Haze
„Lasst den Tatort gesichert und achtet darauf, dass niemand den Platz betritt“, grummelte er und seufzte schwer, als er sich das ganze Ausmaß des Verbrechens der vergangenen Nacht betrachtete. Wenn er darüber nachdachte, dass die Zeitungen bereits in ihrer Morgenausgabe Dinge geschrieben hatten, die noch gar nicht sicher war, bekam er Kopfschmerzen. Wer sollte das nur wieder gerade biegen?
Außerdem machte er sich längst auf ungebetenen Besuch gefasst.
„Vor allem nicht diese eine Person.“
„Von wem sprecht Ihr, Sir Arthur Randall?“
Der Angesprochene zuckte mit der Augenbraue, als er die Stimme des Menschen vernahm, der wirklich überall seine Nase hineinstecken musste.
Der junge Adlige trat, mit seinem Butler wie selbstverständlich an seiner Seite, auf ihn zu und lächelte auf diese übliche überhebliche Art und Weiße, die Arthur Randall jedes Mal wütend aufknurren ließ.
Doch er versuchte sich zu beherrschen.
„Was sucht Ihr hier, Graf Phantomhive?“, fragte er stattdessen so ruhig es ihm möglich war und ohne aus seiner Stimme herausklingen zu lassen, wie wenig er diesen Jungen mochte.
„Ich möchte mich erkundigen, um welche Art Opfer es sich handelt“, lächelte der Junge und hielt den Brief mit dem Siegel der Königin hoch, als wäre es selbstverständlich. Nun gut, das war es eigentlich auch. Zumindest für den „Wachhund der Königin“.
Randall zischte leise und seufzte dann.
„Die meisten Fakten darüber stehen bereits in der Zeitung“, meinte er und ließ sich dann von einem seiner Kollegen die Unterlagen geben, ohne jedoch die Absicht zu hegen, sie dem Grafen zu zeigen.
„Ich denke nicht, dass mit diesen Fakten etwas anzufangen ist“, erklärte der Earl gelangweilt und irgendwie fragte Randall sich, was mit diesem Jungen nicht in Ordnung war.
„Verzeiht, aber Ihr haltet meine Männer und mich von der Arbeit ab“, würgte Randall das Gespräch ab und wandte sich um, als wäre der Graf bereits gegangen.
Dieser lachte leise und zuckte mit den Schultern.
„Nun gut“, meinte er und drehte sich ebenfalls um. „Komm, Sebastian.“
„Nie bekommt man aus diesem Mann etwas heraus“, seufzte Ciel, als er mit Sebastian den bekannten Weg zur einzig verlässlichen Quelle in dieser Stadt ging. Ihn schauderte es bereits jetzt.
Sebastian hüllte sich seit ihrem kurzen Gespräch in der Kutsche in Schweigen und Ciel fragte sich, ob der Butler einfach nur keine Lust zum reden oder seine Zunge verschluckt hatte.
Langsam drehte er seinen Kopf etwas nach hinten, um den Dämon ins Auge zu fassen und sein Gesicht kurz zu mustern. Sebastian wirkte so, als würde er die Blicke nicht bemerken, doch er wusste es einfach besser. Diesem Mann entging nichts.
Wie sollte Ciel nur jemals klar ausdrücken können, was für verwerfliche Gedanken ihn so oft ereilten, wenn er Sebastian ansah oder nur an ihn dachte? Er wusste es nicht. Sicher würde dieses Spiel ewig so weitergehen.
Schnell wandte der Earl seinen Blick nach vorn, als Sebastian ihm nun doch ins Gesicht sah. Was sollte dieser Blick? Irgendwie lag in den roten Augen für einen Moment neben einfacher Belustigung noch etwas anderes, fremdes, dass man nicht ganz einordnen konnte.
„Junger Herr? Wir sind da“, holte Sebastians Stimme Ciel nach einer Weile wieder aus den Gedanken und blieb vor dem nicht wirklich einladendem Geschäft stehen.
Sein Blick wurde leidend. War das wirklich immer die einzige Möglichkeit an brauchbare Informationen zu gelangen? Irgendwann würde er noch mal genauso verrückt wie die Person, die hinter der alten Tür auf ihn wartete.
Seufzend ließ er sich von Sebastian die Tür öffnen und trat in den verstaubten, kleinen Laden ein, der ihn immer wieder mehr an eine Gruft als an alles andere erinnerte. Wahrscheinlich war da sogar noch etwas dran.
„Undertaker?“, fragte er in den leeren Raum hinein und sah sich bereits um, ob sich nicht wieder einer der Särge - die an allen Wänden standen und lagen – öffnete. Doch die Horrorshow blieb aus, stattdessen schwang eine Hintertür auf und gesuchte Person trat in den dunkel Raum, um sich irgendwie fragend umzusehen und dann breit zu grinsen.
„Graf, lange ist es her“, meinte er mit seiner schleppenden, wirklich unheimlichen Stimme und wirkte tatsächlich etwas erfreut über seinen Besuch. Ciel zuckte leicht mit der Augenbraue und seufzte.
Langsam kam der Undertaker auf die beiden Gäste zu und schon begannen seine Augen zu glitzern.
„Ich habe den Gedanken, ich weiß weswegen ihr hier seid, Graf“, hauchte er und grinste dann erneut breit. Ciel verdrehte die Augen und nickte.
„Aufgrund der Vorfälle der letzten Nacht“, erklärte er und ließ sich von der schaurigen Gestallt in Form eines Bestatters mitziehen. Sebastian folge ihnen schweigend und stellte sich neben den Sarg auf den sich Ciel setzte und sogleich ein „Glas“ voll Tee in die Hand gedrückt bekam.
Auf die angebotenen Knochenkekse jedoch, verzichtete er gern.
„Ihr habt Glück, heute erhaltet Ihr meine Dienste kostenlos“, lachte der Undertaker und drehte den Kopf kurz schwankend hin und her. Konnte jemand noch verrückter sein?
„Hast du etwas auffälliges an den Opfern der vergangenen Nacht gefunden?“, fragte Ciel frei heraus und brachte seinen Gegenüber schnell, irgendwie schon aufgeregt zum nicken.
„Ich habe lange nicht mehr so schnell eine Lieferung bekommen“, meinte er und Ciel verzog etwas das Gesicht. „Lieferung“ war eigentlich nicht ganz das richtige Wort.
„Und die Kunden sahen sich alle sehr ähnlich, aber man erkannte auch leider nicht mehr sehr viel von ihnen. Schade, schade, aber eines hatten sie wohl alle“, erklärte der Undertaker grinsend und hatte es nun geschafft Ciels gesamte Aufmerksamkeit zu wecken.
„Was?“, fragte der Earl. Sein Gegenüber lachte langsam und deutete dann auf einen seiner Särge.
„Eine Zeichnung auf dem Brustkorb. Sehr saubere Arbeit, wenn man bedenkt, dass ihr Körper gänzlich unkenntlich hier her gebracht wurden.“
Ciel blinzelte kurz, wagte aber nicht, einen direkten Blick auf das sich im Sarg befindliche zu werfen. So stark waren seine Nerven heute nicht, obwohl er genug gesehen hatte, um abgebrüht zu sein.
„Eine Zeichnung?“, erhob Sebastian mit einem Mal seine Stimme wieder und blickte den Undertaker abwartend an, der noch breiter Grinste.
„Ich sehe, Ihr wisst worauf ich hinaus möchte, Mr. Butler“, lallte er und stand auf, um den Deckel eines Sarges zu öffnen und Sebastian hinein blicken zu lassen. Ciel verbot sich aufzustehen, sein Bedarf an Leichen war eigentlich gedeckt. Sein Butler hingegen nickte ganz fachmännisch und trat dann wieder auf seinen Herrn zu. Er zückte Stift und Papier - wenngleich sich Ciel auch nicht sicher war, woher so plötzlich – und schien etwas aufzuzeichnen. Dann hielt er ihm den Zettel hin und erhaschte sofort Ciels misstrauischen Blick, ehe der das Blatt in beide Hände nahm.
Wie konnte das sein?
„Wie Ihr seht, ist das eine interessante Gemeinsamkeit. Gewiss ist Ihnen nicht entgangen, was die Zeitungen schreiben, Graf“, summte der Undertaker und knabberte an einem seiner Knochenkekse.
Der junge Earl nickte langsam.
„Ein Mörder, fünf Leichen...eine Stunde“, meinte er und sah den Bestatter an, der auf seine Worte nur breit grinste.
Dieser Fall begann merkwürdige Züge anzunehmen.
„Was hat das zu bedeuten, Sebastian?“
Damit schnitt Ciel ein Thema an, über das sie - seit sie in die Villa zurückgekehrt waren – keine einzige Silbe verloren hatten.
Der Earl saß in seinem Sessel im Arbeitszimmer und besah sich die Fakten die er bisher gesammelt hatte. So auch den Zettel, den ihm Sebastian gegeben hatte. Ein Indiz, dass ihn nicht nur einfach verwirrte, sondern auch ein wenig ängstigte, selbst wenn er es niemals zugeben würde.
„Was denkt Ihr, junger Herr?“, fragte der Butler hingegen und stellte vor Ciel eine Tasse Tee ab. Irgendwie benutzte Sebastian diese Anrede heute mehr als häufig. Das war sonst nicht seine Art.
„Ich denke, dass nur du mir eine Erklärung geben kannst“, erwiderte Ciel so gelassen wie möglich und sah dem Dämon in die Augen, der seine Lippen zu einem leichten Grinsen verzog.
„Eure Auffassungsgabe erstaunt mich.“
Ciel verzog leicht das Gesicht bei den Worten seines Butlers.
„Deine Frechheiten verärgern mich, Sebastian“, knurrte er kühl und sah dem anderen fest in die Augen, der nur schmunzelte, bevor er sich leicht verbeugte. Wie immer, nahm er alle Drohungen seines Masters nicht wirklich ernst.
„Verzeiht“, meinte er und sah dem Earl dann ins Gesicht. „Es ist wie Ihr vermutet, dieses Zeichen sieht dem unseren sehr ähnlich.“
Der Junge nickte und besah sich die feine, mit Sicherheit fehlerfreie Zeichnung seines Butlers genau. Die Linien die sich kreuzten, die unleserlichen Zeichen an den Rändern und das komplette Pentagramm.
Sollte es sich um irgendeine Sekte handeln, wie konnte es scheinbar etwas mit Sebastian zutun haben? Aber war dem so?
„Aber es ist dennoch nicht dasselbe“, sprach der Butler dann, als hätte er Ciels Gedanken gelesen. Der schauderte merklich.
„Sondern?“
Sebastian lächelte verhalten.
„Die Inschrift ist anders“, meinte er und brachte Ciel verwirrt zum blinzeln.
„Ich bin dieser Sprache nicht mächtig, Sebastian“, murrte er und irgendwie klag es im Nachhinein fast wie eine Drohung.
„Möchtet Ihr die Bedeutung erfahren?“, folgte sogleich Sebastians Frage, mit der Ciel irgendwie gerechnet hatte. Selbstverständlich wollte er es wissen.
Er nickte und kaum hatte er dies getan, bereute er seine Entscheidung sogleich.
Sebastians Augen färbten sich purpurn, als sich seine Lippen öffneten, ohne danach eine weitere Bewegung zu tun. Dann wehte ein leiser Singsang durch den Raum, der Ciel geschockt erschaudern ließ. Er verstand kein Wort und doch, hatte er das Gefühl Sebastian niemals deutlicher hatte sprechen hören.
In seinem Körper machte sich ein verräterisches Kribbeln breit, dass gerade so gar nicht zu dieser Situation passen wollte und so sehr er es auch zu ignorieren versuchte, es gelang ihm nicht.
Der weiche Klang, der durch die Luft wehte, schien seine letzten Takte zu erreichen und von jetzt auf gleich, herrschte wieder triste Realität. Für Sebastian zumindest.
„Es bedeutet: Tor des Hades“, erklärte er in Ciels Sprache und lächelte so wie immer. Ganz, als wäre gerade nichts Außergewöhnliches geschehen. Für ihn war auch alles normal, wie es schien. Ciel hingegen rutschte möglichst unauffällig auf seinem Stuhl hin und her und hoffte, seinem Butler würde dies nicht auffallen.
Es waren nur ein paar Brocken aus Sebastians Sprache gewesen. Nur zur Vorführung, nicht zu „Verführung“! Dennoch fühlten sich Ciels Beine an, als hätte man sämtliche Knochen entfernt, sein Körper war regelrecht geladen, von all den verführerischen Eindrücken, die Sebastian ihm gerade gegeben hatte.
Seine Konzentration war am Ende, so konnte er doch unmöglich weiter ermitteln. Erst recht nicht, solange Sebastian da so selbstverständlich vor seinem Schreibtisch stand und vergnügt grinste.
„Ich...ich verstehe...“, lächelte der Earl und überlegte sich bereits, welche Ausrede er benutzten konnte, um schnell diesen Raum zu verlassen. Sebastian musste ja nicht alles wissen.
„Ich bin sofort wieder da“, sprach Ciel, stand auf und verließ so schnell er konnte den Raum. Er musste dringend in ein Bad.
Ein feines Grinsen breitete sich auf den Lippen des Butlers aus, während er sich langsam an den Schreibtisch lehnte und die geschlossene Tür betrachtete. Es war nicht so, als wäre es Sebastian nicht bewusst, was der Grund für das plötzliche Verschwinden seines Herrn war. Ganz im Gegenteil.
Es war ein Test, nichts weiter und doch war er sogar ein klein wenig erstaunt über diese Reaktion. Er hätte die Inschrift nicht aussprechen brauchen, eine einfache Erklärung über den Sachverhalt hätte genügt.
Doch er hatte sich nicht beherrschen können. Allein der Klang dieser Sprache reichte aus, um einen Menschen bis ins Mark seine versteckte Erregung spüren zu lassen. Das schien auch vor seinem Master nicht halt zu machen. Umso erfreuter war der Dämon, über die deutliche Reaktion.
Es kribbelte ihm gerade zu in den Fingern, Hand an diesen Jungen zu legen. Sein junger Herr war kein Kind mehr und nun wurde es Zeit, sich etwas näher an diesen hübschen Körper zu wagen.
Vielleicht war es die lange Durststrecke, auf seine Seele zu warten, vielleicht aber auch ein einfach Verlangen, dass Sebastian dazu verleitete, solche Gedanken zu hegen. Aber nichtsdestotrotz lag dies in der Natur eines Dämons.
Sein Blick fiel auf das Stück Papier, auf dem das fein gewebte Pentagramm zu erkennen war, dass Ciel scheinbar etwas irritierte.
Dieser Zufall mochte ihm gar nicht gefallen und doch wollte er sich nicht vorstellen, was geschah, wenn hier in der Nähe ein weiteres Wesen seines Schlages auftauchte. Vielleicht waren es aber auch nur wieder dumme Menschen, die glaubten, diese Komplexen zusammenhänge zu verstehen.
Schwer atmend stützte sich Ciel an der verkachelte Wand ab. Er versuchte nach Luft zu schnappen, doch es wollte ihm nicht gelingen. Die Luft in diesem Raum war in den letzten Minuten sehr dünn geworden.
Vorsichtig hob er seine Hand und besah sich das Ausmaß seiner Lust mit einem belegten Blick. Wie konnte er sich nur so verlieren? So fallen lassen?
Es war wirklich nicht das erste Mal, dass er sich „herabließ“ an sich selbst Hand zu legen, aber genau das war wohl das ganze Problem. Alles in ihm drehte sich um, befasste sich mit und geschah im Hinblick auf...Sebastian!
Das er solches enormes Interesse an seinem Butler hegte, war schlimm genug. Aber das dieser scheinbar vorhin genau gewusst hatte, welche der fremdklingenden Silben er wie verwenden musste, machte dem Grafen wirklich sorgen. Sebastian schien genau damit gerechnet und diese Reaktion erwartet zu haben. Sonst hätte er nachgefragt, warum sein Herr so schnell verschwunden war.
Ciel spürte wie sein Gesicht heiß wurde. Das war wirklich peinlich, nicht auszudenken, was der Butler dachte, wenn er Ciel mal in so einer Situation sehen würde. Aber was genau würde geschehen? Abwenden würde und könnte er sich nicht. Sich kommentarlos umdrehen, passt zwar zu ihm, aber Ciel bezweifelte, dass Sebastian das tatsächlich tun würde.
Sein Körper wurde erneut von einem heftigen Schauer eingeholt, als er daran dachte, dass Sebastian ihm vielleicht sogar zur „Hand“ gehen würde. Die Vorstellung allein, ließ ihn für den Moment alles weltliche vergessen.