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Dandelion

von

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Déjà-vu: Familienbande

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A/N: Diese kleine Fic entstand dank  Kim_Seokjin' toller Idee, einen FF-Adventskalender zu eröffnen.
 

Disclaimer: PSoH gehört mir nicht. Und ich schätze, niemand erbarmt sich und schenkt es mir zu Weihnachten. Oder?
 

Viel Spaß mit dem 22. Türchen!
 

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"Bitte, Count, Biiitte!"
 

Die kleine silberne Gabel entglitt Count D's Händen und fiel klirrend zurück auf den Kuchenteller. Seine irritierten Blicke schweiften von einem der beiden Blondschöpfe zum anderen und wieder zurück zum ersten, größeren, der gerade diese, D völlig unverständlich erscheinende, Bitte geäußert hatte. Die Gesichter der zwei Brüder strahlten regelrecht, ihre Wangen überzog ein erwartungsvolles Rot, und die beiden Augenpaare glänzten im Licht des hellerleuchteten Pet Shops.
 

D wand die Blicke gen Decke. "Von Chris hätte ich nichts anderes erwartet, aber von Ihnen, Officer, schon...", antwortete er leise, stach die Gabel in das letzte Stück Kuchen vor sich auf dem Teller und schob es sich in den Mund.
 

"Weihnachten ist nicht nur für Kinder da." Leon ignorierte D's Kopfschütteln. Sein Lächeln nahm an Breite zu. "Was ist nun, Count, ziehst du mit, oder", Leon nickte zu Chris hin, der förmlich an D's Lippen hing und auf die ersehnte Antwort wartete, "oder willst du etwa kein Weihnachten feiern?"
 

Chris zog den Atem hörbar ein. Erschrocken starrte er D an.
 

"Das ist Erpressung!", fauchte D und rührte mit dem Teelöffel demonstrativ geräuschvoll in seiner Tasse. Kleine Wölkchen des dampfend heißen Earl Grey stiegen daraus empor und wurden sogleich von D's hektischen Handbewegungen aufgescheucht.
 

Leon verschränkte die Arme im Nacken und wippte mit seinem Stuhl hin und her. "Ich weiß, dass das nicht die feine englische Art ist, die du bevorzugst, D, aber ich weiß auch, dass du den Zwerg nie enttäuschen würdest", erwiderte Leon und lächelte selbstgefällig.
 

Beruhigend strich D über Chris' Kopf, den dieser traurig gesenkt hatte. "Na schön, feiern wir--" - 'Weihnachten' hatte Count D noch sagen wollen, aber da war Chris schon von seinem Sitzplatz aufgesprungen, hatte ihm die Arme um den Hals geschlungen und drückte ihn so fest, dass D die Luft wegblieb.
 

"Ich - ich habe so etwas noch nie getan...", stammelte D. Er sah verzweifelt aus. Weniger wegen des kleinen Jungen, der ihm noch immer am Hals hing und mehr wegen dem, was da auf ihn zuzukommen schien. "Ist das nicht ein Fest für - Familien?"
 

Das selbstherrliche Grinsen war aus Leons Gesicht gewichen und an seine Stelle trat ein verständnisvolles Lächeln. "Eben", meinte er, ohne weiter darauf einzugehen.
 


 

D's skeptische Blicke beobachteten die grauen Wolkenberge, die sich über ihnen zusammengezogen hatten und aus denen kleine weiße Flocken zu ihnen hinab taumelten, um den Boden unter ihren Füßen mit einem dünnen weißen Schleier zu bedecken.
 

"Muss das sein?" D sah Leon an, als erhoffe er sich, dass dieser endlich verneinte. Doch der Officer nickte freudestrahlend.
 

"Natürlich, was dachtest du denn, wie die Geschenke unter den Tannenbaum kommen?" Leon schloss den Reißverschluss seiner Daunenjacke und zog sich Handschuhe über seine Hände.
 

"Was ist mit dem dicken Postboten?"
 

"Weihnachtsmann", berichtigte Leon den Count.
 

"Wie auch immer", D schlang die Arme um seinen fröstelnden Oberkörper. "Warum müssen wir den Job dieses Mannes machen und die Geschenke einkaufen gehen? Was hat er denn dann noch zu tun?"
 

Leon sah zögernd zu Chris, der außerhalb ihrer Hörweite das bisschen Schnee, das bereits auf eine niedrige Mauer gefallen war, mühsam zu einem schneeballgroßen Klumpen zusammenschob.

"Weißt du, ich glaube das ist etwas, was den Erwachsenen den Spaß an Weihnachten erhalten soll..."
 

D's hochgezogene Augenbrauen benötigten keine weiteren Worte mehr.
 

"Ist ja auch egal", seufzte Leon. Dem Count jetzt, zwei Tage vor Weihnachten noch den Sinn eben jenes Festes in all seinen kitschigen Facetten klarzumachen, war ein Unding. "Wir sollten uns beeilen, sonst gibt es unter unserem Tannenbaum nur Kohlen als Geschenke."
 

"Kohlen?" D schnappte erschrocken nach Luft.
 

"War nur ein Witz!", kam Leon etwaigen weiteren Fragen des ahnungslosen Count zuvor. Weihnachten in Gesellschaft des Counts zu feiern, gestaltete sich als weitaus schwieriger als gedacht.
 


 

Drei Stunden liefen sie nun bereits durch die Stadt und D sah seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt: es schneite ununterbrochen, er fror, und sein linker Arm schmerzte, da Chris, den D an der linken Hand hielt, ihn seit ihrem Aufbruch zu jedem einzelnen Schaufenster gezogen hatte, an dem sie vorüber gekommen waren.
 

Eine weitere, prall gefüllte Tüte gesellte sich zu den anderen, für die Leon mittlerweile beide Hände benötigte, um sie zu tragen. Und trotz dieser Last schien der Officer verdächtig fröhlich zu sein.
 

"Chris?"
 

Der Angesprochene sah fragend zu D empor, der nun stehen geblieben war und sich geheimnisvoll lächelnd zu dem kleinen Jungen hinabbeugte.
 

"Wollen wir beide dem Weihnachtsmann auch ein wenig Arbeit abnehmen, damit dein Bruder keine Kohlen als Geschenke bekommt?"
 

Chris folgte D's Nicken zu Leon hin, der bereits vor dem nächsten Geschäft stand und sich ein paar Modellautos ansah.

Chris wandte sich wieder dem Count zu, der noch immer kryptisch lächelnd auf seine Antwort wartete. Eifrig nickte Chris.
 

"Dann los", befahl D voller Vorfreude und zog dieses Mal Chris hinter sich her.
 


 

"Das ist nicht meine Schuld." Leon kniff die Lippen zusammen und drückte das kalte Wasser aus dem nassen Lappen, ehe er ihn auf die vor Fieber glühende Stirn des Counts legte.
 

D lag, die Augen geschlossen, in seinem riesigen Bett und regte sich kaum. Um ihn herum saßen Tetsu und die anderen Tierchen, die Leon ebenso böse anfunkelten, wie Chris, der an der linken Seite des Counts neben diesem auf dem Bett saß.
 

"Da hast du dir ja was Tolles geleistet, Officer", fauchte Tetsu giftig und gab den Blick auf seine Reißzähne frei.
 

"Umgebracht habe ich ihn nicht, Okay?!" Leon verdrehte die Augen. Woher hätte er wissen sollen, wie empfindlich D auf den Grog reagieren würde? "Was hatte dieser Chinese bei dieser Affenkälte auch nur in seinem Cheungsam herumlaufen müssen? Der Mantel hatte da auch keine Chance... Und dann noch dieses ständige Gejammer, es wäre kalt... Ist das ein Wunder?"
 

Chris' entsetzter Gesichtsausdruck ließ Leon augenblicklich verstummen.
 

"Entschuldige", reuevoll verzog Leon den Mund. Jetzt machte ihm der Kleine auch noch ein schlechtes Gewissen. Leon nahm den mittlerweile warmen Lappen von D's Stirn und tauchte den Stoff in die Schüssel mit dem kalten Wasser, ehe er ihn wieder auf der erhitzten Stirn des Counts platzierte.
 

Chris presste sein Ohr gegen den Brustkorb des Counts. Wie von weit her hörte er das Herz des Counts pochen. Wenigstens damit hatte Leon nicht gelogen. D lebte noch.
 

Leon seufzte kaum hörbar und strich sich über seine eigene Stirn, hinter der es ebenfalls schmerzte. Dieser ganze Stress war wohl auch nichts mehr für ihn...
 

"Packen wir die Geschenke ein", schlug Leon Chris vor, der sich jedoch nicht so leicht locken ließ. Lieber blieb er hier bei D sitzen und passte auf, dass sein großer Bruder nicht noch mehr anrichtete.
 

"Na schön." Leon verließ D's Schlafzimmer und kehrte kurz darauf mit allen Tüten zurück, die sie heute bei ihrem Einkaufsbummel zusammengetragen hatten.
 

Leon leerte sämtliche Einkäufe auf D's Bett aus, so dass dieser, von allen Geschenken umgeben, fast selbst wie eines wirkte. Wie eine zu groß geratene Porzellanpuppe mit rot bemalten Wangen in einem bleichen, kalten Gesicht, die zwischen Schachteln und etwas seltsam anmutenden Kuscheltieren lag.
 

Sachte strich Leons Hand über D's fiebernde Stirn. "Jetzt haben wir keinen Tannenbaum", murmelte er kaum hörbar vor sich hin.
 

"Wir haben Gummibäume", gab Tetsu zu bedenken. "Jede Menge sogar. Und Palmen."
 

Pon-chan klatschte eifrig in die Hände. "Oh fein, schmücken wir die!"
 

Im Nu waren sämtliche Bewohner des Pet Shops in hellster Aufregung. Einer überbot den anderen an Ideen, was von dem Inventar mit welchem Schmuck versehen werden konnte.
 

Leon kratzte sich am Kopf. Er wusste nach all der Zeit, seit er D kannte, noch immer nicht, wer seltsamer war: der Inhaber des Pet Shops oder seine 'Ware'..?
 


 

Wie mit Watte gefüllt fühlte sich D's Kopf an, als der Count ihn zu heben versuchte. Ein trockener Lappen fiel von seiner Stirn in seinen Schoß, als es D endlich geschafft hatte, sich einigermaßen in seinem Bett aufzusetzen. Seine noch müden Augen weiteten sich ungläubig, als er all die Girlanden aus künstlichen Tannenzweigen und Lichterketten sah, welche sich die Pfosten seines Himmelbettes empor wanden.

D schloss kurz die Augen, doch als er sie wieder öffnete, war immer noch alles so, wie zuvor.
 

Das Rascheln von Papier ließ D aufhorchen. Hatte er zwei Tage verschlafen und alle waren nun schon dabei, ihre Geschenke auszupacken, dachte er erschrocken.

D wollte aus dem Bett springen, hielt jedoch sofort wieder inne, als er den kleinen Jungen an seiner Seite erkannte.
 

Chris mühte sich gerade damit ab, etwas in Geschenkpapier zu hüllen, als sich eine bleiche Hand auf das bunte Papier legte. Chris sah von seiner Beschäftigung auf und prompt erhellte sich sein Gesicht. Der Count war aufgewacht!
 

"Haben wir schon Weihnachten?", war die erste Frage des Counts.
 

Chris schüttelte den Kopf.
 

"Zum Glück!" D ließ sich wieder zurück in die Kissen sinken. Halb sitzend sah er Chris zu, wie dieser das Geschenk, das sie Leon gekauft hatten, einpackte. "Ich kann dir gar nicht sagen, welch seltsame Sachen ich geträumt habe", begann der Count.
 

Gespannt horchte Chris auf.
 

D musste lachen. "Die erzähle ich dir ein andermal. Wo ist Leon?"
 

Chris' ausgestreckter Zeigefinger deutete neben D.
 

"Oh." D wusste nichts weiter zu sagen. Rechts neben ihm auf dem Bett lag Leon und schlief friedlich. Oder zumindest wirkte es so. Überalls auf seinem Gesicht glitzerten feine Schweißtröpfchen und seine Wangen waren gerötet.

Als D dem Officer ein paar verschwitzte Haarsträhnen aus dem Gesicht strich, bemerkte er die unnatürliche Hitze, die von Leons Stirn ausging.
 

"Nun, Chris", begann D, "es scheint so, als müssten wir beide wirklich den Job des Weihnachtsmannes alleine übernehmen?!"
 

Chris lachte. Stolz hielt er D das von ihm eingepackte Geschenk für seinen Bruder entgegen.
 

"Ich hätte es nicht besser hinbekommen", lobte der Count den kleinen Jungen, der sich gleich daran machte, das nächste Geschenk einzupacken.
 

Zufrieden lehnte sich D in seine Kissen. Seine Blicke ruhten auf Leon, der sich den ganzen Tag fast ein Bein ausgerissen hatte, um seinem kleinen Bruder wieder ein wenig der Normalität zurückgeben zu können, die dieser sicher lange hatte entbehren müssen.

Und jetzt bekam er selbst kaum etwas davon mit.
 

"Als Weihnachtsmann haben Sie ordentlich versagt, Officer", flüsterte D und strich Leon sachte über die geschlossenen Lider. "Aber einen besseren Bruder als dich, gibt es auf der ganzen Welt nicht."
 


 

~ Ende ~

Devotion

Die Eingangstür des Pet Shops öffnete sich mit einer so unglaublichen Langsamkeit, dass der draußen ungeduldig von einem auf den anderen Fuß tretende Mann, der seit mehr als zehn Minuten auf eine Regung gewartet und dabei zwei Zigaretten hintereinander geraucht hatte, einen Moment abwartend inne hielt und dem Knarren der ungeölten Angeln lauschte, das sogar den Straßenlärm übertönte, der um ihn herum herrschte.

Ein helles Oval tauchte in dem sich vergrößernden Spalt auf. In der Dunkelheit, die hinter D den sichtbaren Raum ausfüllte, wirkte sein Gesicht seltsam blass.

"Na, endlich! Ich dachte schon, du machst mir nicht mehr auf." Leon warf seine brennende Zigarette weg, die zischend in einer Pfütze verglühte, und versuchte, sich durch den schmalen Spalt der geöffneten Tür ins Innere des Pet Shops zu drängen. Endlich weg von der verregneten Straße, die mit Menschen mit Regenwettermienen überfüllt war, und hinein ins Warme! Nicht einmal D's furchtbar süße Kuchen oder die Luft verpestenden Räucherschalen konnten ihn abschrecken. Doch kaum, dass Leon einen Schritt in Richtung der Tür gemacht hatte, schob D diese wieder ein Stück zu.

Irritiert machte Leon eine unbeholfene Handbewegung Richtung Pet Shop. "Was ist, darf ich nicht mehr rein?"

"Sie kommen gerade ungelegen, Officer Orcot", erwiderte D förmlich und schob die Tür noch um ein Stück zu, so dass nur noch eine Hälfte seines Gesichts sichtbar war.

"Ich komme immer ungelegen, das ist schließlich die Basis unseres-"

"Was wollen Sie überhaupt hier, Officer?", unterbrach D den Redestrom seines unerwünschten Besuchers. "Etwa wieder Weihnachten feiern?" D's Stimme war ruhig, beinahe schon desinteressiert, aber seine Blicke, die Leon von oben bis unten abmaßen, waren flink und gründlich, als suchten sie etwas an ihm, das nicht zu seinem sonstigen Auftreten passen wollte. Oder – was Leon aus dem bisherigen ungewöhnlichen Verhalten des ohnehin schon spleenigen Ladenbesitzers schloss – D schien ihn abwimmeln zu wollen.

"Nein, keine Sorge, letztes Weihnachten war mir eine Lehre." Leon schob seine kalten Hände in die Taschen seiner vom Schneeregen durchnässten Jacke, was es nicht unbedingt besser machte. Ihn fröstelte langsam aber sicher und wenn D ihn nicht endlich zu sich hinein ließ, dann endete es wieder so wie im vergangenen Jahr, dass er am Weihnachtsabend mit einer Grippe im Bett lag – ausgerechnet in D's Bett! – und der Count ihm irgendetwas einflößte, von dem er behauptete, dass es ein traditionelles chinesisches Medikament sei. "Diese Medizin, die du mir gegeben hast, wirkt immer noch nach, habe ich das Gefühl."

"Dann ist ja gut", entgegnete D knapp.

"Was soll das heißen?" Leons Augen verengten sich zu zwei schmalen Schlitzen, die sein Gegenüber misstrauisch betrachteten. "Was war das überhaupt für ein Zeug?"

"Es hat geholfen, das ist doch die Hauptsache." D's Mundwinkel bogen sich zu einem leichten Lächeln, wovon Leon allerdings nur den rechten Teil sehen konnte. Es erinnerte ihn an etwas, an irgendetwas, was nichts mit dem Pet Shop zu tun hatte. An eine Theatermaske. Und hinter Masken konnte man bekanntermaßen gucken.

"Chris hatte viel Spaß." Leon gab sich Mühe, so normal wie möglich zu klingen, konnte es aber nicht ganz vermeiden, sein Gesagtes wie eine Aufforderung an D, endlich mit der Sprache rauszurücken, klingen zu lassen.

Und D durchschaute diese Taktik augenblicklich. Schämen Sie sich, Officer, dachte er amüsiert. Laut sagte er: "Hatten wir nicht alle Spaß?"

Leons Mund verzog sich, als hätte er in eine Zitrone gebissen. "Ich für meinen Teil weiß nicht mehr allzu viel davon..."

"Wie schade", flötete D fröhlich, während er die Tür zu schließen versuchte.

"Moment!" Leon hob die Hand und drückte oberhalb der Klinke gegen das Türblatt. Erstaunt musste er feststellen, dass D stärker war, als er vermutet hatte. Die Tür bewegte sich keinen Zentimeter. Doch den Pet Shop zu betreten war ohnehin nicht mehr sein einziges Ziel. "Sag das noch mal."

"Was denn?" D's Augenbrauen hoben sich nun erstaunt. "Was soll ich sagen?"

"Nichts, schon gut, das reicht", sagte Leon. Er hob die Hand und deutete mit seinem Zeigefinger auf D's Gesicht. "Jetzt weiß ich, was hier los ist", verkündete er stolz.

"Das bezweifele ich, Officer", erwiderte D süffisant.

"Schon wieder!" Leon lachte triumphierend auf und handelte sich einen weiteren missbilligenden Blick von D ein.

Die Tür wurde wieder um ein kleines Stück aufgezogen.

"Sind Sie hier, um sich über mich lustig zu machen?" Alles, was D als Antwort auf seine Frage bekam, war ein weiteres Lachen Leons.

"Du verrätst dich mit jedem Mal, dass du den Mund aufmachst und etwas sagst", freute sich Leon. Fasziniert starrte er auf D's Lippen, die sich in zwei dünne verärgerte Linien gewandelt hatten.

"Kommen Sie bitte später wieder, Officer." D klang nun so kalt, wie die Luft, die hinter ihm aus dem Pet Shop nach draußen drang und die den Atem des Count in weiße Wölkchen verwandelte, die vor seinen Lippen aufstiegen und ihn wie einen Schwefelspuckenden Drachen aussehen ließen.

"Ist deine Heizung ausgefallen?" Leon wähnte sich auf der richtigen Spur.

"Bitte?" Je ärgerlicher D wurde, um so mehr Atemwölkchen stiegen aus seinem Mund auf, so dass es nun auch D nicht mehr verborgen blieb, was Leon so freute.

"Das muss dir doch nicht peinlich sein", gab Leon verständnisvoll zurück. Wäre die Tür weiter offen gewesen, hätte er dem Count bei diesem Satz jovial auf die Schulter geklopft. "Diese ganzen Viecher kosten eben viel Geld, was die alleine so fressen. Ist ja kein Wunder, wenn du dann nichts mehr übrig hast, wovon du dein Brennholz bezahlen kannst."

"Viecher?" D schnappte empört nach Luft. "Und ich heize nicht mit Holz."

"Ist ja auch egal, das kriegen wir schon wieder hin." Leon betrat die oberste Stufe. "So lange es keine Gasheizung ist, kann ich ja mal nachseh-"

Mit voller Wucht fiel die Tür vor Leons Nase ins Schloss und zwar so knapp, dass der Luftstrom ihn blinzeln ließ. Ein Zentimeter mehr und er hätte nun eine gebrochene Nase.

Jetzt war sich Leon absolut sicher, dass D ihn tatsächlich abwimmeln wollte!
 

D atmete einige Male tief ein und aus. Auf seiner Stirn hatte sich trotz der Kälte ein dünner Schweißfilm gebildet und sein Brustkorb schmerzte, so sehr hatte es ihn angestrengt, Leon davon abzuhalten, den Pet Shop zu betreten. Dabei war die Anstrengung weniger physisch gewesen, denn er hatte Hilfe gehabt, den neugierigen Officer am Eintreten zu hindern.

"Das war knapp." D wandte sich der Person zu, die neben ihm im Schatten hinter der Tür stand und ein gezücktes Schwert hielt.

Ein beunruhigter Blick aus mandelförmigen schwarzen Augen traf D, der nun langsam die Hand von der Türklinke gleiten ließ und dem Mann dabei freundlich zulächelte.

Der Fremde schien das als Signal zu verstehen, denn nun ließ auch er seine Hand, die den Schwertgriff umklammert hielt, sinken. Die glänzenden Platten auf seiner Rüstung schimmerten wie dunkles Wasser, das man in Bewegung versetzt hatte, als er sich aus seiner zum Angriff geneigten Hab-Acht-Stellung aufrichtete. Von einem metallischen Zischen begleitet, schob sich die scharfe Klinge des Schwertes zurück in seine Hülle.

Ein Schauer durchlief D's Körper und er verschränkte schnell die Arme vor seiner Brust. Es war in der Tat sehr kühl im Pet Shop. Kühl und ungewohnt still.

"Tee?", fragte D den Mann, der jede seiner Bewegungen genauestens beobachtete.
 

Das Klirren der Rüstung des hinter D hergehenden Mannes hallte mit jedem Schritt in dem langen Flur wider, doch niemand streckte seinen Kopf aus den Türen, die sie passierten, um nachzusehen, was draußen vor sich ging. Kein einziger seiner Mitbewohner ließ sich blicken, nicht einmal die kleine wuselige Pon-chan oder der misstrauische Tetsu. Auch Q war nirgendwo.

D konnte sich ein Seufzen nicht verkneifen. Je länger er darüber nachdachte, desto bewusster wurde ihm, dass es ihm tatsächlich lieber gewesen wäre, den Officer hier zu haben. Nicht, weil er ihm etwa eine Hilfe hätte sein können, sondern mehr, um – ja, was eigentlich? Um nicht alleine zu sein? Selbst Weihnachten zu feiern klang auf einmal wesentlich besser, als das, was noch vor ihm lag.
 

"Das ist nicht Ihr Ernst, oder doch?" Mit offenem Mund sah D von einem seiner Besucher zu dem anderen. Zuerst zu dem kleinen Blondschopf, der im gleichen Augenblick, in dem sich die Tür des Pet Shop zum zweiten Man an diesem Tag geöffnet hatte, an dem Count vorüber flitzte, bis hin zu dem Großen, an den auch seine harsche Frage gerichtet war.

Leon nutzte die Gunst der Stunde und drängelte sich mit Chris einfach an dem überrumpelten D vorbei, der ob dieser Unverfrorenheit die Luft scharf einsog und gut hörbar wieder ausstieß, ehe er die Eingangstür schloss. Das Türschloss schnappte leise ein.

"Eben ging das aber noch schneller", bemerkte Leon mit in die Seiten gestemmten Armen. Er sah D nach, der missmutig an ihm vorüber stapfte. D stapfte nie. Er ging oder schlenderte oder wandelte oder wie immer man das auch nannte, aber er stapfte nie.

Leon bemühte sich mit dem Vorauseilenden Schritt zu halten, der etwas steif und mit sichtlich uneleganten Bewegungen seines Weges ging.

"Sag mal", begann Leon, nachdem er D eine Weile zugesehen hatte, "wie viele deiner komischen Kleider hast du überhaupt an?"

D tat, als hätte er Leons Frage nicht gehört.

Leon sah das als Bestätigung, richtig zu liegen und als direkte Aufforderung, weiter zu bohren. "Das mit der Heizung stimmt also."

"Ich weiß nicht, wovon Sie da reden", gab D unbeeindruckt zurück.

"Na hör mal, Count, hier ist es Ar-"

"Officer, bitte!" D war so abrupt stehen geblieben, dass Leon beinahe gegen ihn gestoßen wäre. "Achten Sie auf Ihre Wortwahl, hier sind Kinder!"

"Kinder?" Irritiert sah sich Leon um. Sie standen alleine auf dem langen Flur. Die einzigen anderen Laute, die zu hören waren, war das Zuschlagen von Türen, das von einem Zimmer zum nächsten klang, begleitet von Chris' hektischen Schritten. Ansonsten war es still. In einem sonst vor Tieren wimmelnden Haus war es nie still und D stapfte auch nie.

"Wo sind deine ganzen Viecher?"

Ehe D wieder empört zu schnauben beginnen konnte, winkte Leon ab.

Es war nicht nur eiskalt hier, es war auch so ruhig, dass sich Leon langsam wirklich unwohl zu fühlen begann. Instinktiv schaltete sich sein von Berufswegen antrainierter Spürsinn hinzu und überlagerte bald schon die Hinhaltetaktik des Count, der ihn mit listigen Blicken musterte. Plötzlich wurde Leon klar, was hier vor sich ging, warum D ihn nicht hier haben wollte. Er wollte es D gerade direkt auf die blasse Nase binden, als dieser ihn einfach wortlos stehen ließ und mit langen Schritten zu einer Tür eilte.

"Chris?"

Der Name seines Bruders ließ Leon augenblicklich seine Beweisführung vergessen. Er rannte D nach, der gerade im Begriff war, hinter einer dieser verdammten unzähligen Türen zu verschwinden.

"Chris?" Leons alarmierte Stimme hallte von den hohen Wänden des Zimmers wider und wurde als Echo zu ihnen zurück geworfen, bis sie schließlich verstummte und er das Pochen seines eigenen ängstlichen Blutes in seinen Schläfen fühlte.

Leon spürte wie D neben ihm das Zimmer betrat und hörte das leise melodische Lachen des Count.
 

Chris saß mit baumelnden Beinen auf einem verschnörkelten Biedermeier-Sofa und schob sich gerade einen Keks mit rosa Zuckerguss in den Mund.

Ihm gegenüber am reich gedeckten Tisch saß ein in einen eleganten schwarzen Anzug gekleideter fremder Mann auf einem zierlich wirkenden Stuhl. In einer Hand balancierte er eine dampfende Teetasse und in der anderen hielt er ein hauchdünnes Tellerchen, auf dem ein kleines Kuchenstück thronte.

Die hübsch gedrechselten Beine des antiken Stuhles quietschten leise, als sich der Mann, der viel zu groß für das fragile Möbelstück wirkte, vorbeugte und die Tasse auf der Tischplatte abstellte. Mit spitzen Fingern ergriff er eine goldschimmernde Kuchengabel, die förmlich in seiner großen Hand zu verschwinden drohte, und teilte ein winziges Stück des cremegefüllten Kuchens ab, um es sich gleich darauf in den Mund zu schieben.

Leon schüttelte kurz den Kopf, doch die befremdliche Szenerie blieb.

"Möchten Sie einen Tee, Officer? Oder lieber einen Kaffee?"

Leon räusperte sich, ehe er D mit heiserer Stimme antwortete. Was er gesagt hatte, wusste er nicht, denn der Anblick des Teekränzchens lenkte ihn weiterhin ab. Es musste etwas Zustimmendes gewesen sein, denn gleich darauf fand sich Leon inmitten der Teetrinkenden Gesellschaft wieder.

So etwas schien ihm ständig zu passieren, sobald er kurz davor war, den Count zu entlarven.

Vorsichtig nippte Leon an dem heißen Tee, der so süß war, dass es ihm normalerweise den Mund zusammengezogen hätte, aber auf einmal hatte 'normal' wieder einmal eine andere Bedeutung bekommen und somit genoss er einfach den Tee ohne weiter darüber nachzudenken.

D's schmale Hand legte sich auf Chris', der im Begriff gewesen war, seinen Bruder anzustupsen, der neben ihm auf dem Sofa saß und wie in Trance seinen Tee in kleinen Schlucken trank.

"Könntest du mir einen Gefallen tun?"

Ja! Was denn? Gebannt sah Chris zu D auf, der ihn freundlich anlächelte und so leise sprach, als teilten sie ein Geheimnis miteinander.

"Geh und wecke Pon-chan und Tetsu und dann sucht ihr Q. Ich habe noch etwas zu tun, aber wenn ich fertig bin, kaufen wir wieder Geschenke und feiern von mir aus auch wieder Weihnachten."

Ohne zu antworten sprang Chris auf und verließ das Zimmer.

Als sich D erhob, stand auch der Fremde auf. Nur Leon blieb sitzen und schlürfte leise seinen Tee, als ginge ihn das alles überhaupt nichts an.
 

"Sie machen Winterschlaf!" Leon sah von seiner Teetasse auf, die schon längst bis auf den letzten Schluck ausgetrunken war. Seine Wangen fühlten sich seltsam taub an und seine Lippen waren trocken und spröde, ganz so als hätte er stundenlang versucht einen Großbrand auszupusten.

"Hey, D, habe ich recht? Deine Viecher haben sich wegen dieser verflixten Kälte verkrochen und-"

Endlich fiel es Leon auf, dass er sich alleine an der Teetafel befand. D, Chris und der komische Typ waren verschwunden.

"Behandelt man so etwa seine Gäste?" Die Teetasse klirrte leise, als Leon sie auf dem Tisch abstellte. Was für eine bodenlose Frechheit, ihn hier so mir nichts dir nichts zurückzulassen!

Wütend stapfte Leon zur Tür hinaus.
 

Wohin der Count und sein Gefolge verschwunden waren, war nicht schwer zu erraten. Er musste einfach nur der Eiseskälte folgen, die unaufhörlich durch den Pet Shop strömte, und irgendwann fand sich Leon auch vor einer zweiflügeligen Tür wieder, die höher und breiter als die übrigen war.

Leon legte den Kopf in den Nacken, sah hinauf und vergaß sogar zu fluchen, so beeindruckt war er.

Wie schaffte es D nur, dass der Pet Shop um so vieles größer war, als es von draußen den Anschein hatte? Welcher Architekt brachte so etwas zustande?

Ein kalter Schauer weckte Leon aus seinen Überlegungen. Aus dem hauchdünnen Spalt in der Mitte der beiden Türen pfiff ein harscher Wind und ließ Leon erneut frösteln. Die Kälte schien direkt aus dem Raum dahinter zu kommen.

Was hatte dieser verrückte Chinese jetzt schon wieder angestellt?

Leons Hand legte sich auf eine der blanken Messingklinken und drückte diese vorsichtig hinunter. Fast erwartete er, dass das Schloss eingefroren war und er nie erfahren würde, was diese eisigen Temperaturen verursachte, da gab die Tür auch schon nach und ließ sich widerstandslos aufschieben.

Statt in einem einzigen großen Raum fand sich Leon gleich darauf in einer Art Vorzimmer wieder. An der gegenüberliegenden Wand befand sich eine weitere Tür, die kleiner war, als die, durch die Leon gerade trat, dafür aber schöne Verzierungen aufwies.

"D?" Vor Leons Mund stiegen weiße Atemwolken auf. Gebannt lauschte er einen Moment in die Stille, ehe er seinen Weg über einen gefroren knirschenden Teppich fortsetzte.

Je näher er der zweiten Tür kam, desto kälter wurde es. Und dann stand er so nahe vor der Tür, dass er sehen konnte, dass die vermeintlichen Verzierungen gar keine waren. Es war Raureif, der die Tür überzog und auch schon auf die Wand daneben übergegriffen hatte.

Leon blinzelte irritiert, als er sah, was von der wie mit einem weißen Pelz bedeckten Türklinke herab hing: Eiszapfen! Dünne durchsichtige Eiszapfen, die leise klirrend auf dem Boden zersprangen, als Leon sie wegwischte, um die Tür zu öffnen.
 

Der Wind, der Leon aus der geöffneten Tür entgegen wehte, trug winzig kleine Schneeflocken mit sich mit, die der Officer mit offenem Mund bestaunte.

Es wurde immer merkwürdiger und hatte offensichtlich nicht vor, besser zu werden.

Leons erster forscher Schritt in das Durchgangszimmer währte ungefähr eine halbe Sekunde, da rutschte sein Fuß, kaum dass er den Boden berührt hatte, auch schon wieder weg und der junge Mann hätte sich beinahe der Länge nach hingelegt, hätte er sich nicht gerade noch am Türgriff festgehalten.

Nach dem ersten Schrecken erhob sich Leon mit weichen Knien und suchte nach festem Stand. Seine vorsichtigen Blicke gingen zu Boden, der spiegelblank unter seinen Füßen schimmerte und eine weiß-blaue Farbe hatte.

Wusste D denn nicht, wie gefährlich es war, einen Boden so glatt zu polieren, dass jeder Schritt einen die heilen Knochen kosten konnte?!

Behutsam ging Leon über den glatten Boden. Als ginge er auf Eierschalen setzte er einen Fuß sachte vor den anderen und gab sich Mühe, all das nicht allzu hektisch zu tun.

Der herrschende Wind wurde mit jedem Meter, den Leon in dem unbekannten Terrain zurücklegte, stärker, bis er sich schließlich zu einem Sturm gemausert hatte.

Wie lang mochte dieses Zimmer wohl sein?

Vergeblich kämpfte Leon mit den fast waagerecht dahin fliegenden Schneeflocken, deren scharfe Eiskristalle ihm in den Augen brannten.

Schützend hielt er sich eine Hand vor die Augen und tappte mehr blind als sehend durch das Schneetreiben.

"D?", schrie Leon gegen das Heulen und Sausen des Sturmes an, das an seinen Haaren und Kleidern zerrte. "Chris?"

Seine Stimme verklang kaum einen halben Meter vor ihm.

Mühsam quälte sich Leon weiter durch den Schnee, der sich mittlerweile kniehoch auf dem Boden aufgetürmt hatte.

Und dann war es mit einem Mal wieder so Windstill, dass Leon, der die ganze Zeit dagegen angekämpft hatte, nicht mit dem plötzlich verschwindenden Widerstand rechnete und vornüber in eine Schneewehe fiel.
 

Schwer atmend setzte sich Leon auf und sah sich in dem Zimmer um, bei dem er sich nicht mehr so sicher war, ob es überhaupt ein Zimmer war oder ob er nicht doch irgendwie nach irgendwo draußen gelangt war.

In seinen Ohren hallte das Heulen des Windes nach und sein Gesicht fühlte sich taub an.

Wenn er D in die Hände bekam! Sobald sie wieder aufgetaut waren, würde er sie benutzen und dann, ja dann Gnade ihm Gott...

Die Schneewehe vor Leon bewegte sich und staunend sah der junge Mann zu, wie daraus eine bekannte Gestalt aufstand, sich den schwarzen Anzug glatt strich – was irgendwie lächerlich wirkte, da er von Kopf bis Fuß mit Schnee bedeckt war – und sich dann Leon zuwandte.

"Einen verrückten Chinesen hätte ich gefunden, bleibt noch der andere", murmelte Leon und grinste den Mann frech an, der ihn bereits im Sitzen um mehr als einen Kopf überragt hatte. "Wo sind mein Bruder und D? Und was zur Hölle ist das hier?" Leon deutete vorwurfsvoll auf den Schnee, der sich vor ihm zu einem so riesigen Haufen auftürmte, dass Leon den Kopf in den Nacken legen musste, um daran hochzusehen.

Leon maß in Gedanken die Höhe des Gebildes vor sich ab, was ihm nicht so recht gelingen wollte, da ein Teil davon in den dichten Wolken darüber verschwand. Um das untere Drittel herum hatte sich Schnee angesammelt, aber darüber konnte man gut den schwarzen Felsen erkennen, der mit großen Schuppen bedeckt war.

"Seit wann ist hier ein Berg?"

Leons Frage war an den Typen vom Teekränzchen gerichtet, der eisern schwieg. Vielleicht hatte er sich auch nur wieder in seinem Schneehaufen verkrochen, mutmaßte Leon.

Und dann wurde ihm abwechselnd heiß und kalt, als er das Gesehene in seiner Gesamtheit betrachtete und darüber nachdachte, was er sah. Etwa: seit wann hatten Berge Schuppen?

Leon sprang auf die Füße. Seine halberfrorenen Gliedmaßen waren mit einem Mal vergessen und er taumelte einige Schritte rückwärts, ehe sein Verstand und sein Körper wieder eine Einheit bildeten.

"Heilige Sch... Schildkröte?"
 

"Ich glaube, ich spinne." Leon lachte laut auf. "Hey du", rief er der schwarzen Gestalt zu, die zwischen ihm und der unglaublich riesigen Schildkröte stand, oder besser gesagt: vor dem unglaublich riesigen Schildkrötenpanzer, denn es waren weder Kopf noch Beine zu sehen.

"Unfassbar!", freute sich Leon weiter. "Hat D dir das Vieh aufgeschwatzt? Mann, da brauchst du aber eine Menge Salat, um die satt zu kriegen..."

Leon machte sich auf den Weg, den schwarzen Schildkrötenpanzer zu umrunden. Der Fremde setzte sich ebenfalls in Bewegung, allerdings etwas schneller als Leon, der mit vor der Brust verschränkten Armen durch den Schnee schlenderte und weiter den Panzer bestaunte.

"Wie kriegst du die überhaupt nach Hause? Auf dem Arm heim tragen geht ja schlecht."

Das erste Mal sah Leon wieder den Fremden an, der sich ihm schnell, aber dabei unglaublich geschmeidig näherte.

Leon blinzelte ein paar Mal ungläubig, denn aus einem unerfindlichen Grund sah er nur die Umrisse des Typen scharf, der etwas in der Hand hielt und sich ihm innerhalb weniger Sekunden bis auf ein paar Meter genähert hatte. Der Rest des Mannes verschwamm mit jedem Schritt, den er tat. Es sah aus, als betrachtete man ein unscharfes Bild oder ein Hologramm, das aus jedem Winkel etwas anderes zeigte. Mal schien er den Anzug zu tragen, den er am Teetisch angehabt hatte, und im nächsten Moment trug er eine schwarz glänzende Rüstung, deren Panzerung der des Schildkrötenpanzers glich.

Endlich erkannte Leon, was der Mann in seiner Hand hielt: ein langes gebogenes Schwert, dessen Klinge unglaublich scharf wirkte und die sich nun über Leons Kopf in die Luft erhob.

"Lass mich raten, aber du bist kein normaler Kunde, oder?"

"Das kommt auf den Blickwinkel an." Eine schmale Hand legte sich auf Leons Schulter.

Leon fuhr herum und sah direkt in D's amüsiertes Gesicht.

Der Count trug einen gefütterten Mantel und eine warme Mütze.

"Wie haben Sie es nur bis hierhin geschafft, Officer?"

Leon wollte antworten, dass er einfach durch die Tür gegangen war, doch seine Zunge, die ihm dick und trocken am Gaumen klebte, war anderer Meinung.

"Das war ganz schön knapp." D, der sich bei Leon untergehakt hatte, nickte zu dem Mann in der Rüstung hinüber, der noch immer mit erhobenem Schwert unbewegt dastand. "Beinahe hätten Sie Ihre Neugier mit Ihrem Kopf bezahlt. Und wäre das nicht schade gewesen?!"

D's sanfte Worte und sein Körper, der sich vielleicht ein wenig dichter als nötig an Leon drängte, um diesen von dem riesigen Schildkrötenpanzer weg zu führen, hatten die gleiche Wirkung auf Leon, wie der Tee. Widerstandslos tappte Leon neben D her.

Der Typ in der Rüstung bewegte sich weiterhin keinen Zentimeter.

"Wenn Sie möchten, erzähle ich Ihnen ein klein wenig über meine beiden Gäste."

Leon nickte nur leicht ohne jedoch ein Wort zu sagen.

"Sie ist verletzt", erklärte D und Leon dachte sich, dass er mit 'sie' sicher die Schildkröte meinte.

"Und da hat er sie hergebracht", beendete Leon D's Erklärung.

"Sie sind ein schlaues Kerlchen, Leon." D lachte leise und verstärkte seinen Griff um den Arm des Officers noch ein wenig. "Jedenfalls dürfen Sie sie nicht weiter stören, denn wie Sie sicher wissen, wird er", dabei nickte D zu dem Mann mit dem Schwert hinüber, "sie weiter beschützen wie er es schon seit siebenhundert Jahren tut."

"Siebenhundert Jahre?", hakte Leon leise nach.

D nickte und lächelte wieder. "Bald wird sie aus ihrem Panzer hervor kommen und ihr erstes Wort sprechen, aber so lange können wir unmöglich hier warten."

"Warum denn nicht?" Leon wirkte, als bedauere er diese Tatsache wirklich.

"Weil wir dafür dreihundert Jahre warten müssten und ich fürchte, dass sich Chris bis dahin furchtbar langweilen würde, finden Sie nicht auch, Leon?"

Leon spürte D's warmen Atem an seiner Wange, als er seinen Namen sagte.

Sie standen wieder an der großen zweiflügeligen Tür und hier ließ D Leons Arm auch wieder los.

"Wir sollten mal nachsehen, wo Chris ist." D klang wieder wie früher und auch Leon fühlte sich, als wäre mit dem Verlassen des verschneiten Zimmers auch in seinem Kopf wieder einiges aufgetaut.

Etwas orientierungslos blickte sich Leon um. "Wo ist Chris?"

D winkte matt ab. "Der wartet darauf, dass wir endlich losgehen, um Geschenke für Weihnachten zu kaufen. Können Sie sich das vorstellen? Weihnachten! Ausgerechnet nach dem letzten Desaster..."

Leon schob seine Hände in die Hosentaschen und ging neben D her und versuchte dabei, dessen Geplapper auszublenden.

Irgendetwas stimmte hier doch schon wieder nicht!
 


 

* E N D E *
 

December

Er hatte versucht, die Jahre nicht mehr zu zählen, aber je mehr er sich dazu zwingen musste, um so hartnäckiger hatte sich ihm die vergehende Zeit beharrlich in Erinnerung gerufen.

Zu Anfang war es noch schlimmer gewesen. Da hatte er noch in Jahreszeiten gerechnet; in Frühling, Sommer, Herbst und natürlich Winter.

Die ersten davon waren die Surrealsten gewesen. Er hatte nicht gleich verstanden, welche Auswirkungen das alles haben würde, wie groß das Ungetüm war, dessen Wachstum zuerst im Kleinen stattfand.

Der erste Sommer ohne sie.

Der erste Herbst ohne sie.

Und dann der erste Winter ohne sie.

Chris sah auf seine Schuhspitzen hinab, auf die Schneeflocken fielen und gleich zu Wassertropfen schmolzen.

Das erste Mal war er wirklich alleine gewesen. Es war als hätte man eine Verbindung gekappt, von der man vorher schon geahnt hatte, dass sie nie mehr wieder herzustellen war.

Das erste Weihnachtsfest ohne sie war besonders schlimm gewesen.

Ohne Leon. Und ohne D.

Er hatte noch immer die Weihnachtsgeschenke von damals, weil er da noch gehofft hatte, dass sich nach Leons Genesung wieder alles einrenken würde. Dass der Count wieder zurückkäme. Dass er sie in den Pet Shop zum Tee einladen und er dort alle anderen wiedertreffen würde. Die echte Pon-chan und den echten T-chan – nicht das, was er gesehen hatte, kurz bevor er mit Sam und Joshie nach Long Island abgereist war...

Ein näher kommender Wagen ließ Chris den Kopf heben. Die Lichter der Scheinwerfer krochen langsam die sanfte verschneite Anhöhe hinauf, auf der sich die Schule befand, die Chris seit dem Sommer besuchte. Vorsichtig, fast schleichend näherte sich der Wagen. In der Kurve kam er ins Schlingern, was Chris vor Schreck kurz den Atem verschlug, aber dann fing sich der Wagen zum Glück wieder.

Erleichtert atmete Chris aus.

Zwei Meter vor Chris bremste das Auto etwas zu fest, so dass man den Schnee unter den Reifen knirschen hörte. Das Fenster auf der Beifahrerseite öffnete sich und eine ziemlich bleiche Sam grinste den wartenden Chris schief an.

"Hey", begrüßte Sam Chris, der das Lächeln seiner Schwester erwiderte. "Fertig?"

Chris nickte und sein Lächeln wurde breiter.

"Na dann spring rein", forderte Sam ihren Bruder auf und schloss das Fenster.

Chris öffnete den Kofferraum und verfrachtete seine Rucksack hinein.
 

"Du kannst gerne vorne sitzen", sagte Sam, die mittlerweile ausgestiegen war und geduldig neben dem Wagen auf Chris wartete.

"Wirklich?" Chris' Augen blitzten erfreut auf. So ein Angebot bekam er nicht oft. Meistens gab Sam ihren Platz in der ersten Reihe nicht ohne lange Diskussionen auf.

"Ja, sehr gerne sogar", bestätigte Sam ihr Gesagtes und nickte nachdrücklich. Ehe Chris noch einmal nachhaken konnte, saß sie auch schon auf der Rückbank des Wagens.

Chris ließ sich auf dem Beifahrersitz nieder.

"Hallo, Kleiner." Joshie, die auf dem Fahrersitz saß, warf ihm einen schnellen Blick zu. Das letzte bisschen des Schreckens über den Schlenker im Schnee spiegelte sich noch in ihrem unsicheren Lächeln wider, das an Chris ging.

"Schnall dich besser an, Chris", rief Sam auch prompt von hinten. "Joshie hat ihre Fahrkünste extra für den Schnee um ein paar Sprünge und Pirouetten erweitert."

"Ruhe auf der Rückbank!", wurde Sam erbost von Joshie unterbrochen. Sie warf ihrer Schwester im Innenspiegel finstere Blicke zu, was Sam lediglich mit rausgestreckter Zunge kommentierte.

Mit einem gemurmelten Wer fährt auch schon gerne bei diesem Mistwetter? ließ Joshie den Wagen langsam anfahren.

Das konnte ja lustig werden, dachte Chris stumm bei sich.
 

"Bist du schon wieder gewachsen?", wurde Chris kurz darauf aus seinen Gedanken gerissen. Joshie löste die Blicke schnell von der Fahrbahn und ließ sie blitzschnell über Chris gleiten.

"Gewachsen? Seit dem Sommer?" Ratlos sah Chris an sich hinab, als könne er dort die Antwort auf Joshies Frage finden. "Ich denke nicht..."

"Doch, doch, bist du", widersprach Joshie und wedelte mit ihrer rechten Hand jeden aufkommenden Zweifel weg. "Du wirst langsam erwachsen und ich bekomme kaum noch etwas davon mit." Ihre Stimme schwankte und brach nach dem letzten Wort ab.

"Oh bitte, nicht schon wieder." Sam verdrehte genervt die Augen und beschloss, ihre Aufmerksamkeit ab sofort dem Verkehr auf der Straße zukommen zu lassen.

"Sechzehn ist noch nicht erwachsen..." Chris lächelte unsicher. Hoffentlich fing Joshie nicht wieder zu weinen an – wie sie das eigentlich jedes Mal tat, wenn sie sich nach einer Weile wieder trafen. Was in Joshies Fall tatsächlich immer weniger wurde, weil ihr Job sie auf Trab hielt und sich Besuche jetzt, wo Chris auch noch diese neue Schule besuchte, fast nur noch auf nahende Feiertage beschränkte. Und Leon – den hatte er schon viel länger nicht mehr gesehen. Nicht einmal an den Feiertagen. Chris schluckte. Er sah auf, als sich Joshies Hand auf seine verkrampften Hände legte, die er im Schoß gefaltet hatte.

"Tut mir leid, ich wollte dich nicht traurig machen", begann sie, als ihr bewusst geworden war, dass, egal wie groß ihre Familie auch war, immer eine Person fehlte. Jahr für Jahr.

"Schon gut." Chris lächelte tapfer und drückte Joshies Hand, die kaum merklich zitterte.

Sam seufzte theatralisch. "Klasse, jetzt heult sie doch..."
 


 

"Wir teilen uns wohl besser auf", schlug Joshie nach einem schnellen Rundumblick durch die belebte Einkaufspassage vor, deren Gänge dichtgedrängt mit Menschen waren, die genau wie sie ihre letzten Einkäufe erledigten. "Habt ihr eure Geschenkelisten dabei?"

"Welche?", fragte Sam und blinzelte unschuldig. "Die, die du uns im August per Post zugeschickt hast oder die Ausdrucke der gleichen Listen, die im Auto lagen?"

"Um Himmels Willen, ich habe die Listen im Auto liegen lassen!" Joshie wollte lossprinten.

"Hast du nicht." Sam und Chris wedelten mit den Ausdrucken, die Joshie liebevoll mit allem möglichen weihnachtlichen Kram dekoriert hatte.

"Gott sei Dank." Joshie war sichtlich erleichtert, dass der sorgsam geplante Ablauf nun doch nicht wieder umgeworfen werden musste. "Sam, du gehst in den zweiten Stock und suchst etwas für Papa, und Chris bleibt im Erdgeschoss und besorgt das Geschenk für Mama", teilte Joshie ihre Geschwister eifrig ein.

"Und was machst du?", hakte Sam interessiert nach.

Sam und Chris sahen ihre Schwester gespannt an, die verlegen grinsend den Blicken ihrer jüngeren Geschwister auswich. "Ich... ich kümmere mich um eure Geschenke", sagte sie nach einer Weile und errötete unter Sams forschenden Blicken.

"Oh, eine Premiere", witzelte Sam scheinheilig. "Dann bin ich mal gespannt, was für Geschenke das sind, die du im Café für uns besorgst."

Chris, der sich schon die ganze Zeit zu beherrschen bemühte, musste nun doch lachen. Joshies ertapptes Gesicht war zu komisch.

"Los, haut schon ab", brummelte Joshie vor sich hin und nur zu gerne kamen Chris und Sam dieser Anweisung nach.
 

Nach eineinhalb Stunden, in denen Chris jedes in Frage kommende Geschäft nach den aufgelisteten Geschenkevorschlägen abgesucht hatte, kam er wieder an seinem alten Ausgangspunkt vor einem Bücherladen an.

Was jetzt?, dachte er. So langsam verzweifelte er. Keinen einzigen der Vorschläge hatte er bekommen. Entweder war alles schon lange ausverkauft oder wurde erst in den nächsten Tagen geliefert. Joshie und Sam waren auch nirgendwo zu entdecken und er konnte unmöglich die gesamte Mall nach ihnen abklappern.

Ein eisiger Luftzug ließ Chris aufsehen. Er kam von den sechs Türen des Haupteingangs, die allesamt nach draußen auf den Vorplatz führten.

Eigentlich könnte er sich ja auch außerhalb der Mall umsehen, fand Chris. Treffpunkt war ohnehin erst in knapp zwei Stunden und Sam und Joshie würde es gar nicht auffallen, wo er nach Geschenken suchte. Wenn er erfolgreich war, würde Joshie erst recht nichts sagen...

Der nächste Luftzug, der den kaum abreißenden Menschenstrom begleitete, während er sich nach draußen schob, war praktisch eine Aufforderung. Schneeflocken tanzten von draußen herein, wirbelten zwischen den Menschen umher, die keinen Blick an die winzigen Kunstwerke verschwendeten, und schmolzen schließlich und verschwanden sang- und klanglos in der warmen Luft des Einkaufszentrums.

Chris schloss den Reißverschluss seiner Jacke und reihte sich in die nach draußen strebende Menschenschlange ein. Der Luftzug war nun stärker und sog ihn förmlich aus der Mall hinaus. Hunderte Schneeflocken begrüßten ihn stürmisch. Sie kribbelten eisig auf seinen Wangen und verflüchtigten sich dort so schnell wie hingehauchte Küsse.
 


 

Draußen trennte sich Chris von dem Strom an Menschen, von dem er sich hatte mitziehen lassen, und blieb auf dem weiträumigen Marktplatz vor dem Einkaufszentrum stehen, um sich neu zu orientieren.

Es schneite so stark, dass die normalerweise grellen Neonlichter über den unzähligen Läden verschwommene, schwach leuchtende Schemen in dem dichten Schneetreiben bildeten.

Er hatte keine Mütze dabei und eine Kapuze hatte seine Jacke auch nicht, fiel es Chris ein. Er würde ziemlich nass werden, wenn er über den ungeschützten Vorplatz lief und die Geschäfte, die ihn säumten, nach einem Geschenk für seine Mama absuchte.

Oder er nahm eine der abzweigenden, wind- und schneegeschützten Seitenstraßen und hoffte, dass es dort ebenfalls Läden gab, in denen er das passende Geschenk finden würde.

Chris musste nicht lange überlegen.
 

Déjà-Vu – Secondhand stand in verschnörkelten Buchstaben auf der halbblinden Scheibe des Ladens, vor dem Chris als erstes stehengeblieben war, gleich nachdem er sich für eine der Seitenstraßen entschieden hatte. Es war still geworden. Das Schneetreiben war zwischen den hohen Häuserfronten auch weniger geworden, aber die Stille, die nur wenige Meter vom lebhaft schwirrenden Marktplatz entfernt herrschte, wirkte wie ein Vakuum, das er betreten hatte.

Noch einmal las Chris den Schriftzug auf der Scheibe. Secondhand – das konnte ja alles bedeuten. Chris legte seine Hände auf die Scheibe, als würde er durch ein Fernglas schauen, und versuchte, einen Blick ins Innere des Ladens zu erhaschen.

Im Schaufenster gab es keine Auslagen. So weit konnte er durch die blinden Scheiben gucken. Was weiter dahinter lag, war nicht zu sehen. Nur, dass es nicht wirkte, als wäre der Laden geöffnet. Es brannte kein Licht und Leute waren auch keine zu sehen.

Chris trat einen Schritt von der Scheibe zurück. Er sah sich um, welche Geschäfte es hier sonst noch gab, und wurde enttäuscht. In den Häusern, deren Fronten aus großen Scheiben bestanden, hingen Plakate, die allesamt das gleiche sagten: Geschlossen oder die weniger schöne Variante: Geschlossen wegen Geschäftsaufgabe. Die restlichen Häuser waren Wohnhäuser.

Seufzend sah Chris zu dem Secondhand-Laden. Er ging zur Tür und drückte probeweise die Klinke hinunter. Es war abgeschlossen. Gerade als er sich umdrehen und weggehen wollte, fiel Chris ein kleiner handgeschriebener Zettel auf, der knapp über dem Türgriff angebracht war.

Bitte klingeln.

Chris suchte den Türrahmen nach einer Klingel ab und drückte auf den kleinen messingfarbenen Knopf neben dem Namensschild und wartete. Im Ladeninneren geschah noch immer nichts, aber etwas in seinem Augenwinkel ließ Chris den Kopf nach links drehen.

In dem schmalen Durchgang zwischen dem Seconhandladen und dem Haus daneben waren Lichter angegangen. Warmes rot-oranges Licht fiel auf den Schnee und ließ die Eiskristalle schimmern. Stimmen waren zu hören und leise Musik.

Neugierig geworden ging Chris auf den Durchgang zu und stand gleich darauf in-
 


 

Chinatown.

Mit offenem Mund starrte Chris das Treiben vor sich an. Eine ewig lange Geschäftsstraße erstreckte sich vor ihm. Beide Seiten säumten unzählige Geschäfte und Restaurants, deren Fenster hell erleuchtet waren und aus denen es nach exotischen Gewürzen roch. Rote Lampions in allen möglichen Formen zogen sich wie riesige Lichterketten von einer Straßenseite zur nächsten und wieder zurück. Hunderte Menschen, meist asiatisch gekleidet, strömten durch die Gasse, die größer war, als der Durchgang zwischen den Häusern vermuten ließ.

Das war doch unmöglich, dachte Chris. Es wirkte wie eine andere Welt. Als wäre er von einer Realität einfach in die nächste gegangen wie durch eine Tür. Von einer ruhigen, dunklen Realität in eine grellbunte, turbulente Realität.

Chris zögerte einige Augenblicke und überlegte, was er jetzt tun solle. Gerade noch hatte er vor dem Secondhandladen gestanden und sich gefragt, wo er etwas für ihre Mama kaufen konnte und keine Minute später stand er auf einmal unter einem chinesischen Torbogen, dessen grünlackierte Ziegel mit kleinen Glühbirnen bedeckt waren, die im Takt blinkten.

Das war kein Zufall. Das war die beste Gelegenheit, die sich ihm heute bieten würde.
 

Staunend schlenderte Chris die Straße entlang. Hier war es so viel wärmer als dort, wo er hergekommen war. Er sah nach oben, doch der Himmel war der gleiche. Dunkle Wolkenberge türmten sich dort auf, aus denen sanft der Schnee rieselte – ohne dass er hier unten ankam.

Okay, ein bisschen seltsam war das schon, musste Chris sich selbst eingestehen.

Seltsam, aber umso interessanter. Und es war ihm ja kein unbekannter Ort, auch wenn es so gesehen schon ein anderer Ort hier war. Aber er hatte lange Zeit an einem solchen Ort verbracht und fühlte sich auch hier gleich wohl.

Wie damals beim Count.

Chris blieb mitten auf der Straße stehen. Ein Mann, der an einem Holzstand Töpferwaren anbot, witterte sofort ein Geschäft. Er packte Chris am Arm und zog ihn zu seinem Stand hinüber, auf dessen Platte hübsch bemalte Vasen und Schalen standen. Dabei plapperte er ohne Punkt und Komma, so dass es Chris bald in den Ohren klingelte.

"Entschuldigen Sie", versuchte sich Chris Gehör zu verschaffen, doch der Alte hatte ihn so fest im Griff, dass alle Versuche, sich aus den Händen des Mannes zu befreien, fehlschlugen.

Na schön, dann hörte er sich eben an, was der Mann ihm da zu bieten hatte. So viele Sachen standen hier auch wieder nicht...

Chris hatte sich gerade seinem Schicksal ergeben, als er erneut am Arm gepackt wurde – dieses Mal am rechten – und schneller als er gucken konnte in die andere Richtung gezogen wurde.

"Da bist du ja endlich", hörte er eine weibliche Stimme sagen, die von der Person stammte, die ihn wegzog. Er war kurz erleichtert. Joshie oder Sam waren hier, jetzt wurde alles gut.

"Du hast mir das Leben gerettet", lachte Chris und sah, wie der Mann, der die Hände empört in die Hüften gestützt hatte, immer kleiner wurde, je weiter sie sich von ihm entfernten.

"Weiß ich, aber ganz genau genommen waren es nur zwanzig Minuten deines Lebens, die ich dir gerettet habe."

"Woher weißt du das so genau?" Chris sah zu seiner rechten Seite hinüber, wo er entweder Joshie oder Sam erwartete, und zuckte erschrocken zusammen als ihn eine fremde junge Chinesin freundlich anlächelte.

"Ich weiß alles", sagte sie, ohne etwas von ihrem Lächeln zu verlieren. "Ich bin das berühmteste Orakel hier in Chinatown und ich warte schon ewig auf dich."
 

Sprachlos stolperte Chris hinter der jungen Frau her, die von sich behauptete, irgendein Orakel zu sein, das auf ihn gewartet hatte. Auf ihn gewartet? Chris lachte innerlich auf.

Er fand seine Sprache erst wieder, als sie in einem schummrigen Haus standen und die Frau ihn endlich losließ.

"Wo sind wir?" Chris blieb mitten im Raum stehen und sah sich um.

Nach und nach flammten kleine Öllampen auf den niedrigen Kommoden auf und er hörte ein leises Zischen aus einer Duftlampe, die vor ihm auf einem Tisch stand. Gleich darauf roch es nach Jasmin und Kräutern, die ihm sehr bekannt vorkamen. Er wartete darauf, dass sich gleich eine Tür öffnete, aus der der Count mit einem Tablett voll Kuchen und Tee heraustrat.

Doch statt des Counts tauchte die Frau aus dem Halbdunkel hinter der Duftlampe auf und bedeutete Chris näherzukommen.

"Setz dich", wies sie ihn freundlich an und zeigte auf einen Hocker, der vor dem Tisch stand.

Chris tat alles wie in Zeitlupe. Er hatte doch nur ein Geschenk für seine Mama kaufen wollen. Und was tat er? Er saß in Chinatown in einem unbekannten Haus mit einer unbekannten Frau an einem Tisch, auf dessen Platte Münzen, Murmeln und schmale bemalte Holzplatten lagen.

"Du fragst dich sicher, wer ich bin", mutmaßte die junge Frau, die gegenüber von Chris am Tisch Platz nahm.

"Nein, das weiß ich doch schon", antwortete Chris der Frau, die ihn kurz irritiert anschaute. "Sie sind das berühmteste Orakel hier in Chinatown", beendete Chris seinen Satz.

"Ach so, ja stimmt." Die Frau kicherte erheitert. "Hatte ich ganz vergessen..." Sie setzte sich gerade hin und räusperte sich leicht. Sie schien etwas äußerst wichtiges verkünden zu wollen, dachte Chris mit skeptisch hochgezogenen Augenbrauen.

"Mein Name ist Ch'ang-O und ich warte wie bereits erwähnt schon sehr lange auf dich."

"Ach, ehrlich?" Chris war wenig beeindruckt, was auch der Frau auffiel. Sie klimperte nervös mit den langen schwarzen Wimpern und suchte hektisch nach den richtigen Worten.

Geduldig wartete Chris, was als nächstes kam. Umsonst würde er hier sicher nicht mehr wegkommen...

"Ich weiß alles über dich", fuhr die Frau geheimnisvoll fort. Sie hatte sich etwas vorgebeugt und sprach mit gesenkter Stimme weiter. "Du bist als Einzelkind bei deinen Großeltern aufgewachsen. Ihr wohnt auf einer hübschen kleinen Farm, wo dein Opa Perlhühner züchtet und deine Oma Runkelrüben in ihrem großen Garten anbaut."

Zufrieden sah Ch'ang-O die immer größer werdenden Augen des Jungen vor sich. Sie hatte heute wohl ihren guten Tag, freute sie sich innerlich.
 

Chris Mundwinkel bebten und ihm stiegen Tränen in die Augen. Dann lachte er laut prustend los.

"Was ist?", hakte Ch'ang-O verblüfft nach. "Was gibt es da zu lachen?"

"Das 'berühmteste' bezieht sich wohl darauf, dass Sie dafür berühmt sind, alles so falsch wie möglich vorherzusagen?"

Ch'ang-O stieß leise die Luft aus der Nase aus. Ihre schmalen Finger zupften an dem blaugrauen Pelzaufschlag, der ihre langen Ärmel zierte. "Sie hat es mir ja vorhergesagt", murmelte sie leise vor sich hin.

"Wer hat was vorhergesagt?", wollte Chris nun neugierig wissen. Die Frau tat ihm ein bisschen leid.

"Meine Schwester", stieß Ch'ang-O leise aus. "Sie sagte, dass ich zwar das berühmteste Orakel werde, aber leider auch das schlechteste, was meine Vorhersagen angeht. Und sie muss es wissen, sie ist nämlich das beste Orakel, das es hier in Chinatown gibt."

So langsam wurde Chris die ganze Sache hier peinlich. "Und warum ist sie nicht hier?"

Ch'ang-O sah Chris an als hätte er den Verstand verloren. "Aber sie ist doch hier", erklärte sie erstaunt. "Sie sitzt doch die ganze Zeit vor dir."

Jetzt war Chris ehrlich geschockt. Die einzige Person außer ihm hier war Ch'ang-O, die vor ihm saß. Von einer Schwester war keine Spur zu sehen.

"Wo-wo ist sie denn? Warum kann ich sie nicht sehen?" Chris' Kopf begann zu schmerzen. Er wollte die Duftlampe, die vor ihm stand, etwas wegschieben, damit ihn der Rauch nicht mehr mit voller Wucht traf, als er die Bewegung auf dem Tisch sah, genau dort, wo Ch'ang-Os verschränkte Hände auf der Platte lagen.

Der Pelzbesatz ihres Cheongsam – oder das, was Chris für einen Pelzbesatz gehalten hatte – bewegte sich, ohne dass Ch'ang-O auch nur einen Finger rührte. Der Pelz löste sich langsam von seinem Platz und jetzt erkannte Chris, was es war.
 

"Ein Hase?" Chris wusste nicht, ob er lachen sollte. Das erledigte dann Ch'ang-O an seiner Stelle.

"Hast du gehört, wie er dich genannt hat?", fragte sie den Hasen, der mümmelnd vor ihr auf der Tischplatte saß. Ch'ang-O lachte so laut, dass Chris Bedenken bekam, dass hier gleich jemand auftauchen und um Ruhe bitten könnte.

"Ist es denn kein Hase?", fragte Chris zögerlich. Er hob eine Hand und deutete auf das Tierchen, dessen Fell blaugrau schimmerte und das ihn aus seinen kleinen Augen aufmerksam ansah. "Ich dachte wegen den Ohren. Sie-sie sind lang und-und-und..."

Tränen liefen über Ch'ang-Os Wangen. Sie hatte die Arme um ihren Bauch geschlungen und lachte jetzt noch lauter.

"Wegen deinen großen Ohren hält er dich für einen Hasen!" Ch'ang-O stieß den Hasen mit ihrem Zeigefinger in die Seite. "Na, was sagst du dazu, Schwester?"

Vor Angst wie gelähmt sah Chris wie der Hase das kleine rosa Mäulchen öffnete und ein leises Grummeln ausstieß. Aber das war es nicht, was Chris solche Angst einjagte. Es war das, was er aus dem Grummeln herauszuhören meinte.

"Unwissendes kleines Menschlein."

Chris wurde schwindelig. Er musste sich mit beiden Händen an der Tischplatte festhalten, sonst würde er einfach nach hinten vom Hocker fallen.

Der Hase konnte reden...

"Unwissendes kleines Menschlein, das alles vergessen hat", wiederholte der Hase. Er klang, als bedauerte er Chris aus tiefstem Herzen.

Chris starrte den Hasen an, bis seine Augen brannten und der Hase vor seinen Augen verschwamm. Er flackerte wie eine defekte Glühlampe und für einen Moment überlagerten sich zwei Bilder. Auf dem einen war der Hase der gleiche, der die ganze Zeit dasaß, und auf dem anderen sah Chris eine Frau, die älter war als Ch'ang-O. Sie trug einen dunkelblauen Cheongsam mit einem sich wiederholenden Muster das an einen Vollmond erinnerte, der zum Teil von Wolken verdeckt wurde.

"Wo-wo habt Ihr den Hasen- ich meine, Eure Schwester her?" Chris musste seinen ausgedörrten Hals zu diesen Worten zwingen. Und er musste seine Ohren dazu zwingen, jetzt genau hinzuhören.

Ch'ang-O hörte augenblicklich auf zu lachen. Ernst geworden sah sie Chris an, der bleich und mit Tränen in den Augen vor ihr saß. "Du weißt es."

Mehr sagte Ch'ang-O nicht. Ihre Lippen bogen sich zu einem gütigen Lächeln, das Chris' Herz, das ihm schwer in der Brust pochte, etwas leichter werden ließ.

Natürlich wusste er es.

Dort, wo auch Pon-chan war. Und Tetsu. Und der Count. Und vielleicht auch Leon. Und er würde sie finden. Er hatte ja auch bei einem Secondhandladen geklingelt und Chinatown gefunden. Wer sagte, dass ihm das nicht noch einmal gelingen könnte? Wer wusste schon, ob er das nächste Mal nicht vielleicht an irgendeiner anderen wahllosen Tür klingeln und den Pet Shop dahinter finden würde? Und er ging jede Wette ein, dass Leon das gleiche dachte.

Chris lächelte und Ch'ang-O setzte sich wieder gerade hin.

"Das macht dann zwanzig Dollar", flötete Ch'ang-O fröhlich und streckte die Hand aus. Der Hase brummelte unwirsch und Ch'ang-O verdrehte die Augen. "Na schön, zehn Dollar, weil bald Weihnachten ist..."
 

"Chris?!"

Chris hob den Kopf. Er stand wieder vor dem Secondhandladen und Sam und Joshie kamen auf ihn zu geeilt. Sie lachten erleichtert.

"Endlich haben wir dich gefunden", rief Sam und fiel ihrem Bruder in die Arme. "Wir suchen dich schon seit über zwei Stunden."

"Warst du die ganze Zeit hier?" Joshie hatte Tränen in den Augen. Ihre Wangen waren rot und sie war außer Puste, als wäre sie gerade einen Marathon gelaufen.

"Ja, ich glaube, ich war die ganze Zeit hier." Chris lächelte verlegen. Das orange-rote Licht zwischen den beiden Häusern war erloschen, kaum dass er wieder auf die Straße getreten war und Chinatown hinter sich gelassen hatte. Aber wie sollte er das, was er dort erlebt hatte, seinen Schwestern glaubhaft machen? Es war ihm ja nicht einmal wie zwei Stunden vorgekommen, seit er beim Secondhandladen geklingelt hatte...

"Wenigstens hast du das Geschenk für Mama", lachte Sam nun und deutete auf Chris' Hände.

Seine Blicke folgten Sams ausgestrecktem Zeigefinger und er sah, dass sie recht hatte. Er hielt ein schwarz lackiertes Kästchen in den Händen, das er nun öffnete. Eine zarte Melodie erklang, kaum dass Chris den Deckel gehoben hatte.

Neben ihm sogen seine Schwestern anerkennend die Luft ein und auch Chris konnte sich den erstaunten Ausruf nur knapp verkneifen. Er musste immerhin so tun, als wüsste er, was er da als Geschenk in den Händen hielt.

Das Kästchen war mit blauem Samt ausgeschlagen in dessen Mitte eine Kugel aus weißem Quartz thronte. Und auf genau dieser Kugel saß mit erhobenen Vorderpfoten ein Hase aus grüner Jade und drehte sich zu der leisen Melodie um seine eigene Achse.

"Oh ist das schön", riefen Sam und Joshie im Chor.

Chris nickte vor Überwältigung stumm.

Ja, es war schön. Weihnachten war wieder schön, weil er wieder Hoffnung hatte.
 


 

* Ende *


 

Damsel

 

 

Leon hätte sich selbst verfluchen können in dem Moment, als die Klingel hinter der Tür des Pet Shops erklang und er seinen ausgestreckten Finger wieder von eben jener Klingel nahm, die er Sekunden zuvor betätigt hatte.

Als ob er es nicht besser wusste, dass immer, wenn ihm diese leise vermaledeite Stimme zuflüsterte, er könnte doch ruhig mal wieder bei D vorbeischauen, irgendwas aus dem Ruder zu laufen begann. Und trotzdem tat er es. Jedes Mal.

Nahezu lautlos öffnete sich die schwere Holztür und noch ehe Leon doch noch schnell auf dem Absatz umdrehen und zurück zu seinem Auto gehen konnte, hatte sich Chris, der ihn begleitete, auch schon durch den schmalen Spalt, der sich vor ihnen aufgetan hatte, hindurch gequetscht und war auf der Suche nach D.

Seufzend folgte Leon seinem kleinen Bruder durch die Eingangshalle und den langen Flur dahinter. Was sollte er auch sonst machen?, kicherte das sadistische Stimmchen triumphierend.

 

In einem dieser unendlich auftauchenden Räume, deren Anordnung und Zweck sich bei jedem Besuch zu ändern schienen, fand Leon schließlich D und Chris, die sich über irgendetwas amüsierten. Zumindest hörte er Ds Stimme, worauf eine Weile Stille folgte, die der Count dann mit leisem Lachen quittierte.

Die Hände tief in den Taschen vergraben, betrat Leon das mit allerlei unnützem Pflanzenkram bis unter die Decke vollgestellte Zimmer. Als er an einer besonders üppig blühenden Pflanze vorbei ging, fühlte er sich auf der Stelle von tausenden Augen beobachtet. Leon schauderte kurz und zog die Schultern hoch. Er hasste es, hier zu sein und nicht alles überblicken zu können. Ständig lauerte irgendwo irgendwas in diesem elenden Grünzeug, das alles überwucherte. D passte hervorragend in diese Umgebung, wobei Leon nicht klar war, ob der Count sich der Umgebung angepasst hatte, oder die Umgebung ihm. Und dann hatte er ihn endlich gefunden. D saß in einem seiner verschnörkelten Sessel und war vollständig ausgehfertig angezogen.

"Will die Eiskönigin etwa einen Ausflug machen?", kommentierte Leon das Aussehen seines Gegenübers, der einen dicken Wintermantel und einen dazu passenden Hut trug.

"Es muss wohl wieder Dezember sein, wenn Sie mich mit Ihrer Anwesenheit beglücken, habe ich Recht, Officer Orcot?", konterte D mit einem Lächeln, das so nichtssagend vielsagend war, dass Leon die Augen etwas zusammenkniff und auf den Knaller wartete, der diesem harmlos wirkenden Lächeln unweigerlich folgte.

D erhob sich langsam aus dem Sessel und kam auf Leon zu. Sein langer Wintermantel raschelte mit jedem Schritt, den der Count tat. "Das ist sehr nett von Ihnen, dass Sie mich zum Flughafen bringen, Officer."

Leon schob seine Hände noch etwas tiefer in seine Jackentasche. "Wie kommst du denn darauf?", grummelte er und machte D Platz, der ihn auf seinem Weg zur Tür unweigerlich angerempelt hätte, wenn Leon nicht rechtzeitig beiseite getreten wäre.

"Hätte ich sonst hier auf Sie gewartet?"

"Besteht wenigstens die Chance, dass du dann für immer verschwindest, wenn ich dich zum Flughafen fahre?", murrte Leon, dem es vor sich selbst peinlich war, wie sehr diese dämliche Frage nach einem Ja, natürlich fahre ich dich klang.

D beließ es bei seinem sphinxhaften Lächeln und schritt mit seinen für ihn typischen fließenden Bewegungen zur Tür, als wäre er ein ruhiger Strom, der gemächlich durch sein Flussbett plätscherte. Kein Hindernis, weder Stein, noch ein im Wasser liegender Baum, und erst recht kein Officer konnte ihn auf seinem Weg aufhalten.

Eine kleine Hand zupfte Leon am Ärmel, der verstimmt dem wallenden Mantelsaum nachsah, der durch die Tür verschwand. Leon spürte die bittenden Blicke seines kleinen Bruders, ohne dass er ihm den Kopf zuwenden musste, und die ungestellte Frage traf Leon natürlich dort, wo ihn sonst nichts so einfach traf.

"Schön." Leon biss die Zähne aufeinander. D in Kombination mit Chris war eine denkbar schlechte Zusammenstellung, wenn es darum ging, Leon um etwas zu bitten und ihm somit die Bürde einer Entscheidung aufzuerlegen.

 

"Wer passt denn auf deine ganzen Viecher auf, so lange du verreist?" Leon lenkte sein Auto auf die Hauptstraße und fädelte sich vorsichtig in den Feierabendverkehr ein. "Sag jetzt nicht, dass ich das übernehmen soll!", fiel dem Polizisten gleich darauf eine mögliche Antwort auf seine Frage ein. "Und wo ist überhaupt dein Gepäck? Bei deinen komischen Klamotten bräuchte es mindestens acht große Koffer..."

Ds Lippen bogen sich amüsiert. "Ich verreise nicht, Officer Orcot", erklärte er vorsichtig, als würde er einem kleinen Kind etwas erklären. "Wir holen etwas am Flughafen ab."

Verblüfft trat Leon auf die Bremse. Hinter ihm hupte es empört, aber für die nächste Frage musste er D ansehen. "Denkst du, ich bin dein Taxi?" Er spie das Wort Taxi förmlich aus.

Leons Empörung perlte ohne Spuren zu hinterlassen an D ab, der mit im Schoß gefalteten Händen dasaß und sich seelenruhig die Gegend ansah. Mit jedem Jahr, das verstrich, merkte er, wie sehr ihm diese Weihnachtszeit mehr und mehr Spaß zu bereiten begann. Erst recht, weil Officer Orcot zu dieser Zeit besonders einfallsreich zu sein schien, was seine vorgeschobenen Gründe anging, um den Pet Shop aufzusuchen. Die Unterhaltung durch den jungen Mann kam ihm dabei ganz gelegen – und Leon scheinbar auch, selbst wenn er das ziemlich schlecht verbergen konnte.

Das Hupkonzert hinter ihnen wurde immer penetranter, was D nicht im geringsten aus der Ruhe brachte. Lächelnd sah er zu Leon, der ihn mit offenem Mund anstarrte. Er wandte sich zu Chris um, der auf der Rückbank saß und abwartend zu den beiden Erwachsenen sah.

"Wir holen einen neuen Bewohner für den Pet Shop ab", lüftete D endlich das Geheimnis seines Vorhabens.

Chris' Augen strahlten begeistert, worüber sich Leon kurz freute, auch wenn der Auslöser dafür D war.

Die Wagen hinter ihnen hatten mittlerweile auch eingesehen, dass sich das Hindernis nicht aus dem Weg hupen ließ, und so fuhren sie nun in engem Bogen um sie herum, wobei man nicht damit sparte, Leon mit entsprechenden Gesten zu überschütten.

"Es geht ihm ziemlich schlecht", setzte D seine Erklärung fort. "Es wurde jahrelang von einem Pet Shop zum nächsten gebracht, aber mit jedem Wechsel wurde sein Zustand schlechter. Und so wie es momentan dran ist, erlebt es den Jahreswechsel wohl nicht mehr."

Das war Leons Stichwort. "Es gibt ernsthaft mehrere Filialen deiner Flohbude?" Der Polizist lachte unvermittelt los. "Gib's zu, D, du hast dir irgendein altes Viech aufschwatzen lassen und bist dir jetzt zu fein, es zuzugeben. Aber weißt du was?" Leon beugte sich mit wichtiger Miene zu D hinüber, der ihn unschuldig anblinzelte. "Wenn ich mitbekomme, dass du den alten Fellbalg irgendeinem gutgläubigen Menschen andrehst, sehen wir uns wieder." Er klang lauernd.

"Sie haben mich durchschaut, Officer!" D hob abwehrend die Hände, doch sein Lächeln entlarvte die Lüge. "Und ich gehe jede Wette ein, dass wir uns ohnehin früher oder später wiedersehen, nicht wahr?"

Leon brummelte etwas vor sich hin, das D großzügig überhörte. Dann trat er das Gaspedal durch, dass der Schneematsch unter den Reifen hochflog, und schwieg, bis sie auf dem Parkplatz des Flughafens anhielten.

 

"Als ob ich sonst nichts zu tun hätte!", maulte Leon, als sie das weihnachtlich geschmückte Terminal durchquerten.

Chris rannte bereits auf die riesige Glasfront zu, und bestaunte die startenden und landenden Flugzeuge. Und auch D hatte ein genaues Ziel. Er warf einen kontrollierenden Blick auf die große Anzeigetafel, auf der sämtliche ankommenden und startenden Flüge vermerkt waren, und schritt dann zielstrebig auf einen Schalter zu.

Misstrauisch beäugte Leon die große Transportbox, die auf einem Kofferwagen zu ihnen geschoben wurde. Während D noch den Papierkram erledigte, versuchte Leon bereits, einen Blick in die Box zu werden, doch das Innere war so dunkel, dass er nichts in den Schatten erkennen konnte. Alles, was ihm entgegenkam, war ein äußerst strenger Geruch.

"Verdammt, D!" Leon wandte sich angeekelt ab. "Du öffnest besser mal die Box und schaust nach deinem Tier. So wie es riecht, scheint es den Flug nicht überlebt zu haben."

Ohne Eile näherte sich D seinem Begleiter, der sich hochdramatisch frische Luft zufächelte.

"Das ist widerlich, echt jetzt!"

"Das Tierchen lebt", sagte D knapp, ohne den von Leon empfohlenen Blick in die Box geworfen zu haben.

"Dem Gestank nach nicht...", widersprach Leon schroff. "Welches lebende Tier verbreitet denn bitte so einen Gestank?"

"Das weiß ich auch noch nicht", entgegnete D knapp, "aber ich lasse mich gerne überraschen." Sorgsam verstaute der Count die Papiere, die er am Schalter erhalten hatte und machte sich auf die Suche nach Chris.

"Wie ist das Vieh eigentlich durch die Quarantäne gekommen?" Leon, der den Kofferwagen zuerst vor sich her schob, es sich dank der Windrichtung und dem üblen Geruch, der ihm dadurch ins Gesicht wehte, anders überlegte und ihn dann lieber hinter sich her zog, gab sich Mühe, mit dem Count und Chris Schritt zu halten.

 

"Den Geruch bekomme ich nie wieder aus den Polstern!" Missmutig wuchtete Leon die Box in den Kofferraum seines Wagens und schlug schnell den Deckel zu, ehe die Duftwolke ihn erreichte. "Du schuldest mir eine Wagenwäsche", erklärte er D, während er sich auf den Fahrersitz fallen ließ und so schnell es ging, das Seitenfenster runterkurbelte. Selbst wenn sie auf der Heimfahrt alle erfroren, würde dieses Fenster keinen Millimeter mehr hochgekurbelt.

 

"Sayonara!", verabschiedete sich Leon von D, nachdem er noch großzügig die Box aus dem Kofferraum heraus gehoben und auf der obersten Treppenstufe des Pet Shops abgestellt hatte. "Viel Spaß mit deinem toten Vogel..." Leon tippte sich an die Stirn und schlenderte die Treppe hinab zu seinem Wagen, der mit vier offenen Fenstern da stand und hoffentlich bald ausgelüftet war.

Chris, der mittlerweile auf dem Beifahrersitz saß, winkte traurig D zu.

"Officer."

Leon, der gerade dabei war, einzusteigen, hielt inne. "Ich packe dir dein Tier nicht aus", rief er D zu und schüttelte bekräftigend den Kopf.

"Das meinte ich nicht." D nickte zu Chris hin.

Leon verstand sofort. Er beugte sich zu dem Jungen hinab. "Du willst ernsthaft dabei sein, wenn er das stinkende Vieh aus der Box nimmt?"

Chris nickte freudig.

"Und du wirst nicht heulen, wenn es – sagen wir – tatsächlich nicht mehr ganz so lebendig ist?"

Chris schüttelte grinsend den Kopf.

"Und wenn-"

"Jetzt machen Sie es doch nicht so spannend, Officer", unterbrach D Leon, der ihm einen schnellen giftigen Blick über das Dach hinweg zuwarf.

"Na los, dann verschwinde." Leon knuffte seinen kleinen Bruder freundschaftlich gegen den Arm. Chris fiel ihm dankbar um den Hals und keine drei Sekunden später war er aus dem Auto draußen und die Treppen zum Pet Shop hinaufgerannt.

"Ähm, D?" Leon spürte, wie ihm die folgende Frage förmlich den Mund verätzte, so ungern stellte er sie, doch er kam nicht drumherum. "Ich bin momentan an einem, äh, Fall dran, für den ich eventuell auch-auch, äh, Nachtschichten-"

"Chris kann gerne so lange hier bleiben", kam D dem stotternden Leon gnädig zu Hilfe.

"Vielen Dank!" Leon fiel auf den Fahrersitz, schnallte sich an und startete den Wagen. "Aber zuerst fahre ich zur Waschanlage. Wenn ich mit diesem Stallgeruch bei den Klienten auftauche, kann ich gleich wieder abdampfen...", sprach's und brauste davon.

D lächelte Chris freundlich zu. Er sah zur Box hinüber, in der sich noch immer nichts regte. "Wie gut, dass sie Rollen hat", stellte er fest und öffnete die Tür des Pet Shops.

 

Vorsichtig rollten D und Chris die Transportbox in den Pet Shop. Sie waren sich schnell einig gewesen, den neuen Bewohner in den schönsten Raum zu bringen, den der Pet Shop zur Zeit zu bieten hatte. Er war der höchste, den Chris hier jemals gesehen hatte. Pflanzen, deren Stämme zum Teil so dick wie Bäume waren, rankten sich in die Höhe. Durch ihre dichten Kronen war die Decke nicht mehr zu sehen. Und inmitten dieser friedlichen Oase stellten sie die Box ab.

D öffnete das Gitter an der Vorderseite und trat beiseite.

Es war noch immer alles still in der Box. Kein Laut drang zu ihnen nach draußen und dennoch war sich D sicher, dass alles in Ordnung sei. Chris schob die aufkommenden ängstlichen Gedanken beiseite, sein Bruder könnte doch Recht behalten und das Tier sei tot. D würde ihn niemals anlügen.

"Geben wir ihm etwas Zeit", machte D seinem kleinen Gast Mut, der gebannt vor der Box stand und den Eingang nicht aus den Augen ließ. "Es hat eine lange Reise hinter sich und so schwach wie es ist, wird es ein noch bisschen brauchen, um sich hier anzupassen."

Chris versuchte, ein Lächeln. In diesem Moment öffnete sich die Tür des Zimmers und im Türrahmen erschienen all die anderen Bewohner des Pet Shops. Unter ihnen erkannte Chris die blonden Locken von Pon-Chan und den wilden Rotschopf von T-Chan, die als erste das Zimmer vorsichtigen Schrittes betraten. Pon-Chan hob ihre kleine Nase in die Luft und schnupperte sachte. An T-Chan geklammert, näherte sie sich der Box.

Staunend sah Chris zu, wie ihnen alle anderen folgten, jeder so, wie er konnte. Einige schlängelten sich über den Boden, andere gingen oder flogen, und ein paar krochen, aber alle hatten nur dieses eine Ziel: die Box mit dem unbekannten Bewohner. Sachte und ohne gegen die Box zu stoßen, legten sich einige direkt daneben. Von irgendwoher erklang leises Wimmern und Chris sah fragend zu D auf.

"Es ist ihre Art, ihr Mitgefühl auszudrücken." Ds Blicke schweiften über die bunte Meute, die sich in dem Zimmer versammelt hatte. "Sie leiden mit ihm." Seine Hand fuhr sachte über Chris' Kopf. "Du kannst gerne hier bleiben. Ich habe noch ein paar Dinge zu erledigen. Wir sehen uns später."

Zusammen mit den anderen Bewohnern blieb Chris in dem Zimmer zurück. Er schwang sich auf ein Sofa, das in der Nähe stand und wartete.

 

 

Die enge Straße schlängelte sich im ebenso engen Zickzackkurs den Berg hinauf, dessen sonnenbeschienener verschneiter Gipfel weit hoch oben golden über den Wolken thronte.

Leon hatte keine Zeit, diesen atemberaubenden Ausblick zu genießen. Jede Unaufmerksamkeit auf dieser von steilen Abhängen gesäumten Serpentinenstrecke würde hier schnell bestraft werden und ihn im besten Fall das Leben kosten, sollte er auch nur etwas zu weit über den Fahrbahnrand kommen. Wie auf dem Boden festgeklebt scannten seine Augen jeden Meter der schmalen Bergstraße ab. Sollte ihm jetzt jemand entgegen kommen, dann hätten sie ein Problem...

Irgendwo auf halbem Weg den ehrfurchtgebietenden Giganten hinauf, lag zwischen rauem Fels und knorrig wachsenden, windgebeugten Kiefern eine Pension, wo ihn seine momentanen Auftraggeber bereits erwarteten. Er wusste noch nicht viel über den Fall, außer, dass es wohl um eine ungewöhnliche Häufung plötzlicher Todesfälle in dieser Gegend ging. Was, wenn er sich die dichten Wälder so ansah, wo sich zwischen harmlos dastehenden Bäumen unvermutet eine tiefe Felsspalte auftat, nicht ganz verwunderlich war. Der überall umher wabernde Nebel, der dicht über den Boden kroch, machte die Sache auch nicht gerade besser.

 

Erleichtert, die Strecke ohne besondere Zwischenfälle erfolgreich hinter sich gebracht zu haben, parkte Leon seinen Wagen auf dem ansonsten leeren Parkplatz vor der Pension.

Wie im Moos kauernde Pilze hockten die unterschiedlichen Gästehäuser in der nahen Umgebung. Etwas daran stach Leon sofort ins Auge: kein einziges der Fenster war beleuchtet, noch machte es sonst den Eindruck, als wäre hier viel los. Die Lampen über den Türen brannten nicht, die Kamine auf den Dächern rauchten nicht. Und was Leon am unheimlichsten fand: es waren totenstill.

Nichts davon passte zu den bevorstehenden Feiertagen, vor denen manch einer gerne in die Abgeschiedenheit floh, noch passte es zu dem in dieser Gegend einzigartigen Thema der Pension, die dank heißer Quellen, auf die man eher zufällig beim Eisenabbau gestoßen war, einem Onsen mit allen nur erdenklichen Bequemlichkeiten nachempfunden war.

Ein Kassenschlager, dachte Leon bei sich. Eigentlich.

Die Stille hier war unerträglich.

Leon erschauderte und sah sich vorsichtig um. Dieser Gedanke, wenn es denn einer gewesen war – hatte er ihn tatsächlich nur gedacht oder doch gehört? War da nicht eine Stimme in den wispernden Bäumen gewesen? Oder war sie aus Richtung des Felsen gekommen, an dessen zerklüfteter Wand dunkles Wasser hinabrann.

"So geht es jedem, wenn man das erste Mal hier ist."

Diese Stimme war real und Leon wandte sich ihr zu.

 

"Hallo, herzlich Willkommen, Mr. Orcot." Der Mann mit der randlosen Nickelbrille und den graumelierten Haaren, der aus dem Nichts aufgetaucht war, und von dem diese Begrüßung stammte, streckte Leon seine Hand entgegen, der sie mit ungutem Gefühl ergriff. Die Hand war warm, aber was hatte er sonst erwartet? Leon lachte in Gedanken auf. Geister? Schlimmer.

"Sie sind vermutlich nur die Stadt gewohnt, da ist es kein Wunder, wenn die Stille Sie hier zuerst mal überwältigt."

Leon lachte hilflos auf. "Es war offensichtlich, nicht wahr?"

"Das legt sich normalerweise nach ein oder zwei Tagen wieder." Der Mann führte Leon in den Empfangsbereich der Pension, wo er hinter den Tresen trat und mit einer Hand auf die an der Wand hängenden Schlüssel deutete. "Was die Gästehäuser angeht, haben Sie freie Auswahl." Der bittere Satz passte hervorragend zu dem bitteren Gesichtsausdruck.

Nachdenklich betrachtete sich Leon die lückenlose Parade der Schlüssel. "Geben Sie mir das Haus, das die meisten Probleme macht."

Sein Gegenüber versuchte vergeblich, sein Unwohlsein zu verheimlichen. "Oh – natürlich – gerne-" Der Mann druckste noch etwas herum, nahm dann aber doch einen der Schlüssel von seinem Haken und überreichte ihn Leon. "Wenn Sie sich doch noch umentscheiden, sagen wir, für ein Häuschen näher hier am Haupthaus, dann können Sie selbstverständlich jederzeit tauschen."

"Werde ich sicher nicht, aber Danke für das Angebot." Leon schulterte seinen Rucksack und machte sich gutgelaunt auf den Weg, sein Refugium für die nächsten Tage zu begutachten. Keine Vorgesetzten. Keine Kriminellen. Kein D. Alles, was ihn hier erwartete, war pure Entspannung und ein knapper Bericht an seinen Chef, dass die Leute hier vermutlich nur zu unachtsam waren, und deshalb zu Tode gekommen waren.

 

 

Mit untergeschlagenen Beinen saß Chris im Schneidersitz auf dem Sofa und hatte den Kopf auf eine Hand gestützt. In der anderen Hand hielt er ein Buch, das er sich aus den unzähligen Regalen genommen hatte und in dem allerlei Dinge über fremde mythische Tier standen. Er betrachtete sich lediglich die Bilder dieser seltsam aussehenden Wesen, denn für mehr reichte seine Konzentration gerade nicht. Immer wieder schweiften seine Blicke hinüber zu der Box, in der sich noch immer nichts regte.

Die meisten der anderen Bewohner hatten ihr Lager hier abgebrochen und sich wieder in ihre eigenen Räume verzogen. Bis auf Pon-Chan, die mit fröhlich baumelnden Beinen auf einem Hocker dicht an der Box saß und T-Chan, der neben Chris auf dem Sofa lümmelte und selig vor sich hin schnarchte.

D hatte schon ein paar Mal nach ihnen gesehen, Tee und Kuchen gebracht, später Sandwichs, und war dann wieder gegangen, um erneut in dem unendlichen Gängelabyrinth des Pet Shops zu verschwinden. Und auch Leon hatte angerufen und sich nach ihm erkundigt, ein paar Witze über Ds neueste Errungenschaft gemacht, berichtet, dass die Berghütte noch langweiliger als der Pet Shop sei, wobei man im Hintergrund die heiße Quelle plätschern hören konnte, in der es sich Leon gerade gutgehen ließ. Danach hatte er sich bis morgen verabschiedet und wieder aufgelegt.

Die Sonne war schon etwas länger untergegangen und langsam merkte Chris, wie er müde wurde. Mit jedem Blatt, das er in dem Buch umblätterte, schwand das bisschen Konzentration und schon bald fielen ihm die Augen von ganz alleine zu.

 

 

Nach dem überaus wohltuenden Bad in der heißen Quelle saß Leon nun zum Abendessen im Restaurant des Haupthauses und sinnierte darüber, was er noch an Informationen von den Besitzern über das Geschehen der letzten Monate hier erhalten hatte.

'Alles' hätte begonnen, nachdem man vor einigen Jahren die Pension samt Gäste- und Badehäusern renoviert hatte. Man hatte keine Kosten gescheut, die in die Jahre gekommene Anlage zu modernisieren. Mit Erfolg, fand Leon. Alle Wände hier waren mit edel aussehendem Holz vertäfelt, die Böden in den Gästehäusern waren mit teuren Tatamimatten ausgelegt und den krönenden Abschluss bildete die minimalistische, jedoch alles andere als billig scheinende Einrichtung. Man hatte sich alle Mühe gegeben, dem japanischen Original so nahe wie möglich zu kommen. Was absolut gelungen war. Vergaß man die Nummernschilder an den Autos der Besucher und ersetzte die Buchstaben des ein oder anderen Schildes durch Schriftzeichen, war die Illusion perfekt.

Es wirkte alles so unfassbar normal, dass er sich nicht vorstellen konnte, was hier angeblich geschah. Er fand nasse Flecken, die an den Wänden auftauchten, nicht besonders beunruhigend, immerhin war das hier eine abgelegene Badeanstalt für Touristen. Von Flüchen war die Rede gewesen und Geistern, die all jene heimsuchten, die es wagten, hier abzusteigen.

Aberglaube gepaart mit ein bisschen Urban Legend, aber Existenzbedrohend, wie es der Besitzer ihm gegenüber ausgedrückt hatte, fand er nichts. Wenn die Leute schlau waren, würden sie eher noch Profit aus ihren Gespenstergeschichten schlagen, anstatt die Polizei mit diesem Nonsens zu behelligen, nur weil der kleinste gemeinsame Nenner der war, dass ein paar Menschen, die die heißen Quellen hier besucht hatten, hinterher gestorben waren. An Dingen, an denen Menschen nun mal starben. Herzinfarkt, häuslicher Unfall und so weiter.

Leon hatte über alles nur den Kopf schütteln können. Das einzig unheimliche, das ihm bisher widerfahren war, war, dass irgendjemand in seiner Abwesenheit einen Futon in seinem Gästehaus vorbereitet hatte.

"Perfekt!", seufzte Leon und ließ sich angezogen wie er war, in die weiche Daunendecke fallen. Der Auftrag hier würde ein Klacks. Ein Klacks mit Wellness-Faktor, so viel war sicher.

Leon merkte, wie der Tag langsam seinen Tribut forderte. Die Fahrt hierher war lange gewesen und das Bad hatte seinen Teil dazu beigetragen, so dass er jetzt kaum noch in der Lage war, die Augen offenzuhalten. Ausziehen konnte er sich immer noch. Gleich. Nur kurz die Augen schlie-

 

 

Ein leises Scharren schlich sich gegen Morgen in Chris' tief schlafendes Unterbewusstsein und weckte den Jungen schließlich. Die Augen reibend setzte sich Chris auf. Eine Decke, die auf ihm gelegen hatte, rutschte zu Boden. T-Chan, der sich in einer Ecke des Sofas zusammengerollt hatte, murrte vor sich hin und trat gegen Pon-Chan, die kurz erschrocken auffuhr, nur um sich gleich wieder hinzulegen.

Chris streckte seine Hand nach der Decke aus, um sie wieder über sich zu legen, da hörte er das Scharren wieder, das ihn kurz zuvor aus dem Schlaf gerissen hatte. Es kam aus der Box. Eindeutig. Es musste das neue Tier sein.

Neugierig geworden verließ Chris sein Nachtlager und schlich zu dem rechteckigen Kasten hinüber, der vor dem großen Fenster stand. Gespannt trat Chris vor die Öffnung. Er musste etwas in die Knie gehen, um hineinzusehen, doch kaum tauchte sein Gesicht vor der Box auf, verstummte das Scharren darin.

Chris kniff die Augen zusammen und versuchte, etwas im dunklen Inneren der Box zu erkennen, er sah in jede Ecke, aber so sehr er sich auch anstrengte, es war nichts zu sehen. Er seufzte enttäuscht und wollte gerade wieder zurück zum Sofa gehen, als ihm die winzige Bewegung im Schwarz der Schatten auffiel.

Mit angehaltenem Atem sah Chris zu, wie sich etwas aus dem Dunkel Richtung Öffnung schob. Eine kleine Pfote reckte sich ihm entgegen. Oder nein, keine Pfote. Ein Ärmchen vielleicht?

Chris ließ die angehaltene Luft, die in seinen Lungen zu schmerzen begann, raus und tat einen vorsichtigen Atemzug.

Er hatte so etwas noch nie gesehen! Das Ärmchen, das mit der Pfote erschien, sah alt aus. Sehr alt. Die Haut an dem dürren Arm glich der Haut einer wirklich alten Schildkröte. Aber nicht ganz. Chris fand keine Worte dafür, weil es das erste Mal war, dass er so etwas sah.

Fasziniert streckte er seine Hand dem kleinen Arm entgegen, der nun langsam alle Scheu abzulegen begann. Chris drehte seine Hand um und hielt dem Neuankömmling seine geöffnete Handfläche hin. Und auch die vermeintliche Pfote öffnete sich nun und die bis eben darin verborgenen fingerartigen Glieder streckten sich aus. Es war eine winzige, dunkle Hand mit ebenso winzigen und dunklen Fingernägeln, die nun über der ihr angebotenen Handfläche schwebten und sich dann senkte. Für die Dauer eines Wimpernschlags berührte die winzige Hand die Hand des Kindes und dann war es auch schon wieder vorbei.

 

"Es hat dir die Hand gegeben?" D, der ein Tablett mit Frühstück für seinen kleinen Besucher auf dem Tisch vor dem Sofa abstellte, nahm am anderen Ende des Tisches Platz und sah amüsiert dem kleinen Jungen dabei zu, wie er sich hungrig über das Mahl hermachte.

Nachdenklich sah er zur Box und dachte über die Beschreibung nach, die Chris ihm, so gut er konnte, von dem kleinen Wesen gegeben hatte. Er hatte einen Verdacht, aber so lange sich das Geschöpf ihnen nicht ganz zeigte, blieb es leider nur bei diesem ersten Verdacht. Sollte er sich bestätigen, dann gab es noch Hoffnung für das Kleine, dass es ihm bald wieder besser gehen würde – sie mussten nur das passende Zuhause finden.

 

 

Unabhängig aller Warnungen, die er gestern noch von den Besitzern des Onsen zu hören bekommen hatte, hatte Leon eine äußerst ruhige Nacht hinter sich. Keine Geister. Kein Spuk. Kein von der Wand tropfendes Wasser. Die Gerüchte waren eben nur das: Gerüchte.

Ein bisschen bedauerte er es zwar schon, dass sein Aufenthalt nun schon zu Ende gehen sollte, doch wem wollte er hier was vormachen? Die Zeit, die er hier unnötig herumsaß, um auf irgendwelche abergläubischen Erscheinungen zu warten, würde er lieber mit Chris verbringen.

"Bitte bleiben Sie, Mr. Orcot. Es zeigt sich nicht immer gleich in der ersten Nacht. Und ich schwöre bei allen meine Ahnen, dass es hier nicht mit rechten Dingen zugeht."

Die flehenden Blicke des Mannes weckten das schlechte Gewissen in Leon. "Wissen Sie, ich bin Polizist, kein Geisterjäger..."

"Die Leute sind nicht einfach so an den üblichen Sachen gestorben."

"Da sagen die Berichte aber etwas anderes." Ein bisschen fand es Leon schon amüsant, wie man hier einen eigenen Mythos zu fabrizieren versuchte. "Da war dieser übergewichtige Zugführer, der an einem Herzinfarkt verstarb. Eine etwa siebzig Jahre alte Frau, die-"

"Das mag ja alles sein", unterbrach der Mann Leon düster. "Aber in der Zeit, in der sie hier waren, konnte man zusehen, wie sie immer schwermütiger wurden. Beim ersten Mal berichteten sie mir noch aufgeregt von den weinenden Wänden, aber einen Tag später schien es sie schon nicht mehr zu stören. Die fröhlichen Menschen, die hier ankamen, gingen als Geister nach Hause."

Es kostete Leon große Mühe, nicht die Augen zu verdrehen.

"-und deshalb würden wir Sie gerne privat engagieren, wenn Ihnen das Recht ist."

Jetzt war Leon wieder hellwach. "Engagieren? Privat?" Er verschränkte die Arme vor sich auf dem Empfangstresen und beugte sich interessiert vor.

Der Mann nickte bekräftigend und Leons Lippen bogen sich zu einem breiten Lächeln. Leicht verdientes Geld, was will man mehr so kurz vor Weihnachten? Außerdem hatte er somit noch etwas länger Ruhe vor D und seinem Zooladen-Kram.

"Ich denke, wir kommen ins Geschäft!" Leon reichte dem Pensionsinhaber grinsend die Hand. "Ich müsste nur mal schnell telefonieren."

 

 

Die kommende Nacht blieb D bei Chris, Pon-Chan, T-Chan und der unbekannten Kreatur in der Box. Und wieder zeigte es sich gegen Morgen.

D überlegte kurz, ob er Chris wecken sollte, damit er das Schauspiel mitansehen konnte, doch da bemerkte er, dass der Junge bereits hellwach neben ihm saß und das fremdartige Wesen bestaunte, das zuerst langsam aus der Box kroch und dann mit unsicheren wackeligen Schritten zum Fenster hin tappste. Dort angekommen, zog es sich am Fensterbrett hoch und ließ sich darauf nieder.

"Endlich weiß ich, was es ist", flüsterte D erfreut.

 

"Wie geht’s Chris?"

D horchte auf. Die Stimme am Telefon klang nicht wie er es von Leon gewohnt war.

"Ganz gut. Und wie geht es Ihnen, Officer? Schon etwas neues von Ihrem Auftrag?"

Leon schnaubte kurz. Einen Moment dachte er darüber nach, D von der vergangenen Nacht zu berichten, die dieses Mal alles andere als geruhsam war, doch dann besann er sich. Hysterie war nicht ganz sein Metier.

"Kann sein, dass ich noch einen oder zwei Tage bleiben muss. Ich hoffe, das ist Okay."

"Natürlich."

"Hat sich das neue Tierchen schon gezeigt?"

Jetzt wusste D, dass etwas ganz und gar nicht mit Leon stimmte. "Hat es in der Tat und es ist sogar am Leben."

Leon überging den kleinen Seitenhieb kommentarlos, was absolut untypisch für ihn war. Er murmelte lediglich ein knappes 'Aha' und ging dann dazu über, das Gespräch zu beenden. "Richten Sie Chris bitte einen schönen Gruß aus. Ich-" melde mich dann wieder, hatte Leon noch hinzufügen wollen, doch seine Hand hatte den Hörer von ganz alleine zurück auf die Gabel gehängt.

 

In seinem Gästehaus angekommen, nahm Leon wieder an dem niedrigen Tischchen Platz, das in der Mitte des Raumes stand. Entrückt starrte er die Wand vor sich an, auf der seit letzter Nacht dunkle Flecken erschienen waren, die immer größer wurden und dann einfach an der Wand hinabliefen. Tatsächlich wie Tränen, dachte Leon bevor er diesen Gedanken wieder verlor.

Das Flüstern von Milliarden Windbewegter Blätter drang an sein Ohr. Abertausende Stimmen, die ihn an Dinge erinnerten, die er schon lange an der tiefsten Stelle all seiner Gedanken vergraben geglaubt hatte. Die Traurigkeit, die aus der Wand floss, floss in sein Herz, das ob der Masse schier überzulaufen drohte. Schwarzes Wasser wurde zu schwarzen Gedanken, die in jede einzelne Pore seines Körpers drangen.

Zum ersten Mal wurde ihm bewusst, wie sehr er das vermisste, was für viele Menschen selbstverständlich war. Er vermisste es, ganz normal am Frühstückstisch zu sitzen etwa. Mit seiner Familie. Er vermisste die Leute, die sich darüber freuten, wenn er wieder nach Hause kam. Die erleichtert waren, dass ihm während seines Jobs nichts zugestoßen war. Er vermisste einfach – ein Zuhause. Nicht seine chaotische Wohnung, sondern ein Heim, wie sie es früher gehabt hatten. Alles, was Chris niemals bekam, weil er selbst einfach nicht das war, was Familie bedeutete. Er war nur der große Bruder, der sich zwar kümmerte, aber das war es auch schon. Hatte er jemals eine Veranstaltung besucht, wie es Eltern etwa taten? Alles, was er vorzuweisen hatte, war seine Anwesenheit und nicht mal die war besonders sinnvoll. Selbst im Pet Shop war Chris besser aufgehoben, als bei Leon, der, anstatt dass er sich darüber freute, dass Chris einen Platz gefunden hatte, wo er stets willkommen war, es ihm auch noch jedes Mal madig machte.

Das Wasser aus der Wand hatte Leon erreicht. Es traf ihn wie ein Stromschlag, als das eiskalte Nass seinen Fuß berührte.

Leon erhob sich wie in Trance und verließ sein Gästehaus. Er brauchte unbedingt ein Bad in der heißen Quelle. Danach würde es ihm sicher wieder besser gehen.

 

Im Badehaus begann Leon damit, sich zu entkleiden. Er wusch sich schnell und schritt dann auf die Schiebetür zu, die das Haus vom Badebereich trennte.

Es hatte geschneit, stellte sein Unterbewusstsein fest, ohne dass sein Körper auf den Schnee reagierte, durch den er barfuß lief. Die heißen Quellen lagen wie erschöpft da. Der dichte, warme Wasserdampf, der sonst immer über ihnen gehangen hatte, war verschwunden, ganz so, als sei das Feuer, das sie erwärmte, erloschen. Übrig geblieben waren lediglich dunkle Kreise, deren äußerer Rand bereits eine dicke Eiskruste gebildet hatte, und in deren klirrend kaltes Wasser Leon gerade hinabstieg.

Es tat wirklich gut, als er untertauchte und das Wasser über ihm eine erholsame Barriere zwischen sich und den Milliarden flüsternden Stimmen aus der Dunkelheit bildete.

 

Was ist es? Chris' lautlose Frage drang in D's Bewusstsein ein.

Etwas, dem wir dringend helfen müssen, entgegnete er ebenso stumm.

Das dürre Wesen mit der dunklen Haut und den langen zotteligen Haaren sah sie aufmerksam an. In seinen riesigen schwarzen Augen, die wie tiefe Bergseen wirkten, schwamm unendliche Traurigkeit. Es wandte sich von Chris und dem Count ab und blickte wieder aus dem Fenster zu irgendeinem fernen Punkt, den nur es sehen konnte. Das dünne Ärmchen mit der winzigen Hand tippte mit dem Fingernagel gegen die Glasscheibe. Klack, klack, klack.

Innerhalb eines Tages hatte es sich körperlich bereits gut erholt, womit kaum jemand gerechnet hatte. Es nahm jedenfalls Nahrung zu sich, auch wenn diese nur aus diversen Körnern und Früchten bestand. Dass es aß war ein gutes Zeichen. Doch selbst das konnte nicht über die erdrückende Schwermut hinwegtäuschen, die die Kreatur mit der Haut wie Baumrinde unentwegt aus dem Fenster starren ließ.

Das klingelnde Telefon ließ D aufhorchen. Er sah zu Chris, der der traurigen Dryade ein Stück Apfel hinhielt, den sie annahm und zur großen Freude des Jungen sogar aß.

"Ich bin gleich wieder zurück", entschuldigte sich D und verließ das Zimmer.

 

Leon hatte Tränen in den Augen, als D, Chris und die übliche Entourage aus dem Pet Shop ihn zwei Tage später im Krankenhaus besuchte. Er hatte ihnen alles erzählt. Von dieser lähmenden Traurigkeit, die ihn so plötzlich in seinem Gästehaus befallen hatte und auch von dem Holz, das das gleiche wie er gefühlt zu haben schien. Und dem Schock darüber, als er hier im Krankenhaus wachgeworden war und man ihm sagte, dass er beinahe in einer der plötzlich eiskalt gewordenen Quellen, von der er schwören konnte, dass sie normal heiß gewesen war als er hineinstieg, ertrunken wäre.

Zuerst hatte ihn D angesehen, als wäre er sich nicht sicher, ob die Unterkühlung nicht doch mehr Schaden bei Leon angerichtet hatte, als angenommen. Doch als Leon die Sache mit dem weinenden Holz erwähnte, fuhr der Count auf einmal kerzengerade von seinem Sitzplatz auf und murmelte etwas, das wie Das ist die Lösung! klang. Danach hatte er es ziemlich eilig gehabt, sich zu verabschieden und aus dem Krankenhaus zu kommen, worüber Leon natürlich ziemlich verstimmt war.

Erst eine Woche später sollte sich das Rätsel auflösen, nämlich dann, als Leon vor dem Pet Shop stand und einen Käfig in die Hand gedrückt bekam, in dem ein pelziges Tier saß, das Leon aus aufmerksamen Augen ansah.

"Was soll ich mit der fetten Ratte?", fragte Leon verblüfft.

"Das ist ein Fuchshörnchen, liebster Officer Orcot", flötete D zuckersüß, während er hinter sich die Tür schloss. "Und ich bin Ihnen wirklich dankbar, dass Sie mir liebenswürdigerweise angeboten haben, es mit mir im Wald auszusetzen."

"Ich habe dir gar nichts angeboten", protestierte Leon und wollte den Käfig gleich wieder an seinen durchgedrehten Besitzer zurückgeben, doch der schlenderte bereits gutgelaunt die Treppen des Pet Shops hinab zu Leons Wagen und nahm seelenruhig auf dem Beifahrersitz Platz.

"Wenigstens stinkt es nicht mehr", murrte Leon, der den Käfig mit dem zeternden Fuchshörnchen in den Kofferraum hob.

Auf der Rückbank kicherte Chris vor sich hin. D hatte ihm alles über die Dryade erzählt, die in Leons Augen nichts als eine fette Ratte war. Er hatte ihm davon erzählt, wie der riesige uralte Baum, in dem die Dryade seit tausenden von Jahren gelebt hatte, geschlagen und zu Brettern verarbeitet worden war, mit denen man die Pension renoviert hatte, in der Leon beinahe in einer heißen Quelle ertrunken wäre. Die Dryade, die alleine zurückgelassen worden war, hatte unsäglich unter der Trennung von ihrem Baum gelitten und auch das Holz hatte getrauert.

Und D hatte ihm gesagt, dass eine Dryade immer in der Nähe ihres Baumes sein musste, weil sie sonst krank wurde. Und auch wenn der Baum jetzt eigentlich gar kein Baum mehr war, so war immer noch genug von ihm übrig, dass die Dryade für mindestens weitere tausend Jahre glücklich war.

 

 

 
 

E N D E

 


 

Damage

 

Morning Glory

 

 

"Herzlich Willkommen zu unserer Morgenshow an diesem wunderschönen, verschneiten Mittwoch! Seid ihr schon in Weihnachtsstimmung?", dröhnte es etwas blechern aus dem alten Radio im Wohnzimmer hinüber in das kleine Bad, wo Leon wie jeden Morgen todmüde von der langen Schicht vom Vortag und einer zu kurzen Nacht vor dem Waschbecken stand und Zahnpasta aus einer malträtierten Tube auf die kleine Bürste in seiner Hand drückte.

"Für den Fall, dass ihr noch zuhause seid und nicht in einem der unzähligen Staus steht, auf einer Skala von Null bis unendlich: wie gefällt euch der Schnee da draußen? Okay, okay, den Schnee kann ich euch nicht ersparen, aber ich hätte hier etwas Lustiges für euch. Wenn ihr dachtet, ihr hättet schon alles gehört, was es an verrückten Nachrichten in der Welt so gibt, dann habt ihr euch getäuscht! Haltet euch fest! Hier sind die drei besten Geschichten der letzten zwei Wochen aus unserer geliebten Stadt der Engel-"

Wenn auch nur einer der Zuhörer außer ihm selbst D kannte, hätte man garantiert niemals das verrückteste gehört, weil immer wieder etwas neues nachkam...

Leon grinste wissend sein Spiegelbild an und schob sich die Zahnbürste in den Mund.

Die erste Nachricht, die der Moderator mit erfolgslos unterdrücktem Kichern vorzulesen begann, handelte von einer Auseinandersetzung auf dem Fischmarkt, wobei sich die beiden 80jährigen Kontrahenten – einer bewaffnet mit einem Oktopus und der andere mit Seeigeln – in einer Art bizarren Tennisturniers um eine angeblich nicht mehr frische Krabbe gestritten hatten. Wer schlussendlich gewonnen hatte und ob die Krabbe nun frisch oder verdorben gewesen war, hatten die Polizeibeamten vor Ort nicht mehr klären können.

Ok, der war gut, musste sich Leon eingestehen. Scheinbar hatten auch andere Dienststellen genug mit komischen Käuzen zu tun. Barfuß tappte Leon ins Wohnzimmer und drehte das Radio etwas lauter.

Im zweiten Beitrag ging es um einen Vogelschwarm aus Sperlingen, der täglich in einem Einkaufszentrum auf Raubzug ging und den man dank den hohen Decken dort noch nicht einmal zu fassen bekam, was zu weiteren zahllosen Diebstählen führte. Zuerst nur in den ansässigen Fast Food- und Lebensmittelläden, aber als die frechen Federviecher irgendwann damit begannen, auch noch den Besuchern das Essen aus den Händen zu stiebitzen, hatte sich eine Bürgerwehr der Ladenbesitzer gebildet, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, den diebischen Sperlingen den Garaus zu machen.

Dass der zur Abschreckung der Sperlinge im Einkaufszentrum freigelassene und normalerweise handzahme Rabe sich allerdings mit den Sperlingen verbündete, hätte man ja nicht ahnen können, beklagte sich der Leiter der Bürgerwehr im Interview. Jetzt gäbe es leider noch ein zusätzliches Problem mit einem Raben, der es liebte, allerlei Spielzeug aus den Läden zu klauen und im gesamten Einkaufszentrum zu verteilen. Gerade in der Vorweihnachtszeit war das wohl der Hit unter den Besuchern, die den Raben zum Dank fütterten und somit diesen endlosen Teufelskreis immer weiter befeuerten.

Klang wie ein normaler Tag im Pet Shop...

Leon lachte, bis ihn die Klingel in die Wirklichkeit zurückholte. Er seufzte. Jetzt würde er die dritte und angeblich beste Geschichte nicht mehr mitbekommen, die, an den beiden anderen gemessen, schon sehr spektakulär sein musste.

„Moment“, nuschelte Leon unwirsch, so gut es mit der Zahnbürste im Mund eben ging, als die Klingel ein zweites Mal und schließlich ein drittes und viertes Mal schrillte.

Er riss die Tür auf und erstarrte. Vor ihm stand D.

 

„Guten Morgen, Officer Orcot“, begrüßte D sein überrumpeltes Gegenüber, das lediglich mit einer Pyjamahose bekleidet und mit einer schäumenden Zahnbürste im Mundwinkel vor ihm in der Tür stand.

Vor etwa einer Stunde hatte einer der für ihre Gegend äußerst seltenen Winterstürme getobt und ihnen eine stattliche Ladung Schnee beschert. D trug einen wahnsinnig aufwendig bestickten Wintermantel, der mit einer feinen Lage Schnee bedeckt war, und bestaunte gerade Officer Orcots weihnachtliche Pyjamahose. Den Zusammenhang von Dinosauriern, die Weihnachtsmützen trugen und sich mit Lebkuchenmännchen ein Duell mit Zuckerstangen lieferten, verstand er nicht. Egal, wie oft er Weihnachten noch feiern würde, einiges daran blieb ihm ein ewiges Rätsel.

Wie groß D's Kleiderschrank wohl sein musste, bei dem ganzen pompösen Zeug, das der sich ständig überwarf?, dachte Leon, während er sich seelenruhig die Zähne putzte und D ratlos anstarrte, der seinerseits den jungen Officer ratlos anstarrte, der in der Tür stand, eine Hand auf dem Türknauf und in der anderen eine lila Zahnbürste, als wäre es das normalste auf der Welt.

 

D räusperte sich verhalten, wobei der Schnee auf seinen Schultern zu Boden rieselte und in den Pfützen aus Tauwasser schmolz, die sich um die Füße des Counts gebildet hatten.

„Waswillsuhier?“, wollte Leon endlich wissen, wobei ihm Zahnpastaschaum aus dem Mund quoll. Er wirkte wie ein tollwütiges Tier. Ein verwirrtes, tollwütiges Tier.

„Ich ziehe bei Ihnen ein, Officer Orcot“, erklärte D gelassen.

„Ok, warum auch nicht“, murmelte Leon und zuckte leicht mit den nackten Schultern.

„Vielen Dank“, flötete D fröhlich und schob sich an Leon vorbei in die Wohnung.

Als das kalte Tauwasser von D's Wintermantelmonstrum Leons Schulter streifte, kehrte dessen Verstand endlich wieder zurück.

„WAS?“, rief Leon D hinterher, der ihm den Rücken zugewandt hatte und sich interessiert in dem schmalen Flur umsah. Ein feiner Schauer aus Zahnpastaschaum regnete auf D's Rücken.

„Shit“, murmelte Leon. Die Reinigung dieses Ungetüms konnte er sich dieses Jahr nicht leisten! Ach, was, nicht nur dieses Jahr nicht, sondern auch alle folgenden Jahre nicht! Er machte einen flinken Satz nach vorne zu D, der noch nichts von den weißen Sprenkeln ahnte, die sich wie ein Meteoritenschauer über den feinen Stoff seines Mantels zogen. Hektisch wischte Leon mit beiden Händen über den Rücken des Counts, was dieser wohl als höfliche Aufforderung verstand, seinen Mantel auszuziehen.

Leon verlor die Balance, als ihn der zu Boden gleitende Mantel mit seinem Gewicht nach unten zog, während sein Träger schon in Richtung Wohnzimmer von dannen stolzierte und dem verblüfften Leon ein nonchalantes „Mein Gepäck steht im Treppenhaus“, zurief, um gleich darauf ein entzücktes „Was ist denn das?“, von sich zu geben.

„Finger weg!“, schrie Leon, ohne zu wissen, was D überhaupt meinte. Aber es konnte nichts gutes sein. Nicht in seinem chaotischen Appartement...

 

 

„Wo sind denn die anderen Zimmer?“, erkundigte sich D interessiert bei Leon, der sich mit dem Gepäck des Counts abmühte, das aus einem riesigen Koffer und mindestens fünfzig Taschen bestand.

„Welche Zimmer?“, ächzte Leon. Er gab der letzten Tasche einen Tritt und atmete erst mal durch.

„Ihr Teesalon zum Beispiel, Officer, oder Ihre Bibliothek.“

Auf Leons Stirn bildete sich eine ungläubige Falte. „Oh, verstehe“, Leon deutete eine leichte Verbeugung an. „Wenn Sie mir bitte folgen möchten“, säuselte er gekünstelt und streckte einen Arm aus, um damit in ein angrenzendes Zimmer zu deuten.

Unbedarft folgte D seinem unfreiwilligen Gastgeber brav, der nun die Küchentür öffnete.

„Der Teesalon, bitteschön.“ Mit verschränkten Armen sah Leon D an, der scheinbar keinen Sinn für Sarkasmus besaß oder zumindest so tat.

„Ich habe nur Kaffee. Wenn du Tee willst, kauf dir welchen.“ Leon hatte gehofft, D damit eindeutig zu verstehen zu geben, dass er seine Ansprüche nach unten schrauben musste, was Leons Wohnung anging. Sehr weit nach unten. Doch D zeigte weiterhin Interesse, ganz so, als wäre er tatsächlich einfach nur froh, hier sein zu können.

„Wo ist eigentlich der Rest deiner Gefolgschaft?“

„Wen meinen Sie, Officer?“

„Na deine Ziege und die anderen verfilzten Viecher...“

„Oh, verstehe.“ Auf D's Gesicht bildete sich eines seiner geheimnisvollen Lächeln. „Die sind in Urlaub“, fügte er knapp hinzu und begann damit, nacheinander die Schränke zu öffnen und auf ihren Inhalt zu überprüfen.

„Verarsch mich nicht, D“, zischte Leon dem Count zu und hielt dessen Hand fest, die gerade dabei war, eine weitere Schublade aufzuziehen. „Du kommst doch nicht hierher, um bei mir zu wohnen. Also, rück mit der Sprache raus, du Blindschleichenbeschwörer.“

„Ich versichere Ihnen, dass es stimmt, was ich sage.“ D's Stimme klang unbeschwert, aber ganz konnte er Leon damit nicht täuschen. Da war ein Hauch von Unbehagen. Ganz leicht.

„Dann werde ich dir das wohl glauben müssen“, entgegnete Leon zuckersüß und sah dem Count dabei fest in die Augen, auf das kleinste Blinzeln wartend. Doch der hielt den forschenden Blicken stand. „Ich sag dir nur eins“, fuhr Leon fort, „wenn du wieder unterwegs bist, um eins dieser stinkenden Viecher abzuholen, zähl nicht auf mich. Nimm dir ein Taxi!“

D's Lächeln verbreiterte sich minimal. „Ein Bett und ein Dach über meinem Kopf reichen mir völlig, Officer Orcot. Übrigens-“ D nickte zur Wanduhr hin, „haben Sie nicht bald Dienstbeginn?“

Leon erbleichte. Wortlos drehte er sich um und ließ D in der Küche zurück.

Stumm lächelnd hörte D seinem Gastgeber zu, wie der sich unter Flüchen anzog und anschließend seine Autoschlüssel suchte. Ein Klimpern sagte ihm, dass Leon sie gefunden hatte.

„Ach und D“, rief Leon aus dem Flur, während er in seine Schuhe schlüpfte und die Jacke von der Garderobe riss. „Die Bibliothek ist im Bad. Direkt neben der Toilette liegen ein paar Magazine. Bring mir keine Unordnung rein, verstanden?“

„Verstanden, Officer.“

 

 

Leon, der D's Ankündigung, bei ihm zu wohnen zuerst nur für einen Scherz gehalten hatte, wurde bald eines besseren belehrt. Als er am ersten Abend nach seiner Schicht nach Hause kam, schlief D tief und fest in Leons Bett, der daraufhin mit seiner Couch Vorlieb nehmen musste.

Und auch in der zweiten Nacht war es so. Und in der Woche darauf. Und als D auch nach der zweiten Woche nicht damit rausrückte, was eigentlich los war – und es musste schlimm genug sein, wenn er es vorzog, bei Leon zu wohnen – nahm es sich dieser vor, den eigentlichen Besitzer des Pet Shops heute abend darauf anzusprechen und auch nicht locker zu lassen, bis er eine ehrliche Antwort hatte!

 

Leon hob den Kopf, als er das Treppenhaus seines Appartements betrat, und schnupperte. Irgendetwas roch hier. Und zwar gut, statt wie sonst nach zu vielen Menschen, die auf zu engem Raum wohnten.

Es roch so, wie es früher bei ihnen zuhause gerochen hatte. Nach Geborgenheit und Wärme und nach Menschen, die auf einen warteten, wenn man nach Hause kam. Es roch nach heißem Kakao mit einer schmelzenden Schicht aus Marshmallows obendrauf. Und nach einer Umarmung, wenn man mit dem Fahrrad hingefallen war und sich die Knie aufgeschlagen hatte.

Vorsichtig öffnete Leon seine Wohnungstür. Stille empfang ihn und Schwärze. Kein Hallo und kein Schön, dass du wieder da bist. Nur dieser Geruch hing noch in der Luft und Leon folgte ihm in die Küche, bis er vor einer Schale stand, die bis oben hin mit Keksen gefüllt war. Sie waren sogar noch warm, wie Leon feststellte, als er sich einen nahm. Und sie schmolzen herrlich in seinem Mund.

D schien schon in bester Weihnachtsstimmung zu sein, dachte sich Leon und nahm sich gleich noch zwei Kekse aus der Schüssel. Sollte ihm recht sein. So lange er kochte und buk, konnte er so lange bleiben, wie er wollte, freute sich Leon und schob sich den nächsten Keks in den Mund.

Sie könnten allerdings noch etwas mehr Zucker vertragen, fand er. Und ein bisschen mehr von dem Vanillearoma, um diesen etwas seltsamen fischigen Geschmack zu übertünchen. Das Mehl war wohl schon älter gewesen und ranzig geworden. Das Zeug stand wohl schon seit seinem eigenen Einzug hier in der Küche. Das musste er D unbedingt sagen.

Die nächsten beiden Kekse nahm Leon mit ins Wohnzimmer, wo er es sich wohlig seufzend vor den Fernseher gemütlich machte.

D war ein Naturtalent!

 

„Schmecken Ihnen die Hundekekse, Officer Orcot?“

Leon fuhr erschrocken auf und verschluckte sich prompt an einem Krümel. Er hustete, bis er Tränen in den Augen hatte.

In der Tür stand D, der sich lächelnd die Krümelspur betrachtete, die sich von der Küche bis hin zum Sofa zog. Die halbleere Schüssel hatte er auch schon bemerkt.

„Die was?“, krächzte Leon.

„Kennen Sie etwa die drei Hunde nicht, die hier leben?“, fragte D scheinheilig grinsend. „Es sind doch praktisch Ihre Nachbarn.“

„Lass mal die Hunde aus dem Spiel, D!“ Leon hatte sich aufgesetzt und wischte sich die Krümel von seinem Shirt. „Was war in den verdammten Keksen drin und warum zur Hölle standen die in meiner Küche?“

„Nur das übliche, Officer.“ D konnte sich die Schadenfreude nicht verkneifen. Mit verschränkten Armen lehnte er gegen den Türrahmen. „Mehl, Honig, Eigelb für glänzendes Fell-“

„Das andere Zeug!“, zischte Leon.

„Kräuter“, fuhr D fort.

Leon nickte. Damit konnte er leben. „Was noch?“

„Vanille natürlich“, D's Grinsen reichte nahezu von einem Ohr zum anderen. „Alle lieben schließlich Vanille. Menschen wie Tiere-“

„Das andere“, fuhr Leon sein grinsendes Gegenüber an. „Das fischige“, erklärte er und fürchtete sich gleichzeitig vor der Antwort.

„Ach das“, zog D die Unterhaltung genüsslich in die Länge. „Lachsöl.“

Leon atmete erleichtert aus.

„Und Hühnerleber“, fügte D hinzu, als wäre es ihm eben erst wieder eingefallen.

Leon verzog das Gesicht. Nicht gerade seine Leibspeise, aber immerhin genießbar.

„Und etwas, das vor Würmern schützt“, schloss der Count seine Aufzählung.

„Oh verdammt“, entfuhr es dem entsetzt dreinschauenden Leon, dem nun alle Farbe aus dem Gesicht gewichen war. „Ok, das reicht, den Rest will ich nicht wissen...“

„Jedenfalls müssen Sie sich die nächste Zeit keine Gedanken mehr um Ihre Darmflora machen, Officer.“ D grinste unschuldig.

„Sehr beruhigend“, murmelte Leon tonlos.

„Nun, Officer, ich werde dann wohl wieder los müssen, um noch etwas Hühnerleber zu besorgen.“ D nahm seinen Mantel, der keine Spur mehr von Zahnpasta zeigte, und zog ihn an. „Die Kekse, die sie übrig gelassen haben, reichen leider nicht mehr für meine Freunde.“

„Ich komme mit“, erklärte Leon kurzerhand und folgte D aus der Wohnung.

 

„Warum bist du bei mir, D?“ Leon hatte die Frage wie nebenbei einfließen lassen, während sie in der Schlange vor der Metzgerei standen und darauf warteten, an die Reihe zu kommen.

D tat, als hätte er Leon nicht verstanden, doch Leons trainierten Blicken war nicht entgangen, dass sich seine gesamte Mimik einen Sekundenbruchteil verändert hatte wie ins Rutschen kommender Schnee, kurz bevor er als Lawine ins Tal stürzte. Aber D war ein Meister darin, alles, was in seinem Kopf vorging, nur zu offenbaren, wann er mochte.

Mit solchen Leuten hatte Leon während seines Dienstes tagtäglich zu tun. Demzufolge besaß er das Talent, Dinge, die ihn interessierten, selbst herauszufinden.

 

 

Und Leon besaß ein weiteres Talent: sich Eintritt zu verschaffen, selbst wenn man ihn abzuwimmeln versuchte. Nicht einmal die schnörkelige Tür des Pet Shops, vor der Leon nach einer gewohnt zu langen Schicht stand, konnte ihn abhalten. Nicht lange zumindest. Das metallische Schnappen im Schloss gab das Startzeichen und Leon schob die massive Holztür auf.

Es kostete ihn mehr Kraft, als er vermutet hatte und erst hatte er erwartet, dass man sie von innen zuhielt, so schwer ließ sie sich bewegen. Irgendetwas schien sich im Türrahmen verzogen zu haben. Die Schwarniere ächzten grauenvoll, als hätte man sie ewig nicht mehr geölt.

Die eisige Kälte, die Leon von drinnen entgegenschlug, erinnerte ihn an seinen Besuch hier, als dank eines Wächters, den D mitsamt einer Schildkröte hier versteckt gehalten hatte, alles zu Eis erstarrt gewesen war. Nur dass es dieses Mal kein Eis war, das den Boden bedeckte, sondern große Brocken aus antikem Stuck, der sonst die hohen Wände des Pet Shop zierte. Mit der Fußspitze stieß Leon ein großes Stück davon zur Seite, das augenblicklich zerfiel und eine Spur aus Sand hinterließ.

Leon griff in seine Jackentasche und kurz darauf flammte das kalte Licht einer Taschenlampe auf. Soweit der Lichtstrahl seiner Lampe es zuließ, wurde der zerfallene Zustand des Pet Shop immer schlimmer, je weiter der lange Gang in das Gebäude hinein führte.

Ohne Angst, aber mit der nötigen Vorsicht folgte Leon dem schwankenden Lichtstrahl, der mehr und mehr den Zerfall des eigentlich gemütlichen Zuhauses von so vielen Tierchen – und D – offenbarte. Der sonst vor Leben sprühende Pet Shop war nicht mehr als eine Ruine. Schleier aus Staub lagen auf den zierlichen Sesselchen, die den Flur säumten, und die für wartende Besucher des Pet Shop bestimmt waren. Der sonst in prächtig leuchtenden Tönen strahlende Teppich, hatte sämtliche Farben verloren und raschelte spröde unter jedem Schritt.

Gemessen an der Zeit, die D jetzt bei ihm wohnte, musste es entweder sehr schnell gegangen sein, was nur mittels eines schnell herbeigeführten Ereignisses passiert sein konnte, oder – Leon hielt kurz inne, als ihm dieser Gedanke bewusst wurde – oder D hatte das alles schon viel länger vor allen verheimlicht.

„Hallo?“, rief Leon in die Schwärze hinein. Alles, was zurück kam, war das Echo seiner eigenen Stimme, die von den kahlen, kalten Wänden zurückgeworfen wurde.

Leon stoppte vor der Tür am Ende des Flurs. Er atmete tief ein und schob die beiden Flügel auseinander.

 

Abgestandene Feuchtigkeit hüllte Leon ein, als er den hohen Kuppelsaal betrat. Von der Decke, wo sonst lange Lianen der tropischen Pflanzen hinabhingen, die D mit unglaublicher Hingabe pflegte, tropfte Schmelzwasser. Durch die zerbrochene Glaskuppel floss das kühle Mondlicht hinein und beleuchtete mit seinen kalten Strahlen die traurige Szenerie unter sich. Von den Pflanzen, die einst den gesamten Saal ausgefüllt hatten, war nicht mehr als verrottetes totes Gehölz übrig, das wie eine vor Gram gebeugte Trauergesellschaft herumstand.

Das hier übertraf alles, was Leon sich an Dingen vorgestellt hatte, was D vor ihm zu verheimlichen versuchte. Das hier war kein Zuhause mehr für irgendetwas. Das hier war ein riesengroßer Trümmerhaufen aus allem, was sich der Count mit Leidenschaft über Jahre oder Jahrzehnte hin aufgebaut hatte.

Und trotz allem stand dieser verdammte Kerl in seiner Küche und buk Hundekekse, was Leon zeigte, wie klein die heile Welt des Counts mittlerweile sein musste...

Etwas zerbrach mit hellem Klirren. Leon blieb stehen und sah zu seinen Füßen hinab, wo ein nun beschädigtes Porzellanschälchen lag, in dessen Scherben sich eine glänzende zähe Flüssigkeit gesammelt hatte.

Ohne zu zögern ging Leon in die Knie und streckte seine freie Hand nach dem Schälchen aus. Er tauchte eine Fingerspitze in die unbekannte Flüssigkeit und zerrieb sie zwischen Daumen und Zeigefinger. Es war Honig, warum auch immer hier in diesem heillosen Chaos eine Schale davon gestanden hatte, aber es war tatsächlich Honig.

Leon hob den Blick und folgte mit den Augen den schwarzen Schlingen, die sich zwischen den vertrockneten Blüten und Wurzeln der toten Pflanzen wanden. Er nahm eine der Schlingen in die Hand und war überrascht von deren Struktur. Es war keine Pflanze, sondern „Haare?“

Leon ließ die dunkle Strähne fallen, in die plötzlich Bewegung kam, kaum dass sie den Boden berührte. Sie schien sich zurückzuziehen, als zöge jemand am anderen Ende und Leon, der wusste, dass er es sein lassen sollte, folgte den schwarzen Schlingen durch die raschelnden Blüten, die trocken unter seinen Schuhsohlen zerbröselten.

 

Leon musste nicht weit gehen. Direkt unter der zerbrochenen Deckenkuppel, wo abgestorbene Baumstämme dicht an dicht standen, nahm er eine Regung wahr, die nur von jemand anderem stammen konnte, der sich mit ihm hier befand.

„D?“, rief Leon in die vom Mondlicht beschienene Mitte des Saals. Wachsam näherte er sich der hellen Gestalt vor sich, die sich vor den dunklen Ruinen ihrer Umgebung deutlich abzeichnete. Ihre Bewegungen waren langsam fließend, ganz so als wäre es nicht nötig, sich vor dem sich behutsam nähernden Officer zu verstecken.

Leon stieß den angehaltenen Atem aus.

Inmitten der Scherben der Dachkuppel stand eine junge Frau in nichts als ihre unglaublich langen schwarzen Haare gehüllt, die sich wie ein Mantel um sie herum ausgebreitet hatten.

„Was zur Hölle-“, flüsterte Leon beeindruckt.

Das scharfkantige Glas unter ihren nackten Füßen knackte bedrohlich, als sie sich wieder in Bewegung setzte und ein bisschen weiter zur Mitte des Saals schritt.

„Nicht!“, rief Leon ihr eine Warnung zu, doch die Glasscherben, über die sie ging und die unter ihren Füßen weiter zerbrachen, schienen die Frau nicht im Geringsten zu stören. Wie einen Schleier zog sie ihre langen Haare hinter sich her, ihr im Mondlicht schimmerndes Gesicht hielt sie dem Himmel zugewandt und betrachtete sich stumm den Himmelskörper, als sähe sie ihn gerade das erste Mal in ihrem Leben.

„Was-wer sind Sie?“ Leon ärgerte sich kurz über das unprofessionelle Zittern in seiner Stimme.

Die Frau blickte ihn nun interessiert an. Ihre riesigen schwarzen Augen schimmerten wie zwei Seen in mondloser Nacht. Sie lächelte Leon zu, der sich ihr bis auf zwei Meter genähert hatte. Die Schale, die sie plötzlich in ihren Händen hielt, war mit der gleichen goldgelben Flüssigkeit gefüllt, die Leon beim Betreten umgeworfen hatte. Ohne einen Ton zu sagen, bot sie ihm die Schale an und Leon ergriff sie vorsichtig.

Sein gesamter Verstand musste sich in dem Augenblick verabschiedet haben, als die seltsame Frau sich mit einem Lächeln zu ihm umgedreht hatte. Ihr Gesicht, das frisch und ohne eine Spur irgendwelcher Sorgenfalten wirkte, ganz so, als wären ihr solche Emotionen völlig fremd, strahlte eine Ruhe aus, die Leon die letzten Wochen vergessen ließ. Er hob die Schale an seine Lippen und nahm einen Schluck.

Die süße Flüssigkeit kribbelte angenehm auf seiner Zunge und erfüllte ihn nur Augenblicke später mit einer nie gekannten Heiterkeit. Er fühlte sich wie neu geboren, als hätte der goldene Trank einen Schalter in seinem Körper umgelegt, der nun einen warmen Fluss aus Glückseligkeit durch seinen Körper strömen ließ. Bis in den letzten Winkel erfüllte ihn die neue Lebendigkeit.

Er nahm noch einen Schluck, bevor er die Schale der geduldig wartenden Frau zurückgab.

Schade, dass D nicht hier war, dachte Leon beschwingt, während er der Frau weiter durch den Mondbeschienenen Saal folgte, bis sie vor einem etwas länglichen Hügel stoppte.

Leon, der vergnügt über die Glasscherben schlenderte, vor denen er die Frau eben erst zu warnen versucht hatte, blieb nun ebenfalls stehen und lächelte die Unbekannte vor sich frohgemut an.

Seine Blicke folgten ihrer ausgestreckten Hand zu Boden, wo sie auf den Hügel zu ihren Füßen deutete.

Leons Lächeln gefror ihm im Gesicht, als er erkannte, was der Hügel tatsächlich war. Unter einem dünnen Schleier aus Schnee erkannte er das ausdruckslose Gesicht einer offensichtlich toten Person. Ihre Haut war bleich wie Wachs und die dunkel eingesunkenen Augenhöhlen deuteten auf einen bereits länger vergangenen Todeszeitpunkt hin.

Augenblicklich erwachten Leons beruflich antrainierte Instinkte. Er machte einen Schritt nach hinten und zog gleichzeitig seine Waffe aus dem Halfter unter seiner Jacke; das metallische Auge auf die Frau gerichtet, die den Polizisten vor sich interessiert und ohne Angst musterte, als hätte sie überhaupt keine Ahnung, was Leon da tat.

 

„Weg von der Leiche und Hände nach oben!“, schrie Leon die Frau an, die auf keinen seiner Befehle reagierte.

„Letzte Warnung“, brüllte Leon. Oder dachte zumindest, dass er das tat, denn aus seinem Mund kam nichts außer einem kaum hörbaren Laut. Mit Ensetzen spürte er, wie sein Körper sich zu verändern begann, während ihn die schwarzen Augen seines Gegenübers weiterhin gespannt, aber unbeeindruckt musterten.

Die Waffe in Leons Hand wurde immer schwerer, oder er selbst wurde immer schwächer. Er konnte nichts mehr richtig einordnen, was sein Körper gerade tat. Es fühlte sich an, als würde sich dieser wohlig warme Strom aus Glück in einen reißenden Fluss aus Lava verwandeln, der sein Innerstes zum Glühen brachte.

Nacheinander verlor er die Kontrolle über seine Muskeln und sackte schließlich in sich zusammen.

Verdammt, dachte Leon im Wegdämmern. Das letzte, was seine verschwommenen Sinne noch wahrnahmen, war ein immer lauter werdendes Summen, das sich ihm näherte, bis es in seinen Ohren schmerzte. Langes Haar streifte sein Gesicht und dann wurde es schwarz um Leon herum.

 

 

D hob bedächtig den Kopf als sich die Haustür des spärlich eingerichteten Appartements öffnete und Leon eintrat.

In aller Seelenruhe kam Leon ins Wohnzimmer, wo D in der anbrechenden Morgendämmerung auf dem Sofa saß und ihm schweigend entgegen sah. Der Officer nahm wortlos neben dem Count Platz.

Leons Kleidung triefte vor Schmutz und Wasser. Modrige Pflanzenreste hingen wie Fransen vom Saum seiner Jacke, ohne dass es ihn auch nur im Geringsten störte.

Eine Weile saßen sie schweigend da. Leons Blicke glitten über den matten orangefarbenen Streifen Sonnenlicht, der durch das Fenster auf die relativ kahlen Wände fiel, und D beobachtete den Officer dabei stumm.

D sollte sich bloß nicht täuschen, dachte Leon bei sich. Er wusste alles, was im Pet Shop vorgefallen war. Alles!

„Tut mir leid, dass ich nicht ehrlich zu Ihnen war, Officer Orcot.“ D klang tatsächlich, als meinte er, was er sagte.

„Warum hast du mir nicht schon früher davon erzählt?“ Der Streifen Sonnenlicht kroch langsam über die Wand und wurde dabei immer länger und goldener.

„Ja, das wäre klüger gewesen“, gestand D bedrückt. Und dann erzählte er Leon vom Beginn dieser Katastrophe, die den Pet Shop befiel, als die Bienen verschwanden.

Ohne zu blinzeln hörte Leon D bis zum Ende seiner Schilderung zu. „Ich weiß leider nicht, was aus deinen Bienen wurde“, sagte er in die Stille hinein. „Aber ich weiß, dass du nicht der Typ bist, der sich einfach umdreht und die Tür hinter sich absperrt, sobald ein Problem auftaucht.“ Das erste Mal wandte sich Leon D zu und sah ihn direkt an. „Was ist mit deinen Tierchen? Vermisst du die denn nicht?“

Der letzte Satz hatte getroffen. D senkte die Blicke auf seine Hände hinab, die er verschränkt in seinem Schoß hielt.

„Außerdem hat sich da diese seltsame Frau in deinem Pet Shop eingenistet.“ Leon überlief ein kalter Schauer bei dem Gedanken an diese dürre Gestalt mit den meterlangen Haaren. „Oder ist das deine Nachfolgerin? Wenn ja, werde ich die wohl mal besser genauer unter die-“

„Frau?“, unterbrach D Leon. Er klang aufgeregt. „Welche Frau meinen Sie, Officer Orcot?“

„Was weiß ich, sie hat sich mir nicht vorgestellt“, brummelte Leon genervt. „Sie war etwa so groß“, er zeigte D mit der Hand die ungefähre Größe. „Schwarzes wahnsinnig langes Haar, keine Ahnung, sie wirkte teilweise echt verwirrt.“ Leon klopfte sich mit dem Zeigefinger bedeutsam gegen die Schläfe.

„Wir müssen sofort hin!“, rief D und schnellte auf die Füße hoch.

„Oh, 'wir'“, witzelte Leon trocken. „Das heißt wohl-“

„Ihre Autoschlüssel, Officer!“

„Ja genau, wie ich es mir dachte...“

 

 

 

„Bereit?“ Mit verschränkten Armen stand Leon neben D auf der obersten Treppenstufe zum Pet Shop. Langsam machte ihn der Count wahnsinnig. Er hatte schon fünfundzwanzig mal tief eingeatmet und den Türgriff gefasst, ohne ihn herunterzudrücken. Gerade wollte er die Treppen wieder hinab, doch Leon hielt ihn am Arm fest.

„Bitte“, versuchte es Leon nun einschmeichelnd. „Du willst doch sicher nicht noch Silvester hier stehen, oder? Ich jedenfalls nicht...“

Mit energischem Ruck öffnete Leon die Tür und schob D vor sicher her in den Flur.

 

D vermied es, sich allzu gründlich umzusehen. Zu sehr schmerzte ihn der Gedanke daran, was aus dem Pet Shop geworden war. Die Blicke fest geradeaus gerichtet schritt er durch den Flur und wenn er zögerte, spürte er sofort das leichte Schubsen in seinem Rücken. Leon würde ihn hier nicht mehr rauslassen, ohne dass das letzte Geheimnis geklärt war.

„Hier war sie doch irgendwo.“ Leons Stimme hallte in dem riesigen Kuppelsaal wieder. Er ließ seine Blicke über die triste Umgebung streifen und suchte jeden sichtbaren Flecken nach den langen schwarzen Haaren ab. „Da!“, rief er erfreut auf, als er die Schlingen schließlich entdeckte, die sich locker um eine tote Baumwurzel wanden. Er packte D und zerrte ihn mit sich. „Da ist sie!“

 

Auf einer zerbrochenen Säule saß, ihr Haar wieder wie einen Mantel um sich herum ausgebreitet, die unbekannte Frau. Eine ihrer schmalen Hände hatte eine weiß schimmernde Blüte ergriffen, die sich von der Decke zu ihr hinab wand. Sachte bog sie sie zu ihrem Gesicht hin und roch an der Blüte.

Ihre Haut schimmerte nun bronzefarben und nicht mehr so bleich, wie in der vergangenen Nacht. Ein zarter Roséton überzog ihre Wangen und sie lächelte ihre beiden Besucher glücklich an, die sich ihr ehrfürchtig näherten.

„Schön, dich wiederzusehen, Yma“, sagte D und schlenderte bedächtig zu der Frau, deren Freude nun Ratlosigkeit wich. Sie ließ die Blüte los und wich etwas zurück.

„Oh, tut mir leid“, entschuldigte sich D sofort, als er seinen Fehler bemerkte. „Ich habe mich geirrt. Du bist nicht Yma.“

Leon sah zwischen D und der Frau hin und her, die sich nun genauer musterten, als wollten sie ihre Kräfte gegenseitig abschätzen.

„Du bist Ymas Tochter“, flüsterte D schließlich versöhnlich und erleichtert sah Leon, wie die junge Frau wieder lächelte.

„Schön, dass ihr das jetzt endlich geklärt habt“, seufzte Leon. „Dann kann ich ja wieder-“

„Officer“, unterbrach D Leon forsch. „Könnten Sie mir bitte etwas geben, womit ich die neue Königin sicher transportieren kann?“

„Was faselst du da? Königin? Transportieren?“ Leon sah D an, als hätte der den Verstand verloren.

„Natürlich, ich möchte sie ja nicht verletzen“, erklärte D rätselhaft.

„Eine Kutsche, oder was?“, witzelte Leon hilflos.

„Seien Sie nicht albern, Officer Orcot“, rügte D seinen Nebenmann. „Eine Box ist völlig ausreichend.“

„Du hast echt einen an der Zimtwaffel“, platzte es aus Leon heraus. „Seit wann transportiert man Menschen in Boxen?“

„Ihre Flügel sind noch sehr empfindlich.“

„Flügel?“, stieß Leon tonlos hervor. Der Count war übergeschnappt. Schon länger, aber jetzt kam es mehr und mehr durch.

„Richtig, Sie lernen langsam dazu, Officer.“

Leon blieb die Antwort im Halse stecken, als er zur Säule hinübersah, wo gerade eine beeindruckend große Biene über das Marmor kroch und ihre schillernden Flügel im Sonnenlicht schwirren ließ.

„Wo zur Hölle ist die Frau hin?“, entfuhr es Leon, der sich hektisch in dem Saal umsah.

„Hier ist keine Frau, Officer, nur diese Biene“, belehrt D Leon in ruhigem Tonfall, während er das zarte Tierchen in eine Schachtel kriechen ließ, die er in den Händen hielt. „Die erste offzielle Bewohnerin, im neuen Pet Shop. Kommen Sie, Officer, wir bringen sie zu ihrem Platz.“

 

Misstrauisch beäugte sich Leon seine Umgebung, während er D in einen anderen Teil des Kuppelsaales folgte, wo die schönsten Miniaturhäuser standen, die er jemals gesehen hatte. Die meisten waren in dichte silbrigglänzende Schleier gehüllt, aber eines, das etwas abseits stand, schien noch intakt zu sein.

Jetzt bemerkte er auch, dass die Schlingen, die er für Haare gehalten hatte, in Wirklichkeit Blumenranken waren, die sich um die abgestorben wirkenden Pflanzen des Pet Shop wanden.

„Ich könnte schwören, dass das eine Frau war, die ich hier letzte Nacht getroffen hatte. Und ihre Haare-“

„Armer Officer...“ D kicherte leise. Er hatte sich bei Leon untergehakt und dirigierte ihn zu einem der kleinen Häuschen hin. Er zeigte auf die rankenden Pflanzen, deren Blüten sich wie Perlenketten um die Ruinen wanden und einen unglaublich süßen Duft verströmten. „Das ist eine Prunkwinde“, erklärte er Leon geduldig. „Sie wirkt psychoaktiv. Vermutlich sind sie ihr letzte Nacht zu nahe gekommen und haben etwas von dem Nektar abbekommen. Sie haben halluziniert, Officer Orcot, ganz einfach.“

Leon schwieg verwirrt. Er dachte an die Schale mit dem süßen Trank, den ihm die Frau gereicht hatte. Und an die Leiche, zu der sie ihn geführt hatte.

„Die Leiche!“, rief Leon auf.

„Ja, um die werde ich mich noch kümmern müssen“, entgegnete D in aller Ruhe. „Vielleicht möchten Sie mir ja bei der Beseitigung helfen, Officer. Ich wäre Ihnen sehr dankbar.“

„Bist du völlig irre geworden?“ Mit offenem Mund starrte Leon D an, der zu dem unversehrten Häuschen ging und die Schachtel mit der Biene vor den kleinen Eingang hielt. Augenblicklich verschwand das Tierchen in der Öffnung und alles, was man von ihr noch hörte, war ein scheinbar zufriedenes Summen aus dem Inneren des Häuschens.

D wischte mit der Hand über eines der eingesponnenen Häuschen. „Ich wäre Ihnen wirklich sehr dankbar, wenn Sie mir dabei helfen könnten, die toten Motten hier zu beseitigen. Und die, die sich hier eventuell noch verstecken.“

Leon blickte zu Boden, wo unter den Häuschen eine staubige Schicht aus verendeten Motten und dem spinnwebartigen Gebilde lag, das auch die Häuser bedeckte.

„Diese Wachsmotten wurden vermutlich mit einer Lieferung hier in den Pet Shop eingeschleppt.“ D's Stimme klang ungewohnt traurig. „Sie befielen sofort sämtliche Bienenstöcke und töteten innerhalb kurzer Zeit die gesamte Brut. Und leider auch Yma, die Königin. Das Ende kennen Sie ja, Officer.“ Er hob den Kopf und betrachtete sich Leon, der stumm in Gedanken versunken die unterschiedlich Ereignisse zusammenführte.

Leon sah erst auf, als er die sachte Berührung an seinem Arm spürte.

„Bald wird es hier wieder so schön sein, wie früher. Und dann können Sie mich gerne wieder so oft besuchen, wie Sie möchten, Officer Orcot. Auch ohne Durchsuchungsbefehl.“

D hatte Humor, stellte Leon anerkennend fest. Er konnte vielleicht keine normalen Kekse backen, aber er hatte wohl Humor. Leon seufzte, als ihm bewusst wurde, dass er schon wieder wie ein vollkommener Trottel hier stand, der im Endeffekt einfach nur im Drogenrausch irgendwelche Dinge erlebt hatte. DAS wäre ein würdiger Anwärter für die nächste bizarre Nachricht der Morgenshow.

D lachte leise. „Auf keinen Fall“, beschwichtigte er Leon, als hätte er dessen Gedanken gelesen. „Vielen Dank für Ihre Gastfreundschaft, Officer. Sehen wir uns Weihnachten wieder?“

Leon zuckte mit den Schultern und murmelte ein verschämtes „Tun wir doch jedes Jahr...“

 

 

E N D E


Nachwort zu diesem Kapitel:
A/N:
Wie alle Tiere aus Count D's Pet Shop basiert auch die Schildkröte hier auf einer mythischen Figur. Genbu, die schwarze Schildkröte, symbolisiert in der chinesischen Mythologie den Norden und damit auch den Winter. Sie soll in der Lage sein, nach tausend Jahren die Sprache der Menschen zu sprechen.
Der Krieger, der Genbu hier bewacht, ist sozusagen die Schwarze Schildkröte in Menschenform, bzw. die japanische Version davon. Sein Vorbild ist Tamonten, einer der Hüter der vier Himmelsrichtungen (genaugenommen: des Nordens).
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Nachwort zu diesem Kapitel:
Count D's Lexikon der mythologischen Kreaturen:

Ch'ang-O und der Jadehase: Ch'ang-O lebte glücklich mit ihrem Mann bis zu ihrer Verbannung auf dem Mond. Als Sterbliche auf die Erde vertrieben, wurde sie immer trauriger, bis ihr Mann sich schließlich erbarmte und nach einem Elixier suchte, das sie wieder unsterblich werden lassen sollte.
Er findet das Elixier und bringt es nach Hause zu Ch'ang-O, warnt sie aber davor, das Kästchen, das die Medizin enthält, zu öffnen oder etwas davon zu nehmen, da sie für eine einzige Person zu hoch dosiert sei.
Kaum ist ihr Mann weg, öffnet Ch'ang-O das Kästchen und nimmt die ganze Medizin auf einmal. Sie fliegt in den Himmel hinauf, bis sie schließlich wieder auf dem Mond ankommt. Da aber kein Elixier mehr für ihren Mann übrig ist, bleibt dieser weiter als Sterblicher auf der Erde zurück.
Da sich Ch'ang-O auf dem Mond ohne ihren Mann bald einsam fühlt, freundet sie sich mit dem Jadehasen an, der ebenfalls dort wohnt und Tränke braut. Komplett anzeigen

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Kommentare zu dieser Fanfic (10)

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Von:  ChocolateChip
2014-12-18T21:53:07+00:00 18.12.2014 22:53
Hey!
Eine Pet Shop FF! Toll! Ich habe den Manga geliebt und tue es eigentlich immer noch xD Nach deiner Geschichte weiss ich auch wieder wieso xD
Antwort von:  ChocolateChip
18.12.2014 22:54
*räusper* *etwas falsches geklickt hat*
aber weiter im text lol
ich finde die Geschichte toll auch wenn Leon und Count D nur erwähnt werden ^^ Sie ist aber sehr schön mytstisch wie es sich für eine Pet Shop Geschichte gehört! Ich hatte sehr viel Spass am Lesen ^^
Lg Choco
Von:  MissImpression
2014-12-17T19:35:31+00:00 17.12.2014 20:35
Hallo :)

Ich kenne die Vorlage für diesen OS zwar nicht, aber es hat mir trotzdem Spaß gemacht, es zu lesen! Du erzählst sehr bildhaft, sodass man sich prima zurecht findet und ohne Probleme in die Geschichte eintauchen kann.
Wirklich sehr gut!

LG
Tanja
Von: abgemeldet
2012-12-19T17:21:03+00:00 19.12.2012 18:21
Ich bin irgendwie auch so verwirrt wie Leon. xD Aber D ist auch sehr komisch, das hast du perfekt dargestellt. ^^
Im Allgemeinen find ich es toll, dass du die Charaktere so perfekt getroffen hast. Man konnte sich alle so vorstellen wie im Manga. :> Und dass dann auch noch die Schildkröte einen wirklichen Hintergrund hat, ist auch toll. Auch wenn ich das ohne das Nachwort nicht gewusst hätte *hust* Aber gerade deswegen ist die Info toll und dann denk man sich "Aaaah. Oh, das ist ja TOLL!" =D

Schade nur, dass es doch etwas kurz und schmerzlos war. Ich hätte mir dann doch etwas mehr Spannung erwartet. Aber es passt dennoch zum Manga, da gab's ja auch "ruhigere" Geschichten. :>

Ich mochte die Geschichte jedenfalls gerne. Ich mag deinen Stil ja sowieso, da war es schön, mal wieder was von dir zu lesen und das dann noch zu einem so tollen Fandom. <3
Von:  Kunoichi
2012-12-18T21:12:08+00:00 18.12.2012 22:12
Hm, ich habe lange überlegt, ob ich überhaupt einen Kommentar schreiben kann, weil ich das Fandom und somit die Charas immer noch nicht kenne. xD Dementsprechend wenig hab ich auch verstanden. Das Ende war klar, aber meine Hauptfrage ist: Warum wollte D Leon denn zuerst nicht in seinen Laden lassen?
Schreibtechnisch ist der Oneshot aber mal wieder brilliant und deshalb wollte ich dann doch was dazu schreiben. :D Dein Stil ist super schön, die Absätze gut gegliedert, deine Wortwahl perfekt und alles lässt sich schön leicht runterlesen. Die Beschreibung vom Teekränzchen, als Leon geantwortet hat, ohne zu bemerken was, hat mir gefallen. xD
Vielleicht sollte ich doch mal ins Fandom reinsehen... ^^
Von:  Kunoichi
2010-02-23T22:46:29+00:00 23.02.2010 23:46
Leider zwei Monate zu spät um die restlichen Kalendergeschichten zu bewerten, aber doch besser als nie. ^^"
Da ich das Fandom dieser Geschichte nicht kenne, kann ich zum Inhalt gar nicht so viel sagen, aber ich fand den Umgang unter den Brüdern wirklich sehr niedlich dargestellt. Außerdem muss ich loswerden, dass ich deinen Schreibstil liebe! Da kommen Beschreibungen, die so gut ausformuliert höchstens in Büchern, aber kaum in FF's zu finden sind. Großes Lob, echt! Und Fehler sind auch keine zu finden. Das ist ein richtig angenehmes Lesen. Erzähltempo stimmt auch. Es ist wirklich selten, aber ich habe nichts zu beanstanden. ;)
Von: abgemeldet
2010-01-22T22:18:52+00:00 22.01.2010 23:18
So, hab ich deine Geschichte auch endlich zu Ende gelesen. (Ich hatte mal nur den Anfang gelesen XD")
Ich muss sagen, sie ist gegen Ende ja immer niedlicher geworden! ^^ Und weihachtlich ist sie auf jeden Fall. Schade, dass ich sie nicht zur Weihnachtszeit schon gelesen hab, das hätte fast besser gepasst. ^^
Auch gefällt mir dein Stil - besonders die Abwesenheit von Rechtschreibfehlern. ^^ Ist alles richtig nett geschrieben. :3
Was mich ab und zu verwirrt hat war der Perspektivenwechsel. Ab und zu hatte man so das Gefühl, die Geschichte wäre eher aus der Sicht von Leon, dann war's wieder Chris und dann der Count. Das fand ich ein wenig verwirrend, aber vielleicht liegt's auch an der späten Uhrzeit xD
Ansonsten... ist es einfach niedlich.
Allerdings find ich's schade, dass Chris nichts redet/denkt. Er hätte sicherlich auch noch einiges nettes zu sagen gehabt. ^^
Also für mich war's jetzt eine super Gute-Nacht-Lektüre, jetzt geh ich mit positivem Fluff ins Bett, danke! XD
Von: abgemeldet
2010-01-14T16:41:53+00:00 14.01.2010 17:41
Sehr niedlich, wirklich.
Passte gute in die Weihnachtsstimmung und auch jetzt noch^^
Echt niedlich^^

Von:  _Delacroix_
2010-01-13T22:13:42+00:00 13.01.2010 23:13
Hallo,

Ich finde deine FF wirklich sehr gelungen und freue mich, dass das POH-Fandom eine gute Geschichte mehr zu verzeichnen hat. Die Storyline ist sehr weihnachtlich, fluffig gehalten und ja-
Ich finde es richtig niedlich.^^

Liebe Grüße

Roryn
Von: abgemeldet
2010-01-02T21:43:32+00:00 02.01.2010 22:43
Weihnachten ist zwar vorbei,
aber diese kleine FF ist sehr süß.

Schade das man den eigentlichen Weihnachtsabend
nicht mitbekommen wird. *seuftzt*
Das hätte mich noch sehr intressiert.

Dennoch, sehr glungen diese FF!
Welpenherz


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