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Einfach so

Yamato Ishida x Taichi Yagami
von

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Einfach so

"Was wäre für dich die schönste Art zu sterben?"

"Ich weiß nicht, aber auf jeden Fall soll es ein langsamer und schmerzvoller Tod sein."

"Und wenn ich dir einen solchen Tod bereiten könnte?"

"Würdest du dich denn auf so etwas einlassen?"

"Ja."

Schweigen erfüllt mein Zimmer. Durch das Fenster dringt kein Licht, da das Rollo bis zum Anschlag heruntergelassen wurde. Auch künstliches Licht erhellt den Raum nicht. Ich blicke Taichi, der mir gegenüber sitzt, an, obwohl sein Gesicht von der Dunkelheit verschluckt wird und für mich nicht erkennbar ist. Es könnte ebenso eine groteske Grimasse sein, die mir entgegenstarrt.

"Und wenn ich dich bitten würde, mich jetzt zu töten?", frage ich schließlich.

"Dann würde ich es tun."

"Einfach so?"

"Einfach so."

Wieder folgt Schweigen.

Taichi erhebt sich. Ich glaube zu erkennen, dass er langsam auf mich zukommt. Ich bleibe sitzen. Hinter mir kommt er zum Stehen. Langsam beugt er sich zu mir hinab, zumindest fühlt es sich so an. Ich drehe mich nicht um, ich mag die Ungewissheit, sondern starre angestrengt in die Dunkelheit vor mir. Ich kann seinen warmen Atem in meinem Nacken spüren, als er sich setzt. Kalte Schauer laufen mir über den Rücken. Ich spüre seine Hand, die mir liebevoll durch das Haar streicht.

"Willst du etwa sterben? Jetzt und durch meine Hand?", fragt er.

Seine Stimme klingt entschlossen, doch seine Hände zittern.

"Ja", entgegne ich ruhig.

Ich entziehe mich seiner Berührung und stehe auf. Mir wird kalt, als ich seine Nähe nicht mehr spüre. Ich gehe zu meinem Schreibtisch, um die kleine Lampe, die darauf steht, einzuschalten. Ein schwaches Licht durchflutet den Raum. Die ungewohnte Helligkeit sticht in meinen Augen. Nach einer kurzen Weile schaue ich zu Taichi, welcher noch immer auf dem Boden sitzt.

"Und, wirst du mich töten?", frage ich erneut.

"Wenn das dein Wunsch ist."

Bei diesen Worten erhebt er sich ebenfalls. Ich lächle, als mein Freund auf mich zukommt. Vor mir bleibt er stehen.

"Ich liebe dich", sagt er mit fester Stimme.

"Ich dich auch", entgegne ich kühl, doch ich weiß, dass es nicht der Wahrheit entspricht. Wir beide wissen es und doch lassen wir uns immer wieder darauf ein.

Taichi hebt seine Hand. Mit den Fingern umschließt er sanft meinen Hals. Ich spüre, wie Hitze in mir aufsteigt. Er drückt zu. Ich schließe die Augen. Ich will diesen Moment genießen. Wieder drängt sich ein Lächeln auf meine Lippen. Ich möchte etwas sagen, doch es gelingt mir nicht. Ich spüre, wie sich mein Körper verkrampft. Ich öffne die Augen wieder, um Tai ins Gesicht blicken zu können, doch er sieht mich nicht. Sein Blick ist abwesend. Er scheint die Kontrolle über sich zu verlieren. Mein Lächeln verschwindet, als sein Bild langsam vor meinen Augen verschwimmt. Ich spüre, wie die Kraft meinen Körper allmählich verlässt. Ich sacke zusammen. Taichi folgt meiner Bewegung, ohne von mir abzulassen. Mit meiner linken Hand suche ich Halt am Schreibtisch. Meine Finger versuchen, sich verzweifelt in das helle Holz zu bohren, bevor sie erschlaffen und langsam zu Boden gleiten. Ich höre meine Stimme, die seinen Namen flüstert. Sie klingt seltsam fremd, ungewohnt brüchig. Aber von Tai geht noch immer keine Reaktion aus. Die Umrisse meines Zimmers verlieren sich in den Tiefen der Dunkelheit, es wird still. Dann spüre ich nichts mehr.
 

Meinen Kopf durchdringt ein stechender Schmerz, der mich aus den Abgründen der Bewusstlosigkeit zieht. Ferner liegt Taubheit über meinem Körper. Ich öffne langsam die Augen. Für einen Moment werde ich von Orientierungslosigkeit beherrscht, doch dann kehrt die Erinnerung zurück, schattenhaft. Auch die Funktionstüchtigkeit meiner Sinne nimmt wieder zu, wodurch die Taubheit meiner Glieder nachlässt und beinahe unerträglichen Schmerzen weicht. Schmerzen meiner Existenz. Ich versuche, meinen Freund in der mir gewohnten Umgebung ausfindig zu machen, doch in diesem Zimmer deutet nichts auf seine Anwesenheit hin. Kein Schatten, kein Geräusch. Ich lasse meine Augen weiter durch den Raum schweifen. Die kleine Lampe auf meinem Schreibtisch brennt noch immer, einzig durch sie wird der Raum etwas erhellt. Erst jetzt bemerke ich, dass ich mich auf meinem Bett befinde. Das Pulsieren in meinem Kopf wird durch jede Bewegung um ein Vielfaches verstärkt. Ich versuche mich zu erheben, doch es gelingt mir nicht. Ich kann meinen Körper nicht kontrollieren. Er gehorcht mir nicht. Einfach so. Wie so oft in letzter Zeit.

Die Frage, wie lange ich bewusstlos war, erfüllt nun meine Gedanken. Meiner Unbeweglichkeit nach zu urteilen war es eine kleine Ewigkeit. Doch Zeit ist relativ und ich kann mich täuschen. Ich spanne meinen Körper an, um meine Gelenke zu entkrampfen.

Leise Schritte im Flur deuten darauf hin, dass sich doch jemand in der Wohnung befindet, kurz darauf wird die Tür zu meinem Zimmer geöffnet.

Ich muss mich nicht umwenden, um zu wissen, wer den Raum betritt. Taichi.

"Du bist wach?", höre ich ihn sagen.

"Wo warst du?", antworte ich mühsam mit einer Gegenfrage.

"Ich… brauchte frische Luft, um einen klaren Kopf zu bekommen."

Er zittert und ich glaube Unsicherheit in seiner Stimme zu hören. Doch wahrscheinlich irre ich mich. Immerhin ist es draußen kalt.

"Du bringst es wohl doch nicht fertig, mich zu töten." Ein Lachen entweicht meiner Kehle, welches in einem Hustenanfall endet. Ich bekomme kaum Luft. Wahrscheinlich die Nachwirkungen.

"Doch." Tais Stimme klingt seltsam fremd.

Er kniet sich neben mich und streicht mir sanft über die Wange. Seine Augen strahlen Traurigkeit aus.

"Worauf wartest du?", frage ich ungeduldig, "Willst du dem Ganzen nicht endlich ein Ende bereiten?"

"Nicht so eilig. Du wolltest doch einen langsamen und schmerzvollen Tod", bemerkt er unruhig.

Deshalb also. Deshalb hat er es noch nicht getan. Ich soll leiden. So, wie ich es wollte…

"Wie lange war ich bewusstlos?"

"Du bist vor etwa zwei Stunden ohnmächtig geworden."

"Und aus diesem Grund hast du einfach aufgehört? Mich einfach so am Leben gelassen?"

Ohne ein Wort steht Tai auf und geht in Richtung Schreibtisch.

"Du willst also wirklich sterben?"

"Ja", antworte ich so ruhig wie möglich.

"Es tut mir leid, Yama."

"Was?" Ich versuche mich aufzurichten, doch ein gleißender Schmerz lässt mich zurück auf das Bett sinken.

Taichi dreht sich zu mir. Sein Blick wirkt verzweifelt.

"Ich kann das nicht." Seine Stimme vibriert und er zittert jetzt heftig.

Ich starre ihn ungläubig an, unfähig zu antworten oder auch nur einen klaren Gedanken zu fassen.

"Ich dachte... du würdest es nicht... ernst meinen."

"Nicht ernst meinen?" Ich spüre, wie Zorn in mir aufsteigt.

"Na ja, ich dachte, du willst unser 'Spiel' nur etwas interessanter gestalten. Deshalb ließ ich mich darauf ein."

"Das ist ein Witz, oder?" Ich versuche, die in mir aufkommende Panik zu unterdrücken.

"Nein", sagt er resigniert, dann schaut er mir in die Augen. Tränen. Taichi weint.

"Hör' auf mit dem Scheiß!", schreie ich ihn an, "Ich will das nicht sehen!"

Tai macht ein paar Schritte auf mich zu.

"Komm nicht näher!" Ich spüre, wie auch mir Tränen über die Wangen laufen. Meine Stimme klingt brüchig.

Er bleibt stehen. Dann sinkt er langsam zu Boden. Scheinbar fehlt ihm die Kraft, sich aufrecht zu halten.

"Bitte...", höre ich ihn flüstern, doch seine Stimme versagt.

Unaufhörlich bahnen sich die Tränen einen Weg über mein Gesicht. Ich schreie, schreie ihn an, doch mein Kopf ist vollkommen leer. Auch ich sinke nun kraftlos in mir zusammen, mein Schluchzen wird lauter und raubt mir die Luft zum Atmen.

Ich höre, wie Taichi über den Boden in meine Richtung kriecht, seine Würde ignorierend. Währendessen bittet er mich immer und immer wieder um Verzeihung. Ich gehe nicht darauf ein.

Dann spüre ich, wie seine Finger zaghaft über mein Gesicht streichen. Mein Körper verkrampft sich. Langsam beruhige ich mich. Ich richte mich behutsam auf und schaue Taichi an. Dieser weicht meinem Blick aus.

"Geh."

"Yama..." In Taichis Augen spiegelt sich Entsetzen wider.

"Du sollst gehen!" Erneut weine ich.

Tai erhebt sich.

Ich sehe ihn nicht an. Mein Kopf schmerzt noch immer, doch die Taubheit beginnt das Pulsieren zu überdecken. Meine Gedanken driften ab und vor meinem, von Tränen verschwommenen, Blick beginnen schwarze Punkte zu tanzen. Das Einzige, das ich noch wahrnehme, ist die Tür, die mit einem leisen Klacken ins Schloss fällt.
 

Langsam öffne ich meine Augen. Im Zimmer ist alles dunkel. Ich muss eingeschlafen sein. Nur kurz. In meinem Kopf ist dieses unaufhörliche Pulsieren, das mich fast in den Wahnsinn treibt. Mir ist kalt. Mein Körper zittert unaufhörlich. Aber ist wirklich die Kälte daran schuld? Nicht vielmehr die Erkenntnis? Ich will nicht mehr daran denken. Vielleicht bin ich feige und vermutlich sieht es nach Realitätsflucht aus, aber ich kann mir meine eigene Schwäche noch nicht einmal eingestehen, geschweige denn sie akzeptieren, wie soll ich mich ihr dann stellen, um sie auszumerzen? Ich will es einfach vergessen, vergessen, was geschehen ist, und vergessen, was ich gefühlt habe und teilweise noch immer fühle. Und auch Taichi will ich vergessen, vergessen, was er mir angetan hat, vergessen, was er gesagt hat, vergessen, was er mir unfreiwillig bewusst machte. Vergessen, einfach so.

Langsam erhebe ich mich und schleppe mich ins Badezimmer. Es fällt mir schwer, aufrecht zu gehen, da die fortwährende Taubheit meines Körpers mich wanken lässt. Ich schließe die Tür hinter mir ab, obwohl niemand zu Hause ist. Ich fühle mich sicherer mit verschlossener Tür. Unbeobachteter. Ich schalte das Licht an. Meine Augen brennen und ich bin gezwungen, sie zu schließen. Nach einem kurzen Moment öffne ich sie wieder und warte, dass sie sich an die Helligkeit gewöhnen. Dann schaue ich in den Spiegel. Der Anblick, der sich mir bietet, ist erbärmlich. Meine Augen sind gerötet und verquollen vom Weinen. Mein Oberkörper ist entblößt und zeigt mir die Spuren meines Lebens. Meines erbärmlichen Ichs. Die vielen roten Linien auf meiner weißen Haut sehen schön aus, obwohl mein Körper sehr dünn ist und die Knochen, die sich unter der Haut abzeichnen, ekelhaft aussehen.

Tai meint immer, dass es vom wenigen Essen käme und lächelt mich dabei an. Tai. Seine Stimme ist noch immer in meinem Kopf. Meine Finger greifen nach dem kleinen silbernen Metall, welches neben dem Waschbecken liegt. Schon wieder. Wie so oft in letzter Zeit. Ich setze die Klinge an und ziehe sie mit leichtem Druck durch das Fleisch meines Unterarmes. Normalerweise versuche ich Körperstellen, die für die Öffentlichkeit leicht sichtbar sind, zu vermeiden. Doch es ist egal geworden. Zumindest für mich. Rotes, warmes Blut tropft auf die kalten, weißen Fließen. Der Kontrast gefällt mir. Doch es beruhigt mich nicht und es gibt mir auch kein befreiendes Gefühl. Ich verspüre nur gern diesen einfachen und reinen Schmerz, den körperlichen sowie den psychischen. Ich möchte keinen von beiden überdecken. Meine Hingabe blockiert mein Denken, mein Handeln ist von meiner Konzentration abhängig. Diese Momente sind die einzigen, in denen ich die alleinige Kontrolle besitze. Mit der Zunge lecke ich die bittersüße Körperflüssigkeit von meiner Haut. Ich mag diesen Geschmack, doch er ist mir nicht wichtig. Ich betrachte mir die frische Wunde genauer. Dieser Anblick fasziniert mich immer wieder. Mit dem Finger fahre ich die Ränder der sich wölbenden Haut nach, dann schließe ich die Augen. Mein Kopf hebt sich leicht und ich lausche der Stille, die mich normalerweise in den Wahnsinn treibt. Als ich meine Augen wieder öffne, sehe ich ein Gesicht, welches meinem ähnelt. Mir ist schlecht. Schnell wende ich mich ab und zur Toilette. Ich übergebe mich, obwohl mein Magen leer ist und nur bittere Galle meine Speiseröhre wegzuätzen scheint. Mein Hals brennt, doch ich würge diesen bitteren Magensaft dennoch hoch. Immer und immer wieder. Dann erhebe ich mich und spüle das grünliche Gift vermischt mit meinem Speichel durch das Abflussrohr in die Kanalisation. Schwankend gehe ich zum Waschbecken. Das Würgen hat den Druck und das Pulsieren in meinem Kopf noch verstärkt. Ich drehe den Wasserhahn mit dem kalten Wasser auf und beuge mich hinab. In meine schmalen, zitternden Hände lasse ich die klare Flüssigkeit laufen, bis sich ein Gefühl der Taubheit in meinen Fingern ausbreitet, bevor ich mir das Gesicht wasche. Vielleicht hilft mir die eisige Kälte auf andere Gedanken zu kommen. Ich sehe auf. Im Spiegel sehe ich das Wasser von meinem Gesicht tropfen. Einzelne Perlen rinnen mir über die leicht ausgeprägten Wangenknochen und vermischen sich mit den salzigen Tränen auf meiner Haut. Ich wende mich ab. Ich kann den Anblick dieser schwachen Person mir gegenüber nicht ertragen. Wie erbärmlich. Ich würde mich nie so gehen lassen. Ich bin nicht so schwach. Ich drehe den Wasserhahn wieder zu. Stille. Meine Hände zittern noch immer. Es will einfach nicht aufhören. Ich versuche mich zu konzentrieren, um die Kontrolle über meinen Körper wiederzuerlangen, doch nun beginnen auch meine Beine, mir ihren Dienst zu versagen. Sie können meine Last nicht mehr tragen, genau wie ich selbst. Ich spüre den dumpfen Aufschlag meiner Knie auf den Fliesen. Den Schmerz, der eigentlich folgen müsste, spüre ich kaum. In meinem Kopf herrscht jetzt vollkommene Leere. Ich habe nur noch einen Gedanken. Tai.
 

Teilnahmslos laufe ich durch die schwach beleuchteten Straßen. Es sind kaum noch Menschen unterwegs, es ist weit nach Mitternacht. Mein Kopf schmerzt noch stärker als zuvor. Ich kann keinen klaren Gedanken mehr fassen. Da ist noch immer diese Leere, die ich schon im Badezimmer verspürte, und doch höre ich diese vielen Stimmen, die mich unaufhörlich bedrängen, als wollten sie mich in den Wahnsinn treiben. Meine Schritte verschnellern sich, in der Hoffnung, sie abhängen zu können. Doch es bringt nichts. Ich bleibe stehen. Mein Atem ist deutlich hörbar. Ich schließe die Augen und versuche mir den Text eines bestimmten Liedes, welches ich vor langer Zeit einmal gehört habe, wieder ins Gedächtnis zu rufen. Meine Konzentration richtet sich nur auf die Suche nach der Erinnerung an diesen Liedtext.
 

Wieder stehst du hier

So reglos jeden Tag

Und nichts geschieht

Um Dich herum

Alles schweigt

Um Dich herum
 

Der Regen stört dich nicht

Dein Blick bleibt stumm und leer

Und Du suchst nach der Erinnerung

Doch was bringt Dir die Erinnerung
 

Ich spüre, wie mir Tränen über die Wangen laufen. Durch die Kälte brennen sie wie Feuer auf meiner Haut. Aber warum weine ich? Ich öffne die Augen für einen Moment, doch dann versuche ich, in meinem Kopf den Rest des Textes ausfindig zu machen und schließe sie wieder, um meine Aufmerksamkeit ausschließlich darauf richten zu können.
 

Unverändert stehst Du hier

Seit viel zu langer Zeit

Und die Erde dreht sich ohne Dich

Die Welt bewegt sich ohne Dich
 

Als meine Gedanken zum Refrain ansetzen wollen, fällt mir auf, dass eine Strophe fehlt. Die dritte. Ich versuche mich darauf zu konzentrieren, doch sie will mir partout nicht einfallen. Jetzt spüre ich auch das Pulsieren in meinem Kopf wieder deutlich und mir wird bewusst, dass ich mich an diese dritte Strophe wohl auch nicht mehr erinnern werde.

Mit dem Ärmel wische ich mir die Tränen vom Gesicht, bevor ich langsam die Augen öffne, um mir wieder eine Orientierung verschaffen zu können.

Mein Blick richtet sich gen Himmel. Es sind kaum Wolken zu sehen. Die Nacht ist sternenklar, wodurch auch diese eisige Kälte erklärt würde. Ein leichtes Lächeln legt sich auf meine Lippen, dann setze ich meinen Weg fort.
 

Schwerfällig steige ich die Stufen empor. Warum musste mein Vater auch in eine Wohnung im vierten Stock ziehen? Er ist doch sowieso nie zu Hause.

Mein Atem geht stoßweise, als ich im zweiten angelangt bin. Noch eine Etage. Mein Kopf droht gleich zu zerplatzen, durch die Anstrengung des Treppensteigens hat der Schmerz sich noch verschlimmert. Ich will schlafen. Einfach schlafen und alles vergessen. Aber ob das so einfach ist? Ich schaue auf jede einzelne Stufe, die ich betrete, bedacht darauf, nicht so laut zu sein, um die anderen Bewohner des Hauses nicht zu wecken. Das letzte Stück Treppe liegt vor mir. Ich schaue auf, um zu sehen, wie viele Stufen es noch sind. Ich sehe direkt in Taichis müde braune Augen. Er steht an die Wand gelehnt vor meiner Wohnungstür. Scheinbar hat er auf mich gewartet. Wie lange er da wohl schon steht? Ich schleppe mich förmlich die letzten Stufen nach oben. Es ist mir egal, ob ich dadurch meine Würde vor Tai verliere, das habe ich ohnehin schon, und er ebenso. Ich greife in meine Manteltasche, um nach dem Schlüssel zu suchen. Mit einer langsamen Handbewegung ziehe ich das kalte Metall heraus, zu ruckartigen Bewegungen bin ich nicht mehr fähig. Vor der Haustür angekommen stecke ich das kleine metallene Stück in meiner Hand in das dafür vorgesehene Schlüsselloch. Langsam drehe ich es bis zum Anschlag. Die Tür ist offen. Ich schließe sie nicht, als ich die Wohnung betrete, sondern lasse sie angelehnt, während ich mir bedächtig den Mantel und die Stiefel ausziehe. Nur keine hektischen Bewegungen, ansonsten würde die Übelkeit, die sich nun in mir ausbreitet, einen Weg nach draußen finden. Ich gehe in die Küche, um mir einen Kaffee zu kochen. Als ich das Wasser aufsetze, höre ich, wie die Wohnungstür ins Schloss fällt. Tai ist also nicht gegangen.
 

Die Tür zu meinem Zimmer ist geöffnet, als ich es betreten will. Normalerweise schließe ich sie immer, da ich offen stehende Türen nicht leiden kann. Auf meinem Bett sitzt Tai. Er schaut abwesend auf die Blutflecke, die sich in meinem weißen Laken festgefressen haben. Ich schließe die Tür hinter mir und setze mich neben ihn auf das Bett. Er schaut mich nicht an, als er mir vorsichtig die heiße Tasse Kaffee abnimmt, die ich für ihn mitgebracht habe. Er trinkt einen Schluck, setzt das schwarze Porzellan jedoch gleich wieder ab. In seinem Gesicht spiegelt sich Schmerz wider. Offensichtlich hat er sich verbrannt.

"Der Kaffee ist noch heiß, ich habe ihn gerade erst gebrüht", höre ich mich sagen. Meine Stimme klingt jedoch seltsam fremd.

"Ich weiß", ist die einzige Antwort, die ich von ihm erhalte, bevor er erneut einen Schluck aus seiner Tasse trinkt. Dann setzt er sie ab und schaut zu mir. Eigentlich hatte ich erwartet, dass er jetzt etwas sagt, doch seine Lippen bleiben geschlossen. Kein Wort dringt aus seinem Mund. Ich bin noch immer müde. Tai scheint dies bemerkt zu haben, doch es geht keine Reaktion von ihm aus. Ich stelle meine halbleere Tasse auf den kleinen Tisch, der in meinem Zimmer steht. Dann lege ich mich in mein Bett und schließe die Augen. Ich höre, wie Tai seine Tasse ebenfalls abstellt. Ich spüre einen kalten Luftzug an meinen Beinen, während er die Bettdecke hebt. Seine Arme umfangen mich sachte, als er sich neben mich legt und die Decke schützend über uns ausbreitet.

"Ruh dich aus." Diese von Tai geflüsterten Worte sind das Einzige, was ich noch entfernt wahrnehme, bevor mich der Kopfschmerz überwältigt und ich erschöpft und völlig wehrlos einschlafe.
 

Ich bekomme keine Luft. Meine Atmung ist flach. Langsam öffne ich die Augen und erblicke die Decke meines Zimmers. Tais Arm lastet schwer auf meiner Brust. Jetzt weiß ich auch, woher meine Atemnot kommt. Ich versuche mich aus seinen Fängen zu befreien, doch ich schaffe es nicht. Er ist stärker.

"Tai?", frage ich leise.

Keine Reaktion.

"Tai?", frage ich noch einmal, diesmal etwas lauter.

"Ja? Was ist Yama?" Ich kann seinen Atem an meinem Ohr spüren. Seine Stimme ist rau, so als hätte er schon lange nicht mehr gesprochen und die Stimmbänder müssten sich erst wieder daran gewöhnen, benutzt zu werden. Ich merke jedoch, wie mich dieser Klang und seine Nähe erregen.

"Hast du geschlafen?", frage ich skeptisch.

Eine Pause entsteht. Nach kurzer Zeit bekomme ich eine Antwort.

"Nein."

"Wie spät ist es?", will ich wissen, da ich jegliches Zeitgefühl verloren habe.

"Das ist nicht wichtig."

Ich reagiere nicht darauf und schließe meine Augen. Dann drehe ich mich zu Tai, um gänzlich von seinem Geruch umhüllt zu sein. Ich will nichts Anderes mehr wahrnehmen, außer ihn. Außer Taichi. Ich könnte vielleicht auch ohne ihn leben, nein, ich könnte bestimmt ohne ihn leben, oder viel mehr existieren, aber er ist alles, was ich habe. Er ist das Einzige, das ich wirklich besitze und je besitzen werde. Das kann ich nicht einfach so aufgeben, denn dann hätte ich nichts mehr, nicht einmal mich selbst.
 

In meinem Kopf dreht sich alles. Mir wird schwindelig. Ist das Erschöpfung? Oder Schwäche? Aber ist das nicht eigentlich dasselbe? Und ist es nicht auch vollkommen egal?

Tai schläft noch. Ich möchte ihn nicht wecken. Er sieht so entspannt aus, wenn er schläft. Meine Nächte sind in letzter Zeit sehr unruhig geworden - wenn ich überhaupt schlafe. Aber ihm scheint das Ganze nichts auszumachen.

Ich schaue aus dem Fenster, an welchem ich schon seit Stunden sitze. Mittlerweile hat sich Dunkelheit über der Stadt ausgebreitet. Es ist nach Mitternacht. Ob Tais Eltern wissen, dass er bei mir ist? An die Schmerzen in meinem Kopf scheine ich mich inzwischen gewöhnt zu haben. Es ist, als hätte sich ein großer Schleier über mich gelegt. Alles fühlt sich so taub an. Jegliche Gefühlsregung scheint abgestorben. Außer meinen Empfindungen Tai gegenüber. Er hat sich so tief in mich hinein gebrannt, dass er mein gesamtes Sein bestimmt. Bedeutet das, ich bin abhängig von ihm? Kann ich vielleicht doch nicht mehr ohne ihn leben? Bilde ich mir nur ein, ich sei stark und könnte jederzeit aufhören? Wie bei einer Droge? Bin ich ihm wirklich erlegen? Unterlegen? Nein, so weit darf es nicht kommen. Nie. Oder ist es für diese Erkenntnis schon zu spät? Habe ich mich bereits verloren?

Ich bin müde. Einfach nur müde.

Ich höre das Rascheln der Bettdecke. Tai hat sich bewegt. Nun kann ich sein Gesicht nicht mehr sehen. Er liegt mit dem Rücken zu mir. Gibt es keinen Ausweg? Kein Entkommen? Aber selbst wenn, was würde es bringen. Ich wäre wieder ich selbst. Will ich das überhaupt? Ich hätte wieder die absolute Kontrolle. Hatte ich die jemals? Wie konnte es dann soweit kommen?

Ich will nicht mehr darüber nachdenken. Ich kann einfach nicht mehr. Dann bin ich eben schwach. Aber ich will nicht schwach sein. Ich will stark sein, um Tai beschützen zu können. Aber wovor? Letztlich doch nur vor mir selbst. Wäre es dann nicht wirklich sinnvoller, alles zu beenden? Wenn es jedoch so einfach wäre, hätte ich es dann nicht schon längst getan? Würde ich dann noch zögern?

Ich blicke fragend zu Tai. Dieser schaut mich traurig an.

"Du bist wach?", frage ich.

"Ja", entgegnet er nur. Dann, nach einer kurzen Pause, fragt er:

"Was ist mit dir?"

"Nichts."

"Und warum sitzt du dann schon seit Stunden am Fenster und starrst in die Nacht?"

Ich antworte nicht. Wir schauen uns weiterhin unverwandt an. Keiner von uns beiden wendet den Blick ab. Mir schwirrt schon die ganze Zeit eine Melodie im Kopf herum. Ich überlege, wie der Text lautete. Ich schließe die Augen.
 

Die Stille

Ihr Sog zieht uns in die Unendlichkeit

Wir treiben nach unten

Du siehst mich nicht

Der Sinn versagt

Keine Schatten

Geborgenheit erscheint zu weit entfernt

Wie wehrlos man wird

Wenn nichts mehr ist

Wie es war
 

Langsam merke ich, wie sich meine Gedanken beruhigen. Ich nehme entfernt wahr, wie sich jemand im Zimmer bewegt. Tai? Er scheint auf mich zuzukommen. Ich ignoriere ihn. Ich halte einfach die Augen geschlossen. Das Lied...
 

Kein Weg mehr nach oben

Wenn man nicht mehr weiß

Wo unten ist

Dein Körper entgleitet langsam meinem Arm

Getrennt und bewusstlos treiben wir an uns vorbei

Die Kälte verwandelt uns in Ewigkeit
 

Wir vergessen die Zeit

- wenn wir fallen -

Wir versinken in ihr

Wir vergessen die Zeit

- wenn wir fallen -

Wir ertrinken unter Eis
 

Kein Licht mehr

Kein Weg mehr...
 

Ich spüre Tais Wärme. Sein Duft hüllt meinen Verstand vollkommen in sich ein, ebenso wie seine Arme meinen Körper. Es ist grausam. Und doch fühlt es sich gut an. Ich möchte ihn wegstoßen und doch sind meine Knochen wie gelähmt. Aber ich glaube, selbst, wenn sie es nicht wären, ich würde mich trotzdem an ihn klammern. Es ist doch nur eine Ausrede vor mir selbst. Ich will mich rechtfertigen, weshalb ich nichts unternehme, obwohl ich genau weiß, wie es enden wird und dass es gleichbedeutend mit meinem Ende wäre. Physisch oder psychisch. Aber ich war schon immer selbstzerstörerisch veranlagt. Ich werde den Dingen einfach ihren Lauf lassen.

"Ich liebe dich." Tais heißer Atem dringt an mein Ohr. Er lügt. Ich weiß, dass er lügt. Und er weiß es. Er lügt jedes Mal, wenn er mir diese Worte sagt. Er weiß auch, dass ich lüge, wenn ich ihm diese Worte sage. Wir wissen es beide. Und dennoch. Wir werden dieses Spiels nie überdrüssig. Doch dieses Mal antworte ich nicht darauf. Wie gewöhnlicherweise. Diesmal schweige ich und sauge seinen Duft in mich ein. Ich habe noch immer die Augen geschlossen. Langsam beginnt Tais Körperwärme sich auf mich zu übertragen, dennoch hört das Zittern einfach nicht auf. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass ich friere. Oder kommt dieses Gefühl nicht von der Kälte, die draußen herrscht? Doch. Schließlich ist Winter. Es ist sogar zu kalt für Niederschlag. Da ist es nur natürlich. Zudem trage ich nur ein langärmliges, dünnes Hemd.

"Wenn dir kalt ist, weshalb sitzt du dann die halbe Nacht am offenen Fenster? Willst du erfrieren?" Seine Umarmung wird intensiver. Es tut weh. Er tut mir weh.

Ich versuche mich aus seinen Fängen zu befreien. Unerwarteterweise gelingt es mir auch, da Tai keine Anstalten macht, mich daran zu hindern. Er lässt es einfach geschehen. Einfach so.

"Ich brauche Luft. Ich ersticke noch hier drinnen." Ich schaue Tai nicht an und gehe in Richtung Tür. Für einen Moment halte ich inne, denn es schien so, als würde Tai etwas erwidern wollen. Doch nichts.

Ich hatte gehofft, er würde mich zurückhalten.
 

Wieder laufe ich denselben Weg, welchen ich schon letzte Nacht hinter mir gelassen habe. Nur diesmal sind keine anderen Menschen unterwegs. Wahrscheinlich, weil es noch kälter geworden ist und die meisten in ihren warmen Betten schlafen werden.

Ich möchte nicht mehr zurück. Zurück zu ihm. Zurück zu meiner Vergangenheit.
 

Leise betrete ich die Wohnung. Ich lege den Schlüssel auf die Kommode und ziehe meinen Mantel aus. In der Küche sieht noch alles so aus, wie ich es verlassen habe. Ich schalte die Kaffeemaschine ein, der Lichtschalter bleibt unangerührt. Dann setze ich mich ins Wohnzimmer. Mein Kopf dröhnt noch immer. Doch mittlerweile stört es mich nicht mehr. Eigentlich möchte ich diesen Schmerz sogar spüren, nicht weil er mir zeigen soll, dass ich noch lebe, sondern weil ich dadurch weiß, dass ich noch sterben kann.

Nach einer Weile stelle ich fest, dass der Kaffee fertig sein muss, da aus keinem der Zimmer Geräusche zu vernehmen sind. Die Stille, die sich nun ausbreitet, ist angenehm und doch unerträglich. Mein Blick fällt auf die Uhr, welche gegenüber der Couch an der Wand hängt. Meine Augen folgen den Bewegungen des Sekundenzeigers.
 

"Ich... Darf ich mich zu dir setzen?"

Tais Stimme klingt schüchtern, nicht so, wie man es eigentlich von ihm gewohnt ist.

Ich schaue auf und richte meinen Blick zur Tür. Müde und erschöpft.

Sein Körper ist in eine Decke gehüllt, doch kann ich erkennen, dass er zittert. Es ist das erste Mal. Er sieht aus, wie ein kleines Kind. Hilflos, unsicher und irgendwie einsam.

Meine Augen schauen nun in die seinen. Der Glanz, den ich immer bewundert hatte, ist schwach geworden. Es ist keine Gleichgültigkeit, die ich ausmache. Es ist etwas Anderes. Schmerz? Enttäuschung? Nein, nicht wirklich. Ich weiß es einfach nicht.

Dabei gab es einmal eine Zeit, in der ich ihn genau kannte. Ich wusste, was er für Probleme hatte, auch wenn ich oft nicht darauf einging und ihn wissentlich allein damit ließ. Doch jetzt ist es anders. Aber seit wann? Wie konnte es passieren, dass er so undurchsichtig für mich wird? Ich verstehe das nicht. Es ist, als sähe mich ein Fremder an.

Er zittert noch immer. Ich schaue weg. Zur Uhr, deren Zeiger noch immer gnadenlos die voranschreitende Zeit angeben. Ich stehe auf. Es fällt mir schwer, mich auf den Beinen zu halten. Der Kopfschmerz ist einfach zu stark. Behutsam setze ich einen Fuß vor den anderen, bis ich bei der Uhr angelange. Ich nehme sie von der Wand. Mit ein paar kurzen Handgriffen habe ich die Batterien aus der dafür vorgesehenen Halterung entfernt und lege sie auf ein kleines, in der Nähe stehendes Regal. Dann setze ich mich wieder auf die Couch.

Tai steht noch immer reglos in der Tür und schaut mich an. Ich erwidere seinen Blick, doch eine Antwort gebe ich ihm nicht. Das Zittern seines Körpers hört nicht auf.

"Was ist nur geschehen, dass es so weit kommen konnte?", frage ich schließlich.

Tai zieht die Decke fester um seinen Körper. Dann, ohne seine Augen von mir zu nehmen, löst er sich von der Tür und kommt auf mich zu. Sein Gang hat an der gewohnten Leichtigkeit verloren. Schwerfälligkeit hat sich über ihn gelegt. Über uns beide.

Vor mir bleibt er stehen. Mich noch immer ansehend. Was ist es nur, das ich in seinen Augen nicht erkennen kann?

Er kniet sich zu mir hinunter, setzt sich vor meine Füße und legt seinen Kopf auf meine Oberschenkel. Seine Beine zieht er, so weit es ihm möglich ist, an seinen eigenen Körper. Jetzt kann ich das Ausmaß seines Zitterns auch spüren. An meinen Beinen. Ich lege meine Hand auf seine ungekämmten Haare und streiche vorsichtig darüber, während ich die Uhr anschaue, für die nun die Zeit stehen geblieben ist. Eine solche Zärtlichkeit ist mir gänzlich unbekannt. Ich dachte immer, dass ich nie in der Lage wäre, eine solche Geste durchzuführen. Doch es ist ganz leicht. Unerwartet leicht. Fast wie ein Reflex. Nur, dass er sich erst jetzt, durch Taichi Yagami, eingestellt hat.

"Ich weiß es nicht", höre ich ihn sagen. Wieder eine Lüge. Wir wissen es beide, doch keiner von uns spricht es aus. So, als wäre nie etwas geschehen.

Ich senke meinen Blick und schaue ihn an. Er hat seine Augen geschlossen. Selbst seine Lippen beben leicht. Aufgrund der Kälte? Nein.

"Tai?" Meine Stimme ist leiser, als ich es beabsichtigt hatte.

Von ihm kommt keine Antwort. Er dreht nur seinen Kopf und schaut mich müde an.

Ich beuge mich etwas hinab. Mit meinen Fingern streiche ich ihm sanft ein paar Strähnen seines braunen Haares aus dem Gesicht.

Schwerfällig hebt er seinen Arm und umfängt damit meinen Nacken. Ich gebe dem Druck, welcher nun darauf lastet, bereitwillig nach. Unsere Lippen berühren sich sanft, wie schon unzählige Male zuvor.

Doch diesmal dauert es nur einige Sekunden, dann löse ich mich wieder von ihm und sehe ihn an. Seine Miene ist ausdruckslos, das Zittern ist nach wie vor vorhanden. Er richtet sich auf und setzt sich neben mich auf die Couch. Die Decke, in der er sich bis eben noch verbarg, fällt zu Boden. Seine Finger berühren leicht meine Wange. Ich spüre Kälte und schließe die Augen. Die Kälte breitet sich aus, als Tai seine andere Hand unter mein Hemd gleiten lässt und sachte über meine Haut streicht. Ich wage es nicht, mich zu bewegen. Meine Atmung versuche ich so flach wie möglich zu halten. Dann zieht er seine Hände zurück und beginnt, die Knöpfe meines Hemdes zu öffnen. Einen nach dem anderen. Langsam, wahrscheinlich in der Erwartung, auf Gegenwehr zu stoßen.

Ich schaue ihn nur an, als er den schwarzen Stoff, der eben noch meinen Körper schützend umhüllte, von meinen Schultern gleiten lässt und mich anschließend mustert. Seine Augen lassen nicht mehr darauf schließen, was er in diesem Moment denkt. In Gegensatz zu früher.

"Ich vermisse dich", sage ich leise und schaue dabei zu Boden.

"Du bist wunderschön", kommt als einzige Entgegnung.

Meine Augen weiten sich, als das Gehörte in meinem Kopf einen Sinn bekommt. Hastig schaue ich ihn an. Sein Blick ist auf mich gerichtet. Ich beginne ebenfalls zu zittern und schlinge meine Arme um meinen Oberkörper, um meine nackte, von Narben übersäte Haut zu verbergen. Es sind seine Narben. Bei diesem Gedanken lasse ich die Arme wieder sinken.

Tai beginnt zu lächeln.

Mit sanfter Gewalt drückt er mich zurück, sodass ich unter ihm auf dem Sofa zum Liegen komme. Mit seiner Zunge beginnt er, die Zeichnungen nachzufahren. Ich starre zur Zimmerdecke und versuche, mich unter Kontrolle zu halten. Jedoch kann ich es nicht verhindern, dass sich meine Finger in den Bezug der Couch krallen. Tai legt seine Hände über die meinen, schaut mich an und flüstert ungewohnt liebvoll:

"Nicht."

Der Druck seiner Hände verstärkt sich, als würde er eine Flucht meinerseits verhindern wollen.

"Ich laufe nicht weg." Ein Lächeln huscht über meine Lippen. "Nicht mehr."

Bei diesen Worten löst sich Tai von mir. Ich richte mich auf und setze mich ihm gegenüber. Mein Blick ist unverwandt auf ihn gerichtet. Auch er schaut mich an. In seinen Augen sehe ich eine Traurigkeit, die ich so noch nicht kannte.

"Ich vermisse dich auch", sagt er nun, so leise, dass ich es kaum verstehe, "Sehr sogar."

Ich beuge mich vor und lege meine Lippen auf die seinen. Dann ziehe ich ihn an mich und umschließe ihn mit meinen Armen.

"Ich weiß, doch ich kann nicht zurück. Wir können nicht zurück."

Ich spüre, wie warme Tränen über mein Gesicht laufen. Unaufhörlich. Doch es stört mich nicht mehr. Der Kopfschmerz, der seit einigen Tagen immer stärker in meinen Kopf einzudringen versuchte, ist verschwunden, ebenso wie die Müdigkeit, die mich immer mehr in Beschlag nahm. Nur das Zittern, welches sich vorhin einstellte, bleibt. Ich schließe meine Augen.

Eine Melodie beginnt in meinem Kopf Gestalt anzunehmen. Eine Melodie, die ich vor ein paar Tagen schon einmal in meinen Gedanken durchspielte.
 

Der Krieg in Deinem Kopf

Erreicht Dich längst nicht mehr

Denn Du weißt, wer hier Verlierer ist

Wieder mal Verlierer ist
 

Tai scheint ebenfalls zu weinen. Ich spüre, wie seine Tränen über die nackte Haut meines Rückens laufen.

"Bleib bei mir." Seine Stimme klingt brüchig. "Ich bitte dich."

"Keine Angst, das werde ich."

Ich spüre noch immer das Zittern seines Körpers.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Mju
2013-03-21T20:07:56+00:00 21.03.2013 21:07
Zuerst wollte ich etwas Sinnvolles schreiben ... aber jetzt fehlen mir die Worte.
Ich finde deinen Schreibstil witklich atemberaubend, da ist soviel Gefühl in dem Text - das fasziniert mich total.
Die Liedtexte, die du verwendest gefallen mir sehr. Sie passen so gut zu dem, was die Beziehung der beiden widerspiegelt.
Normalerweise lese ich online kaum FF, die so lang sind, deine allerdings hat mich bis ans Ende mitgezogen.

lg
Von:  Hellsingel
2010-01-02T20:30:39+00:00 02.01.2010 21:30
Ich glaubs echt nicht >.<
In letzter Zeit gehe ich vielleicht mal alls 2 Wochen mal gucken, was es so neues an Ff's gibt und fast jedesmal stoße ich auf eine alte... nennen wir es mal Erinnerung.

Ich habe diese Ff schon damals auf Yaoi.de gelesen und schon seit da gehört sie zu einer meiner Lieblingsstorys und du mit "Das Spiel - Neustart" zu einer meiner Lieblings-Darkfiktion Autorin^^
Dabei fällt mir ein, jetzt wo ich endlich 18 bin, muss ich mir mal die unzensierte Version von "Das Spiel" hier auf Animexx.de durchlesen. Kriegst dann auch noch ein Kommi.

Also, ich denke der Satz "Was wäre für dich die schönste Art zu sterben?" wird sich wahrscheinlich auf Ewig in mein Gedächtniss einbrennen. Warum? Keine Ahnung ^^° Vielleicht hat es einfach was mit den Themen zu tun, welche du verwendest.
Ich finde hier viele Gemeinsamkeiten zu "Das Spiel", vor allem das Yamato und Taichi in einer Beziehung stecken, wo sie beide, teils unwissend, voneinander Abhängig sind. Das was mich dabei am meißten Faziniert ist, wie du das darstellst. Dein Schreibstil ist da einfach genial.
Die beiden Song-Texte die du verwendet hast gefallen mir sehr. Ich habe erst mal bei Youtube nach den Liedern geschaut und nichts gefunden, bis mir dann eigefallen ist, dass mit Rebse alias halfJack mir die Lieder letztens gesendet hat. Wir kamen zufällig auf "Einfach so" zu sprechen, als wir uns gerade über Lieder in Ff's unterhalten haben xD War es Schickssal??

"Jegliche Gefühlsregung scheint abgestorben. Außer meinen Empfindungen Tai gegenüber. Er hat sich so tief in mich hinein gebrannt, dass er mein gesamtes Sein bestimmt. Bedeutet das, ich bin abhängig von ihm? Kann ich vielleicht doch nicht mehr ohne ihn leben? Bilde ich mir nur ein, ich sei stark und könnte jederzeit aufhören? Wie bei einer Droge? Bin ich ihm wirklich erlegen? Unterlegen? Nein, so weit darf es nicht kommen. Nie. Oder ist es für diese Erkenntnis schon zu spät? Habe ich mich bereits verloren?"

Ich denke mal diese Zeilen geben dem Leser wohl den genausten Einblick in die Beziehung der beiden. Die Zeilen aus "Unter Eis" unterstreichen das natürlich noch wunderbar.
Ich frage mich aber immer noch, was du mit den Schmerzen aussagen willst, die Yamato hat. Schließlich verschwinden diese zum Schluss, als er seine Situation akzeptiert und es geschehen lässt, als weiter darüber nachzudenken. Wie ein inner Kampf halt.
Dazu gefällt mir auch gut diese Zeile, wobei ich -auch wenn es unpassend ist- lachen musste.
"Eigentlich möchte ich diesen Schmerz sogar spüren, nicht weil er mir zeigen soll, dass ich noch lebe, sondern weil ich dadurch weiß, dass ich noch sterben kann."

Irgendwie hatte ich es bereits kommen sehen, dass du die 1. Hälfte der 2. Strophe von "Schreit dein Herz" zum Schluss noch mal verwendest.

Der Krieg in Deinem Kopf
Erreicht Dich längst nicht mehr
Denn Du weißt, wer hier Verlierer ist
Wieder mal Verlierer ist

Diese 4 Zeilen passen wohl auf beide, wobei Taichi es wohl schon lange aufgeben hat oder erst gar nicht angefangen hat sich zu wehren.
Zum Schluss kann ich eigentlich nur noch mal sagen, wie toll ich deine Ff's finde. Solche Autorin wie dich oder halfJack findet man leider viel zu selten. Vor allem unter der Kategorie Darkfiktion findet sich viel Müll, auch wenn das jetzt etwas hart klingt. Ich sags mal so, viele nehmen einen Charakter, lassen ihn irgendwas schlimmes wiederfahren, worauf er dann anfängt sich zu ritzen und das alles in einer Schreibweise die oberflächlicher nicht sein könnte und schreiben dann alle Wahrnung: Darkfiktion oder "Selbstverletzendes Verhalten".
Gut ich schreibe selber ja nicht, aber da ich das ganze Digimon-Archiv bei Yaoi.de und auch noch hier Massig gelesen habe, kann ich mir ja wohl so eine Kritik erlauben^^ Auf jeden Fall tut es da schon mal ganz gut wieder sowas hier zu lesen.
mfg
Simion


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