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Die Anstalt

Nikolai und Raith
von

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Room Four

- Can you see

My eyes are shining bright

'Cause I'm out here

On the other side -
 

Room Four
 

Raith war begierig den Neuen endlich zu sehen. Was war falsch an ihm? Hatte er zwei Persönlichkeiten? Halluzinationen? Phobien? Panikattacken? Er war neugierig und wollte es unbedingt herausfinden. Mit der Zeit hier in der Anstalt hatte er viel mitbekommen von diversen Krankheiten und ihren Symptomen. Er kannte auch seine Krankheit ziemlich gut. Sie nannten es Affektive Störungen, was nichts anderes Bedeutete, als das sich bei ihm Depressionen und Manie in bestimmten Zyklen ablösten. Raith war sich dessen bewusst, dass bei ihm gerade die manische Phase eingesetzt hatte. Doch es war ihm egal. Er ließ es zu, versuchte gar nicht erst irgendetwas zu unterdrücken und die Neuroleptika schlugen schon seit langem kaum noch an. Wellington schien davon nichts zu bemerken. Er hatte Raith noch nie darauf angesprochen. Doch manchmal fragte sich Raith, ob der Pfleger wirklich alles aussprach, was er dachte. Oft, immer wenn er an Orten war, wo er nicht hätte sein sollen, hatte er mitbekommen, dass Wellington Probleme mit der Leitung der Anstalt hatte, doch in seinem Auftreten hatte er nie etwas davon verlauten lassen. Raith machte sich Sorgen. Und immer wenn seine Sorgen zu groß wurden, wechselte seine Raserei in Depression.

Auf leisen Sohlen lief Raith an einem Raum vorbei. Es war Zimmer 119. Hier war vor ein paar Wochen ein Irrer mit einem Küchenmesser auf einen Pfleger losgegangen. Raith hatte es beobachtet. Wellington hatte eingegriffen, dabei sein eigenes Leben riskiert, den Kollegen gerettet, doch der arme Irre war dabei draufgegangen. Nur, weil Wellington seinen Kollegen vor dem Tod bewahrt hatte, feuerte man ihn nicht. Raith hatte zu der Zeit eine seiner schlimmsten Depressiven Phasen seit langem mitgemacht. Jetzt war der Raum nicht mehr leer. Raith war fast jeden Tag hier entlanggekommen. Man hatte die Tür verriegelt gehabt. Nun stand sie offen. Raith spähte hinein, wollte nicht gesehen werden. Hier mussten sie den Neuen untergebracht haben! Und er hatte Recht. Ein zierlicher, dunkelhaariger Junge saß auf seinem Bett. Fabian Wellington hatte sich neben ihm niedergelassen und beide unterhielten sich leise. So war es immer. Wellington war jedes Mal der erste, der einen neuen, ihm zugeteilten Patienten besuchte und ein langes Gespräch mit diesem führte. Sein Einfühlungsvermögen schien keine Grenzen zu kennen. Raith allerdings konnte das nur vermuten, denn als er vor vielen Jahren hier her gekommen war, hatte es noch keinen Fabian Wellington gegeben. Zu gern hätte er gewusst, worüber Wellington so lang mit den Patienten sprach. Wusste er Dinge, die die Leute beruhigen konnten? Nach den langen Gesprächen wirkten die Irren, wie Raith sie für sich nannte, immer seltsam normal. Zumindest für eine kurze Zeit.

Helles Licht drang durch das vergitterte Fenster des Zimmers, es traf auf Wellingtons Haar und schien noch einmal doppelt so stark aufzuleuchten. Raith kam es immer unwirklich vor, dass Wellingtons braunes Haar so glänzen konnte, doch er genoss den Anblick. Selbst wenn es eine Halluzination sein sollte akzeptierte Raith das nicht. Er traute seinen Augen, egal was die anderen sagten. Und er traute seinen Augen, wenn durchscheinend weiße Flügel aus Wellingtons Schultern sprossen, wie jetzt. Fasziniert betrachtete Raith das Spektakel. Wellington war ein Engel, daran bestand kein Zweifel. Raith schlich näher an die Tür, in der Hoffnung das Gespräch belauschen zu können. Doch nur ein sanftes Murmeln kam bei ihm an. Wellingtons ruhige Stimme erlaubte keine ungebetenen Lauscher.

Raith zog einen Schmollmund, doch tun konnte er nichts, deshalb zog er sich von der Tür zurück. Die ganze Energie die ihn hergeführt hatte, war plötzlich wie weggewischt. Er musste sich eingestehen, dass es ihm nicht gefiel seinen Wellington mit einem anderen zusammen zu sehen. Egal, ob es nun ein Junge, ein Mädchen oder ein Kind sein mochte. Fabian Wellington gehörte allein ihm. Raith ließ sich auf dem Fußboden nieder, einige Meter entfernt von Zimmer 119 und schlang die Arme um seine Knie. Seine Gedanken rasten immer noch, doch er spürte, wie langsam die Depressionen zurückkehrten. Die Schwankung ging viel zu schnell vonstatten. Das war nicht gut. Aber Raith fehlte das nötige Bewusstsein um seine Probleme zu erkennen und zu bearbeiten. Die Ärzte stuften ihn als naiv ein und selbst Wellington belächelte sein Verhalten oft. Doch Raith konnte ihm das verzeihen, denn Wellington war die Welt für ihn geworden. Er wusste nicht, wie lange er dort auf dem Boden saß, er spürte nicht, wie seine Knochen anfingen zu schmerzen und er nahm kaum wahr, dass Fabian Wellington neben ihm stand und ihn beobachtete. Auch der Neue hatte sich aus seinem Zimmer gewagt. Etwas wie Angst stand in seinem Blick. Wellington ging in die Knie.

„Raith“, sagte er, doch die Reaktion darauf blieb aus. „Raith?“

„Was hat er?“ fragte der Neue etwas atemlos und endlich konnte Raith sich aufraffen. Er hob den Kopf und betrachtete den schwarzhaarigen Neuankömmling. Er war eigentlich ziemlich unauffällig, bis auf seine dunklen Haare. An ihm war nichts Besonderes. Aber auch an Raith war nichts, was man als besonders einstufen konnte. Was, wenn Wellington diesen dunkelhaarigen Burschen aus unerfindlichen Gründen Raith vorziehen würde?

„Nikolai“, sagte Wellington und wandte sich zu ihm um. „Bitte, gehen Sie zurück in Ihr Zimmer.“

Der Schwarzhaarige nickte und verschwand. Raith starrte auf den Punkt, an dem er noch eben gestanden hatte.

„Raith“, nahm der junge Pfleger das Gespräch wieder auf. „Was ist mit Ihnen?“

„Da ist … wieder diese Leere“, sagte Raith. Er selbst fand, dass seine Stimme entrückt wirkte, als käme sie gar nicht von ihm, als höre er jemand anderen sprechen.

„Eine neue depressive Phase“, murmelte Wellington und zog seinen Pieper aus der Tasche. „Es muss von irgendetwas Bestimmten ausgelöst werden. Ihre Phasen wechseln zu unregelmäßig, Raith. Ich werde Doktor Mathey holen müssen.“
 

„Haben Sie ihm Antidepressiva gegeben?“ fragte Doktor Mathey streng. Sie war eine Frau in höherem Alter, sie Haare streng zurückgekämmt und steckte in einem ordentlichen weißen Kittel.

„Nein, Frau Doktor. Er hat Neuroleptika bekommen, weil noch heute früh alles auf die manische Phase hingewiesen hat. Carpenter war unruhig, hat viel geredet und konnte seine Gedanken nicht ordnen. Diese Stimmung ist scheinbar ganz plötzlich umgeschlagen.“

Die Ärztin nickte beiläufig, notierte einiges in Raith Krankenakte, wobei sie einen altmodischen Füllfederhalter benutzte.

„Ich denke, es muss dafür einen speziellen Auslöser geben. Seine Phasen sind stark unregelmäßig“, fügte Wellington hinzu und betrachtete seinen Patienten eingehend.

„Was denken Sie könnte dieser Auslöser sein, Herr Wellington?“

„Veränderungen in seinem Umfeld. Aber ich bin mir nicht sicher.“ Es gab irgendetwas hier, direkt hier in der Anstalt, das Raith Carpenters Emotionen beeinflusste. Doch der junge Pfleger konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was es sein konnte. „Vielleicht sollten wir ihn einige Tage lang von den anderen abschotten. So können wir herausfinden, ob es wirklich ein äußerer Einfluss ist, oder ob Carpenter von inneren Konflikten geleitet wird.“

Doktor Mathey betrachtete Raith eingehend über den Rand ihrer Lesebrille hinweg und seufzte dann.

„Das gefällt mir nicht, aber Sie haben Recht Wellington. Er muss eine Weile von jeglichen äußeren Einflüssen abgeschottet werden. Keine unbekannten Pfleger und keine anderen Patienten. Nur Sie und er Wellington. Sollte es eine Veränderung geben, piepen Sie mich an.“

„Ja, Doktor“, sagte Wellington und betrachtete Raith nachdenklich, während die Ärztin den Raum verließ. Seine hellen blauen Augen waren an die gegenüberliegende Wand gerichtet, Licht fing sich in ihnen und brachte sie auf eine sonderbare Weise zum leuchten. Einige Strähnen seines hellblonden Haares hingen ihm verwegen in die Stirn.

So jung, dachte Wellington und schüttelte traurig mit dem Kopf, so jung und trotzdem wird er diesen Ort vielleicht nie wieder verlassen.



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