richtig war und wann nicht?

„Schön … Wo ist er jetzt?“ fragte der Fremde etwas gierig und Chris wurde kalt. Er wollte Colin nicht ausliefern.

„B-Bei der Arbeit“, stammelte er möglichst vage.

„Ist er immer noch … Stripper?“

Chris schüttelte den Kopf so gut es ging.

Der Fremde wirkte erleichtert, sein Griff lockerte sich etwas und die Mündung seiner Waffe presste sich nicht mehr ganz so heftig gegen Chris Hals.

„Kannst du ihn für mich herholen?“

Das war die Frage, die Chris befürchtet hatte.

„Ich will nicht … will nicht, dass ihm etwas passiert und …“

Der feste Griff verschwand und er ließ die Waffe sinken. Chris taumelte einen Schritt zurück und starrte ihn an. Was ging in diesem Typen vor? Warum war er überhaupt hier und was zum Henker wollte er von Colin? Als er den Raum gestürmt hatte sah er nicht gerade danach aus, als hätte er wirklich einen Plan was er tun wollte.

„Du hast Recht. Ich benehme mich nicht besonders höflich. Aber … ich habe nicht damit gerechnet dich hier zu finden und … es hat mich einfach umgehauen. Als ich dich das letzte Mal gesehen habe warst du noch fast ein Baby. Na ja vielleicht drei Jahre alt.“

Chris Augen wurden immer größer. Er hatte also Recht. Er hatte diesen Mann schon einmal gesehen! Es war bloß zu lange her. Allerdings … nein. Er konnte sich an dieses Gesicht sicher nicht aus seiner frühen Kindheit erinnern. Aber vielleicht von einem Foto.

„Mein Name ist Dominic Jay“, gab er endlich Preis und Chris ging ein Licht auf. So viele alte Geschichten.

„Sie sind Colins bester Freund“, sagte er und kam wieder einen Schritt näher. Seine Angst hatte sich etwas gelegt.

Dominic lächelte etwas traurig.

„Ich war es vielmehr“, sagte er. „Wir haben uns seit Ewigkeiten nicht gesehen. Ich bin einfach vor ihm weggelaufen. Keine schöne Geschichte.“

„Darf ich sie trotzdem hören?“ fragte Chris.

„Wirst du Colin herholen?“ kam die Gegenfrage.

Chris biss sich auf die Unterlippe.

„Sie werden ihm nichts tun?“ fragte er unsicher.

Dominic lachte.

„Ich könnte ihm nichts tun, selbst wenn ich wollte. Eher würde ich mir selbst etwas antun. Das sollte dich überzeugen“, er lächelte schief. „Und bitte nicht so höflich. Ich habe dich gerade mit einer Waffe bedroht und einen Typen umgelegt, der dich scheinbar tot sehen wollte.“

Chris nickte. Er zog sein iPhone aus der Hosentasche und wählte Colins Nummer. Hoffentlich würde er ihn gleich erreichen.

„Du musst herkommen, Colin!“ sagte er bevor sein Onkel ihn Fragen konnte, warum er anrief. Noch dazu scheinbar mitten in einer Unterrichtsstunde. „In der Schule, auf dem Dach … nein … also … bitte komm einfach her. Ich … nein Colin das hab ich nicht vor! Komm einfach her, vertrau mir! Danke … ich dich auch.“

Chris legte auf und seufzte.

„Er denkt ich will mich umbringen“, sagte er und wischte sich die Haare aus dem Gesicht.

„Das wundert mich gar nicht“, sagte Dominic. „Willst du die Geschichte nun hören oder nicht?“

Unten hörte man Polizeisirenen heulen.

„Ich will!“

„Gut, komm mit!“

Sie überquerten das Dach. Chris war sich sicher, dass niemand sie sehen konnte und dass niemand sie hier vermutete. Wahrscheinlich suchten sie schon seine Leiche.

„Dort drüben“, Dominic deutete auf den Rand des Daches einige Meter vor ihnen. „Da hat er gestanden. Er wollte springen. Und weißt du warum? Weil Tom“, er sprach den Namen sehr verächtlich aus. „Weil Tom verschwunden war.“

Chris starrte schweigend auf die Stelle. Hier war es gewesen? Auf diesem Dach?

„Ich hab ihn zuerst entdeckt. Ich hatte mich gerade von dem Schock erholt, dass er diesen Tom liebte. Ich kam aus der Psychiatrie wieder und dachte, ich könnte neu starten. Die Nachricht von Toms angeblichem Tod hat mich regelrecht beflügelt!“

Chris fand das ziemlich makaber, schwieg aber. Tom war ja nicht tot gewesen. Nein, er hatte es sogar geschafft in der Zeit eine Frau zu heiraten und zu schwängern und einen vorlauten Sohn großzuziehen.

„Er stand einfach da. Ich wusste sofort, was er vor hatte. Ich kannte ihn gut genug um zu wissen, wie er unter Tom leiden musste. Ich rannte los um Hilfe zu holen. Die ersten die ich fand waren dein Vater, Davis und du.“

Chris riss die Augen auf. Er war hier gewesen? Am besagten Tag, als sich der Tod Colin fast geholt hätte, als er fast seinen Onkel verloren hätte den er mehr liebte, als es gut für ihn war?

„Dein Vater ist mit dir hier rauf“, erzählte Dominic weiter. „Er hat es geschafft ihn aufzuhalten, indem er dich Colin in die Hand drückte. Das hat ihn seine Meinung ändern lassen. Wir haben es also dir zu verdanken, dass er noch lebt.“

Chris spürte, wie er rot wurde. Ihm standen Tränen in den Augen. Unmöglich. So hatte ihm das noch niemand erzählt. Aber jetzt, wo er es hörte, wurde ihm vieles klarer. Er erinnerte sich an Colins Worte.

Ohne dich wäre ich nicht hier.

Jetzt hatte plötzlich alles einen Sinn.

„Und dann?“ fragte Chris leise und schlang die Arme um seine Brust. Ihm war kalt, denn der Wind auf dem Dach war frisch.

Dominic sah ihn von der Seite an, die Arme verschränkt und die Waffe fast unter die Achsel geklemmt. Einen Moment schien er zu überlegen, dann begann er seine Geschichte. Sie würden noch etwas Zeit haben, bevor Colin kam.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  ReinaDoreen
2009-09-17T18:57:01+00:00 17.09.2009 20:57
Ich find die Entwicklung zwischen Colin und Chris überhaupt nicht gut. Obwohl ja schon alles darauf hingedeutet hat in den anderen Kapiteln hab ich gehofft das es nicht passiert. Ob Colin wirklich glaubt, das Tom das nicht merken wird? Vor allem da es ja nicht nach einer einmaligen Sache aussieht. Und was wird dann?
Als nächstes dieser Dominik: Was will der von Colin?
Reni


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