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Bilder unserer Zeit

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Jubiläum (2000 / 12)

9. Kapitel – 2000 (Dezember)
 

Lautes Stimmengewirr erfüllt die große Wohnung der Familie Vogel an diesem Abend und mit Sicherheit ist das keiner der Anwesenden gewöhnt. Trotzdem haben alle Spaß und das Abendessen geht harmonisch über die Bühne. Auch Johannes und Lars wissen sich dieses eine Mal wirklich zu benehmen.
 

„Wer hat denn das Salz?“, ruft Thomas über das Getöse hinweg.
 

Ich greife um eine große Salatschüssel herum, reiche ihm den Streuer und nehme dafür den Brotkorb entgegen, der zu Bernhard wandert, der am Kopfende sitzt. Wir tauschen einen kurzen wissenden Blick miteinander, ehe wir uns wieder in unserem Essen vergraben.
 

„Wenn du willst, dann kannst du nachher mit uns die Böller anzünden“, bieten Johannes und Lars Martina großspurig an, was ihnen allerdings nur einen Klaps von Jamie und Marianne einhandelt. Je größer desto frecher.
 

„Dein Glas ist ja leer“, bemerkt Marianne beinahe erschrocken, deutet dabei auf Chris, der überrascht aufblickt. „Willst du noch etwas, mein Lieber?“
 

„Ähm… Wasser, danke.“
 

Lächelnd steht Marianne auf, schaut einmal fragend in die Runde. Sie muss nichts sagen.
 

„O-Saft.“ – „Auch Wasser“ – „Bier, bitte“ – „Ja, wir auch eins!“ – „Ihr zwei kriegt keins!“
 

Mit dieser letzten Ermahnung an ihre Zwillinge verschwindet Marianne in der Küche.
 

Ich lasse mir von Martina die Schüssel mit dem Salat reichen, fülle meinen Teller erneut und will gerade in eines der Salatblätter stechen, als ich einen fast geifernden Blick von Johannes und Lars auffange. Fragend hebe ich eine Augenbraue.
 

„Spielen wir nachher Fußball?“
 

„Ja, Fußball!“, bekräftigt Lars mit einem Nicken.
 

„Von mir aus“, gebe ich zurück und habe den beiden damit den ganzen Abend gerettet.
 

Das Essen nimmt seinen weiteren Verlauf, die gewünschten Getränke füllen die jeweiligen Gläser und es geht mit Freude und Humor auf die späteren Stunden zu. Keiner fühlt sich am Ende dazu befleißigt den Tisch aufzuräumen und auch Marianne schafft es einmal ihre Pflichten als Hausfrau zu vergessen und einfach mit ihrem Glas Rotwein sitzen zu bleiben.
 

Die Gespräche haben einen ruhigeren Ton gefunden und es herrscht allgemein das Gefühl total voll gefressen zu sein. Natürlich bilden die Zwillinge mal wieder eine Ausnahme.
 

„Wo ist eigentlich Erich?“, fällt es mir in diesem Moment auf.
 

„Der feiert zu Hause“, gibt Thomas neben mir Auskunft, lehnt sich an meine Schulter an um keine Sekunde später aufzustoßen.
 

„Lecker“, meine ich sarkastisch.
 

„Sorry. Alter, bin ich fett…“
 

„Dann spiel eine Runde Fußball mit uns“, schlage ich ihm vor.
 

„Nie und nimmer, dann kotz ich“, prophezeit mein bester Freund.
 

Letztendlich kann er aber nicht an sich halten, als ich eine halbe Stunde später mit den Zwillingen draußen auf der Straße herumtobe. Thomas sprintet mit mir um die Wette, dribbelt mich aus, greift sich Lars im vorbeilaufen und schießt so das Führungstor.
 

„Foul“, rufe ich lachend. „Lass meinen Mitspieler runter!“
 

Lachend setzt Thomas seinen fluchenden Bruder wieder auf die Erde und Johannes eröffnet die zweite Runde, zu der sich nun auch Bernhard und der mitgezogenen Chris gesellen.
 

Fußball kann man das Ganze nicht mehr nennen, als sich die Zwillinge an die Beine ihres Vaters klammern und Thomas mich im Schwitzkasten hält, während ich einen Arm um Chris’ Hüfte geschlungen habe, damit mir dieser nicht abhaut. Der Ball liegt nur wenige Zentimeter von meinem Tor entfernt.
 

„Bernhard“, rufe ich. „Rette uns!“
 

„Komme schon“, kommt es lachend zurück. „Dauert nur noch Lichtjahre.“
 

„Das muss schneller gehen“, feuere ich ihn an. „Mopsgeschwindigkeit.“
 

Ich höre Thomas hinter mir auflachen.
 

„Ihr habt einen Marderschaden, Kapitän“, antwortet er, fasst meinen Arm und versucht so Chris aus meiner Umklammerung zu befreien. Ich drehe mich ein Stück nach rechts, kriege mit zwei Fingern Chris’ Hemd zu fassen, ziehe ihn so wieder zu mir.
 

„So haben wir nicht gewettet“, knurre ich leise, als Thomas genervt aufstöhnt.
 

„Gib auf!“
 

„Niemals!“
 

Chris versucht sich von mir loszureißen, doch ich packe nun auch mit der zweiten Hand zu, die bisher Thomas davon abgehalten hat mich zu erwürgen. Der greift allerdings um und schlingt seine Arme um meinen Brustkorb.
 

„Hier geblieben“, murre ich Chris an, der mir einen kurzen Blick zuwirft.
 

„Los, Chris, hier geht es um die Ehre!“, schnauft Thomas. „Mach das Ding rein!“
 

Langsam sehe ich Bernhard auf mich zukommen, der riesige und sehr unbeholfene Schritte nach vorne macht. Seine beiden Söhne stehen nun jeweils auf einem seiner Füße, halten sich an seinem Oberkörper fest und alle drei haben große Mühe damit das Gleichgewicht nicht zu verlieren.
 

Einige Minuten ringen wir alle noch um den Sieg, doch dann ist es Martina, die alles entscheidet, indem sie den Ball blindlings mit der Hacke nach hinten schlägt. Nur knapp geht er an den gegnerischen Torpfosten vorbei.
 

Thomas und ich stöhnen auf.
 

„Unentschieden“, keuche ich, stütze mich auf Chris ab, der praktischerweise noch neben mir steht und atme einmal durch.
 

„Kleiner Verräter“, ziehe ich Lars in eine kurze, aber raue Umarmung, verpasse ihm eine Kopfzwiebel und schicke ihn dann zu seiner Mutter, die vor der Tür auf uns wartet.
 

Gemeinsam räumen wir das Schlachtfeld, verziehen uns wieder in die gemütlich warme Wohnung und waschen uns abwechselnd im Bad Gesicht und Hände. Jamie reicht mir ein frisches Handtuch als ich raus komme, legt dann einen neuen Stapel auf die Toilette, ehe er mit mir Richtung Küche schlendert in der wir uns unsere Tassen Punsch abholen.
 

Johannes und Lars haben sich mit Martina in eine ruhigere Ecke des Wohnzimmer verzogen und spielen irgendein Gesellschaftsspiel zusammen, bei dem Bernhard ihnen zusieht und auch hin und wieder einige Kommentare liefert, die mit Gemeckere seitens der Zwillinge belohnt werden.
 

Aufseufzend wirft Marianne sich in den Sessel, streckt die Beine von sich und lacht befreit auf. Beinahe verschüttet sie dabei ihren Tee. Jamie hat sich neben mir auf das Sofa fallen lassen und wir genießen zu dritt das einfache Beisammensein.
 

„Das Bad ist wieder frei“, meldet sich Chris nach einer Weile zurück.
 

„Setz dich, mein Lieber. Nimm Platz“, bietet Marianne ihm an und er lässt sich lächelnd auf meiner anderen Seite nieder. Es ist kur vor elf und eine Stunde lang wollen wir alle nur noch eins: ausspannen.
 

Jamie lehnt sich an meine Schulter, schließt seufzend die Augen. Ich ziehe eine Decke über ihn, was ihn lächelnd lässt. Langsam lasse ich meinen Kopf nach hinten auf die Lehne sinken, schiele zu Chris herüber, der abwesend aus dem Fenster starrt und dem Schneetreiben zusieht, das eingesetzt hat.
 

Unsere Blicke treffen sich im Glas und sekundenlang sehen wir uns einfach nur an. Als ich meinen Arm hebe, werden seine Augen ein wenig größer. Ich umfasse seine Schulter, ziehe ihn zu mir heran und wende mich in dem Augenblick von ihm ab, in dem er den Kopf zu mir dreht.
 

Ich begegne Mariannes wissendem Lächeln mit einem einfachen Schulterzucken.
 

Es ist Silvesterabend. Das alte Jahr verabschiedet sich, ein neues Jahr wird willkommen geheißen. Für einen kurzen Augenblick herrscht eine totale Befreiung von allen Zwängen. Und heute ist davon schon früher etwas zu spüren. Ich fühle mich seltsam gelöst.
 

„Rapha“, meldet sich Jamie mit einem Mal leise. „Wo bist du damals gewesen?“
 

„Daheim“, antworte ich flüsternd, spüre wie er sich ruckartig aufsetzt und mich kritisch mustert. Vielleicht sucht er nach den Spuren die meine Tränen hinterlassen haben. Er wird sie nicht finden. Sie sind versiegt und haben nicht einmal ein leeres Bachbett zurückgelassen.
 

„Ich habe Vater gesehen“, fahre ich fort. „Er sitzt im Rollstuhl, hat kaum noch Haare und ist ganz abgemagert. Mutter hat einen krummen Rücken bekommen.“
 

Fast zeitgleich greifen zwei Hände nach mir. Jamies legt sich auf mein Gesicht, dreht dieses zu sich herum, während Chris unauffällig nach meiner eigenen greift und sie sanft drückt. Er scheint zu spüren, dass dieses Thema nicht ganz ohne ist.
 

„Warum hast du nichts gesagt?“, fragt Jamie und ich sehe einen verletzten Ausdruck in seinen Augen.
 

„Es gab nichts zu sagen. Es ist passiert“, erkläre ich, wende mich Marianne zu, die vollkommen entspannt in ihrem Sessel sitzt. Ihre hellen Augen ruhen auf mir. Sie lächelt.
 

„Hat er irgendetwas zu dir gesagt?“
 

„Hm… nicht wirklich.“ Einen Augenblick überlege ich, ob ich Jamie erzählen soll, dass unser Vater nur noch eine leblose Puppe ist. Ich entscheide mich dagegen. Es würde nichts bringen. Jamie ist unbelasteter als ich und mehr um mich besorgt als um sich selbst.
 

Als sich Chris an meine Schulter lehnt, sehe ich zu ihm herunter und begegne seinem sanften Lächeln. Zögernd streiche ich ihm das hellbraune Haar aus dem Gesicht, was ihn beinahe genießerisch die Augen schließen und mich leise lachen lässt.
 

„Wie geht’s dir?“, frage ich ihn.
 

„Gut“, antwortet er, sein Lächeln wird dabei breiter.
 

„Soll ich dich später nach Hause bringen?“
 

„Eigentlich wollte ich bei dir bleiben.“ Sein Blick wird fragend.
 

Ich weiß nicht genau warum, aber in diesem Moment erscheint mir nichts logischer, als das ich Chris zu mir nehme und er die Nacht an meiner Seite verbringt. Vielleicht werde ich ein wenig sentimental auf meine alten Tage, aber nach einem so schönen Silvesterabend habe ich einfach nicht das Bedürfnis danach alleine in meinem Bett zu liegen. Und Jamie wird nachher zu Martina mitgehen und dort übernachten.
 

„Okay“, flüstere ich gegen seine Stirn, als ich mich vorlehne und einen sanften Kuss darauf setze. Ich mag das Gefühl von Chris in meinem Arm. Es ist sehr angenehm. „Okay.“
 

Nachdem die Zwillinge Martina großzügig haben gewinnen lassen, raffen wir uns nach und nach langsam auf, Thomas und Jamie schleppen den großen Karton mit den Böllern nach draußen. Auf der Straße stehen schon viele Nachbarn, die ihre Raketen bereits in den Himmel schießen. Die ersten Lichter regnen auf uns herab.
 

Die komplette Familie Vogel samt meinem Bruder und Martina machen sich nun an den Aufbau der Böller und Knaller. Thomas setzt die erste Lunte in Brand und nur wenige Sekunde später hören wir ein lautes Zischen, verfolgen den Raketenflug und erfreuen uns an dem Anblick der gold-weißen Lichter.
 

Es ist ein Schauspiel sondergleichen wie die Zwillinge nun eine Schnur nach der anderen anzünden und so ein riesiges Spektakel am Himmel entfachen. Gemeinsam mit allen anderen färben sie den Himmel in den verschiedensten Farben und Formen.
 

Die beiden Frauen unterhalten sich leise, lachen gemeinsam und betrachten verträumt das nächtliche Schauspiel. Bernhard ist ganz Kind und sorgt mit seinen Söhnen unermüdlich für Nachschub. Jamie steht neben mir, betrachtet mit mir die anderen, während Chris – ganz Kameramann – ein Bild nach dem anderen schießt.
 

„Noch zehn Minuten“, informiert mich mein kleiner Bruder.
 

Abwesend nicke ich ihm zu. Das stete Klicken des Fotoapparats hallt in mir wieder, durchzuckt jede noch so kleine Ader. Ich bekomme eine Gänsehaut und frage mich, ob es tatsächlich nur wegen der Kälte ist.
 

Schon eine ganze Zeit lang fühle ich mir, als wenn man mich in Wolle gepackt hätte. Es ist warm und kuschelig, aber vielleicht auch zu viel des Guten. Mir entgleitet die Realität. Oder zumindest das, was ich von ihr halte. Die Veränderungen der letzten Zeit… ich kann sie nicht einordnen. Gut oder schlecht, schwarz oder weiß… derzeit sehe ich alles grau in grau. Nichts ist so wie es sein sollte. Oder?
 

„FROHES NEUES!“
 

Thomas fällt mir um den Hals, abwesend gebe ich den Wunsch und die Umarmung zurück, lasse mich von ihm necken und ärgern, ehe er sich dem Rest zuwendet. Der Reihe nach kommen sie zu mir, drücken mich. Ich lasse es an mir vorbeiziehen.
 

„Auf ein gutes neues Jahr, Bruderherz“, steht Jamie vor mir, umarmt mich und schaut mit leuchtenden Augen zu mir auf. Es ist das zweite Silvester, das ich mit ihm verbringen kann und ich bin dankbar dafür. Ich lächle ihm zu, küsse seine Stirn und schiebe ihn dann in Richtung Martina von mir. Sein verlegenes Grinsen wird von einer stattlichen Gesichtsröte begleitet.
 

Die anderen feiern ausgelassen, Sekt wird gereicht und die Zwillinge schicken die letzten Raketen gen Himmel, während Bernhard und Marianne züchtig nebeneinander stehen. Sie streiten sich nicht öffentlich, aber die Trennung wird dennoch deutlich.
 

Immer wieder geht ein Blitzgewitter auf die anderen nieder. Chris hüpft um die Gruppe herum und schießt ein Foto nach dem anderen. Am Ende dieses Abends werden wir uns alle auf Bildern wieder finden können. Nur er selbst wird nicht zu sehen sein. Dieser Gedanke lässt mich stutzen.
 

Als Chris an mir vorbeigeht um eine andere Position zu finden, packe ich ihn am Arm und ziehe ihn fester als beabsichtigt zu mir. Seine großen Augen starren mich von unten her an, sein warmer Atem streift meine Wange und plötzlich scheine ich ganz voll von ihm zu sein. Überall ist nur noch Chris. Selbst sein Haar kitzelt mich.
 

„Lass mal jemand anderen fotografieren. Sonst gibst es kein Bild von dir“, meine ich leise, lasse ihn dabei nicht aus den Augen.
 

Er bleibt stumm. Hängt weiterhin in meinem Arm und scheint zu wissen, dass ich noch etwas sagen will. Ob ich das wirklich will, weiß ich selbst nicht genau, aber ich will ihn in diesem Moment einfach noch nicht loslassen. Es ist alles Watte. Chris ist Watte. Und er ist warm.
 

„Frohes Neues, Chris“, flüstere ich ihm ins Ohr, greife ihn fester, ziehe ihn noch näher zu mir, vergrabe mein Gesicht an seinem Hals, küsse die warme Haut unter meinen Lippen und atme seinen süßlich-herben Duft ein. Ich kriege nicht genug von all dem, ich brauche es wie die Luft zum atmen. Meine Hände werden wieder warm, mein ganzer Körper wird von einem leichten Zittern ergriffen.
 

„Raphael…“, höre ich ihn gedämpft sagen. „Alles in Ordnung?“
 

Ich nicke schwach, doch alles in meinem Kopf dreht sich. Ich sehe bunte Wirbel vor meinen geschlossenen Augen und meine Beine werden langsam weich.
 

„Du hast Fieber!“
 

Sein Aufschrei ist nur leise zu hören und ich habe nicht einmal bemerkt, dass er mir seine Hand auf die Stirn gelegt hat. Ich stehe auch nicht mehr so nah an ihm dran wie ich meinte. Alles rückt etwas weiter weg. Das Zittern wird stärker.
 

„Ein Fieberanfall… Schüttelfrost hat er auch…“, höre ich Marianne neben mir sagen, dann werde ich von Chris und Thomas gepackt und in die Wohnung geschleift. Mir ist elend zu mute und es braucht eine Warnung von Thomas, ehe man mich neben den Büschen absetzt, damit ich mich übergeben kann.
 

---
 

Als mich etwas Kaltes im Gesicht erwischt, schrecke ich hoch. Mein Kopf brummt fürchterlich und mir wird bei der schnellen Bewegung erneut schwindelig. Das Fenster steht einen Spalt offen. Vermutlich hat mich ein kalter Luftzug getroffen. Ich liege unter zwei dicken Decken begraben in einem fremden Bett. Neben mir liegt überraschenderweise weder Jamie noch Thomas. Auch nicht Marianne.
 

„Chris?“, stupse ich den Schlafenden vorsichtig an, der daraufhin kleine Laute von sich gibt und langsam die Augen aufschlägt.
 

„Du bist wach…“, stellt er verschlafen fest, greift hinter sich und zieht einen digitalen Wecker zu sich. Ich erkenne, dass es kurz vor Fünf ist.
 

„Wo sind wir?“, frage ich.
 

„Bei Frau Vogel“, antwortet er, setzt sich vorsichtig auf, gähnt herzhaft. „Sie und die Zwillinge sind zu dir in die Wohnung. Jamie und Martina haben Thomas mitgenommen. Geht es dir besser?“
 

„Ja. Hab aber einen Filmriss.“
 

Chris drückt sich das Kissen zurück, ehe er über mich hinweg greift und eine Flasche Wasser sowie eine Tablette zu Tage fördert. Er hält mir beides hin und ich bin einmal so artig und nehme die Medizin ohne einen Kommentar.
 

„Du hast hohes Fieber bekommen, da haben wir dich zur Ambulanz gebracht. Du sollst dich schonen und das Antibiotikum aufbrauchen. Wenn es dir schlechter geht, oder die Medizin alle ist, sollst du zum Hausarzt gehen und dich durchchecken lassen. Es ist anscheinend nichts ernstes, nur ein plötzlicher Infekt, aber sicher ist sicher“, klärt Chris mich auf, während er die Decken ordnet, sich schließlich umzieht und wieder ins Bett schlüpft. Er war wohl zu müde gewesen, sich direkt in einen Schlafanzug zu werfen. Jetzt trägt er eine Hose, die mit Sicherheit Bernhard gehört, so groß wie sie ist.
 

„Herr Vogel schläft im Zimmer der Zwillinge, falls etwas ist.“
 

„Marianne wollte wohl für Ruhe sorgen“, murmle ich leise und kann mir ein Lachen nicht verkneifen. Die Zwillinge hätten mich zwar nicht sonderlich gestört, aber eine besorgte Mutter lässt nichts an einen kranken Schützling kommen.
 

Auch Chris lacht verhalten, rückt ein Stück näher zu mir heran und greift nach meiner Hand.
 

„Dir auch ein frohes neues Jahr“, flüstert er.
 

Ich nicke ihm zu, stelle die Wasserflasche wieder auf den Boden, lege mich hin. Nach einer Weile drehe ich mich zur Seite. Chris’ Blick ruht noch immer auf mir, was mich mit den Augen rollen lässt.
 

„Es geht mir wieder gut“, maule ich.
 

„Man weiß ja nie“, lautet seine freche Antwort.
 

„Ich glaube, dass ich schon länger krank war“, teile ich ihm meinen gerade gekommenen Gedanken mit. Überrascht hebt er den Blick, stützt sich auf seinem Arm ab und sieht mich abwartend an. „Ich habe mich eine ganz Zeit lang schon gefühlt, als ob man mich in Watte gepackt hätte. Und mir war oft viel zu warm.“
 

„Seit wann?“
 

„Hm… weiß nicht.“
 

„Keine Ahnung ob so was geht… vielleicht sollten wir doch noch mal zum Arzt.“
 

„Wir?“, hebe ich spöttisch eine Augenbraue. Sein Blick bleibt unverändert.
 

Diese Spannung zwischen uns ist furchtbar. Ich weiß nicht wann genau es wirklich begonnen hat, aber in letzter Zeit ertrage ich Chris kaum noch. Er reizt mich, er fordert mich heraus, er kitzelt etwas in mir. Ich will das alles unterdrücken, aber mit jedem Mal wird es schwerer. Ob das an der Trennung von Zack liegt, weiß ich nicht mit Sicherheit zu sagen. Auch vorher habe ich Chris nur schwer ertragen können. Er war aber auch eine Nervensäge. Ob er sich verändert hat?
 

„Morgen, eher heute, soll es übrigens eine kleine Feier bei Martina geben.“
 

„Wirklich?“, frage ich abwesend nach.
 

„Ja. Jamie meinte, dass es noch etwas anderes zu feiern gäbe, als nur das neue Jahr. Thomas schien auch zu wissen worum es geht.“
 

Überrascht sehe ich Chris wieder an.
 

„Ich weiß es jedenfalls nicht.“
 

„Ich ahne es“, antwortet er, sieht mich noch immer mit diesem eindringlichen Blick an.
 

„Hör auf“, beschwere ich mich, drehe mich aber nicht von ihm weg.
 

Sein Lachen ist leise, etwas rau, vor allem aber tief. Chris hat eigentlich eine sehr helle Stimme, aber wann immer er lacht, wirkt sie sehr dunkel. Vielleicht war er noch nicht im Stimmbruch. Auch wenn er damit ein Spätzünder wäre.
 

Seine Augen wirken im fahlen Dämmerlicht verführerisch auf mich. Mysteriös, könnte man meinen. Als würde er etwas wissen, was ich nicht weiß. Und eigentlich tut er das ja auch. Wenn ich an morgen denke, dann werde ich mich überraschen lassen müssen, während er zumindest eine Ahnung zu haben scheint.
 

„Raphael“, spricht er, drückt meine Hand fester. „Ich mag dich.“
 

Ich weiß nicht was genau, aber irgendetwas setzt bei mir gerade aus. Zumindest atme ich nicht mehr. Alles scheint langsamer zu werden, anzuhalten. Als ob die Welt aufhören würde sich zu drehen, um uns ihre volle Aufmerksamkeit zu schenken. Ich bin krank. Vielleicht auf mehr als nur eine Art.
 

„Ich denke, dass du das schon weißt sowie alle anderen das auch wissen, aber…“, er unterbricht sich. Scheinbar wägt er seine nächsten Worte ab. „…ich wollte es dir einfach sagen. Jamie meinte zu mir, dass du manchmal schwer von Begriff wärst, deswegen wollte ich sicher gehen, dass du es wirklich weißt. Ich mag dich, Raphael, ehrlich.“
 

Ich bin mir nicht sicher, wem ich jetzt was übler nehmen soll: Jamie, dass er derartiges von mir behauptet oder Chris, dass er… was auch immer gemacht hat.
 

Mir wird schlagartig wieder bewusst, dass ich mit Gefühlen einfach nicht gut klar komme. Weder mit meinen eigenen, noch mit denen von anderen. Ich weiß nicht was ich sagen soll. Das ich es nicht gewusst habe? Aber selbst mir ist das klar gewesen, dass Chris anhänglicher und nerviger war als jeder andere. Er hat auch immer wieder versucht mich aus der Reserve zu locken. Klar habe ich es gewusst, aber… wie soll ich groß drauf reagieren?
 

„Okay“, lautet schließlich meine Antwort.
 

„Wirklich?“, hakt Chris nach. Ein entnervtes Stöhnen entfährt mir, ich ziehe Chris näher zu mir, schaue ihm grimmig in die Augen, tippe ihm mit meiner freien Hand gegen die Stirn.
 

„Hör auf damit!“, fauche ich leise. „Natürlich ist das klar! Du magst mich, dass habe ich verstanden, also hör auf mich wie einen Idioten dastehen zu lassen! Du solltest meinem Bruder nicht alles glauben.“
 

Sein Lachen ist ansteckend und eine Weile liegen wir uns so gegenüber. Er rückt noch etwas näher an mich heran, bettet seinen Kopf schließlich auf meine Brust, während mein Arm ihn enger zu mir zieht und ihn festhält.
 

„Und was tust du jetzt?“, fragt Chris mich nach einer Weile.
 

„Nichts“, gebe ich ehrlich Antwort. „Du magst mich, soviel habe ich verstanden. Solange du dich nicht endgültig in mich verliebst bleibt alles so wie immer.“
 

„Und wenn ich mich verliebe?“, bohrt er weiter.
 

„Das sehen wir dann, wenn es dazu kommt.“
 

Chris stützt sich auf, schiebt sich über mich und sieht von oben auf mich herab. In der aufgehenden Sonne wirken seine Haare beinah blond. Auch seine Augen bekommen einen grünlichen Stich.
 

„Chris…“, seufze ich leise, halte ihn fest, als er sich zurück ziehen will. „Ich traue mir nicht, was solche Gefühle angeht. Ich war einmal verliebt, vielleicht bin ich es noch, keine Ahnung. Ich kenne so was nicht, es fällt mir schwer damit umzugehen.“
 

Seine Finger streicheln sanft durch meine Haare, über meine Wange. Sein Daumen fährt über meine Lippen, zu meinem Kinn, wieder über die Wange. Er sieht mich einfach nur an, streichelt mein Gesicht, schließlich nickt er dann.
 

„Okay. Dann weiß ich ja, worauf ich mich einlasse“, lacht er leise.
 

„Auf deine Verantwortung“, bestätige ich ihm, lege meine Arme um seine Hüfte und sinke etwas tiefer in mein Kissen. Sein Kopf landet wieder auf meiner Brust, während seine Hände unablässig jeden Zentimeter Haut streicheln, den sie erreichen können.
 

Mit einem letzten Blick aus dem Fenster schlafe ich ein.
 

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„Steh schon auf!“, rufe ich nun zum vierten Mal, ziehe Chris das Kopfkissen weg und schmeiße es zu den beiden Decken auf den Boden. Das erste Mal habe ich mich damit begnügt ihn von mir runter zu stoßen.
 

„Chris!“, kommt es eindringlicher von mir, aber ich erhalte – wie die vier Male davor – nur ein leises brummen. Er ist wach. Das weiß ich. Schließlich hat er mich unverschämt angegrinst, als ich ihm die zweite Decke weggenommen habe.
 

„Komm und hol mich“, antwortet er und mir bleibt für einen Moment die Luft weg.
 

Ich hatte ihn immer für einen aufdringlichen, leicht nervigen, dafür aber hochanständigen und vielleicht sogar zurückhaltenden Jungen gehalten. In meiner Vorstellungen haben Sechzehnjährige keinen Sex. Zumindest nicht die heutige Generation. Die kann damit nicht umgehen. Werden direkt alle schwanger oder krank.
 

Ich hatte mein erstes Mal zwar schon mit vierzehn, aber ich wusste wenigstens wie ein Kondom aussieht. Zack wusste das auch. Bei Chris bin ich mir da gar nicht so sicher. Bei Jamie muss ich mir keine Sorgen machen, da habe ich das höchstpersönlich nachgeholt, als er mit Martina im Arm ankam. Er ist ziemlich rot dabei geworden.
 

„Was fällt dir eigentlich ein?“, fahre ich ihn an und im ersten Moment wirkt er auch erschrocken. „Du Grünschnabel bist nicht einmal trocken hinter den Ohren und kommst mir auf die Tour? Du hast doch keine Ahnung von solchen Sachen!“
 

Mit beleidigter Mine dreht Chris sich vollends zu mir um.
 

„So ein Unsinn! Ich bin sechzehn! Wir werden in der Schule schon mit zwölf aufgeklärt!“
 

„Heißt nicht, dass ihr dann wisst worauf es ankommt!“
 

„Gott, bist du altmodisch“, wirft Chris mir nun lachend vor, setzt sich auf und streicht sich nebenbei über die Brust, während seine andere Hand in seinen Haaren verschwindet. Die zu große Schlafanzughose ist ihm in der Nacht runtergerutscht sodass er nur noch in seinen Shorts dasitzt.
 

Es klopft und Bernhard steckt den Kopf zur Tür herein. Er lächelt uns zu, kommt zu mir heran und hält mir seinen Handrücken gegen die Stirn.
 

„Nur noch etwas warm. Hast du die Tabletten genommen?“
 

Ich nicke zur Bestätigung.
 

„Die Hose war doch viel zu groß. Gib sie mir, ich nehme sie direkt wieder mit.
 

Chris reicht ihm das Kleidungsstück, kann sich dabei allerdings nicht das freche Grinsen zu mir verkneifen. Bernhard plaudert noch eine Weile, lehnt unsere Einladung zur Party jedoch ab. Er muss heute schon wieder arbeiten. Als Zugführer hat man nicht immer das Glück über die gesamten Feiertage frei zu kriegen.
 

Als Bernhard sich verabschiedet hat und die Tür hinter ihm zugefallen ist, nutze ich die Gelegenheit um Chris eine zu verpassen. Lachend sieht er zu mir auf, greift nach meiner Hand und ehe ich mich aus dem Griff befreien kann, hat er mich so nahe zu sich gezogen, dass ich gegen das Bett stoße und mich auf der Matratze abstützen muss, um nicht auf ihn zu fallen.
 

„Dafür bist du noch zu jung“, ermahne ich ihn.
 

„Tatsächlich?“, zieht er spöttisch eine Braue nach oben. „Dabei hab ich mein erstes Mal schon gehabt. Mit einem Jungen. Und einem Mädchen. Letztes Jahr sogar schon.“
 

Missmutig verziehe ich die Miene.
 

„Mir egal“, maule. „Dann bist du für mich zu jung.“
 

Einen Moment ist Chris still, sieht mich nachdenklich an, ehe er sich vorlehnt. Ich drehe mein Gesicht von ihm weg, spüre seine Lippen auf meiner Wange, das sanfte Liebkosen seiner Zunge. Ich verharre in meiner Position, lasse die Eindrücke auf mich wirken. Doch schließlich richte ich mich auf, beende so die Berührung und werfe Chris einen warnenden Blick zu.
 

„Übertreib es nicht.“
 

„Das ist unfair“, beschwert er sich, verschränkt die Arme vor der Brust und wirkt wie ein schmollendes Kleinkind. Auch wenn er es selbst nicht sieht, er ist und bleibt einfach zu jung für solche Spielchen. Er macht sich vermutlich keinerlei Vorstellung davon, was passieren könnte, wenn jemand in meinem Alter die Beherrschung verliert.
 

„Es ist zu deinem Besten.“
 

„Unsinn!“, widerspricht er mürrisch. „Du ziehst einfach keine klaren Grenzen. Ich darf dich umarmen, mich an dich lehnen, bei dir schlafen, sogar auf dir schlafen, aber…“
 

„Aber du darfst mich nicht küssen, mich nicht anmachen und vor allem nicht mit mir schlafen“, beende ich seine Aufzählung. Mein Blick ist streng. „Und alles andere sind Sachen, die ich auch bei Thomas, Jamie und sogar Erich zulasse.“
 

„Dann bin ich für dich also nur ein Freund?“
 

In seinem Blick liegt etwas Verletztes. Ich verstehe Chris einfach nicht. Er hat Interesse an mir, nicht umgekehrt und ich glaube mit Fug und Recht behaupten zu können, dass ich ihm nie Hoffnungen gemacht habe. Es ist nichts passiert, nicht einmal im Ansatz.
 

„Sei froh, dass du wenigstens das bist“, erwidere ich schließlich.
 

„Oh, du bist so ein Arschloch!“, braust Chris auf, springt vom Bett herunter und schubst mich gegen das Fensterbrett, das sich unangenehm in meinen Rücken bohrt, als er mir den Fluchtweg verstellt. „Nie erzählst du etwas von dir, immer versteckst du dich hinter irgendwelchen Mauern. Dauernd bist du unfreundlich, aber dann machst du so absolut hinreißende Sachen. Aber wenn man darauf reagiert, wirst du wieder kalt!“
 

„Wovon redest du eigentlich?“, frage ich irritiert nach.
 

„Du hast mich umarmt! Mehrmals! Du warst da, wenn ich dich gebraucht habe, du hast mich sogar vor meinen notgeilen Kollegen bewahrt! Du lässt mich bei dir schlafen, nimmst mich dabei in den Arm und gestern… gestern hast du mich geküsst!“
 

„Habe ich nicht!“, wehre ich ab.
 

„Hast du wohl! Auf den Hals! Kurz bevor du fiebrig geworden bist!“, revidiert Chris sofort. Er ist total aufgebracht. Richtig wütend. Ich hätte ihm nie zugetraut, dass er einmal so ausrasten kann.
 

„Chris“, seufze ich, schiebe ihn bestimmend von mir, auch wenn er sich dagegen lehnt. Ich halte ihn an den Schultern fest, seufze noch einmal auf und schaue zu ihm herunter.
 

„Du nervst“, sage ich schließlich. „Du bist penetrant, aufdringlich, viel zu ehrlich und garantiert viel zu naiv, okay?“
 

Er wendet sich ab.
 

„Aber… ich hab dich gern, alles klar?“
 

Nun weiche ich seinem Blick aus.
 

„Frag mich nicht warum, keine Ahnung, aber ich hab dich gern. Und ich mag nicht sehr viele Leute. Und noch weniger Leuten schenke ich mein Vertrauen. Ich bin… schwierig. Es gibt Gründe, warum ich so bin. Ich kann’s nicht ändern. Nicht so schnell jedenfalls.“
 

„Du magst mich?“, unterbricht Chris mich, zwingt mich mit einer Hand ihn anzusehen.
 

„Ja“, gestehe ich ehrlich ein.
 

„Okay“, sagt er nach einer kurzen Zeit, in der wir uns einfach nur gegenüber gestanden haben. „Okay. Das reicht mir.“
 

Ich lasse ihn los und er wendet sich ab, sucht auf der anderen Seite des Bettes seine Sachen zusammen, kleidet sich wortlos an. Noch immer stehe ich auf der gleichen Stelle. Ich beobachte ihn, folge jeder seiner Bewegungen und wundere mich über mich selbst. Ich habe noch nie so offen über solche Dinge gesprochen. Nicht einmal mit Jamie.
 

„Es reicht mir, dass du mich magst, Raphael“, wiederholt Chris, als er an der Tür steht und mich mit einem seltsamen Blick mustert, den ich nicht recht deuten kann. „Vorerst.“
 

Als er aus dem Schlafzimmer verschwunden ist und ich mich zu meinen Klamotten vorlehne, die auf einem Stuhl neben dem Bett hängen, muss ich mit einem Mal anfangen zu grinsen. Es ist kein Lächeln. Ein wirklich breites Lächeln. Und ich kann es einfach nicht verhindern. Es ist aber auch einfach unglaublich. Unglaublich aber wahr.
 

Chris hat mich soeben zum Duell gefordert.
 

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Gemeinsam mit der kleinen Nervensäge bin ich kurz darauf auf dem Weg zu meiner Wohnung. Die Zwillinge werden von einer zu stürmischen Begrüßung abgehalten und dann liege ich kurz darauf Marianne im Arm. Sie zwingt mich dazu Fieber zu messen, eine halbe Flasche Wasser zu leeren und vor ihren Augen die Tablette zu nehmen, ehe sie sich mit ihren Söhnen in ihre eigene Wohnung aufmacht.
 

„Ich komme euch heute Abend abholen, damit ihr nicht zu der Party laufen müsst. Thomas soll nicht so viel trinken, damit er euch wieder heil nach Hause bringen kann.“
 

„Ist gut“, lenke ich ein. Es macht einfach keinen Sinn mit Marianne zu streiten. In solchen Sachen setzt sie ihren Kopf durch. Als Thomas krank war, war es genau dasselbe Spiel. Ehe sie nicht der Meinung ist, dass alles überstanden ist, hat man zu tun was sie sagt. Sehr fürsorglich und nett, aber auch sehr anstrengend.
 

Wir verabschieden uns und dann ist es für mich Zeit klar Schiff in der Wohnung zu machen. Marianne war so nett das leere Geschirr abzuspülen und wegzuräumen, aber die Wäsche hat sie stehen lassen. Gott sei Dank! Oberpeinlich, wenn sie das gemacht hätte.
 

Ich stelle die Waschmaschine an, gehe kurz duschen und steige in frische Klamotten. Auch Chris wird von mir zu einer ordentlichen Wäsche verdonnert und ich leihe ihm einmal mehr Sachen aus meinem Schrank.
 

„Sollen wir frühstücken gehen?“, frage ich Chris, als dieser aus meinem Schlafzimmer kommt. Ich räume gerade einige Bücher um.
 

„Gerne. Ich sterbe vor Hunger.“
 

„Dann gehen wir gleich. Ruf vorher lieber noch deine Mutter an.“
 

Murrend folgt er der Anweisung, greift nach dem Telefonhörer, der auf dem Wohnzimmertisch steht und tippt die Zahlen ein. Er wirft sich aufs Sofa, beobachtet mich dabei, wie ich meine CDs durchgehe und einige aussortiere.
 

„Ich bin’s“, kommt es brummig, als sich eine Stimme am anderen Ende meldet. „Ja, mir geht’s gut. Ich komm wohl erst morgen Abend nach Hause.“
 

Ich ziehe eine Schublade auf und nehme mir ein Staubtuch aus der Plastiktüte. Der Fernseher und die Regale werden abgestaubt, einige der Figuren räume ich beiseite. Die Dekoration ist schon viele Jahre alt und langsam wird es Zeit für neue Sachen.
 

„Hör auf, Mama“, beschwert sich Chris. „Ich hab dir gesagt wo ich bin! Gestern war ich bei der Familie eines Freundes und heute sind wir bei der Freundin seines Bruders! … Nein, das war eine kurzfristige Einladung. Außerdem kommt Opa doch erst morgen.“
 

Ich hole mir aus der Küche einen Beutel, packe das aussortierte Zeug hinein und stelle ihn auf den Tisch. Mehr als das will ich heute nicht machen. Im Flur klemme ich mir zwei Jacken unter den Arm und werfe eine davon Chris über den Kopf. Sein Blick ist genervt.
 

„Mama, bitte… Mama…!“
 

Scheinbar hat sich seine Mutter gerade in Rage geredet.
 

„Nein, jetzt hör doch mal!“
 

Ich lasse mich neben ihn auf das Sofa fallen, lege einen Arm um ihn und klopfe ihm aufmunternd auf die Schulter. Sein Blick ist beinahe flehend an mich gerichtet, doch ich lasse ihn in seinem Leid alleine.
 

Als er sich gegen mich lehnt, will ich zuerst von ihm abrücken, entscheide mich dann aber doch dagegen. Ich mag Chris. Das tue ich tatsächlich. Seine Nähe ist angenehm und ich bin sehr gerne mit ihm auf diese Weise vertraut. Es hat etwas Beruhigendes an sich.
 

„… wir haben doch vorher darüber gesprochen, Chris! Silvester, meinetwegen, aber der erste Tag in neuem Jahr war für die Familie reserviert! Das haben wir ausgemacht!“, höre ich die aufgebrachte Stimme einer Frau durch den Hörer.
 

Chris hat auf Lautsprecher umgestellt und lehnt mit geschlossenen Augen an meiner Seite. Mit seiner rechten Hand macht er eindeutige Zeichen, dass er diese Unterhaltung weder für voll nimmt, noch zum ersten Mal führt.
 

„Ja, haben wir, aber…“
 

„Kein Aber, Chris Berger! Nur weil du eine kurzfristige Einladung bekommen hast, musst du da noch lange nicht hingehen! Du bist heute um drei zu Hause! Es gibt Kaffee und dann wirst du mir bei den Vorbereitungen für heute Abend helfen!“
 

Jetzt ist es still. Auf beiden Seiten der Leitung.
 

„Rapha“, flüstert Chris mir ins Ohr. „Ich will mit zur Party, tu was!“
 

„Ich?“, gebe ich leise zurück. „Du bist doch alt genug um das selber zu regeln.“
 

„Bitte!“, fleht er nun eindringlicher.
 

Prüfend sehe ich ihn an, spüre seine Hand, wie sie kraulend meinen Arm entlang fährt. Als ob er jedes einzelne Härchen berühren würde. Wenn man mich jetzt fragen würde, dann würde ich nicht wollen, dass Chris zu seiner Familie geht. Auch wenn mir dieser Gedanke richtig Angst macht. Er geht einfach in eine zu eindeutige Richtung.
 

„Komm doch nach dem Abendessen zu Martina. Wird eh eine lange Nacht.“
 

Chris gibt diesen Gedanken seiner Mutter durch, die zeigt wie wenig sie begeistert von dieser Idee ist.
 

„Morgen gehen wir alle zusammen Brunchen, ich will nicht, dass du am Tisch halb einschläfst. Außerdem bist du in letzter Zeit genug weg gewesen, ich hab dich kaum noch gesehen. Du solltest wieder mehr zu Hause bleiben.“
 

„Mama! Ich bin sechzehn, verdammt! Außerdem passiert doch gar nichts!“
 

„Und woher weiß ich das? Ich sehe dich ja kaum!“
 

„Mama bitte! Nur noch heute! Morgen bin ich rechtzeitig wieder da! Außerdem bleiben die doch eh alle drei Tage da!“
 

„Deine Tante Elli fährt schon morgen nach dem Frühstück wieder zurück!“
 

„Als ob ich großen Wert darauf legen würde sie zu sehen! Und ihre kleinen Monster kann sie auch mitnehmen! Diese drei Weiber sind furchtbar!“
 

„Chris!“
 

„Ist doch wahr!“
 

„Es reicht! Das ist das allerletzte Mal, hast du mich verstanden? Du liegst morgen in deinem Bett, wenn ich in dein Zimmer komme! Ich stehe um halb acht auf, also sei ja nicht zu spät zu Hause!“
 

Ich höre ein Knacken, dann folgt ein Tuten und die Leitung ist tot. Seine Mutter hat vollkommen entnervt aufgelegt. Seufzend wirft Chris den Hörer neben sich, legt seinen Arm um meine Hüfte und kuschelt sich an mich.
 

„Eltern nerven“, mault er in meinen Pullover.
 

Ich lasse mich dazu hinreißen ihm durch die Haare streicheln, was ihm ein tiefes Brummen entlockt. Chris dreht sich auf den Bauch, versteckt sein Gesicht und atmet mir warm gegen den Bauch.
 

„Du solltest das lassen“, kommt es leise von ihm.
 

„Warum?“
 

„Weil es mir Hoffnung macht. Oder machst du das auch mit all den anderen?“
 

„Nein. Höchstens mit Jamie“, antworte ich ihm und bin über meine erneute Ehrlichkeit erstaunt. Aber es fühlt sich nicht so gepresst an, wie sonst immer, wenn ich mit jemandem über ernste Dinge spreche. Es ist beinahe amüsant so mit Chris zu sitzen und über alles zu plaudern.
 

„Hey, ich bin einen Rang aufgestiegen“, strahlt Chris mich an, als er sich aufsetzt. Er streckt sich einmal, steht dann auf und nimmt mich bei der Hand. Passend dazu meldet sich sein Magen knurrend zu Wort.
 

„Auf zum Frühstück“, sage ich lachend und gemeinsam machen wir uns auf den Weg.
 

---
 

Es ist ein kleines Bistro in das ich Chris führe. Ich habe früher einmal hier gearbeitet und ab und an komme ich noch auf einen Besuch vorbei. Auch wenn ich die Leute nicht mehr wirklich kenne. Dafür war es auch zu kurz gewesen.
 

Wir setzen uns an einen freien Zweiertisch und bestellen unsere Getränke, als die Bedienung komm. Chris nimmt seinen Tee, während ich mir einen schwarzen Kaffee leiste. Nichts geht über eine ordentliche Ladung Koffein am morgen.
 

„Musst du gar nicht arbeiten?“, fragt Chris.
 

„Ich muss nicht jeden Tag hin. Eigentlich gehe ich nur ein Mal die Woche hin um nach dem Rechten zu sehen. Ansonsten arbeite ich nur, wenn Erich mich eingeteilt hat.“
 

„Wie unfair.“
 

„Das ist das Recht eines Geschäftsführers.“
 

„Dann gehört dir der Schuppen?“, fragt er weiter.
 

„Nein. Ich besitze nur Anteile daran. Erich ist Inhaber“, erkläre ich ihm, nehme meinen Kaffee in Empfang und ordere dann eine große Frühstücksplatte. Verschiedener Aufschnitt mit einem Korb voller Brötchen und gekochten Eiern.
 

„Mann, dann wirst du ja noch reich“, pfeift Chris anerkennend, greift sich eines der Eier und schlägt es gekonnt in der Mitte durch. Ich reiche ihm das Salz und er streut es großzügiger drüber, ehe er zu löffeln beginnt.
 

„Hat Jamie auch schon gesagt, aber ich glaube nicht wirklich, dass ich damit reich werden kann. Eigentlich will ich das auch nicht mehr weiterführen, aber da ich nie was Richtiges gelernt habe, werde ich wohl dran hängen bleiben.“
 

„Du kannst so was doch nachmachen“, lenkt Chris ein, beißt beherzt in sein Brötchen.
 

„Kannst du dir bei mir vorstellen, dass ich noch einmal die Schulbank drücke?“, frage ich amüsiert zurück, nehme einen großen Schluck Kaffee und beschmiere mir ein Graubrot mit Butter und lege eine Scheibe Käse drauf.
 

„Hm, nicht wirklich, aber du kannst es bestimmt auch von zu Hause aus tun. Ich helf’ dir auch beim lernen.“
 

„Danke. Sehr großzügig von dir, aber nein danke“, lehne ich lachend ab. „Im Moment halte ich es noch ganz gut aus.“
 

„Mein Angebot steht.“
 

Eine Weile sitzen wir uns schweigend gegenüber, frühstücken und genießen den Morgen in vollen Zügen. Die anderen Gäste unterhalten sich leise, Passanten gehen vorbei und die alltäglichen Straßengeräusche dringen ungehindert zu uns vor.
 

„Was ist mit dir?“, frage ich schließlich, ernte einen verwirrten Blick. „Du hast mir gesagt du wärst Fotograf. Aber bist du dafür nicht etwas zu jung?“
 

„Ich bin doch für alles zu jung“, spöttelt Chris. „Eigentlich gehe ich noch zur Schule, aber in meiner Freizeit arbeite ich im Studio meines Großvaters mit. Ich will es später mal übernehmen.“
 

„Deine Freizeit dehnst du aber gerne aus, oder sehe ich das falsch?“
 

„Ein wenig“, stimmt er grinsend zu, bestellt sich ein Glas Orangensaft und klaut mir das Marmeladenglas, das ich bis eben noch in der Hand gehalten habe. Als Entschuldigung schmiert er mir dafür meine Brotscheibe.
 

„Welche Schule?“, hake ich nach.
 

„Die Realschule in meinem Stadtteil.“
 

„Willst du aufs Gymnasium wechseln?“
 

„Ich komm mir vor wie bei einem Verhör“, bemerkt er spitz, aber mit einem breiten Lächeln. Ihm gefällt diese Unterhaltung genauso wie mir. „Meine Mutter will, dass ich es mache. Mein Großvater hätte auch nichts dagegen, aber ich weiß nicht, ob ich will. Und ich glaube, ich bin auch zu schlecht. Man muss überall zwei oder eins stehen. Und ich kriege überall nur eine drei.“
 

„Rede doch mit Jamie. Der ist noch nicht so lange aus der Schule raus und kann dir sicher helfen? Selbst wenn du nicht wechselst kannst du dadurch einen besseren Abschluss schaffen.“
 

Chris nickt zwar, hebt aber dann die Schultern und lehnt sich aufseufzend in seinem Stuhl zurück. Seine Augen ruhen auf dem Brötchen, dass er in seiner Hand hin und her dreht, ehe er es schließlich beiseite legt.
 

„Lass uns das Thema wechseln, okay?“
 

„Meinetwegen. Schlag was vor“, lenke ich ein.
 

„Dein Beutel, was machst du damit?“
 

„Ich wollte es Thomas bringen und fragen, ob er was davon haben will. Ansonsten nehme ich es wieder mit und verkaufe es per Internet.“
 

„Lass mal sehen“, fordert Chris, streckt die Hand aus und greift danach, als ich es ihm rüberreiche. Er stöbert eine Weile darin herum, ehe er eine CD herausnimmt und mir beinahe anklagend unter die Nase hält.
 

„Du willst mich verarschen, oder?“
 

„Warum?“
 

„Die ist super, die CD, gib die doch nicht weg!“
 

„Ich hör’s halt nicht“, antworte ich und werfe einen kurzen Blick aufs Cover. Eine Michael Jackson CD die ich einmal von Zack geschenkt bekommen habe. Ich habe sie immer nur eingelegt, wenn er da war oder ich bei ihm. Aber jetzt habe ich dafür keine Verwendung mehr. Ich will den Schlussstrich einfach klar und deutlich vor mir haben.
 

„Darf ich sie haben?“, fragt Chris mit leuchtenden Augen.
 

„Nein.“
 

„Du gibst sie doch eh weg“, protestiert er leise.
 

Ich lehne mich vor, nehme ihm die CD und den Beutel ab und greife nach seiner Hand. Verwundert sieht er mich an. Ich schüttle den Kopf.
 

„Ich kauf dir meinetwegen ein neues Exemplar, aber die kriegst du nicht. Die wird auf jeden Fall verkauft.“
 

„Du bist komisch, aber meinetwegen. Dann habe ich etwas von dir“, grinst er mich an und versetzt mir mit diesen Worten einen Stich ins Herz. Wenn er nur wüsste, dass genau das der Grund ist warum ich ihm die CD nicht geben will. Weil es ein etwas von Zack ist, das ich mir all die Jahre bewahrt habe.
 

Im Grunde ist es nur ein Gedanke, ein Gefühl, aber es ist stark genug um Dinge bei sich zu behalten oder eben wegzuschmeißen. Als ob eine CD etwas dafür kann wie es mit Zack gelaufen ist. Trotzdem bringt sie mich dazu, sie wegzuschmeißen und Geld für Chris auszugeben und ihm etwas zu kaufen, was er dann mit denselben Augen ansehen wird, wie ich einst meine CD.
 

„Ist was?“
 

„Nein.“
 

„Sahst gerade abwesend aus…“
 

„Schon okay. Hast du noch Hunger oder sollen wir dann los?“
 

„Meinetwegen können wir“, stimmt Chris zu.
 

Ich zahle, gebe ein kleines Trinkgeld und raffe alle Sachen zusammen. Im ersten Moment bin ich überrascht als Chris nach meiner Hand greift und sie festhält, aber ich sage nichts dazu. Ein Zeichen, dass ihm Hoffnung auf mehr macht, aber ich denke, dass ich heute Morgen deutlich genug war. Ich mag ihn und seine Berührungen. Weiter will ich im Moment nicht gehen. Dafür gibt es zu viele Baustellen, an denen ich arbeite.
 

„Wohin gehen wir jetzt?“, reißt mich seine Frage aus meinen Gedanken.
 

„Erst ins Kaufhaus.“
 

Die fünfzehn Minuten sind schnell vorbei und wir stehen schon vor dem großen Gebäudekomplex. Chris hält mir die Türe auf und gemeinsam treten wir in die stickige Wärme der geheizten Räume.
 

Wir streifen durch die Regale, sehen uns einige Klamotten an, fahren die Stockwerke rauf und runter und verbummeln die Zeit eher als das wir sie nutzen. Chris lässt mir weitgehend meine Ruhe und ich bin ihm dankbar dafür. Er klebt nicht dauernd an mir, sondern macht sich oft genug selbst auf den Weg.
 

Ich bin mir nicht sicher was ich für meine Wohnung kaufen soll. Viel Krimskrams mag ich nicht, vor allem keine kitschigen Sachen. Leer stehen soll es allerdings auch nicht. Und da ich kein bisschen religiös bin halte ich nicht viel von Engeln, Kreuzen oder sonstigem derartigen Schnickschnack.
 

„Schau mal“, tritt Chris neben mich, hält mir eine kleine Vase und eine größere Schüssel entgegen. „Das wäre doch passend für dein Wohnzimmer.“
 

„Warum?“, frage ich nach, nehme ihm das Glas ab und drehe es hin und her.
 

„In die Vase kannst du dir einen Bambus stellen. Der macht nicht viel Arbeit, blättert nicht, ist schlicht, aber chic. Und die Schale kannst du mit ein bisschen Süßkram füllen, dann hat dein ganzer Besuch was zum knabbern. Oder du tust diese kleinen bunten Steine rein, sieht auch gut aus“, erklärt Chris und hält passend dazu eine Tüte mit roten, blauen, grünen und gelben Glassteinen hoch.
 

„Bei den Knabbereien denkst du doch nur an dich“, halte ich ihm vor, greife mit meiner freien Hand nach seinem Bauch und drücke leicht zu. Lachend geht er zwei große Schritte von mir weg.
 

„Jamie wohnt doch auch da“, meint er nur.
 

„Mach es dir ja nicht zu heimelig bei mir“, warne ich ihn leise, packe ihn im Nacken und ärgere ihn ein bisschen. Die Kabbelei mit ihm, endet abrupt, als er beinahe mit einem Regal Bekanntschaft macht und uns zwei Verkäuferinnen böse ansehen.
 

Ich nehme die Schale und auch die Steine mit und zahle. Für den Bambus konnte ich mich nicht wirklich erwärmen und so wandern nur diese beiden Sachen in einer Tüte, die ich Chris in die Hand drücke. Auf mehr Shopping habe ich auch keine Lust mehr und wir machen uns quer durch die Innenstadt auf den Weg zu Thomas.
 

„Hey, mein Liebling mit seinem Schützling, wie schön!“, strahlt er uns an der Tür entgegen, weicht meinem Schlag zur Seite aus und lässt uns in seine Wohnung rein, die so unordentlich ist wie ich sie mir vorgestellt habe.
 

„Hier, schau mal rein und nimm dir raus was du magst“, überreiche ich ihm die Tüte und ziehe mir Jacke und Schuhe aus. Dann gehe ich geradewegs in die Küche und schenke mir eine Tasse Kaffee ein, den Thomas gerade wohl neu gekocht hat.
 

„Alter“, höre ich es überrascht aus dem Flur, ehe mein bester Freund im Rahmen steht und mir die bereits bekannte CD vor die Nase hält. „Du schmeißt das Ding weg? Echt?“
 

„Ja“, sage ich rau, verstecke mich hinter meiner Tasse, zucke beinahe erschreckt zusammen, als Chris hinter Thomas in die Küche kommt und nach einem Glas fragt. Ich gebe ihm eins und werfe Thomas warnende Blicke zu.
 

„Ist was?“, fragt Chris irritiert, nippt an seinem Wasser. „Verstehe, bin schon weg.“
 

„Scheiße“, ruft Thomas aus, sobald Chris die Tür hinter sich zugezogen hat. „Was ist passiert, Mann? Setz dich, los!“
 

Er rückt uns zwei Stühle zurecht und ich erkläre ihm mit gedämpfter Stimme was bei meinem Besuch zu Hause passiert ist. Ich kläre ihn auch über das auf, was seine Mutter mir über die Trennung von seinem Vater erzählt hat und insgesamt gesehen entsteht ein Gespräch von fast zwei Stunden, ehe wir zum ersten Mal einen toten Punkt erreichen und uns nur anschweigen.
 

„Das mit der Trennung wusste ich schon länger“, gesteht mir Thomas nach einer Zeit. „Ich wollte dir nichts sagen, damit du das nicht auch noch mit dir rumschleppst. Am Anfang war es auch nicht sicher, ob sie das wirklich durchziehen, Mum wollte aber ehrlich mit mir sein und mich auf das Schlimmste vorbereiten.“
 

„Lassen sie sich scheiden?“
 

„Ich hoffe nicht“, seufzt Thomas, lehnt sich gegen mich und zeigt zum ersten Mal wie ihn die ganze Geschichte mitnimmt. In Gegenwart der anderen hat er nie auch nur die Miene verzogen. „Am Anfang habe ich viel mit Dad geredet, aber er brauchte seine Ruhe und da habe ich es gelassen. Ich glaube nicht, dass sie die Scheidung wollen, aber sie wissen beide, dass es vielleicht keine andere Möglichkeit gibt.“
 

„Das verstehe ich nicht“, gebe ich zu. „Wenn sie sich beide lieben, sich nicht trennen wollen, warum müssen sie es dann vielleicht?“
 

„Weil es beiden zu sehr weh tun würde, wenn sie beieinander bleiben. Ich wollte das nie sagen, aber ich glaube, dass es so ist wie bei dir und Zack.“
 

Ich versteife mich auf der Stelle, werfe Thomas einen verlorenen Blick zu. Auch wenn ich es gerne hätte, bin ich noch lange nicht mit Zack fertig. Die Trennung tut weh, auch wenn sie mir geholfen hat, dass ich mich etwas freier und nicht mehr so belastet fühle. Es war wirklich eine Last für mich, auch wenn ich mir gewünscht hätte, dass es anders ausgeht.
 

„Ihr bedeutet euch gegenseitig sehr viel, aber wenn ihr euch seht dann wird einer von euch verletzt. Meistens du, deswegen ist es gut, dass du dich getrennt hast“, sagt Thomas leise, drückt mich kurz an sich und zerwühlt mir dabei meine Haare. „Auch wenn ihr offiziell nie zusammen wart.“
 

„Nein, dafür hat es nicht gereicht“, gebe ich zu.
 

„Mach dir keinen Kopf, die beiden schaffen das schon, egal wie. Die Welt geht außerdem nicht unter, wenn die beiden sich scheiden lassen.“
 

„Okay“, stimme ich zu. „Aber wenn was ist, dann rede mit mir. Hast doch meine Nummer.“
 

„Ich weiß“, seufzt Thomas auf. „Manchmal wollte ich auch wirklich anrufen oder vorbeikommen, aber dann dachte ich mir wieder, dass du vielleicht mal eine Auszeit brauchst von all dem Scheiß in deinem Leben.“
 

„Wie kommst du darauf?“
 

„Wie wohl“, lacht Thomas rau auf. „Dein Zusammenbruch bei Martinas Abschluss? Jamie hat mir außerdem erzählt das ihr vorher auch ordentlich Stress miteinander hattet. Und dann hat man dich wochenlang nicht zu Gesicht bekommen. Auch Erich nicht und der arbeitet mit dir. Du hast dich vergraben und da dachte ich, dass du vielleicht Ruhe brauchst.“
 

„Ich sag beim nächsten Mal bescheid.“
 

„Okay.“
 

Gemeinsam lachen wir, nehmen uns in den Arm und alles ist wieder okay. Wir haben uns ausgesprochen, auf den neusten Stand gebracht und unser Verhältnis wieder aufgepeppt. Es klopft an der Tür und als Thomas freien Zugang gewährt steckt Chris seinen Kopf durch die Tür.
 

„Telefon“, sagt er.
 

„Wer ist dran?“, fragt Thomas.
 

„Ein Marius glaub ich.“
 

„Leg auf.“
 

„Echt?“, fragt Chris fragend nach. „Einfach so?“
 

Thomas steht langsam auf, geht in den Flur hinaus, zieht Chris dabei mit sich und ich höre ein lautes Knacken gefolgt von einem „Einfach so“ von Thomas. Ich muss lachen, greife mir meinen besten Kumpel, als er sich wieder neben mich setzt und auch Chris einen Platz anbietet.
 

„Wer war das?“, frage ich ihn, verpasse ihm dabei eine ordentliche Kopfzwiebel.
 

„Eine One-Night-Stand“, eröffnet Thomas breit grinsend.
 

„Was?“, keuche ich überrascht. Das haut dem Fass den Boden aus!
 

„Ja, Mann! Das ist die andere Sache, die ich noch loswerden muss. Ich hab’s mit `nem Kerl versucht. War auch gar nicht so übel, nur der Typ an sich hat genervt wie sau. Da war ich wohl etwas zu stark besoffen.“
 

„Krass“, fällt mir nur ein und ich sehe meinen Freund entgeistert an.
 

Thomas zieht viele Dinge einfach durch, über manche verschwendet er nicht einmal einen Hauch eines Gedanken, aber das er tatsächlich so weit gehen würde, hätte ich selbst ihm nicht zugetraut.
 

„In letzte Zeit gab es einfach keine netten Mädels und da dachte ich mir, probier ich’s halt mal aus. War wirklich nicht schlecht, weiß nicht ob ich es noch mal wiederhole. Vor allem aber erst, wenn der Kerl vom Charakter her besser drauf ist als Marius.“
 

„Soll ich’s dir beibringen?“, frage ich breit grinsend, erhalte den erwarteten geschockten Blick und auch den Schubser von Thomas, gegen seine Küchenzeile. Drohend baut er sich vor mir auf.
 

„Ich liebe dich, Rapha, echt, aber halt ja deine Finger bei dir!“, warnt er mich, versucht wirklich standhaft sein lachen zu unterdrücken, scheitert aber kläglich als ich ihm in die Seite steche.
 

„Ich kenn da wen…“
 

„Nein!“, ruft Thomas. „Damit fangen wir gar nicht erst an!“
 

„Ich kenn auch ein paar, wenn dir Raphas Leute nicht zusagen“, mischt Chris sich breit grinsend ein und schlägt bei mir ein, während Thomas sich unter unseren Sticheleien windet.
 

„Wenn du nur was gesagt hättest, Tommy“, säusle ich ihm ins Ohr. „Ich hätte doch auf dich aufgepasst. Deine Mami hat doch gesagt, dass du nicht dauernd so einen Unsinn anstellen sollst.“
 

„Schon gut, schon gut“, braust Thomas auf, flüchtet in den Flur. „Ich hab’s kapiert, okay? Ihr seid die Oberschwuchteln und ich ein kleiner Noob der einen Stalker am Hals hat, danke! Echt entzückend ihr zwei. Abmarsch zu Martina. Ich brauch Verstärkung.“
 

Ich gehe ihm lachend hinterher, reiche Chris seine Jacke durch, schlüpfe in meine Schuhe und ziehe auch meinen Anorak an.
 

„Glaub mir, wenn Erich hier wäre…“
 

„Sag’s ihm ja nicht! Dann kann ich mir dreißig Jahre was drüber anhören“, wehrt Thomas stöhnend, öffnet die Türe und schubst Chris und mich nach draußen, verriegelt alle sund stapft missmutig voraus. Ich und Chris feixen uns gegenseitig an.
 

---
 

„Nur herein“, begrüßt uns Martina strahlend, führt uns ins Wohnzimmer durch und holt aus der Küche unsere Getränke. Jamie können wir anhand des Messergeräusches identifizieren. Er ist fleißig am werkeln.
 

„Es ist toll einen zu haben, der kochen kann. Es ist so viel einfacher, wenn man nicht dauernd in so einblödes Buch gucken muss“, schwärmt die junge Dame sogleich, schenkt uns ein und gemeinsam stoßen wir auf einen fröhlichen Abend an.
 

Es ist noch früh, gerade erst sechs Uhr durch, aber ein gemeinsames Abendessen ist uns allen willkommen und mein kleiner Bruder hat sich wirklich ins Zeug gelegt und fantastische Sachen vorbereitet die überall Anklang finden.
 

„Fährst du Chris und mich später nach Hause?“, stupse ich Thomas mit der Schulter an.
 

„Nur wenn ihr lieb seid“, mault er zurück.
 

„Natürlich“, drücke ich ihm einen dicken Schmatzer auf die Wange und amüsiere mich köstlich darüber, dass mein Freund einmal mehr bemerkt wie es ist, wenn man sich zukippt und nicht darüber nachdenkt was man tut.
 

Der Abend plätschert gemächlich vor sich hin, es wird viel getrunken, erzählt und gegessen und wie fette Katzen hocken wir alle auf unseren Stühlen und bewegen uns keinen Millimeter weiter als wir müssen.
 

Schließlich aber erhebt sich Jamie, wartet darauf, dass wir alle ein frisches Glas Sekt bekommen und räuspert sich umständlich, wobei er sich sein Grinsen nicht verkneifen kann. So langsam werde ich unruhig.
 

„Tja, dann will ich das Geheimnis um den Grund unseres heutigen Treffens mal lüften. Thomas und ich haben uns gedacht, dass es an Silvester noch einen Grund zum feiern gibt außer dem neuen Jahr und deswegen haben wir diese kleine Privatveranstaltung angeleiert um ein ganz besonderes Einjähriges zu feiern.“
 

Seine bedeutungsschwangere Pause ist für meinen Geschmack etwas zu lang.
 

„Ich möchte hier und jetzt auf Chris anstoßen, den wir alle letztes Jahr Silvester kennen gelernt haben und der sich in diesem vergangenen Jahr doch echt zu einem verdammt guten Freund gemausert hat. Auf dich, Chris!“
 

„Auf dich!“, kommt es mehrstimmig, wir erheben alle unsere Gläser, trinken auf Chris, der sichtlich verlegen ist und der Reihe nach kurz ansieht und zunickt. Martina steht auf und nimmt ihn in den Arm, während Thomas seinen Rücken klopft. Mit Jamie schlägt er ein und ich finde, dass die beiden einen sehr verschwörerischen Blick austauschen.
 

Mir wird erst jetzt bewusst, dass es tatsächlich schon ein Jahr her ist, seit Chris in meinem Leben rumwuselt. Und ich habe mich wirklich schnell an ihn gewöhnt. Bei Martina hat es beinahe drei Jahre gedauert, bis ich sie so nah an mich ran gelassen habe wie jetzt. Ein wirklich mulmiger Gedanke.
 

Dennoch lege ich einen Arm um Chris, proste ihm zu und beglückwünsche ihm dazu, es so lange mit uns allen ausgehalten zu haben.
 

Erst jetzt scheint das neue Jahr wirklich anzufangen.
 

Und ich bin gespannt darauf, was es alles zu bieten hat.
 

---
 

Ich frage mich ob es mir gelungen ist zu zeigen, dass Raphael optimistischer geworden ist und ob es zwischen ihm und Chris nicht zu schnell geht?



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