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Drei weise Affen

nichts sehen, nichts hören, nichts sagen
von

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ZWEI

ZWEI
 


 

Eine Woche danach. Montagvormittag. Französisch in der ersten Stunde, der Tag konnte einfach nicht gut gehen. An Montagen wusste Felix, dass er gar nicht erst aus dem Bett kommen sollte.

Spanisch, erste Stunde. Neben ihm saß Luka, redete wie ein Wasserfall von der geilen Party am Wochenende im Jugendzentrum.

Wie konnte er nur? Am frühen Morgen schon so gut drauf sein?

Igitt. Felix hatte die Kopfhörer in den Ohren, ließ die Musik so laut durch ihn durch schallen, dass alles andere um ihn herum stumm wurde. Und dass alles um ihn herum einen neuen Soundtrack bekam. Bilder übertönte. In seinem Kopf. Er schlief schlecht in letzter Zeit, wachte morgens auf. Mit einem Ruck. Mit Herzrasen, so richtig heftig. Und er schwitzte, dabei war es noch kalt in der Nacht, eiskalt in seinem Zimmer, weil er mit offenem Fenster schlief.

Lag es daran?

Vielleicht sollte er einfach mal das Fenster…?

Etwas berührte leicht, federleicht seinen Arm. Felix zuckte zurück, wollte sich die Stöpsel aus den Ohren reißen und Luka anknurren, dass er noch verdammte zwei Minuten hatte.

Es war nicht Luka. Ganz und gar nicht.

Luka saß noch immer neben ihm, laberte mit Panne irgendeinen Scheiß und sprang dabei andauernd auf die geile Party zurück. Er schien das federleichte Etwas gar nicht zu bemerken.

Sie sah ihn aus großen, hellen Augen an. Daphne hatte ein hübsches, schmales, aber furchtbar blasses Gesicht. Kam ihm vor wie ein Geist.

Sah denn niemand sonst sie?

„Ich muss mit dir reden“, sagte sie leise, viel zu leise für seine Ohren, die gerade noch auf Hardrock eingestellt gewesen waren. Zu plötzlicher Wechsel.

„Was?“, fragte er laut. Viel zu laut.

Jetzt drehte Luka sich doch um. Erst fiel sein Blick auf Felix, dann auf Daphne. Nervös zupfte sie an ihrem Pullover. Nervös war Felix auch. Wollte nicht. Dass Luka ihn mit ihr sah, dass Luka Verbindungen zog, dass Luka…

„Was bist denn du?“, grinste Luka. Herrlich breit und gemein irgendwie. Daphne wurde noch blasser, wenn das überhaupt möglich war.

„Nur mit… Felix reden“, wisperte sie. Tellergroße Augen.

„Ähm. Okay, Nur mit Felix reden, aber kannst du das auch auf später verschieben? Der Gänger ist da.“ Er deutete auf den Mann, der grade hereinkam, die Tasche wie üblich unter den Arm geklemmt, ein bisschen tapsend wie ein Bär.

Bonjour, Messieursdames“, brummte der Gänger, Herr Gänger, Monsieur Gänger. Für eine Sekunde war Felix abgelenkt und als er was zu Daphne sagen wollte, war sie nicht mehr da. Es wäre sowieso nichts Nettes gewesen, vielleicht war es besser so. Sie sollte nicht zu ihm kommen!

Von Französisch ließ er sich nur berieseln, staunte mal wieder, wie gut Luka sprechen konnte und dann so grottenschlecht in Naturwissenschaften war.

Gegen Ende der Stunde bemerkte er es plötzlich. Es hatte zu regnen begonnen, heftig, und der Himmel war fast schwarz jetzt, die Fensterscheibe finster und die ganze Klasse sah er im Spiegel des Glases.

Daphne. Sie war ein weißer Fleck, schimmernd und ganz im Eck, am anderen Ende des Raums. Sie hielt den Kopf gesenkt und ihr Haar fiel über ihre Schultern, es war das einzig Dunkle an ihr und ließ ihre Haut nur noch durchscheinender wirken.

Nie gemerkt. Er hatte sie nie bemerkt, hatte nie gemerkt, dass sie in seinem Französischkurs war. Irgendwie schockte ihn das. Irgendwie.

Auf der Scheibe, nass vom Regen, mit Spritzern und Schlieren, tauchten die Bilder auf. Die Bilder von der Nacht, als es auch so dunkel gewesen war, als es so spät gewesen war. Der Regen wurde zu Blut, das Trommeln der Tropfen zu Schlägen, niederprasselnd.

Schreie.

Gesichter.

Und Ray in den Schatten und Daphne, zusammengekauert hinter einen Mülltonne. Und Felix selbst wollte einfach nur weg sein.

Weg.

Sich in Luft auflösen.

Schreie. Hilfe, Hilf…

„HEY!“ Felix fand nur schwer in die Realität zurück. Luka hatte ihn gegen die Schulter geboxt, dieses Mal stand er vor ihm und seine Brauen bildeten fast eine Linie. „Mann, was ist denn los mit dir zurzeit?“ Kopfschütteln. „Dass du schon am Samstag nicht auf dieser übelst geilen Party warst, ist ne Schande. Jetzt kannst du dir zumindest anhören, wie ich Jelly rumgekriegt hab.“

„Du hast Jelly rumgekriegt?“

Er wollte noch viel mehr sagen. Viel mehr. Viel dummes, dummes, sehrsehrsehr dummes Zeug, das er später bereuen würde, vermutlich. Ziemlich sicher. Da war er beinahe dankbar, als er die Finger wieder spürte, die gegen seine Schulter tippten, sachte.

„Ich… muss… wirklich mit dir reden“, sagte Daphne. Felix nickte nur, drehte sich noch mal zu Luka um.

„Nachher, ja?“

Luka schien angepisst. „Ich schreib jetzt Bio, keine Zeit. Wir sehen uns beim Training.“

Felix sah ihm nach.
 

Das Ansprechen war viel einfacher gewesen, als Daphne erwartet hatte. Relativ leicht und unkompliziert. Das was danach kam, gestaltete sich wesentlich schwieriger.

Sie standen wieder bei dem Baum, in ähnlicher Konstellation, nur war dieses Mal Daphne mit dem Rücken zur Schule und irgendwie gab ihr das einen Hauch von mehr Sicherheit. Eine Möglichkeit zur Flucht.

Sie starrte auf den Boden und ihr Nacken wurde klatschnass, scharrte mit den Füßen ein wenig im Gras herum. Es war wirklich schwer.

„Was jetzt?“, schnauzte Felix. Aber er klang unsicher. Er klang so müde wie Ray aussah und Daphne sich fühlte.

„Ich… ich war…“

Vorhin hatte alles noch so wunderbar geklappt, vorhin. Zu Hause vor dem Spiegel. Sie hatte es geübt, hatte sich in der Nacht einen Text überlegt. Sie konnte doch in letzter Zeit ohnehin nicht schlafen.

Auswendig. Halt dich ans Drehbuch.

Tiefluftholen.

„Ich war im Krankenhaus“, sagte Daphne. Redete dann einfach weiter, ließ sich nicht aus der Ruhe bringen von Rays plötzlichem Husten, als er sich am feuchten Zigarettenrauch verschluckte. Oder von Felix’ Schweigen.

„Am Samstag war Besuchstag und ich hab gesagt, dass ich eine Freundin bin. Sie wollten mich nicht reinlassen, aber zufällig kam grade seine Schwester raus. Sie heißt Anja, sie studiert schon Physik in Berlin und sie ist extra hergekommen wegen ihm.“ Gut, das war nicht geplant gewesen.

Einfach weiter.

„Sie wollte sich einen Kaffee holen, ist in mich gelaufen und dann hat sie angefangen zu weinen und… und…“ Tief. Luft. holen. Das war doch ganz einfach, sie war schon fast fertig. Nur noch ein paar Worte. Wenige Worte.

„Er liegt im Koma.“

Koma.

Ein eigenartiges Wort. Koma.

Es war still. Nur Regen, platschende, dicke Tropfen auf die Blätter des Baumes, auf ihre Köpfe. Sie waren alle durchweicht, Daphne war sich sicher, auch wenn sie nicht aufsah, auch wenn sie eigentlich nur für sich sprechen konnte.

„Echt jetzt?“, fragte Ray irgendwann. Irgendwann. Er hörte sich an wie eine Krähe mit Erkältung. „Echt jetzt?“

Daphne machte sich nicht mal die Mühe zu nicken. Sie hob nicht mal den Blick vom Boden. Bis. Bis.

Bis.

Felix sprach. Den Mund aufmachte. Und Daphne hatte erwartet, dass er so etwas sagen würde, aber sie hatte doch etwas anderes gehofft. Irgendetwas, nur nicht das.

„Du hast nichts gesagt. Oder?“

Er versuchte es, fest zu klingen und stark, aber seine Stimme zitterte so sehr wie Daphnes Finger. Sie machte sich auch nicht die Mühe, den Kopf zu schütteln. Stand einfach weiter da und spürte kalte Tropfen auf ihrem Rücken.

Schritte. Schritte, die sich entfernten. Dann standen nur noch Ray und sie da. Sie und Ray. Wie erstarrt, alle beide.

„Hast du was gesagt?“, fragte Ray plötzlich. Als wäre er wirklich interessiert daran, als wollte er es wirklich wissen.

„Nein“, sagte Daphne. Jetzt sah sie ihn an. Er sah sie an. Wieder: „Nein.“

Ray bewegte die Lippen, aber sie hörte nicht, was er sagte. Dann, lauter: „Okay. Ist okay.“ Er stieß sich vom Baum ab und als er an ihr vorbeiging, berührte er mit seiner Hand kurz ihre Schulter. Fest und sicher.

Es tat gut. Irgendwie.
 

Damit hatte Ray nicht gerechnet. Mit vielem, aber nicht damit. Gut, vielleicht hatte er es auch nur gehofft und tief tief drin in seinem raucherschwarzen Herzen hatte er es gewusst, geahnt zumindest. Was passierte wenn vier Yetis auf einen einhämmerten wie auf ein Schlagzeug.

Das konnte ja nicht gut ausgehen. Konnte nicht.

Die Schreie. Und Marlon hatte so geschrieen und jetzt. Und jetzt…

Koma, und das wie lange schon, zu lange. Eine Woche, mehr als eine Woche, viel zu lange.

Ray stolperte spät ins Klassenzimmer, seine Englischlehrerin stand hinter dem Pult und offensichtlich war sie heute nicht gut drauf. Er entschuldigte sich nicht einmal, machte sowieso keinen Sinn. Brachte sowieso nichts heraus, kein Wort.

Frau way-too-much-drama halste ihm erst mal eine ordentliche Strafarbeit auf. Egal, die würde er sowieso nicht machen und eigentlich wusste das jeder Lehrer.

Ray machte nichts. Nie. Er war nur noch längst nicht sitzengeblieben, weil er es einfach drauf hatte.

Das wusste auch jeder Lehrer.

Er trottete zu seinem Platz, ließ sich fallen und starrte hinaus in den Regen, vermutlich so, wie die anderen im Raum ihn anstarrten. Nass wie er war.

Langsam kroch der Tag dahin. Der Regen hörte nicht auf, dafür kam noch ein ordentlicher Sturm hinzu. Es sah fast so aus, als wollte Gott ihm etwas mitteilen. Ihnen.

Schwarzer Himmel.

Am Nachmittag zuckte der erste Blitz, gerade als Ray aus dem Schulgebäude trat. Es dauerte lange bis zum Donner, aber trotzdem war es ihm nicht geheuer. Der große Baum hinter der Schule war ein kolossaler Schatten vor dem stäubenden Licht.

Rennen. Renn. Seine Füße trugen ihn wie von selbst, wie von selbst. Ob Marlon auch so gerannt war, ob Marlon hatte fliehen wollen. Fragte er sich.

Ob er hätte… helfen können.

BlitzDonner. Rennen.

Helfen. Wenn er gehandelt hätte, wenn er nicht so stockbesoffen gewesen wäre, verdammt. Verdammte Scheiße! Dann läge Marlon vielleicht nicht im Koma, dann wären da jetzt nicht die Bilder und die Schreie.

Lachen. Ray hörte Schreie und zwischendurch, immer mal wieder, erhob sich ein Lachen in die Nacht, schwang die höhnischen Flügel zum Himmel und stieg über den Schmerz. Über den Schrei.

Lachen und Flüche. Hirnlose, bescheuerte Sprüche.

Vielleicht hätte er helfen können.

Und seine Füße trugen ihn wie von selbst. Von selbst. Er rannte lange, spürte den Regen erst wieder, als er plötzlich zum Stehen kam.

Die Drehtür war groß und glasig. Aus Rays Klamotten tropfte das Wasser auf den Boden und die Frau hinter dem Empfangstresen musterte ihn griesgrämig. Er scherte sich nicht darum. Er scherte sich.

Nie. Um irgendetwas.

Ihm war alles egal.

Und trotzdem. Stand er jetzt hier.

„Was willst du?“, fragte die Frau. Ihre Mundwinkel zuckten halbherzig. „Es ist keine Besuchszeit.“

Ganz kurz nur zögerte Ray. Keine Besuchszeit. „Ich… würde gerne zu…“

„Keine Besuchszeit!“, sagte sie wieder, eindringlicher. „Hab ich doch schon gesagt.“

„Er liegt im Koma, ich möchte ihn einfach nur sehen und…“ Und was? Was dann?

Die Frau runzelte die Stirn. Schüttelte den Kopf, nickte. Versuchte sich noch mal an dem falschen Lächeln, dann. „Der Komajunge? Zu dem kannst du erst recht nicht.“

Na ja, einen Versuch war es wert gewesen.

Ray wollte sich schon wieder umdrehen, dann überlegte er es sich noch mal anders. „Können Sie ihm sagen, dass ich… er…“

Auf ihrem Tisch klingelte ein Telefon. Sie rollte mit den Augen. „Warte kurz… Ja? Du, ich hab jetzt nicht so viel Zeit, ich… was?“ Ihr Blick fiel eindeutig auf Ray, sie fraß ihn fast schon auf. „Ja… okay… nein, ich… ja, bis dann.“

„Können Sie ihm ausrichten…?“, fing Ray noch mal an und es kostete ihn wirklich Überwindung und sie sollte ihn endlich mal aussprechen lassen.

„Komm doch Samstag vorbei und sag’s ihm selbst“, lächelte sie. Echt. Auf ihrem Schneidezahn klebte Lippenstift. Ein echtes Lächeln. „Er ist aufgewacht. Grade eben.“
 

„Warum hängst du auch draußen rum, wenn’s dermaßen pisst, Mann?“ Luka schüttelte den Kopf, drückte ihm seine Tasche in die Hand und schleuderte seine Schuhe in eine Ecke.

Schulterzuckend stand Felix neben ihm. Ihm war kalt, er wollte zurück ins Bett, in seinen Gedanken zerfließen und. Er hatte gerade einfach keinen Nerv für Luka.

„Du verpasst dermaßen was“, sagte der und schmiss sich in den riesigen, alten Sessel, den Felix mal auf dem Sperrmüll gefunden hatte. „Seit Samstag, ey, ich sag dir, Jelly ist verrückt nach mir.“ Zufriedenheit drang aus seiner Stimme.

„Cool“, krächzte Felix. Irgendwie halfen weder der Schal oder der Tee, noch die Tabletten oder die gut gemeinten Ratschläge seiner ganzen Familie etwas. Sein Hals brannte wie Feuer, wenn er sprach, aß, schluckte. Atmete.

„Du sagst es.“ Luka grinste ihn an, Felix setzte sich auf sein Bett und zog die Beine an. Er fror sich bald noch zu Tode.

Während sein bester Freund redete, hörte Felix zu. Das tat er gerne, wirklich, aber. Nicht heute, nicht ausgerechnet jetzt, wo es ihm so schon dreckig genug ging. Und Luka schwärmte nur von Jelly und er klang so verdammt verknallt, verliebt. Seit der Sache mit Mona hatte er ihn nicht mehr so gesehen. Leuchtende Augen und dieses Grinsen, das manchmal zu einem glücklichen Lächeln verrutschte. Er hatte wirklich sein Ziel erreicht, endlich.

Endlich.

„Oh, und sie hat erzählt, dass Marlon – die Schwuchtel, du weißt schon – im Koma war. Ehrlich, der Kerl war auch ganz schön dreist, wie er es gradezu rausgefordert hat, ich mein, was hat er denn erwartet? Dass…“

„War?“

„Hm?“

Plötzlich hämmerte Felix’ Herz furchtbar schnell, furchtbar laut, konnte Luka es nicht hören? Seine Finger krallten sich in die Bettdecke.

Verdammt. Verdammt, warum… jetzt…?

„Du hast gesagt, er war im Koma“, murmelte er heiser. Unterdrückte den Drang zu husten.

„Ja“, meinte Luka, zuckte mit den Schultern, „anscheinend ist er wieder wach, seit Montag oder Dienstag oder so. Hat Jelly gemeint. Weißt du, sie…“

Aus. Stopp. Pause.

Was? War er?

Wach?

Wirklich?

Die wirbelnden Gedanken prallten schmerzhaft an seiner Schädeldecke ab, der Schmerz hinter den Schläfen wurde immer dringender.

Bedeutete das?

Hatte er?

Gesehen?

Marlon. Marlon. Marlon.

„Ich bin müde“, sagte Felix. Mit einem Mal, und Luka sah ihn darauf an, ganz seltsam. Er hob die Augenbrauen, stand aber auf. Felix blieb sitzen.

„Okay.“ Luka klang selten so. So enttäuscht oder verwirrt oder sonst irgendwas. Seltsam eben. Eigenartig. Felix kam sich immer mehr wie ein Freak vor, immer mehr.

„Danke für die Hausaufgaben“, murmelte er, starrte seine eigenen Hände an. „Findest du allein raus?“

„Klar“, meinte Luka. Enttäuscht. Verwirrt. „Dann… wann kommst du wieder in die Schule?“

„Weiß nicht. Die Woche nicht mehr.“

„Hm. Ja… hm. Gute Besserung?“

„Danke. Vielleicht ja am Montag.“

„Montag wäre cool. Der Schuppen ist stinklangweilig ohne dich.“ Vermutlich grinste er jetzt, dieses breite Verwegenheitsgrinsen. Fast hätte Felix aufgesehen, aber er hielt sich davon ab, gerade noch so.

Als er hörte, wie Luka die Haustür hinter sich schloss, ließ er sich auf sein Bett fallen, lang ausgestreckt. Zog sich die Decke bis unters Kinn. Bis über den Kopf.

Freak.
 

Scheiße. Die Sonne schien wieder und Ray fühlte sich ganz einfach scheiße. Felix hatte er seit einer Woche nicht mehr zu Gesicht bekommen und das Mädchen… sie konnte man nicht finden, wenn sie nicht gefunden werden wollte. Weil sie nicht gefunden werden wollte.

Ray sprach nicht viel, nicht oft und wenn doch, dann war es weder besonders sinnvoll, noch besonders nett. Hey, Nettsein kann sich ficken, bringt sowieso nichts.

Aber, na ja. Seit ein paar Tagen, seit einer Weile, da. Da war alles anders. Nicht mal unbedingt wegen der… Sache. Mit Marlon. Nicht unbedingt?

Okay, doch, ziemlich deswegen, aber nicht nur. Auch weil da noch die anderen zwei waren, denen die gleichen Hirngespinste im Kopf herumspukten, die. Plötzlich. Etwas mit Ray gemeinsam hatten.

Das war noch nie so gewesen.

Es jagte ihm eine Heidenangst ein. Und deshalb suchte er nach Felix und dem weißen Mädchen, seit dem Tag, als er im Krankenhaus gewesen war. Sie waren nirgendwo. Dass Marlon wach war, wussten sie vermutlich trotzdem schon längst, die Gerüchteküche kochte. Chilli con Carne.

Sie hatten alle keine Ahnung.

In der zweiten Pause drängte Ray sich wieder durch die Massen vor dem schwarzen Brett. Wieder mal, tatsächlich. Während der ersten Pause hatte er sich dummerweise um diese beschissene Chemieklausur kümmern müssen, sonst hätte er sie vielleicht schon viel früher entdeckt. Viel früher sagen können, dass…

Ja. Was eigentlich?

Manchmal wollte er einfach den Mund aufmachen und brüllen. Die Namen, vier verdammte Namen nur.

Dann wieder wollte er schweigen. Wollte sich ausschweigen. Wollte denken, was die anderen dachten. Irgendwie.

Und jetzt gerade. Reden. Einfach.

Felix kam ihm fast so bleich vor wie die Kleine, der helle Geist. Er hatte einen Schal um den Hals gewickelt und er sah dünn aus, selbst mit Jacke. Dünn und müde. Seine Hände steckten tief in den Taschen, seine Augen hingen auf seinen Schuhen. Krank wirkte er und Ray vermutete, dass er sich was eingefangen hatte. Letzten Montag, beim Regen unter dem Baum. Er hatte aufgeschnappt, dass er danach nicht mehr in den Unterricht gekommen war.

Aber was interessierte es ihn?

Luka stand neben Felix. Panne – Ray hatte keinen Schimmer, wie er wirklich hieß, wahrscheinlich wusste es niemand mehr – auch. Die Jungs waren ziemlich beliebt, einen ziemlichen Ruf hatten sie auch. Säufer. Freitrinker. Partymacher. Stimmungsbringer. Alles schon gehört. Beliebt eben.

Weil er wusste, dass die Unsichtbare unsichtbar bleiben und Felix ihn umbringen würde, wenn er ihn vor versammelter Mannschaft ansprach, wartete Ray. Darin war er eigentlich ganz gut. Weil er das Ziel ja jetzt zumindest vor Augen hatte.

Als es klingelte, ließen sie sich noch ordentlich Zeit, aber Felix ging noch vor seinen Freunden los. Richtung Treppe.

„He!“ Ray sprintete neben ihn.

Felix zuckte zurück, mehr wegen der Leute, weniger wegen dem Schreck.

Shit“, fluchte er, sein Blick schnellte erst zu den anderen, dann wieder zu Ray. Und zurück. Er nahm mehrere Stufen auf einmal, Ray hatte nur wenig Mühe hinterher zu kommen.

„Hast du’s gehört?“, fragte er. „Das mit Ma-…“

„Ja. Ja, hab ich. Was willst du, verdammt?“ Er klang panisch.

„Na ja, ich meine…“, fing Ray an. Unterbrach sich selbst und. Was zum Teufel wollte er eigentlich? Er war doch sonst nicht so.

Sonst war alles egal. Total.

„Was?“, knurrte Felix. Dafür, dass er so fertig aussah und jünger war als Ray und kleiner, wenn auch nur ein paar Zentimeter, konnte er verdammt gefährlich sein.

„Er… Gehst du hin?“

„Wohin?“

„Zu… ihm. Ins Krankenhaus“, murmelte Ray und senkte extra die Stimme wegen diesem Milchgesichtbeliebten. Er war einfach zu rücksichtsvoll für diese beschissene Welt. „Weil… vielleicht…“

„Was?“, schnitt ihm Felix das Wort ab. „Händchen halten? Oder… oder ihm erzählen, dass du alles gesehen hast, dass du…“ Er atmete tief. Das Treppenlaufen hatte ihn mehr angestrengt, als er zugeben wollte. Sah krank aus, der Typ. Wirklich.

Fuck, das… wir haben eine Abmachung, klar?“

Klar, wollte Ray sagen, aber Felix. Er war wirklich in Panik. Starrte zum Fuß der Treppe und redete einfach weiter.

„Ich hab’s schon mal gesagt. Wenn du willst, dass dir das gleiche passiert, dann geh ruhig zu ihm. Und sag was. Und… sei eben der Schwuchtelfreund.“ Ray wusste, dass man Wörter spucken konnte. Er hatte nicht gewusst, dass es Menschen gab, die Wörter kotzten.

Alter. Es war so offensichtlich.



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