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Chaostage

»Zeitungsküsse«
von

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Selbststudien

SELBSTSTUDIEN
 


 

Ich hatte keine Ahnung, was genau mich dazu trieb, mich wie ein geiler Fünfzehnjähriger zu verhalten, aber — Schande über mich — ich tat es. Eigentlich, so redete ich es mir zumindest stoisch ein, war ich in den Park gegangen, um das schöne Maiwetter zu genießen und dabei meinen Unikram zu erledigen. Ich war immerhin auch so weit gekommen, dass ich alles Notwendige vor mir ausgebreitet hatte, aber bisher hatte ich noch keinen einzigen Blick in meine Unterlagen geworfen, um irgendwie voranzukommen. Stattdessen schob ich die Sonnenbrille auf meiner Nase zurecht, die mich nicht als ungenierten Starrer enttarnte. Sie war mein Schutzwall und versteckte meinen an einer einzelnen Person festgetackerten Blick. Es war peinlich, normalerweise entwickelte ich keine Obsession, die so stark ausgeprägt waren. Seit einiger Zeit aber gab es jemanden, der — in völliger Ahnungslosigkeit und vermutlich unwillentlich — ständig meine Aufmerksamkeit auf sich zog.
 

Dieser Jemand heißt Vincent Remscheid, ist am fünften April neunzehn geworden, also Widder vom Sternzeichen, und hatte frisch seine Abiturprüfungen hinter sich gebracht. Er hat eine zwei Jahre jüngere Schwester, die auch auf seine Schule geht. Seine Leistungskurse waren Englisch und Geo. Ich kannte auch seine anderen Abiturprüfungsfächer, hatte mir sagen lassen, wo er wohnt und wusste, dass er Single war.
 

Diese Informationen hatte ich aus meiner jüngeren Schwester Louisa herausgeholt, die zusammen mit Vincent in einem Jahrgang war — und außerdem befreundet. Ein paar andere Sachen hatte ich mir bei studiVZ zusammengesucht. In diesem Zusammenhang fiel mir immer wieder ein, dass studiVZ wohl nicht umsonst StalkerVZ genannt wurde, ich wurde ein Teil der Gemeinschaft. Normalerweise war ich kein Fan davon, andere zu stalken, aber in diesem Fall vermied ich dieses Wort akribisch und nannte es stattdessen Neugier. Ziemlich besessene Neugier. Ziemlich ausgeprägte Neugier. Und sehr krankhaft. Verstörend. Wenn Vincent wüsste, dass ich alles Neue, was ich über ihn erfuhr, hastig auf irgendwelche Zettelchen krickelte, um es nicht zu vergessen, würde er wahrscheinlich die Leute mit den weißen Jacken holen. Nein, er würde sie wahrscheinlich schon dann rufen, wenn er wüsste, dass ich ihn stal— … dass ich so neugierig war.
 

Jetzt saß ich dort im Park, meine Unisachen alibimäßig vor mir ausgebreitet, und starrte auf eine Gruppe Jugendlicher, die etwa fünfzig Meter entfernt von mir im Kreis Volleyball auf dem Rasen spielten. Vincent war unter ihnen, ebenso wie Louisa. Durch sie hatte ich erfahren, dass er auch dort sein würde, deswegen hatte ich mich unter … fast ehrlichen Vorwänden auch in den Park begeben.
 

Ich hatte regelmäßig das immense Bedürfnis mich selbst zu ohrfeigen für mein kleinmädchenhaftes Verhalten. Wenn ich mitbekam, dass Louisa sich irgendwo irgendwann aus irgendwelchen Gründen mit Vincent traf, suchte ich nach Gründen, auch irgendwie unauffällig in seine Nähe zu kommen. Ich hatte ihn noch nie angesprochen, ich mischte mich auch nie ein, wenn ich ihn mit seinen Freunden irgendwo sah. Stattdessen blieb ich ein stiller Beobachter und passiver Stalker. Passiv heißt in diesem Zusammenhang, dass ich nicht vorhatte, ihn auf psychopathische Art und Weise zu bedrängen. Ich begnügte mich damit, kleine Dinge über ihn zu erfahren, auch wenn es mich ihm nicht wirklich näher brachte. Wer er wirklich war, erfuhr ich durch Auskünfte von anderen nicht. Aber ihn tatsächlich persönlich anzusprechen schien nie eine Option zu sein. Ohrfeigen hätten sicherlich Abhilfe geschaffen, aber erstens würde Louisa mich ein Leben lang hassen, wenn ich vor ihren Freunden in aller Öffentlichkeit anfing mich zu schlagen, und zweitens würde ich mir damit selbst jegliche Chance auf ein eventuelles … Anfreunden mit Vincent verbauen.
 

Ich erinnerte mich daran, als ich ihn das erste Mal bewusst wahrgenommen hatte. Es war noch gar nicht so lange her und ich fragte mich dumpf, warum Vincent mir nicht schon früher aufgefallen war. Vielleicht weil ich — seitdem ich einundzwanzig war — darauf achtete, mit niemandem anzubandeln, der jünger war als achtzehn. Einerseits wegen dieser Verführung-von-Minderjährigen-Vorwürfe, die aufkommen könnten, und andererseits, weil die meisten unter Achtzehnjährigen einfach … uninteressant waren.
 

Ich studierte zwar in derselben Stadt, in der ich schon immer gelebt hatte, aber ich hatte darauf bestanden, von zu Hause auszuziehen. Trotzdem lungerte ich hin und wieder im Haus meiner Eltern herum, wenn ich mal wieder das Bedürfnis hatte, etwas Zeit mit meiner Familie zu verbringen. Es war einer dieser Tage gewesen, an dem ich bei meinen Eltern zu Besuch war, als Vincent Louisa zu irgendeiner Party abgeholt hatte. Ich war als Erster an der Tür gewesen und hatte ihn hereingelassen, während Louisa aus dem Bad gerufen hatte, sie wäre noch nicht ganz fertig. Vincent hatte amüsiert gegrinst und sich mir vorgestellt, während mein Bobtail Bongo neugierig an Vincents Hosenbein geschnuppert hatte.
 

»Ihre Unpünktlichkeit nervt«, hatte ich zu Vincent gesagt. Es stimmte. Ich war ein Pünktlichkeitsfreak und hasste es abgrundtief, wenn die Leute einfach nicht ausm Arsch kamen. Louisa war ein Paradebeispiel für Verspätung, es wunderte mich, dass sie es rechtzeitig zur Schule schaffte — meistens aber auch nur sehr knapp.
 

Vincents Grinsen war ein wenig breiter geworden und er hatte kurz die Schultern gezuckt. »Ich bin es gewohnt«, war seine Antwort gewesen. In dem Moment war Louisa angelaufen gekommen und sie hatten sich verabschiedet.
 

Während ich geistesabwesend und in Gedanken versunken zu Vincent hinüberstarrte, kam Louisa auf mich zugelaufen und warf sich neben mich auf die Decke. Sie war rot im Gesicht, aber ihre Augen strahlten. Meine Aufzeichnungen lagen zum Teil unter ihr begraben, aber das war gerade meine geringste Sorge. Ich fürchtete für einen Moment, sie würde irgendwelche zweideutigen Bemerkungen machen, weil ich die ganze Zeit in ihre Richtung geschaut hatte. Langsam schob ich meine Sonnenbrille in meine Haare, ohne dabei den Blick von meiner kleinen Schwester zu lassen.
 

»Hey«, meinte Louisa schließlich atemlos und holte einmal tief Luft, um sich ein wenig zu beruhigen. Dabei lächelte sie mich unschuldig an — und ich wusste, sie wollte irgendwas von mir. So lieb lächelte sie mich nur an, wenn ich etwas hatte, das sie wollte. Aber ich schwieg und wartete auf ihre Ansage.
 

»Wir haben gerade über unseren Chaostag gesprochen«, erzählte sie mir dann munter, während sie sich seitlich auf einen ihrer Unterarme stützte. »Wir brauchen noch den einen oder anderen … Lotsen. Du weißt schon—«, sie machte eine um sich deutende Handbewegung, »—wenn wir durch die Stadt ziehen. Die Leute, die den Müll wegsammeln und so. Und unser Chaostag ist nächsten Dienstag und du hast dienstags keine Uni. Deswegen wäre es echt geil, wenn du dabei wärst.«
 

Ich dachte kurz nach und grummelte bei dem Gedanken, den Müll hinter sich besaufenden Abiturienten wegzuräumen. Andererseits … wäre Vincent da. Die Vorstellung, Müll zu sammeln, löste in mir nicht unbedingt Begeisterungsstürme aus, dafür aber die Tatsache, dass ich eine völlig berechtigte Ausrede hatte, um in Vincents Nähe zu sein und ihn weiter zu beobachten.
 

Ich elender Stalker. Vielleicht sollte ich mich nach einer Stalker-Selbsthilfegruppe umsehen, sonst würde das noch krankhaft peinliche Auswüchse annehmen.
 

Ich fuhr mir mit einer Hand durch die Haare. »Aber nur weil du’s bist«, sagte ich, und fügte in Gedanken ›und Vincent‹ hinzu. Das musste ich ihr nicht auf die Nase binden. Sie hatte mir zwar immer mit leichten Vorbehalten meine Fragen über Vincent beantwortet, aber ich war mir nicht sicher, ob Louisa etwas ahnte. Wenn ja, dann ließ sie es sich nicht anmerken.
 

»Mies«, sagte Louisa mit breitem Grinsen im Gesicht. ›Mies‹ war hier ein Synonym für ›geil‹, mit anderen Worten also ein Ausdruck für Wohlgefallen und Zustimmung. Keine Ahnung, woher das kam, aber es färbte von ihr langsam auf mich ab, denn ich erwischte mich gelegentlich dabei, wie ich das auch sagte, wenn ich etwas toll fand.
 

»Hast du Lust, mit uns Volleyball zu spielen? Du siehst nicht so aus, als hättest du dich bis jetzt auch nur eine Sekunde mit dem Zeug hier beschäftigt«, meinte meine Schwester und zog ein Blatt Papier unter sich hervor, überflog es kurz und legte es dann weg. Für einen Moment war ich tatsächlich versucht, ihr Angebot anzunehmen, aber dann schüttelte ich nur den Kopf. Nicht, dass ich kein Volleyball spielen konnte, aber bei dieser Hitze war es nichts, was mir wirklich reizte, und außerdem lagerte meine Aufmerksamkeit sowieso auf jemand anderem.
 

Louisa zuckte die Schultern, dann rappelte sie sich wieder auf und lief zu ihrer Clique zurück. Ich schob meine Sonnenbrille zurück auf meine Nase, zwang mich dann allerdings, mich einem der Texte, die ich noch durcharbeiten musste, zuzuwenden. Ich las den ersten Abschnitt, hatte aber keine Ahnung, was da drin stand. Seufzend legte ich das Blatt weg, auf das ich mir den Text kopiert hatte. So würde das nie was werden. Ich widmete mich einfacher zu verarbeitenden Aufgaben, bis mir irgendwann auffiel, dass es erstaunlich ruhig geworden war. Als ich aufsah, waren Louisa und ihre Freunde schon weg, aber Vincent hockte im Gras und packte irgendwelche Sachen in seine Tasche. Er holte eine Wasserflasche hervor, drehte sie auf und trank in augenscheinlich großen Zügen. Ich konnte es ihm nicht verübeln. Meine Kehle fühlte sich auch ziemlich trocken an.
 

Von irgendwo tauchte Louisa auf einmal neben ihm auf. Ein ausgesprochen unangenehmes Gefühl flammte in mir auf. Manchmal war ich ganz schön neidisch auf meine Schwester und so viel, wie sie allein mit Vincent unternahm — zumindest, so weit ich es mitbekam —, erschien mir der Gedanke, dass die beiden anbandelten gar nicht so abwegig.
 

Louisa warf den Kopf in den Nacken und lachte, als Erwiderung auf etwas, das Vincent gesagt hatte. Sie strick sich kokett die Haare über die Schulter, als sie ihn wieder anschaute, ihr Lächeln ungebrochen und eine Hand an seinem Arm.
 

Meine aufkeimende Eifersucht war wirklich nicht berechtigt. Ich konnte schließlich keine Besitzansprüche stellen, Vincent und ich hatten so gar nichts miteinander zu tun — und wenn, dann immer nur über Louisa. Ich hatte kein Recht, einem der beiden irgendetwas vorzuwerfen. Trotzdem hinterließ der Anblick der beiden zusammen kein schönes Gefühl in mir.
 

Ich wandte den Blick von ihnen ab und machte mich daran, mein Zeug zusammenzupacken. Als ich alles in meiner Tasche verstaut hatte, stand ich auf, legte die Decke, auf der ich gelegen hatte, zusammen und warf sie über meine Tasche.
 

Gerade, als ich den Gurt über meine Schulter warf, sah ich wie Vincent sich vornüber beugte und sich von Louisa das Wasser aus seiner Flasche über den Kopf und Nacken gießen ließ. Sie lachte dabei ausgelassen, während er sich mit den Händen auf seinen Knien abstützte. Das Wasser sickerte durch seine braunen Haare.
 

Ich ging los und peilte meinen Nachhauseweg an, konnte den Blick diesmal aber nicht von Vincent lösen. Er richtete sich auf und warf den Kopf mit einer schnellen in Bewegung nach hinten, sodass seine Haare in seinen Nacken flogen. Dann fuhr er sich mit beiden Händen über das Gesicht, seine Haare zurückstreichend. Er hatte leichten Sonnenbrand auf der Nase, ich konnte die Röte auf seinem Gesicht erkennen.
 

Vincent nahm meiner Schwester die Flasche ab und goss ihr den restlichen Inhalt selbst mühelos über den Kopf. Er war ein gutes Stück größer als sie, so stellte es kein Problem für ihn dar. Louisa schnappte nach Luft und zog den Kopf ein, sah aber nicht aus, als fände sie das Wasser in ihren Haaren schrecklich.
 

Was hätte ich nicht alles dafür gegeben, damit er mir das Wasser über den Kopf schüttete.
 

Ich ging den Sandweg am äußersten Rand entlang, weiterhin Vincent anstarrend. Er zog den Saum seines Shirts zu seinem Gesicht, um sich abzutrocknen, schien es sich dann aber überlegt zu haben und zog es komplett aus.
 

Beinahe wäre meine Kinnlade um einen Meter achtzig nach unten gefallen, und ich hatte größte Mühe alle in diesem Augenblick aufkeimenden, unanständigen Gedanken zu verdrängen.
 

Jäh in diesem Augenblick fing Vincent meinen Blick auf. Ich spürte Widerstand an meinem Bein, doch ich reagierte zu spät und fiel vornüber, krachte mit dem Kopf gegen einen Laternenpfahl und schlug mit den Schienbeinen gegen den steinernen Abfalleimer, der daneben stand und der Grund gewesen war, warum ich gestolpert war. Ich wusste nicht, was mehr wehtat: meine Schienbeine, mein Kopf oder die Tatsache, dass Vincent diese beschämende Peinlichkeit gesehen hatte. Das war einer dieser Momente, in denen man sich wünschte, man könnte die Augen schließen und alles ungeschehen machen.
 

Erwischt, ging es mir peinlich berührt durch den Kopf. Bühnenreifes Starren hatte ich zumindest schon mal drauf. Bühnenreife Abgänge konnte ich noch besser. Hallelujah.
 

Ich ließ mich nach meiner so klischeehaften Kollision mit dem Laternenpfahl seitlich ins Gras fallen und befühlte die Stelle meines Kopfs, die das Metall geknutscht hatte. Das würde eine fette Beule geben, ein Horn. Ich stöhnte in mich hinein. Kopfschmerzen, kurzzeitiger Schwindel, eine kaputte Sonnebrille, eine meinen Namen rufende Schwester und hastige Schritte auf dem Gras, all inclusive.
 

Nein, nein, nein, nein, dachte ich. Nicht hierher kommen. Nicht meine Schande komplett machen.
 

Aber ich bekam das ganze Paket. Abstriche gab’s nicht.
 

Louisas besorgtes Gesicht erschien in meinem offensichtlich ziemlich eingeschränkten Sichtfeld. Vincent beugte sich über sie, sodass ich ihn auch sehen konnte. Seine Stirn war in Falten gelegt.
 

»Vico?«, fragte sie mich und tastete mit kühlen Fingern meine Stirn ab. Ich stöhnte in Gedanken auf.
 

»Geh weg«, sagte ich und schloss die Augen. Ich war so eine Memme. Mir blieb wirklich nichts erspart. Konnte ich denn nicht zumindest in Würde sterben?
 

»Kannst du aufstehen?«, wollte Louisa immer noch mit Sorge in der Stimme wissen. Nein, ich wollte für immer liegen bleiben und mich in meinem Selbstmitleid suhlen. Wahlweise würde ich es aber auch akzeptieren, wenn Vincent sich zu mir legen und mein Horn küssen würde.
 

»Natürlich kann ich«, antwortete ich und setzte mich schwungvoll auf. Der dumpfe Schmerz in meinem Kopf ließ mir kurz schwindelig werden, aber ich versuchte, es mir nicht anmerken zu lassen. »Das war alles so geplant und gewollt. Eine Selbststudie, für Sportwissenschaft, du weißt schon. Auswirkungen auf den Organismus und so. Alles easy.«
 

Louisa warf mir einen zweifelnden Blick zu, machte dann den Mund auf, um etwas zu sagen, doch es kam nichts. Stattdessen schüttelte sie schließlich nur den Kopf und erhob sich wieder. Ich rappelte mich ebenfalls auf, griff nach meiner Tasche und hing sie mir um.
 

»Soll ich dich nach Hause begleiten?«, erkundigte sich meine Schwester. Ich erinnerte mich dunkel, dass sie heute um etwa diese Zeit Klavierunterricht gab. Eigentlich hatte sie keine Zeit, mich jetzt irgendwohin zu begleiten. Außerdem — ich war doch kein Baby. Ich hatte ihr doch gesagt, dass mein inniger Zusammenstoß mit dem Laternenpfahl geplant war.
 

»Pf«, machte ich nur und fuhr mir mit einer Hand durch die Haare. Der Schmerz pochte dumpf hinter meiner Stirn.
 

»›Pf‹ mich nicht an, Victor«, maulte Louisa mahnend, aber ich winkte ab. Manchmal machte sie sich viel zu viele Sorgen. Mein größtes Problem im Moment war lediglich, dass mir diese gesamte Aktion vor Vincent peinlich war. Ich wollte nicht wissen, was ihm wohl durch den Kopf ging.
 

»Tse. Du hast gar keine Zeit, um mich irgendwo hinzubringen. Geh, mach deinen Kram und nenn mich nicht Victor«, sagte ich schnaubend. Ich hasste es, wenn mich irgendjemand mit vollem Namen ansprach. Meinen Eltern hatte ich es immer noch nicht verziehen, dass sie mich wirklich so genannt hatten. Es klang, als käme ich aus einem anderen Jahrhundert oder so.
 

»Ich kann mitkommen, wenn du willst«, meinte Vincent zu mir und schaute mich kurz an, bevor er seinen Blick zu Louisa wandte. Louisa nickte bestätigend, während ich ihn fassungslos anstarrte, als hätte sich gerade eine Gottheit neben mir materialisiert.
 

»Vico?« Louisa sah mich erwartungsvoll an, als ich ihr einen Blick zuwarf. Dann nickte ich stumpfsinnig. Mir fiel kein treffendes Wort ein, sogar ›Ja‹ schien zu schwer zu sein, um es laut auszusprechen; als wäre dieses kleine Wort ein Zungenbrecher. Mein Hirn hatte sich verabschiedet, großartig.
 

Louisa sah zufrieden aus, sie hob die Hand zum Winken. »Gut. Ich muss mich beeilen. Bis morgen«, sagte sie, wandte sich um und stakste hastig Richtung Musikschule, wo sie den Klavierunterricht gab.
 

Und so war ich das erste Mal tatsächlich allein mit Vincent. Wir gingen schweigend nebeneinander her, während ich meine Beule befühlte. Ich hatte keine Ahnung, was ich hätte sagen können, und Vincent machte auch keinen Versuch, ein Gespräch zu beginnen.
 

»Du musst mich nicht begleiten, wenn du nicht willst. Wirklich«, sagte ich irgendwann und schaute ihn an. Er war ein paar Zentimeter kleiner als ich, ein nachdenklicher Gesichtsausdruck lag auf seinen Zügen. Vincent sah mich an. Ich musste mich daran erinnern, lieber wieder nach vorn zu sehen, sonst übersah ich die nächste Laterne und hätte mein zweites Horn für heute.
 

»Es macht mir nichts aus«, erklärte er mir. »Es liegt sowieso auf meinem Weg nach Hause.«
 

Lüge.
 

Er sagte es leichthin, sodass ich es ihm geglaubt hätte, wenn ich nicht wüsste, dass er in der entgegengesetzten Richtung wohnte. Vincent wohnte in der neuen Hafencity, direkt am Wasser. Aber er wusste natürlich nicht, dass ich das wusste.
 

Ich wusste nicht, warum er mich anlog. Nur konnte ich ihn schlecht fragen. Trotzdem brannte die Frage auf meiner Zunge. Ich versuchte, den Drang, sie zu stellen, zu ignorieren.
 

»Tut dein Kopf sehr weh?«, erkundigte Vincent sich und warf mir einen kurzen Blick zu.
 

»Nein«, sagte ich. Es stimmte nur zur Hälfte. Das Pochen hatte nicht nachgelassen, aber es war auch nicht schlimmer geworden. Es war nichtsdestotrotz ziemlich lästig und unangenehm. Ich pulte die Reste meiner einstigen Sonnenbrille aus meinen Haaren und begutachtete die zerbrochenen Gläser. Mies, im wahrsten Sinne des Wortes. Seufzend warf ich sie in den nächsten Mülleimer, an dem ich vorbeiging.
 

»Victor, hm?«, meinte Vincent leise, bevor er mich flüchtig ansah. Er schien sich nicht sicher zu sein, ob er das Thema anschneiden sollte. Ich verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Dieser Name würde mich ein Leben lang verfolgen, dank meinen geliebten Eltern.
 

»Wie kam’s dazu, wenn ich fragen darf.«
 

»Darfst du.«
 

»Okay, ich frage.«
 

Ich grinste leicht. »Keine Ahnung. Meine Eltern hatten wohl einen Augenblick von geistiger Umnachtung. Von geistiger Umnachtung in ihrer krassesten Form. Vergiss den Namen lieber schnell wieder.«
 

Auf dem restlichen Weg sprachen wir nicht mehr. Allerdings empfand ich die Stille nicht unbedingt als bedrückend. Trotzdem hätte ich gern mit Vincent gesprochen, aber ich wusste nicht, worüber ich mit ihm hätte reden können.
 

Er brachte mich bis zur Tür des Wohnungshauses, in dem ich wohnte, dann verabschiedeten wir uns. Bongo lag flach im Flur meiner Wohnung und hob den Kopf, als ich hereinkam. Seine Rute schlug ein paar Mal gegen den Boden, dann legte er sich wieder hin. Die Hitze war anstrengend für ihn und ich tat mein Möglichstes, um die Wohnung kühl zu halten.
 

Ich stellte meine Tasche ab, warf die Decke auf die Couch im Wohnzimmer und ging ins Bad, um meine Beule zu begutachten. Sie war teils von meinen Haaren verdeckt, sodass man sie kaum sah. Zumindest etwas, dachte ich seufzend.
 

Ich kramte frische Sachen aus meinem Schrank und verschwand wieder im Bad für eine kalte Dusche. Bei diesem Wetter war nichts besser als kaltes Wasser auf erhitzter Haut — na ja, außer vielleicht Vincents erhitzte Haut …
 

Ich schob den Gedanken beiseite, aber dafür kreiste ein Haufen anderer Dinge, die ihn betrafen, in meinem Kopf. Noch immer wollte ich wissen, warum er mich angelogen hatte, was seinen Nachhauseweg anging. Mein Puls schnellte unweigerlich in die Höhe, als mir der Gedanke kam, er könnte wohlmöglich aus demselben Grund gelogen haben, aus dem ich gegen den Laternenpfahl gerannt war: Interesse. Ich verschluckte mich an dem Wasser, das ich hatte in meinen Mund laufen lassen, und krepierte fast erbärmlich in der Dusche.
 

Na, bitte. Das wäre die Sensationsschlagzeile für die BILD: STUDENT ERTRINKT IN DUSCHE!
 

Wie blöd musste man sein?
 

Ω
 

Louisa kam nach der Ausgabe der Prüfungsergebnisse aus der Aula gestürmt und warf sich mir an den Hals. Ich dachte zuerst, sie würde heulen, weil sie in eine Nachprüfung musste, oder weil ihre Prüfungen so schlecht gelaufen waren, oder weil ihr Durchschnitt ihr nicht gut genug war. Doch als sie mich wieder losließ, sah ich, dass sie strahlte wie eine überversorgte Glühbirne.
 

»1,4«, quietschte sie und fing an, wie ein Flummi auf und ab zu hüpfen, bevor sie mich noch einmal umarmte. Die Irre. Ich wollte nicht wissen, was sie alles getan hatte, um so einen guten Durchschnitt zu bekommen. Als ich meinen Durchschnitt erfahren hatte, war ich stolz wie ein Gockel auf meine 2,2 gewesen. Aber Louisa musste mich natürlich wieder in den Schatten stellen. Trotzdem freute ich mich für sie.
 

Ich hatte mittlerweile die neon-organgefarbene Weste an, die alle Lotsen trugen. Es dauerte noch eine halbe Stunde, bis Louisas Jahrgang schließlich begleitet von den Lotsen loszog.
 

Ich lungerte die meiste Zeit irgendwo in Vincents Nähe, während die Schüler durch die Straßen zogen, Bonbons auf den Höfen der Grundschulen, an denen sie vorbeikamen, verteilten, grölten, pfiffen, sich wahlweise mit Sahne oder Wasser vollspritzten und sich hingebungsvoll betranken.
 

Drei Stunden später kamen wir wieder am Gymnasiumsgebäude an, an dem der Höhepunkt des Chaostags stattfand. Schüler und Lehrer hatten sich auf dem Hof versammelt, schauten den Abiturienten dabei zu, wie sie ihren Abitanz präsentierten. Danach wurden kleinere Spielstationen aufgebaut, wo jeder, der wollte, diverse Aufgaben und Spiele meistern konnte.
 

Für mich gab es nicht mehr viel zu tun. Ich drehte mich um, um zu sehen, was ich jetzt noch tun könnte, als mir ein loses, ausgebreitetes Blatt einer Zeitung ins Gesicht gedrückt wurde. Gedrückt war das falsche Wort, die Zeitung schirmte aber die Sicht auf den, der vor mir stand völlig ab. Ich konnte aus den Augenwinkeln die Finger sehen, die das Blatt hielten.
 

Und dann spürte ich, wie etwas gegen meine Lippen drückte, wie jemand mich küsste. Gut, ob das wirklich ein anderes Paar Lippen war, konnte ich nicht mit Sicherheit sagen, aber da die Hände die Zeitungsränder hielten, ging ich einfach davon aus.
 

Ich war mehr überrascht und überrumpelt als alles andere. Reflexartig griff ich nach den Handgelenken, nachdem der Druck von meinem Mund nachließ. Für ein paar Augenblicke stand ich reglos da, der anonyme Zeitungsträger ebenfalls, bis er langsam seine Hände sinken ließ. Mir blieb fast das Herz stehen, als ich schnallte, dass das Vincent war. Ein eigenartig provokativer Ausdruck spiegelte sich in seinen Augen. Dann grinste er ein wenig schelmisch.
 

»Eine Selbststudie für die Auswirkung auf mich«, sagte er verwegen. Ich war im ersten Moment viel zu verblüfft, um irgendwie zu reagieren. Mein Hirn schien die Information nicht verarbeiten zu wollen.
 

Als ich nach einer gefühlten Ewigkeit schließlich befähigt war, diese Situation zu verarbeiten, kam ich nicht umhin, ebenfalls zu grinsen.
 

»Und? Wie sieht’s aus?«, wollte ich wissen. Vincent zog eine zweifelnd-grüberlische Schnute, bevor er sich ein kleines Stück vorbeugte.
 

»Mit dem Ergebnis bin ich noch nicht zufrieden«, antwortete er. Er war so nah, dass ich die Bewegung seiner Lippen an meinen spüren konnte. Doch er kam nicht näher, sondern trat einen Schritt zurück.
 

»Aber daran können wir sicherlich arbeiten«, fügte er schalkhaft hinzu.



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Kommentare zu diesem Kapitel (8)

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Von:  Donald
2010-07-22T16:19:50+00:00 22.07.2010 18:19
Nun bin ich an der Reihe und fange auch direkt an, ohne ne große Vorrede zu halten, auch wenn ich das hiermit grad tue bzw. getan habe.

‚Nein, er würde sie wahrscheinlich schon dann rufen, wenn er wüsste, dass ich ihn stal— … dass ich so neugierig war.’
Da hat sich der Herr aber noch gut ‚gerettet’. Mehr oder weniger zumindest. xD

‚Deswegen wäre es echt geil, wenn du dabei wärst.’
Oh man… ‚geil’ – diese Jugendsprache von heute. Na ja, aber was soll man dagegen sagen? Ist nun mal so, wollte hier nur mitteilen, dass ich die Jugendsprache in diesem Sinne nicht mag. Unter ‚geil’ assoziiere ich andere Sachen. :D [dies war Kritik an die Jugend, nicht wegen der Geschichte] <<< hört sich dämlich an.

‚Bühnenreifes Starren hatte ich zumindest schon mal drauf. Bühnenreife Abgänge konnte ich noch besser. Hallelujah.’
Ich liebe das Zitat und das, was es widerspiegeln soll xD Scheiße, wie ich Ironie liebe! xDDD

‚»Das war alles so geplant und gewollt. Eine Selbststudie, für Sportwissenschaft, du weißt schon. Auswirkungen auf den Organismus und so. Alles easy.«’
Das ist die wohl kreativste Ausrede, die ich je gelesen habe! xD Aber ich mag den kurzen Satz danach am meisten. ‚Alles easy.’ Na sicher *lach*

»Eine Selbststudie für die Auswirkung auf mich«
So, nun komme ich also zum Ende. Geschlagen mit den eigenen Mitteln. Auch wenn es wirklich nur einmal hervorgehoben wurde, dass Vincent [ich liebe diesen Namen übrigens] sich für ihn aufopferte, war es doch schon… wie soll man das beschreibend. Passend? xD
Ich wäre partout für eine kleine Fortsetzung. Oder die Sicht der Dinge von Vincents Seite. =D

Wie dem auch sei, ich werde erstmal deine anderen Meisterwerke lesen und weitersehen. Das hier ist dir wieder mal gelungen – und wehe du sagst noch mal, dass dein Stil nicht gut genug sei Oo“ Schwachsinn.

Von:  Chiaya
2010-07-13T10:59:17+00:00 13.07.2010 12:59
oh die ff ist sooo süüüß, ich finde deine anderen ff's ja auch alle toll
*fan-flagge schwenk*
und die is dir auch super gelungen (gleich noch die andere les)
also falls du mal für ein verlag, hihihi würde ich toll finden
dein schreibstil, deine ideen - sind einfach immerwieder toll, und man kann sich das immer so bildlich vorstellen, wie so n filmchen, das sich beim lesen vor den augen abspielt ^^
eig. schreib ich nich gerne kommis xd, aber das is mal ne ausnahme xd

ich werd zwar auch noch ne ff hochladen, hoffe aber du gewinnst xd

ne echt du und karma ihr seid einfache toooollle autoren

bitte schreib noch viiiiel weitere shonen-ai ffs

lg hdl *knuddl* chiaya
Von:  Rajani
2010-07-12T08:16:42+00:00 12.07.2010 10:16
Aaaawwww wie süß ^^

irgendwie total niedlich obwohl das Ende ja etwas offen erscheint. Hast du mal darüber nachgedacht, an einen Verlag zu treten? Du hast das Potenzial dazu ^^

LG Rajani
Von:  Serial
2010-06-17T23:08:08+00:00 18.06.2010 01:08
schön, schön.
steh auf die zeitungsaktion. sehr originell. fein.
Von:  XxSnowDropxX
2010-06-12T21:03:16+00:00 12.06.2010 23:03
ah wie geil XD
lustig, ich bin regelrecht gestorben vor lachen =D

lg
Von:  nama-kuriimu
2010-06-12T17:14:10+00:00 12.06.2010 19:14
^^
Ich finds toll,lustig einfach supi!!!
Und ich sympatiere total mit Vico.
Ich hab auch ne kleine Schwester die Luisa heißt (ohne o ^^)
Ich weiß nicht obs am Namen liegt aber die kommt auch immer zu spät.
Auf die muss man ewig warten...

Aber zurück zur Sache.
Toll geschrieben.
Tolle Story.
Was will man mehr?!
Eben.
Nichts.
XD
Mach weiter so.

Liebe Grüße!!!
Von:  Kaleidoscope
2010-06-11T20:53:25+00:00 11.06.2010 22:53
Ich mag es. :)
Und Vico erst! Er ist cool, ob wohl er soooo neugierig ist.
Hafencity? Hamburg?! Nice. Ich mag deinen Erzählstil und deine Beschreibungen, sie sind nicht zu detailliert, sodass man sich selbst nichts mehr vorstellen kann, aber auch nicht zu grob, sodass man nicht mal weiß, wo sich die Charktere befinden, und das gibt es bei vielen Stories zu oft.
So hab ich mir natürlich gleich vorgestellt, wie Vico im Hamburger Stadtpark auf der großen Wiese hinter der Bühne gehockt hat und Vincent beobachtet hat, herrlich!
Lotsen bei den Chaostagen? Das kenne ich garnicht, bei uns treffen sich alle Abiturienten im benachbarten Park und saufen, ohne Beaufsichtigung ;) Dafür unter Beobachtung der Zweitsemester ;)
Ich habs genossen deinen One-Shot zu lesen :)
Und verzeih das zusammenhanglose Gebrabbel ;)
Von:  Ur
2010-06-11T17:54:56+00:00 11.06.2010 19:54
Ah, you win :D Wie toll das ist. Ich bin Feuer und Flamme für die beiden *g*

Am Anfang hast du ein paar Zeitsprünge drin, als du davon berichtest, was Vico schon alles über Vincent weiß (ein Name, den ich übrigens für eine Sidestory mit Max aus Kollateralschaden überlegt hatte. Mist).

Das Ende war klasse. Entschuldige das kurze, wenig konstruktive Geplänkel, aber ich bin grad am Tippen :)

<3


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