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Drei weise Affen

nichts sehen, nichts hören, nichts sagen
von

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PROLOG

PROLOG
 


 

Jeder wusste es.

Es war nicht mal ein offenes Geheimnis, er hatte es ja gesagt. Er hatte nicht mehr mit geschlossenem Mund dastehen wollen. Nur weil man es erwartete.

Frei sein.

Marlon hatte früher nicht verstanden, was daran eigentlich so wichtig war.

Normal sein.

Er war normal. Er sah aus wie alle anderen, er sprach und aß und lebte wie alle anderen. Aber wenn es dann darum ging, dass er liebte wie sie. War er nicht normal. Es gab sogar ein eigenes Wort dafür, es gab eigene Schimpfwörter dafür.

Irgendwann fand er sich einfach damit ab, dass er niemals mehr normal sein würde, nicht in diesem Sinne. Nicht wie „sein wie alle anderen“.

Anders.

Ein gutes böses Wort.

Das sagte er auch. Und weil Marlon ein Liebhaber des großen Auftritts war, des Dramas, des Scheinwerferlichts. Sagte er es allen.

Ray war der Meinung, er hätte auch gleich noch sein Testament machen können. Eigentlich sagte Ray es nicht einmal so, und außerdem dachte er es nur. Er dachte: Todessehnsucht, der Junge hat echt Todessehnsucht.

Er sagte nichts. Es ging ihn nichts an. War ihm so egal, wie der Reissack in China und Deutschlands neueste Modelsuche.

Egal.

Er sagte nichts. Er sah weg, weil es ihn nicht interessierte. Gab doch so viele, die darauf herumhacken würden. Todessehnsucht, ja, vielleicht. Aber ohne ihn. Mund halten und wegsehen, blind sein, das war immer das Beste.

Ray vergaß schnell. Weil er schnell vergessen wollte. Bis er in dieser einen Nacht – er war nur leicht betrunken – einen Abstecher gemacht hatte. Dahin, wo man normalerweise nicht ging, schon gar nicht im Dunkeln.

Für Daphne war die Dunkelheit immer ein willkommenes Geschenk gewesen. Unsichtbar sein fiel so leicht, wenn man selbst auch nichts sah. Das war ein bisschen wie das Versteckspiel eines Kindes: Ich sehe dich nicht, du siehst mich nicht.

In der Dunkelheit funktionierte das. Meistens.

Sie nahm eigentlich nicht gern diese Abkürzung, aber sie war schon spät dran und ihr Vater sollte nicht schon wieder enttäuscht sein von ihr, nur weil sie nicht rechtzeitig nach Hause kam.

Natürlich hatte sie von der Sache gehört und… irgendwie war es schon seltsam. Vielleicht auch ganz nett. Wenn die in ihrer Stufe etwas sagten, lächelte Daphne und nickte – bravbravbrav –, aber sie hätte vermutlich auch schreien können, niemand achtete auf sie.

Sie war unsichtbar. Invisible girl.

Sicher war sicher. Sie lächelte und nickte. Sah und hörte und sagte. Nichts. Warum auch? Um vermutlich selbst noch in die Schusslinie zu geraten?

In dieser einen Nacht dachte sie das auch. Sie dachte es und sie verhielt sich wie immer, wie sich jeder Mensch – jeder unsichtbare Mensch – verhalten würde: verstecken.

Natürlich sah sie. Natürlich hörte sie.

Alles.

Sie sah Marlon. Und Ray. Und Felix.

Ganz kurz nur hatte sich Felix gewünscht, mitzumachen. Frust ablassen nannte er das und Frust hatte er genug in der letzten Zeit, ganz klar.

Er dachte es. Kurz. Und dann stellte er sich taub und blind und machte einen großen Bogen um sie alle. Die Bilder blieben in seinem Kopf, die Geräusche in seinem Ohr. Blieben wie festgeklebt.

Felix wollte nicht. Daran denken. Oder helfen. Er wollte einfach nur, dass der Scheiß endlich vorbei war und dass alles wieder normal sein würde.

Ohne Marlon.

Ohne Ray und ohne Daphne.

Aber weil sie nun mal klebten, da wo sie nicht hingehörten, lernte er, damit zu leben. Musste nun mal damit leben.

Felix war taub und blind und stumm.

Bis alles wieder normal sein würde. Und das würde geschehen, er musste einfach nur warten. Einfach abwarten.



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