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Bilder unserer Zeit

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Ein Abschlussball für die Gefühle (2000 / 03)

6. Kapitel – 2000 (März)
 

Etwas niedergeschlagen mache ich mich über die Erdbeertorte her, die Jamie heute nach seinem Unterricht mit nach Hause gebracht hat. Auch wenn ich ein absoluter Tortenfan bin, kann mich das derzeit nicht besonders gut aufheitern.
 

Seit ich von Zack bereits die dritte kurzfristige Absage erhalten habe, vergrabe ich mich in meiner Arbeit und bade in meinem Selbstmitleid. Keine Entschuldigung hilft mir über den Schmerz in meiner Brust hinweg. Ich will ihn nur endlich wieder in die Arme schließen können.
 

„Ich hoffe du bist heute Abend besser drauf“, nölt Jamie neben mir, steckt seine Gabel in das Tortenstück vor ihm und wirft mir einen besorgten, wenn auch leicht vorwurfsvollen Blick zu. „Ich hab dich vor ihm gewarnt!“
 

„Lass es“, bitte ich ihn leise, schiebe meinen Teller von mir und seufze einmal. Ich greife nach meiner Zigarettenpackung und will mir eine Kippe herausnehmen, als ich frustriert feststelle, dass bereits keine mehr da ist.
 

„Du hältst nur unnötig an der Vergangenheit fest. Warum konntest du dich von allem lösen, nur von ihm nicht, zum Teufel?“, keift Jamie und ich bemerke wie er ernsthaft wütend auf mich ist.
 

Ruckartig stehe ich auf, pfeffere meine Zigarettenpackung von mir und funkle ihn zornig an. Auch wenn er mein über alles geliebter kleiner Bruder ist, so hat er dennoch kein Recht auf diese Art und Weise mit mir zu reden.
 

„Ich habe mich überhaupt nicht gelöst, okay? Und schon gar nicht von meiner Vergangenheit! Halt dich aus diesen Dingen raus, denn du hast keine Ahnung!“
 

„Ach nein?!“, brüllt Jamie mir nun entgegen. Auch er ist aufgesprungen.
 

„NEIN!“
 

Damit rausche ich aus der Küche, knalle die Türe hinter mir zu.
 

Ich bin aufgewühlt, schrecklich nervös und irgendwie auch orientierungslos. Schon seit zwei Monaten geht das so zwischen mir und Jamie. Das Zusammenleben bekommt uns scheinbar kein bisschen. Der April steht vor der Tür, aber ich habe in den vergangenen Wochen weder Zack zu Gesicht bekommen, noch mich mit Jamie versöhnt oder mich auch nur einmal im Back Raven blicken lassen.
 

Erich hat neue Leute eingestellt und mir die Verantwortung für den Laden übertragen. Allerdings werde ich nur dann gebraucht, wenn einer krank wird oder er zu seiner Familie fährt, was er in letzter Zeit recht häufig getan hat.
 

Auch Thomas habe ich nur selten gesehen, weil er mit seiner neuen Ausbildung voll auf beschäftigt ist. Und mein kleiner Bruder treibt sich oft mit seiner Angebeteten herum sodass wir uns nur ab und an über den Weg laufen und dann auch gleich miteinander streiten.
 

Ich komm mir so überflüssig vor. Und einsam bin ich ebenfalls.
 

Lustlos schnappe ich mir meine Jacke, türme aus der Wohnung, die mir in diesem Moment so eng vorkommt und mir die Luft abzuschnüren scheint. Ich kann einfach nicht mehr atmen.
 

Mein Handy klingelt wiederholt in meiner Hosentasche, aber ich habe keine Lust mit jemandem zu reden. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist es mein kleiner Bruder, von dem ich gerade die Schnauze voll habe.
 

Ziellos wandere ich durch die Straßen, gehe durch die Fußgängerzone und schlendere einfach umher, doch nichts scheint mich wirklich abzulenken. Als mir das Gedränge zu groß wird mache ich mich auf den Weg zu einem nahe gelegenen kleinen Park.
 

Als ich den Eingang erreiche, seufze ich erleichtert und auch befreit auf. Ich rutsche auf dem nassen Gras ein Stück weit hinunter und suche mir im Schutz der Bäume eine Nische, in der ich mich verkriechen kann.
 

Früher habe ich das auch so gemacht. Wenn mir die Dinge zu viel wurden, habe ich mir immer eine Ecke gesucht, in der ich mich verstecken konnte. Zumeist in meinem Kleiderschrank, der schön dunkel war und eine beruhigende Wirkung auf mich hatte.
 

Heutzutage bin ich allerdings zu groß für den Schrank.
 

Ich wünschte, dass ich noch Zigaretten hätte, aber ich bin ohne Geldbörse aus dem Haus gegangen und kann mir keine ziehen. Mein Leben verläuft derzeit in unkontrollierbaren Bahnen. Nichts scheint mehr so recht zu funktionieren.
 

Müde lehne ich mich zurück, lasse die Wolken an mir vorbeiziehen und bemerke wie beiläufig die schwarze Front, die sich rasch auf mich zu bewegt. Regnen wird es also auch noch. Ehrlich, beschissener könnte es gar nicht sein.
 

Vermutlich stundenlang sehe ich der Dunkelheit zu wie sie sich vor meinen Augen ausbreitet. Ich will nicht über mein Leben nachdenken. Denn ich weiß, dass mich alle Überlegungen nur wieder zu einem einzigen Punkt führen werden. Und meinen Vater würde ich am liebsten aus meinem Kopf streichen.
 

Anders als Jamie behauptet hat, habe ich rein gar nichts hinter mir gelassen. Ich lebe einfach nur. Jeden Tag flüchte ich mich in die Routine meiner Arbeit, vermeide so jeden schwachen Moment. Sobald ich allerdings im Bett liege und auf den Schlaf warte, verfolgen mich die Dämonen der Vergangenheit und ich erlebe immer und immer wieder die Schläge und Demütigungen. Ich habe Alpträume, aus denen ich schweißgebadet aufwache.
 

Deswegen schläft Jamie auch auf der Couch im Wohnzimmer. Ich kann es vor ihm geheim halten und ihm die Stütze sein, die er braucht. Auch er träumt hin und wieder schlecht, wälzt sich im Bett und ruft sogar manchmal nach unserer Mutter, aber ich bin jedes Mal bei ihm und wecke ihn auf. Mein Schlaf ist nur leicht.
 

Ein erneutes Handyklingeln reißt mich aus meiner Grübelei und geistesabwesend melde ich mich. Auch wenn ich mir kurz darauf vor Ärger auf die Zunge beiße.
 

„Rapha, mein Gott, wo bist du?“, keucht Jamie in den Hörer und ich vernehme schnelle Schritte im Hintergrund. Mehrere.
 

„Mir geht es gut.“
 

„Wirklich?“, hakt er noch einmal nach. „Komm nach Hause, ich mache mir Sorgen!“
 

„Ist gut. Ich komme“, lege ich auf, erhebe mich mit steifen Gliedern, die ich einmal in alle Richtungen hin ausstrecke. Jetzt erst bemerke ich meine kalten Finger. Ich vermeide den Blick auf die Uhr. Eigentlich will ich es auch gar nicht wissen.
 

Eher schlurfenden Schrittes mache ich mich auf den Heimweg. Es hat mir nichts gebracht mich zu verstecken. Keines meiner Probleme hat sich auch nur um einen Deut verändert.
 

Mit schwerem Herzen biege ich nach einer halben Ewigkeit in meine Straße ein und zucke bei dem markerschütternden Schrei zusammen, der beinahe gleichzeitig mit meinem Auftauchen ertönt.
 

„RAPHA!“, brüllt mein kleiner Bruder, stürmt mir entgegen und reißt mich fast von den Füßen, als er sich mir überschwänglich in die Arme wirft. Ich drücke ihn fest an mich und erinnere mich mit einem Mal daran, dass er erst zarte sechzehn Jahre alt ist. Er kommt mir manches Mal so erwachsen vor, doch im Grunde ist er noch ein Kind.
 

„Es tut mir leid“, flüstere ich ihm ins Ohr, küsse sein Haar.
 

„Nein“, heult er und ich spüre die ersten Tränen auf meiner Schulter. „Mir tut es leid. Ich hätte dich nicht dauernd so anmachen dürfen.“
 

„Schon gut“, versuche ich ihn zu beruhigen. „Du bist eben wie ich“, lache ich dann, streiche ihm die Tränen von den Wangen. „Ich mach mir doch auch nur Sorgen um dich.“
 

Jamie lacht, schmiegt sich an mich und murmelt immer wieder seine Entschuldigungen. In diesem Moment bin ich glücklich und alle Schwere weicht aus meinen Gliedern. Ich habe einfach vergessen, dass ich einen Bruder habe, dem ich viel bedeute und für den ich da sein muss. Er vergöttert mich ebenso wie ich ihn. Kein Wunder, dass wir uns da ins Gehege kommen, wenn wir dauernd versuchen alles richtig zu machen.
 

„Verzeih mir, Jamie, ich lauf nicht wieder weg, versprochen“, raune ich ihm zu, spüre sein Nicken. Gott, ich liebe diesen Jungen wie keinen anderen Menschen. Ohne meinen Bruder wäre ich ein nichts.
 

„Okay, okay, es tut euch beiden leid, alles ist wieder in Butter. Also hört endlich auf oder ich fang auch noch an zu heulen“, mischt sich Thomas ein, drängt sich an meine Seite, versetzt mir einen freundschaftlichen Rippenstoß und für einen Moment bin ich mir nicht sicher, ob ich nicht tatsächlich etwas in seinem Augenwinkel habe aufblitzen sehen.
 

„Mensch, Alter, mach das nie wieder!“, beschwert er sich jetzt bei und ist redlich darum bemüht eine saure Miene zu ziehen. „Hast mir einen halben Herzkasper beschert.“
 

„Schon gut!“, wehre ich ihn ab, betrete endlich die Wohnung und gehe geradewegs ins Schlafzimmer durch. „Ich zieh mich jetzt um, dann können wir gehen.“
 

---
 

In dem großen Tanzsaal herrscht ein reger Betrieb und bei jedem Schritt stößt man bei jemandem an. Eltern, Lehrer, Schüler und das Personal der Veranstalter, drängen sich hier ebenso wie Freunde und Ehrengäste.
 

Während Erich sich bereits nach wenigen Momenten auf das kalte Büffet gestürzt hat, stehen Jamie, Thomas und ich da wie angewurzelt und versteinert. Noch nie waren wir bei einem Abschlussball dabei und sind wohl alle recht aufgeregt. Zumal wir außer Martina und uns selbst niemanden kennen.
 

Der offizielle Teil ist bereist vorbei. Gäste durften dem nicht beiwohnen, denn er war einzig den Betroffenen und deren Eltern vorenthalten. Das gemeinsame Vergnügen bei Wein, Weib und Gesang steht jedoch jedem offen, der eine Eintrittskarte vorzeigen kann.
 

Als eine kleine Brünette auf uns zukommt und uns ein schüchternes Lächeln zuwirft ist es um Thomas geschehen und er nimmt sich ihrer sehr fürsorglich auf der Tanzfläche an. Jamie und ich werfen uns daraufhin nur einen eindeutigen Blick zu.
 

„Hallo Jungs!“, strahlt Martina uns an, dreht sich einmal um die eigene Achse und präsentiert auf diese Weise ihr weinrotes Ballkleid, das nicht nur meinem Bruder den Atem raubt. Auch ich bin ganz bezaubert von ihr.
 

Ihre Haare hat sie in einem verspielten Knoten aufgesteckt, eine Blütenspange hält das ganze zusammen. Einige Locken sind sehr charmant um ihren Hals drapiert. Sie wirkt beinahe wie Aschenputtel, das hinter dem Ofen hervorgekommen ist.
 

„Du bist wunderschön“, bestätige ich ihr meinen Eindruck, küsse sie auf die Wange und belächle sanft wie sie zu strahlen beginnt. Meinem Bruder bleibt ganz unmännlich jeder Laut in der Kehle stecken. Ich versetze ihm einen Stoß, schubse ihn in ihre Richtung und wünsche ihnen viel Spaß beim tanzen, ehe ich mich zurückziehe und allein einen Rundgang durch den Saal antrete.
 

Irgendwo in einer Ecke kann ich Erich ausmachen. Mit einem voll beladenen Teller in der Hand. Schweigsam, gerissen und total verfressen. So wie immer also.
 

Ich verschränke die Arme vor der Brust, blicke zu dem Meer aus tanzenden Menschen, die vergnügt und ausgelassen scheinen. Eine Gruppe von Mädchen – oder jungen Damen – steht in meiner Nähe, ich höre sie kichern und miteinander tuscheln. Dann kommt eines auf mich zu, legt mir ihre Hand auf den Arm und schaut beinahe keck zu mir auf. Ich überrage sie um einen ganzen Kopf.
 

„Entschuldige, aber… hm… würdest du mit mir tanzen?“ Ihre Wangen ziert eine blasses rot, verlegen schlägt sie die Augen nieder. Die Hand liegt jedoch noch immer auf meinem Arm.
 

„Sicher“, antworte ich knapp, nehme ihre Finger zwischen meine, geleite sie auf die Tanzfläche und ignoriere dabei wie sie sich siegessicher noch einmal zu ihren Freundinnen umdreht. Mädchen.
 

Das Lied klingt langsam aus, ich ziehe sie zu mir, lege ihr eine Hand auf die Hüften, die andere umschließt sanft, aber bestimmt ihre Finger. Das neue Stück ertönt. Ein Walzertakt. Ich mache den ersten Schritt nach vorne und sie strauchelt ein wenig, doch ich halte sie fest an mich gedrückt und lenke sie durch diesen Tanz.
 

Meine Freunde hätten mich dafür ausgelacht, aber ich habe sehr früh mit Tanzstunden begonnen, als ich in diese Gegend gezogen bin. Ich brauchte eine sinnvolle Beschäftigung und habe einmal auf einem etwas versprengten Heimweg ein kleines Tanzstudio entdeckt, dass ich fortan regelmäßig besucht habe. Heute habe ich nur gelegentlich Zeit dafür.
 

„Oh“, entfleucht es meiner Tanzpartnerin überrascht, als ich sie in eine elegante Umdrehung führe und schließlich wieder fest in meine Arme ziehe. Tatsächlich scheint eine Frau dafür wie gemacht zu sein. Ihr zierlicher Körper schmiegt sich perfekt in die Drehungen und die flatternden Stoffe ihres Kleides geben dem ganzen einen sehr sinnlichen Ausdruck.
 

„Darf ich ablösen?“
 

Ich wende den Kopf und erstarre beinahe als ich das verhalten grinsende Gesicht von Chris blicke, der ein wenig abseits von uns steht, uns aber bei keiner Bewegung aus den Augen lässt. Seine Kamera hängt nicht um seinen Hals.
 

Ich schicke meine Partnerin in eine Drehung, greife nach Chris, ziehe ihn kurz zu mir, mustere ihn von oben herab und stoße ihn von mir um das Mädchen wieder aufzufangen, die sich mit einem leisen Keuchen enger an mich schmiegt. Sie wirft Chris einen verwirrten Blick zu.
 

Die letzten Töne des Stücks werden angeschlagen und ich lasse den gemeinsamen Tanz ruhig ausklingen, bleibe schließlich stehen und hole einmal tief Luft. Dann wende ich mich um und peile den Getränkestand an.
 

„Raphael, warte!“, werde ich nach nur wenigen Schritten festgehalten. „Bitte“, setzt Chris flüsternd nach und etwas widerwillig drehe ich mich zu ihm um. Sein Blick ist klar und starr auf mich gerichtet. Nichts scheint ihn zu bewegen. Reglos verharrt er auf der Stelle.
 

„Warum bist du hier?“, bringe ich schließlich hervor, reiße mich von seinem Griff los und bedeute ihm mit einem Nicken mir zu folgen. Er setzt mir nach, schreitet dicht neben mir durch die Reihen der anderen Gäste.
 

„Ich bin Fotograf“, antwortet er.
 

Ich erwidere nichts darauf, schenke mir stattdessen ein Glas Bowle ein und leere es in einem Zug. Zu meiner Überraschung ist sie tatsächlich alkoholischer Natur. Ein Grund, weswegen ich gleich ein zweites Glas folgen lasse.
 

„Dann geh endlich und mach deine Bilder“, knurre ich ihn nach dem letzten Schluck an.
 

„Hab ich schon. Von dir“, ist seine strahlende Erwiderung, die mich entnervt aufseufzen lässt. Ich trete auf ihn zu, dränge ihn mit meinem ganzen Gewicht nach hinten, sperre ihn zwischen mir und der Wand in seinem Rücken ein, lege meine Hand nahe seinem Gesicht auf den kalten Stein und funkle ihn von oben herab bedrohlich an.
 

„Hör auf mir nachzulaufen“, grolle ich, komme ihm dabei immer näher, bis er vollkommen dazu gezwungen ist zu mir aufzusehen. Seine Brust hebt und senkt sich in einem schnellen Rhythmus und ich kann etwas in seinen Augen flackern sehen.
 

Eine Sekunde zu spät registriere ich seine Hand, wie sie sich langsam hebt und sich zärtlich auf meine Wange legt. Als ich den Druck seiner Hüften spüre, entferne ich mich ruckartig von ihm, schüttle auch die Berührung seiner Finger ab.
 

Ich weiche seinem Griff aus, dränge mich durch die umstehende Masse, erblicke meinen Bruder und seine Angebetete und nehme direkten Kurs auf sie. Mit einem grimmigen Blick packe ich Martinas Handgelenk, woraufhin sie erschrocken aufschreit. Ungerührt ziehe ich sie hinter mir her auf die Tanzfläche und vergrabe mein Gesicht an ihrer Schulter, atme ihren süßen Duft ein und lasse mich in ihren geschmeidigen Bewegungen einfach fallen.
 

„Hey“, spricht sie leise. „Sieh mich an.“
 

Ich schüttle den Kopf, schließe die Augen und versuche meine aufkommende Wut zu unterdrücken. Ich weiß nicht einmal weshalb ich wütend bin. Oder auf wen. Ein beklemmendes Gefühl macht sich in mir breit und ich versuche eiligst Chris aus meinem Kopf zu streichen. Zweimal, halte ich mir vor. Nur zweimal innerhalb von drei Monaten bin ich ihm begegnet, aber jedes Mal wenn ich ihn sehe, regt mich etwas an ihm auf und kitzelt mich unangenehm in meinem Innersten.
 

„Raphael“, haucht Martina mir ins Ohr, umfasst mein Gesicht mit ihren zarten Händen und zwingt mich mit unerwartet starkem Griff dazu, ihr in die Augen zu sehen. Erschrocken zieht sie Luft ein, wischt mir über die Wangen und hält mir dann ihre Finger vor. Sie glänzen.
 

„Warum weinst du?“, fragt sie, wobei ihre Stimme einen gefährlichen Schlenker macht.
 

„Ich weiß es nicht“, gebe ich offen zu und schmiege mich wieder in ihre Umarmung. Der ganze Lärm, all die Leute… ich ertrage es nicht länger. Ich bin müde. Entsetzlich müde. Ich würde nichts lieber tun als in Martinas Schoß einschlafen und wissen, dass ich nie wider aufwachen muss.
 

„Oh Gott, warum?“, hauche ich gebrochen aus, schlinge meine Arme fester um ihren Körper, sauge wie manisch den Duft ihres Parfüms ein und bin wie von Sinnen als ich weiter einen Fuß vor den anderen setze und sie in diesem Tanz führe.
 

„Shhh“, macht Martina nur, zieht mich immer weiter in meinem Taumel. Erst als mir kalte Märzluft entgegenschlägt bemerke ich, dass sie mich aus dem Saal nach draußen geführt hat. Sie leitet mich um die Ecke und ergeben lasse ich mich auf einer Bank nieder.
 

Als ich den Blick hebe um den Nachthimmel zu betrachten ist es mir, als würden die Sterne auf mich runterfallen, unendlich schnell kommen sie auf mich zu und bringen alle alten Schmerzen mit sich, die auf mich niederprasseln wie tausende Nadeln.
 

Ich weine aus keinem bestimmten Grund und vielleicht auch wegen hunderter Dinge. Es sind Tränen, die ich nur einmal in meinem Leben zugelassen habe. Es ist acht Jahre her, dass ich mit dem Auto meines Vaters herkam, zutiefst verletzt und von aller Welt verlassen.
 

Nichts von alledem habe ich jemals verarbeitet. Ich habe es nur fein säuberlich in mir aufgestapelt zu einem hohen Turm, dessen Spitze mir gerade entgegenfliegt. Ich fühle mich mit einem Mal wie ein Kind, das gestürzt ist. Und ich frage mich, ob es jemanden gibt, der mich aufhebt und mir sagt, dass alles wieder gut wird. Das auch meine Wunden heilen.
 

„Lass es heilen“, flüstere ich atemlos dem Mond entgegen, der in einem sanftkalten Licht erstrahlt. Ich strecke meine Hand nach ihm aus, aber ich kann ihn nicht fassen. „Oh Gott… lass es heilen.“
 

„Rapha!“
 

Wie in Zeitlupe wende ich mich der Stimme zu, die mich gerufen hat. Es kommt mir wie ein Traum vor, als ich die Gestalt des Mannes vor mir sehe, den ich schon seit meiner Kindheit immer geleibt habe.
 

Sein warmer Körper schmiegt sich an mich, zarte Finger streichen über mein Gesicht und eine liebevolle Stimme haucht immer wieder meinen Namen. Ich schmecke seine Lippen auf meinen, spüre seine Haare an meiner Haut. Ich fühle mich vollkommen.
 

„Du bist hier“, höre ich mich sagen. Mein Blick bleibt unfokussiert und unscharf.
 

„Ich wollte dich überraschen. Hör auf zu heulen“, neckt er mich sanft und ein erstes Lächeln bricht sich durch meine verhärteten Züge. Wieder sind da seine Finger. Leicht wie ein lauer Wind streicheln sie über mich hinweg.
 

„Er hat Krebs“, murmle ich. Langsam klärt sich meine Sicht, die Tränen versiegen und ich nehme die ersten Geräusche meiner Umwelt wieder war. Das fröhliche Geplauder der Menschen, die Musik, zu der auch ich getanzt habe und hin und wieder klapperndes Besteck. „Er wird sterben.“
 

Das blühende Leben umgibt mich und erst jetzt begreife ich den Sinn meiner Worte.
 

„Ja.“
 

„Glaubst du er kann mich jetzt lieben?“
 

Ich sehe zu ihm nach unten, knete dabei unruhig meine Hände und wünsche mich innerlich an einen ganz fernen Ort. Eine neue Welt, nur für mich. Und Jamie. Vielleicht auch für ihn, wenn er mich begleiten will.
 

„Ich weiß es nicht. Denk nicht darüber nach. Ich bin doch für dich da“, höre ich seine verführerische Stimme und spüre wie er sich zu mir nach vorne lehnt. Ich fange seine Lippen ein, stehle ihm einen Kuss und lasse seine Hände meinen Rücken streicheln.
 

Diesen Mann habe ich immer geliebt.
 

„Zack…“, hauche ich gegen seinen sinnlichen Mund, schlinge meine Arme um seinen Nacken und berausche mich selbst an dem Gefühl seiner Nähe. Er hat mir gefehlt.
 

„Ich bin hier. War ich schon immer.“
 

„Ich liebe dich“, stoße ich aus, küsse immer und immer wieder seine Lippen, ziehe ihn noch viel näher an meinen Körper heran und gehe gänzlich in dieser Art von Geborgenheit auf. „Ich liebe dich!“
 

„Ich wünschte es wäre so.“
 

---
 

Als ich die Augen aufschlage fehlt mir jede Orientierung. Brummend drehe ich mich auf die Seite und stelle dabei erleichtert fest, dass ich in einem Bett liege und ich direkt auf eine Digitalanzeige schaue, die mir verrät, dass es drei Uhr in der Früh ist.
 

Ich taste nach dem Lichtschalter, finde ich nach einem quälend langen Moment auch endlich und knipse die kleine Lampe an. Das Bett neben mir ist zerwühlt, aber leer. Mit tauben Gliedern richte ich mich auf, wanke zur Tür an der ich schwach einen Zettel ausmachen kann. Ich reiße ihn ab, halte ihn ins schwache Licht und entziffere die hässliche Schrift meines Bruders.
 

Schlaf dich aus. Bin auf M’s Abschluss. Z war da. Wir reden später.
 

Mit einem unhörbaren Fluch auf den Lippen zerknülle ich den Zettel und werfe ihn achtlos beiseite. Tatsächlich ist meine Erinnerung etwas verschwommen und ich kann mich nur an schemenhafte Bruchstücke erinnern.
 

Ich habe getanzt. Und Chris war da. Zack auch? Warum Zack?
 

Stöhnend werfe ich mich aufs Bett, raufe mir die Haare und verfluche mich dafür, dass ich mich kaum noch an Einzelheiten des Abends erinnern kann. Ich weiß, dass ich kaum etwas getrunken habe und trotzdem habe ich ein Art Filmriss.
 

Kurz bin ich dazu verleitet meinen kleinen Bruder anzurufen, doch schließlich entscheide ich mich dagegen. Wenn er noch auf der Party ist, dann will ich ihn und Martina nicht stören. Die beiden sollen ihre Chance kriegen.
 

Lange Zeit starre ich einfach nur an die Decke, versuche krampfhaft eine Erinnerung zu Tage zu fördern, doch alles in mir wehrt sich dagegen, also gebe ich auf. Ich sehe Martina in ihrem Ballkleid vor mir und habe auch ihr Parfüm in der Nase, auch die Musik klingt mir noch im Ohr nach, aber sonst ist vieles Dunkel.
 

Doch immer und immer wider schleicht sich eine Szene in meine Gedanken, die mir Angst macht. Auch Stunden später kann ich noch den Druck eines fremden Körpers auf meinem eigenen spüren, höre ich den schnellen Atem und entsinne ich mich der Sanftheit von zarten Fingern.
 

Wem sie gehören, kann ich allerdings nicht sagen. Auch wenn ich daran glauben will, dass Zack mich so berührt hat. Ich bete darum und mache mir einmal mehr Hoffnungen darauf, dass er mein Flehen erhört und zu mir zurückkommt.
 

Der Glanz seines verbliebenen Auges dringt intensiv durch die Dunkelheit meiner Gedanken. Ich erschaudere darunter und bilde mir ein etwas in der Küche rumoren zu hören. Als ich mich aufrichte um nachzusehen, öffnet sich die Türe des Schlafzimmers und Jamie wankt herein.
 

„Uh… Rapha…“, stößt er undeutlich hervor, kommt wie ein Zombie angetorkelt und lässt sich dann mit seinem vollen Gewicht auf mich fallen. „Scheißkerl“, höre ich ihn noch flüstern, bevor mir sein tiefer Atem verrät, dass er eingeschlafen ist.
 

Unter einigen Mühen rolle ich ihn von mir herunter, befreie ihn aus Schuhen und Jacke und stecke ihn dann unter die Decke. Dem Drang nachgebend schleiche ich dann in die Küche, die ich zu meiner Enttäuschung dunkel und verlassen vorfinde.
 

Langsam kehre ich ihn mein Schlafzimmer zurück, lege mich ebenfalls unter die Decke, lösche das Licht und schließe meinen schnarchenden kleinen Bruder in die Arme.
 

---
 

War es verständlich? ._. Wer sich wegen Raphaels BlackOut wundert... ich spreche bei diesem Phänomen aus eigener Erfahrung. Es gibt eine bestimmte Zeit in meinem Leben an die ich mich gänzlich nicht erinnern kann.
 

Musik: Loveless - Michiyuki & Anastasia - Es war einmal im Dezember



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von: abgemeldet
2009-12-04T19:31:22+00:00 04.12.2009 20:31
Ok^^
Also, das war sehr verwirrend! Ist er jetzt mir Zack nach hause gegangen? Und warum ist er nciht mehr da? udn warum hat Jamie SCheißkerl gesagt? Verwirring!
Ich hab ja erst gedacht, Rapha hat Hallus und küsst chris, anstelle von Zack, weil er meint, Chris wäre Zack, aber das war offensichtlich nicht so. das wäre wohl auch zu verwiorrend gewesen...naja, noch verwirrender geht ja eigentlich nicht^^

Aber wieder ein tolles Kapi! Hat mich richtig gefesselt! Vor allem als er Chris an die Wand gedrückt hat! Meine Güte! Spannung pur^^

Und das Rapha momentan nciht so gut drauf ist, dass kann ich vollkommen nachempfinden. So würde es mir wohl auch gehen.

Aber warum ist Zack wieder da? Ich mag Zack nciht. Der macht alle simmer nur komplizierter und Rapha ist nachher immer ein Häufchen Elend.
Und hat Rapha die Begegnung jetzt nur geträumt? Noch mal verwirrend^^
Aber ich fand das coll, wo Rapha meinte, ich liebe dich udn Zack antwortete Ich wünschte es wäre so^^
Ja, es soll ncith so sein! Man kann doch nciht ewig unglücklich verliebt sein. Doch man kann. Ja, ich weiß^^ Es tut mir nur so leid, sowas zu sehen! oder in diesem falle zu lesen! Ich will, das Rapha glücklich ist! Udn das wird er nicht mit Zack...Naja, ich hab da ja nciht wirklich Einfluss drauf^^

Ich muss jetzt Schluss machen, denn ich bin begierig darauf zu erfahren, wie es weiter geht^^

LG Loona
Von:  Kalehareda
2009-11-24T20:07:50+00:00 24.11.2009 21:07
Hi^^

Es war wiedermal ein schönes Kapi. Einfach toll geschrieben und obwohl es lang war, hatte ich das Gefühl das es zu wenig war...man liest sich so schnell rein, das man eigentlich gar nicht aufhören möchte^^
Oh ja was ein Black out ist weiß ich...zwar nicht aus eigener Erfahrung...da ich nichts tinke...vertrage nix -.- schon der Duft vom Bier und man kann mich in der Pfeife rauchen...aber ne Freundin hat die öfters ^^
Zack ist mir nicht besonders symphatisch...er taucht auf wenn es ihm passt, bleibt weg wenn es ihm zuviel wird und bemitleidet sich weil Rapha eine enge Bindung an seinen Bruder hat...wie es Rapha geht scheint ihn nicht zu interessieren...klar ist es schwer nicht die nummer eins zu sein, aber er sollte dann nicht mit Raphas gefühlen so spielen...
Ich freu mich schon wenn das nächste Kapi kommt^^
ganz lieber gruß
Kalehareda (^.^)//
Von: abgemeldet
2009-11-24T10:40:40+00:00 24.11.2009 11:40
Ja, also das hast du echt super hinbekommen, denn ich habe ein riesiges Fragezeichen im Gesicht. Was ist denn da jetzt am Schluß noch passiert???
UNd ist das mit Zack wirklich so gewesen??? Also... der sollte sich besser wieder verziehen, Rapha sagt selber er hat nichts verarbeitet und dementsprechend wohl auch nicht das mit Zack. Ich bin immer noch der festen Überzeugung das Rapha, was Zack betrifft, immer noch in der Vergangenheit lebt. Soll er doch Chris ruhig ein bisschen näher an sich ranlassen, vielleicht tut ihm das ganz gut.

Das Rapha und sein Bruder sich nicht auf Dauer super verstehen ist ganz normal, so ist das wenn man zusammen lebt und sich jeden Tag sieht, irgendwann kommen nunmal Unstimmigkeiten auf und oft spricht man nicht darüber. Oder aber der eine verkraftets nicht wenn der andere etwas auszusetzen hat.

Naja, mehr kann ich schon fast wieder nicht sagen =(

Aber mir hat das Kapitel gut gefallen, ich bin gespannt wie es weiter geht


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