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Die Chroniken von Khad-Arza - Das Blut der sterbenden Welten

Erstes Buch
von

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Die Schatten des Ostens

Als Karana die Augen öffnete, wusste er nicht, wo er war. Stöhnend drehte er den Kopf zur Seite und versuchte, sich zu erinnern, was passiert war – es war helllichter Tag und die Sonne schien zu scheinen. Er lag im Schatten von irgendetwas, vielleicht einem Baum, dessen Geäst das Licht etwas von seinem Gesicht abschirmten. Sein Kopf schmerzte, sobald er versuchte, sich aufzurichten, so ließ er es gleich bleiben und blieb keuchend am Boden liegen. Unter ihm war saftiges Gras – als er hinauf sah, merkte er, dass er unter irgendeinem Gestrüpp lag, und er fragte sich empört, warum er hier in der Pampa lag... was war eigentlich passiert?

Beim zweiten Versuch gelang es ihm, sich aufzusetzen, und er stöhnte erneut und rieb sich die Schläfen. Wenn er es genau nahm, schmerzte nicht nur sein Kopf, sondern sämtliche Glieder, als wäre ein beladener Wagen über ihn gerollt. Seine Kleider waren dreckig und seine Hände schwarz von Ruß.

Moment, Ruß?

„D-das Feuer in Lorana...“, stöhnte er, „Es... das war kein Traum, es hat wirklich gebrannt... und Zoras war da, und... um Himmels Willen! Wo sind denn die anderen?!“ Er wollte die Geister nach dem Verbleib seiner Mutter und Geschwister fragen, aber die Antwort, die er erhielt, war zu real, um von Geistern zu stammen.

„Redest du immer mit dir selbst oder hat dich was am Kopf getroffen?“

Karana fuhr japsend vor Schreck herum und traute seinen Augen nicht, denn hinter ihm kroch niemand anderes als die schwarzhaarige Frau in das Gebüsch, die er vor dem Lianerdorf getroffen hatte – die, die wie Saidah aussah. Ihr folgte verblüffender Weise sein Hund, Aar. Doch das Tier war erst mal nebensächlich.

„Moment, du?! W-wie... wie kommst du denn hierher? Und, ähm... was zum Geier ist hier eigentlich los?“ Die Frau brummte, während sie sich neben ihn auf den Boden setzte. Ihr Gesicht glänzte und ihre Haare waren feucht. Vielleicht hatte sie gebadet, nach Schweiß roch sie jedenfalls nicht.

„Ja... ich.“, sagte die Schwarzhaarige dumpf und versuchte, mit den Fingern ihre langen Haare zu entknoten. „Du bist also endlich mal aufgewacht, Glück für dich. Du hast seit gestern Abend flach gelegen und ich habe schon gedacht, du wärst verreckt.“ Karana schnaubte.

„Hey, ich lebe noch! Aber, aber... w-wie kommst du her?! Und warum liege ich hier in einem... Busch?“

„Ich hätte dich auch am Wegrand liegen lassen können, dann hätte dich was überfahren und ich bräuchte mir dein Gequatsche nicht anzuhören.“, murmelte sie und Karana starrte sie an – dann grinste er amüsiert, seine Schmerzen ignorierend.

„Du hast mich gerettet?“

„Eigentlich nicht, nein. Ich habe dich in ein Gestrüpp geworfen und gewartet, ob du verreckst.“

„Du hast mich gerettet! Du musst nicht schüchtern sein...“ Sie strafte ihn mit einem kalten Blick aus den blauen Augen.

„Ich bin nicht schüchtern.“

„Wieso hast du mich dann nicht am Wegrand verrecken lassen?“

„Aus deiner Haut könnte ich schicke Schuhe machen und vielleicht kann man dich essen, wenn du nicht zu sehr nach geraspeltem Süßholz schmeckst.“ Damit erhob sie sich, soweit es im Gebüsch ging, und machte sich daran, wieder zu gehen.

„Warte!“, rief er ihr verblüfft nach, „Lauf doch nicht weg, ich... ich wollte dich ja nicht ärgern. Wir haben uns gar nicht vorgestellt. Ich bin Karana. Wie ist dein Name, Hühnerdiebin?“ Sie brummte.

„Was geht dich das an? Du bist am Leben, meine Arbeit ist getan. Ich verschwinde jetzt. Und halt deinen Köter fest, der ist mir nicht von der Seite gewichen, den kannst du behalten.“ Karana sah jetzt auf Aar, dann wieder auf die Frau – die gerade aus dem Gestrüpp kroch. Er japste und setzte ihr sofort nach, um sie vor dem Gebüsch einzuholen, aufzuspringen und sie am Arm festzuhalten.

„Ich hab mich doch noch gar nicht bei dir bedankt!“, machte er, „Wenn du nicht gewesen wärst, hätte Zoras mich-... Moment...“ Er stutzte, als ihm auffiel, von wo genau sie ihn gerettet haben musste; sie hatte ihn sicher nicht am Wegrand gefunden, denn er war nie an einem Wegrand gewesen. Das Letzte, an das er sich erinnerte, war Zoras... und seine furchteinflößende, grauenhafte Macht, die er nach ihm geschleudert hatte. Er schwieg einen Moment, bis die Fremde ihn ungläubig ansah und er sich verhalten räusperte. „Du... hast mich in Lorana vor Zoras gerettet, oder nicht? Wie sonst hätte ich diesen Zauber überleben sollen...?“ Er blickte ihr ins Gesicht, das lange reglos blieb, ehe sie genervt brummte.

„Ich konnte nicht zulassen, dass du gegrillt wirst. Oder pulverisiert, oder was auch immer dieser Kerl gemacht hätte.“

Karana hatte die dumme Angewohnheit, erst zu reden und danach zu denken. Er verfluchte sich einmal mehr dafür, als er ohne zu überlegen grinsend den Mund auftat.

„Mann, du stehst wohl auf mich...“ Zur Antwort schnaufte sie erst entrüstet.

„Träum' weiter. Du schuldest mir etwas. Du hast mir ein Messer geklaut, schon vergessen? Deswegen bin ich dir ja gefolgt. Bilde dir ja nichts darauf ein, ich würde jedes einzelne Messer lieber heiraten als dich, du eingebildeter Bonze.“ Er musste lachen.

„Ganz schön freche Klappe für eine dahergelaufene Hühnerdiebin. Ich könnte dich im Handumdrehen zerreißen... oder mir mit Gewalt holen, was Männer so von Frauen wollen, wenn du verstehst...“

„Da ich immer noch lebe, bin ich guter Hoffnung, dass du gleich angeben wirst, dass du aber ein viel netterer Typ bist und sowas nie tun würdest.“, sagte sie ungerührt und er schnaubte – Himmel, dieses Mundwerk war wirklich grauenhaft, was sollte er denn darauf antworten? Der Hund winselte und wuselte um Karana herum, während die beiden Menschen noch immer auf der Wiese standen und schwiegen.

„Wo sind wir hier?“, entschied der Schamane sich dann weise, das Thema zu wechseln, und die Frau seufzte.

„Keine Ahnung, kenne ich mich aus? Nachdem das Lianerdorf abgebrannt ist, hatte ich dort keine Nahrungsquelle mehr und musste sowieso weg. Aber keine Ahnung, wo wir sind. Ich hab dich aus dem anderen Dorf gezerrt und dann sind wir hier gelandet. Gibst du mir jetzt mein Messer? Dann kann ich nämlich gehen.“ Karana kicherte.

„Das wäre für mich ein Grund, es dir nicht zu geben, oder...?“

„Was willst du von mir, Bonze?“

„Na, hör mal, du bist doch mir nachgerannt und hast mich hierher geschleppt... da finde ich, dass ich mehr Recht auf diese Frage habe!“

„Ich will mein Messer.“

„Und ich deinen Namen. Oder soll ich dich weiterhin Hühnerdiebin nennen?“ Sie verdrehte die Augen.

„Iana!“, stellte sie sich knirschend vor, „Mein Name ist Iana. Reicht dir das jetzt?“ Karana betrachtete sie kurz, während sie ihn grimmig fixierte. Sie sah genauso aus wie beim letzten Mal, als er ihr begegnet war... und abgesehen von ihrer ungehobelten Zunge erinnerte jeder Zoll ihres Körpers ihn unweigerlich an Saidah... sie hatte ihre Haare, ihre Augen, ihre Hüften, ihre Brüste, sogar ihre Beine, und je länger er sie betrachtete, desto unangenehmer wurde ihm das Gefühl, sie anzusehen und genau zu wissen, dass sie eben nicht Saidah war. Nein, diese Frau hier würde nicht freiwillig unter ihm liegen und seine Geliebte sein... und sie war auch keine Geisterjägerin. Wobei der junge Mann die Macht, die ihr bloßer, kalter Blick ausstrahlte, betörend genug fand.

„Danke, dass du mich gerettet hast.“, sagte er jetzt ruhiger und neigte wohlerzogen den Kopf vor ihr. „Du hast was gut bei mir, Iana.“

„Ja, mein Messer zum Beispiel.“ Er seufzte... der Gedanke, sie gleich los zu sein, gefiel ihm nicht wirklich.

„Wohin willst du denn gehen, wenn ich fragen darf?“, begann er dann behutsam und sie zischte.

„Du darfst nicht fragen, nein. Gib mir einfach mein Messer zurück und verschwinde dahin, wo du hingehörst. Ist mir egal. Und hör auf, mich so anzugucken, das zieht bei mir nicht. Ich werde dir sicher nicht zu Füßen fallen und die Beine spreizen, wie es andere Frauen offenbar gerne für dich tun.“ Karana zog die Schultern hoch und gluckste verstört.

„Ähm, was... wie kommst du denn darauf?!“

„Ich hab dich gesehen mit der blonden Esoterikerin am Zaun. Glaub ja nicht, ich hätte das freiwillig beobachtet.“ Karana hustete. Oh, ja, die Seherin... wo die wohl steckte?

„Dann hättest du dich ja wegdrehen können!“, protestierte er, „Außerdem kann dir doch egal sein, was ich mit welcher Frau treibe.“

„Ist es, glaub mir, aber dann erwarte nicht, dass du bei mir eine Chance hättest. Mein Messer, Schamane.“ Brummend kapitulierte Karana und zog das Knochenmesser aus seinem Gürtel, um es ihr zu geben. Sie nahm es wortlos, steckte es ein und drehte sich ab, um grußlos davon zu gehen. Karana schnaubte, sprang ihr nach und hielt sie abermals fest.

„Warte doch, verdammt! Ich, ähm... weiß nicht wo ich bin und wohin ich soll, wir könnten doch ein Stück zusammen gehen. Keine Angst, Himmel, ich rühre dich ja nicht an und versuche auch nicht, bei dir zu landen...“

„Was hast du dann von meiner Gesellschaft?“, wunderte sie sich, „Und wieso weißt du nicht, wohin du musst?“ Er biss sich murrend auf die Unterlippe.

„Na ja, meine Heimat ist verbrannt worden und ich habe keinen Schimmer, wo meine Familie ist.“ Sie blieb stehen und Aar wuselte jetzt um sie herum, an ihren Beinen schnüffelnd und dann bellend. Schnaubend sah sie über die Schulter zu ihrem Verfolger.

„Was will dein dämlicher Geisterhund von mir?“

„Er mag dich.“, erklärte Karana grinsend, „Er ist schlau, sein Instinkt sagt ihm, dass du keine Gefahr bist, und offenbar machst du ihn neugierig.“ Iana sagte nichts und sah den Hund nur böse an, der um sie herum rannte und mit dem Schwanz wedelte. Karana nutzte den kurzen Moment, sich von der Frau abzulenken und an seine wirklichen Probleme zu denken. Lorana war verbrannt – er wusste weder, wo seine Familie war, noch, wo er war, noch, wohin er sollte. Seufzend schloss er flüchtig die Augen und versuchte zum zweiten Mal, die Geister um Rat zu fragen. Besorgt stellte er fest, dass sie nicht nur nicht antworteten, sondern dass sein Kopf vollkommen leer und still war... nicht einmal das schadenfrohe Kichern war zu hören, da war nichts. Nervös öffnete er die Augen wieder und sah nach links; was war los? Wohin waren die Geister verschwunden?

Antwortet mir!, befahl er empört in Gedanken, Ich bin der Sohn von Puran Lyra, der Sohn des Herrn der Geister und der Erbe des Lyra-Clans! Ihr habt mir zu folgen, Himmelsgeister!

Doch egal, wie energisch er dachte oder wie sehr er sich konzentrierte, er erhielt nicht einmal den leisesten Hauch von Geisterstimmen, was ihn sehr verwirrte.

Sie waren doch immer da... sie konnten nicht einfach verschwinden.

Sein Kopf begann wieder zu schmerzen und zischend fasste er nach seinen pochenden Schläfen, womit er Ianas Aufmerksamkeit zurückgewann.

„Was ist, stirbst du?“, fragte sie unbeeindruckt und er stöhnte.

„Die Geister, sie... sie sind einfach weg... das irritiert mich, wieso sind sie weg? Es... es ist, als... hätte sie jemand aus meinem Geist gefegt... wie kann das sein? Scheiße, mein Kopf fühlt sich an, als wäre er überfahren worden...“ Er sah die junge Frau vor sich die Stirn runzeln und schließlich das Gesicht senken. Lange schwieg sie – er hatte nicht den leisesten Schimmer, was sie dachte, und auch das war ungewöhnlich. Er konnte Leute ansehen und ihre Seele genau erkennen... entweder funktionierte es nur bei ihr nicht, oder es hatte damit zu tun, dass die Geister verschwunden waren...

„Ich werde es bestimmt bereuen...“, murmelte sie dann und zwang sich offenbar, kalt zu wirken, „Gut, verdammt, dann geh mit mir. Ich weiß auch nicht, wohin ich will, ich gehe einfach so lange, bis ich etwas zu essen finde. Hast du eine Ahnung, wohin deine Familie vielleicht geflohen sein könnte?“

„Keine Ahnung... m-mein Vater arbeitet... in Taiduhr, manchmal auch in Vialla beim König... vielleicht kommen wir... ja dahin...“ Sie sah ihn eine Weile an, schließlich trat sie zurück und nickte.

„Einverstanden, dann suchen wir nach deinem Vater. Ich habe keine Ahnung, wo Taiduhr oder Vialla liegen.“

„Ähm... also, da ich nicht weiß, wo genau wir sind...“, stöhnte er und sah sich um, „Vielleicht... gehen wir einfach und in einem Dorf wird man uns schon helfen können. Vialla ist die Reichshauptstadt, die kennt jeder!“
 

Iana fragte sich grummelnd, ob sie nicht einen großen Fehler gemacht hatte. Es war Instinktsache gewesen... wie vor dem brennenden Lianerdorf, als sie entschieden hatte, dem Mann zu folgen, worauf sie in seiner Heimat angekommen waren. Und von dort hatte sie ihn mitgenommen... und jetzt hatte sie ihn am Hals.

Sie versuchte, seine Anwesenheit zu ignorieren, während sie so dahin marschierte und gedankenverloren die alte Klinge ihres Vaters wieder hervor zog, die Schuld daran war, dass sie ihren Instinkten gefolgt war.

„Du siehst ihr ähnlich, der Frau, die mir die Schattenklinge vermacht hat... ihr Mann war Windmagier.“

Brummend linste sie zur Seite auf den seltsamen Mann, mit dem sie jetzt reiste auf der Suche nach irgendwo, wo er seinen Vater finden könnte. Natürlich hatte sie die Namen Taiduhr und Vialla schon gehört... aber dort gewesen war sie nie. Letzten Endes war die Idee, mit ihm zu gehen, äußerst eigennützig gewesen; wenn sein Vater so ein hohes Tier war, dass er beim König des Landes arbeitete, sprang vielleicht etwas für sie dabei heraus, wenn sie den verlorenen Sohn wohlbehalten heim brachte. Davon abgesehen, dass sie absolut keine Ahnung hatte, in welcher Richtung Vialla liegen könnte, sie hatte dem Süßholzraspler das Leben gerettet, als sie ihn aus dem brennenden Dorf geschleppt hatte. Sie fand, sie hatte eine Belohnung verdient – vielleicht konnte sie davon eine Weile leben, ohne Hühner klauen zu müssen.

„Hast du eigentlich keine Heimat?“, fragte Karana sie in dem Moment und sie fuhr zusammen, drehte sich zu ihm und hätte ihn vor Schreck fast mit ihrem Kurzschwert aufgeschlitzt. Er starrte sie dementsprechend entsetzt an. „Alter, kein Grund, mich gleich umbringen zu wollen, war bloß eine Frage...“

„Sieh mich an und streng dein Gehirn an, falls du eins hast.“, sagte sie kalt, „Sehe ich so aus, als hätte ich ein schönes, sauberes Haus und Diener?“

„Du bist so gehässig.“, schnaufte er, „Warum kannst du auf normale Fragen nicht einfach antworten, sondern musst immer gleich zickig werden?“

„Lass mich nachdenken. Dein Aristokratengesicht lädt mich einfach dazu ein.“ Zu ihrer Empörung feixte er.

„Weißt du, die wenigsten Leute, die ich kenne, haben Diener. Also, eigentlich fast keiner. Der König hat welche, ja, aber meine Freunde aus dem Dorf und alle aus der Gegend natürlich nicht... aber eine Heimat haben sie trotzdem. Und wenn es eine Lehmhütte mit Strohdach ist... ein Heim hat doch jeder, oder? Auch eine Hühnerdiebin, meine ich.“ Sie sagte nichts, sah wieder nach vorne auf die Wiese, die sie durchquerten, und spielte dabei wieder am Griff ihres Kurzschwertes herum.

„Nein.“, sagte sie dann dumpf, „Ich habe keine Heimat. Dafür hat man ja netterweise gesorgt.“ Sie sah, wie er sie ungläubig anstarrte, und um ihm zu zeigen, dass sie nicht die geringste Lust hatte, mit ihm über ihre Kindheit zu sprechen, drehte sie sich ab und änderte die Richtung. Zu ihrem Glück protestierte er nicht weiter und verstand ihre Geste offenbar, er folgte ihr nur schweigend mit dem schwarzen Monster von Hund an seiner Seite. Iana hatte in den Wäldern von Aduria schon Wolfshunde getötet, die sie angefallen hatten... es verblüffte sie ziemlich, dass ein so großes und gefährliches Tier einfach so brav an der Seite eines Mannes trottete und offenbar auf seine Befehle gehorchte. Er war nicht nur Windmagier... er musste ein ziemlich mächtiger Magier sein, wenn er es vermochte, ein Tier so unter seine Fuchtel zu zwingen.

Als die Stille zwischen ihnen erdrückend wurde, wagte sie, das Thema zu wechseln.

„Du sagst, du kennst den... König von Kisara persönlich? Ist das dein Ernst oder gibst du nur an?“ Er lachte.

„Das war mein voller Ernst. Wie ich sagte, mein Vater arbeitet für ihn – also, das tun viele, aber mein Vater ist sowas wie ein inoffizieller Vertrauter des Königs. Demzufolge waren wir natürlich schon öfter auf Festen und Banketten...“ Sie schauderte. Auch, wenn die Aussicht auf eine mögliche Belohnung dafür, dass sie diesem Kerl das Leben gerettet hatte, der augenscheinlich noch sehr viel wichtiger und hochrangiger war, als sie zuerst vermutet hatte, war der Gedanke daran, dass es Menschen gab, die über Feste mit dem König persönlich sprachen wie andere über das Wetter, irgendwie beängstigend. Das war nicht ihre Welt... war es nie gewesen. Sie hatte immer in einfachen Umständen gelebt... und dann in schlechten, als ihre Mutter gestorben war und die Lianer sie und ihren Vater aus dem Dorf verjagt hatten. Wer wusste schon, was sich jetzt ändern würde...?

„Was ist das für ein Schwert, das du da hast?“, hörte sie wieder die Stimme des Idioten und drehte den Kopf – er ging plötzlich dicht hinter ihr und lugte ihr dabei neugierig über die Schulter, und fluchend machte sie einen Satz zur Seite.

„Nicht so dicht, du Rüpel!“

„Ich hab doch gesagt, ich rühre dich nicht an.“, sagte er und grinste sie an, „Hast du Angst vor mir, Iana?“

„Dafür, dass du vorhin noch halb tot am Boden gelegen hast, bist du jetzt ganz schön frech.“ Sie steckte das Schattenschwert jetzt zurück in den Gürtel und brummte. „Das Schwert stammt von meinem Vater. Er hat es einst geschenkt bekommen und es mir vermacht, es ist ein gutes Stück, so viel ich weiß. Es... bedeutet mir viel.“ Damit hatte sie schon mehr gesagt, als sie hatte preisgeben wollen, und mit einem genervten Seufzen kehrte sie ihm abermals den Rücken, um den Weg fortzusetzen. „Und jetzt hör auf, zu quatschen, finde lieber heraus, ob wir richtig gehen!“ Er grunzte hinter ihr und beeilte sich, sie einzuholen.

„Das würde ich gerne, leider sind wir mitten in der Pampa und keiner Menschenseele begegnet, die ich hätte fragen können, grimmige Hühnerdiebin.“

„Frag doch die Geister.“, versetzte sie, „Du bist doch Schamane, oder nicht? Und wenn du so toll bist, wie du heraushängen lässt, sollte dir das ja nicht schwer fallen.“ Sie war verblüfft, als er darauf nichts entgegnete. Zuerst dachte sie, er würde sich jetzt tatsächlich auf die Geister konzentrieren und deshalb schweigen, aber als sie einen Blick über die Schulter warf, starrte er verbiestert auf seine Füße und schien über alle Maßen erzürnt zu sein über irgendetwas, das sie nicht begriff. Iana blieb unschlüssig stehen. „Was denn?“, fragte sie kalt, „Habe ich etwas was Falsches gesagt?“

„Nein...“, murmelte er, ging an ihr vorbei und trat dabei grimmig einen Kiesel über die Wiese, „Aber die Geister erzürnen mich... ich werde sie zerquetschen und dann werden sie... verdammt noch mal zu meinen Füßen kriechen und darum betteln, dass ich barmherzig sein solle...“

Seine Worte irritierten sie, als er einfach geradeaus weiter stapfte, ohne ihr weiter Beachtung zu schenken. Was war denn jetzt mit ihm los? Verwundert erfasste sie sicherheitshalber ob seiner eigenartigen Wut ihre Waffe, ohne sie richtig zu ziehen, und folgte ihm mit gehörigem Abstand.
 

Als es Nacht wurde und sie noch immer fern jeder Straße und jeden Dorfes zu sein schienen, rasteten sie an den Wurzeln eines alten, knorrigen Baumes mitten im Wald. Es war finster und am Himmel brauten sich die Wolken zu bedrohlichen Bergen zusammen, die böse auf sie herab blickten.

„Also, das hier sieht nicht aus, als wäre es in der Nähe einer großen Stadt.“, bemerkte die Hühnerdiebin verblüfft, als sie sich auf dem Boden zusammen kauerte wie ein kleiner Igel, um sich vor der heraufziehenden Kälte zu schützen. Karana stöhnte und rieb sich die Arme. Der Sommer war jetzt wirklich vorbei... und so sollten sie schlafen? Ohne Decke, mitten im Wald? Gut, dass Bruder Hund dabei war, um sie vor Raubtieren zu warnen. Wobei sie eigentlich in Thalurien nichts zu befürchten hatten abgesehen von Aars wilden Artgenossen eventuell. Falls sie überhaupt in Thalurien waren, hieß das. Karana hatte das Gefühl, sie waren hundert Meilen gelatscht und um sie herum war noch immer nichts als Pampa. Warum hatte diese dumme Nuss, mit der er unterwegs war, sich nicht die Himmelsrichtung gemerkt, in die sie ihn von Lorana aus geschleppt hatte? Er hoffte, sie waren auf dem richtigen Weg...

Murrend dachte er wieder an seine nicht funktionierenden Instinkte. Was war nur los? Seit er aufgewacht war, hatten die Geister unentwegt geschwiegen, sie taten es auch jetzt; und nicht nur das. Sein Orientierungssinn war wie weggeblasen, sein Instinkt für drohende Gefahren ebenfalls, was natürlich daran liegen konnte, dass im Moment keine Gefahr drohte... aber der Hund schien nervös zu sein, das war es, was ihn wirklich besorgte. Er linste unauffällig auf die Hühnerdiebin, die ihre langen Haare auseinander band und sich kurz schüttelte, um sich selbst flüchtig mit den Fingern zu kämmen. Es war faszinierend... wie konnte jemand, der so vollkommen anders aufgewachsen war als seine geliebte Saidah, ihr so ähnlich sehen? Dass sie tatsächlich eine Verwandte von Saidah war, war ausgeschlossen, sowohl seine Meisterin als auch ihre Eltern waren Einzelkinder gewesen, und dass sie ausgerechnet hier Verwandte hätten, wäre sehr erstaunlich. Eigentlich stammte der Clan der Chimalis aus dem Norden, aus Dokahsan, genau wie die Lyras, und auf eine seltsame Laune der Geister hin waren die Schicksale beider Clans schon seit Ewigkeiten immer und immer wieder vernetzt gewesen. Vielleicht war das auch der Grund, warum er sich so mit Saidah verbunden fühlte... sie war nicht einfach nur eine schöne Frau, die er begehrt hatte... die er immer noch begehrte, kam ihm, je länger er diese Fremde ansah, die ihr so ähnlich sah. Unruhig krallte er sich mit den Fingern in seine Arme, die er noch immer festhielt, als er es wagte, sie etwas intensiver anzusehen, und in sich dieselbe Flamme spürte, die schon vor dem Lianerdorf da gewesen war, die seine Lenden erhitzte. Er dachte nicht an Niarih oder an all die anderen Frauen, mit denen er sich jemals vereint hatte, in diesem Moment saß sie vor ihm, diese kaltherzige Person, die dieselbe Anmut und dieselbe, betörende Macht ausstrahlte wie seine Lehrmeisterin, von der er immer noch träumte, obwohl er genau wusste, dass er einen steinigen Weg vor sich hatte, wenn er sie jemals wiedersehen wollte. Und ihre Anwesenheit machte ihn nervös, sie verhinderte, dass er seiner irrsinnigen Gefühle länger Herr war, sie unterwarf ihn, indem sie einfach nur da war – der Gedanke erzürnte ihn gleichzeitig wie er ihn auch mehr erregte als alles, was er innerhalb des vergangenen Jahres so erlebt hatte...

„Willst du mich auffressen, oder wieso glotzt du mich so an?!“, riss ihre Stimme ihn zurück in die Gegenwart und Karana keuchte, ehe er zurückfuhr und merkte, dass sie ihn ansah. Sich räuspernd zog er die Beine an, in der Hoffnung, dass sie dank der Dunkelheit vielleicht nicht mitbekommen hatte, dass er bereits hart war vor Nervosität.

„Äh... nein...“, stöhnte er so nur und zwang sich, den Blick von ihr abzuwenden, wofür er sich innerlich ohrfeigte. Ein Teil von ihm hätte sie jetzt gerne gepackt, ihr die Kleider vom Leib gerissen und sie genommen, aber so richtig... der andere Teil in ihm, der das wohlerzogen verhinderte, war ihm neu. Es verwirrte ihn... wieso versuchte er nicht mal, sie zu umgarnen, damit sie schwach wurde, wie es bei allen anderen Frauen zumindest funktionierte?

Weil es bei Saidah auch nicht klappen würde... und sie ist... ihr Spiegelbild.

Iana räusperte sich, als er mit flammendem Gesicht auf die Erde starrte und versuchte, die Erregung zu verdrängen.

„Ich hatte dich was gefragt.“

„Was?“, murrte er, und sie zischte – sein Ton gefiel ihr vermutlich nicht, im Moment war es ihm egal – verdammt, sie war Schuld daran, dass er sich jetzt so um Beherrschung bemühen musste...

„Du bist doch Schamane. Kannst du nicht Feuer machen, damit es nicht so verflucht kalt ist?“ Jetzt sah er sie verblüfft an. Ja – daran hatte er gar nicht gedacht.

„Ja, klar-... also, na ja, wir brauchen Holz, aber dafür... gibt es ja Sura.“ Das Thema lenkte ihn ab – zaubern lenkte immer ab. Sie zog eine Braue hoch, was er im Dunkeln nur erahnen konnte, und er fixierte einen tief hängenden, dünnen Ast an dem jungen Baum gegenüber, ehe er die Hand danach ausstreckte, um ihn mit dem Schneidezauber zu Boden zu befördern... und die Welt in sich zusammenfallen zu sehen, als nichts geschah. „Moment.“, machte er, sah seine Hand an und dann den Baum, und er streckte sie erneut aus und rief: „Sura!“ Eigentlich waren die Namen der Zauber überflüssig – einst waren sie die Bezeichnung dessen gewesen, was sie bewirkten, in einer längst vergessenen Sprache des Altertums. Man konnte sie auch ohne Worte benutzen... aber meistens verstärkte es die Konzentration des Geistes auf eben den Zauber, den man anwenden wollte, wenn man seinen Namen benutzte. Auch mit dem Namen geschah nichts – nicht mal ein winziger Schnitt entstand, es passierte gar nichts.

„Was ist denn los?“, wollte seine Begleiterin wissen, „Hast du etwa das Zaubern verlernt, du Held? Na, das ist ja großartig. Jetzt renne ich mit einem Süßholz raspelnden Magier durch die Wälder, der nicht zaubern kann.“

„Ich kann zaubern!“, fluchte Karana, „Ich bin verdammt noch mal der Sohn des Herrn der Geister, ich kann sehr gut zaubern!“

„Ich würde dir kein Wort glauben, wenn ich nicht beobachtet hätte, wie du gestern Abend noch versucht hast, diesen kleinen Kerl mit den schwarzen Haaren zu grillen...“ Karana sprang auf.

„Zoras!“, schrie er und sie brummte verwundert, „D-der ist Schuld, Himmel! Was auch immer er da für Mächte entfesselt hat, sie... sie sind Schuld! Das kann doch nicht wahr sein, dieser... dieser Penner! Deswegen schweigen die Geister mich den ganzen Tag an, deswegen kann ich nicht zaubern, er... er muss irgendwas mit mir gemacht haben, das meine Verbindung zu den Geistern zerstört hat... Himmel, wenn ich den erwische, ich werde ihn sowas von zerfetzen, das... das... ich bringe ihn um!“ Er fing an, wie ein Irrer zu schreien und zu fluchen, selbst die Frau wagte nicht, sich einzumischen, sie beobachtete ihn bloß, während er im Kreis herum stampfte, schrie und schimpfte und Himmel und Erde verfluchte. Als er keine Stimme mehr zum Schreien hatte, fiel er auf die Knie, bohrte die Finger bebend vor Zorn in die Erde und schnappte wutentbrannt nach Luft.

Das ließ sich wieder richten. Seine Mutter war Heilerin, sie konnte das richten. Sie musste es richten können, oder er würde ihr bei lebendigem Leib alle Glieder ausreißen, wenn sie unfähig war, ihm seine Macht zurückzugeben... seine Macht, sein Erbe, alles, worauf er stolz war, wie sollte er denn Erbe des Lyra-Clans sein, wenn er nicht mehr zaubern konnte? Wie sollte er Geisterjäger werden und seine geliebte, einzige Saidah wieder sehen können, die er plötzlich mehr vermisste als jemals zuvor... die er mehr begehrte als jemals zuvor. Sie war sein, genau wie die Macht, und Zoras würde nicht wagen, ihm beides wegzunehmen... nicht Zoras Derran. Oh, er würde ihm dafür die Haut in Fetzen abreißen und sie an seinen Hund verfüttern, er würde seinen Gegner dabei zusehen lassen und sich daran ergötzen, wie er vor Qualen schrie und ihn anflehte, ihn endlich zu töten...

„Ich bringe dich um, Derran... ich bringe dich... verdammt noch mal um...!“
 

Die Nacht wurde rastlos. Iana wagte nicht, einzuschlafen, sie hatte Todesangst, dass dieser Verrückte sie in seinem Wahnsinn erdrosseln könnte, während sie schlief. Was immer in ihm vorgehen mochte, dass er aus irgendeinem Grund nicht zaubern oder mit den Geistern sprechen konnte, machte ihn verrückt. Es machte ihn wirklich verrückt, nicht einfach nur wütend... das sah sie ihm an, während sie am nächsten Morgen ihren Weg fortsetzten. Sie sagte nichts und er fluchte höchstens mal zu sich selbst oder beschimpfte die ganze Umgebung für sein eigenes Unglück. Sogar der Hund schien sein zorniges Herrchen zu meiden, er hielt sich dicht an der Frau und wich nicht mehr von ihrer Seite.

Warum war sie noch mal mit ihm unterwegs...? Ach ja, sie erhoffte sich eine gute Belohnung, wenn sie ihn heil irgendwo ablieferte. Langsam fragte sie sich, ob es das wert war, wenn sie fortan nicht schlafen könnte, aus Angst, er würde sie aus Wut umbringen. Dabei galt sein Zorn ja nicht ihr... aber wenn er schon Pflanzen zerfetzte,wollte sie sich nicht in Sicherheit wägen.

Die Geister mussten sie beide verflucht haben, dass sie kein Dorf und nicht mal eine Straße fanden, egal, wohin sie gingen. Es war bewölkt, daher wusste Iana nicht im Ansatz, wohin sie überhaupt liefen; aber Vialla schien nicht näher zu kommen. Sie wechselten immer mal die Richtung, in der Hoffnung, irgendwo ein verdammtes Dorf zu entdecken, aber nichts dergleichen geschah. Irgendwann tauchten zu ihrer Linken Berge auf, und Karana war felsenfest davon überzeugt, dass sie völlig falsch sein mussten – weder Vialla noch Taiduhr lag in den Bergen, behauptete er. Iana kannte beide Städte nicht und wusste es daher nicht besser, sie hoffte nur, dass sein Erinnerungsvermögen in diesem Punkt nicht so geschädigt war wie seine magischen Kräfte.
 

Nach vier Tagen der Reise nach irgendwo verwandelte sich Karanas Zorn in Frust. Er sagte jetzt gar nichts mehr, Iana sah es ihm nach und war heimlich beruhigt, dass er nicht mehr plötzlich mit Tobsuchtsanfällen aufwartete und sie anschrie, wenn sie es wagte, ihn anzusprechen. Als er zum ersten Mal wieder wirklich ein Wort mit ihr wechselte, rasteten sie in der Mittagszeit am Ufer eines kleinen Sees. Die Berge links waren verschwunden, dafür erhoben sich jetzt neue vor ihnen.

„Das kann doch nicht sein!“, nölte er, während er am Wasser hockte und sich brummend die Hände im eiskalten Wasser wusch, „Berge! Überall, wir müssen nach Kadoh gekommen sein... wir sollten südwärts gehen, weg von Kadoh, in Kadoh sind wir falsch.“ Iana kannte die Bergprovinz Kisaras vom Namen; ihr Vater war in Kadoh geboren und aufgewachsen. Der Gedanke daran, der Heimat ihres Vaters nahe zu kommen, erfüllte sie mit Wehmut... sie vermisste ihn sehr. Als ihre Mutter gestorben war, war sie noch klein gewesen und hatte es nicht richtig verstanden... aber der Tod ihres Vaters hatte sie verletzt. Er hatte sie alleine gelassen... auch, wenn sie wusste, dass er es niemals absichtlich getan hätte. Nein, Schuld waren die Lianer im Dorf, die ihr keine Medizin hatten geben wollen. Sie verfluchte die rassistischen Bleichgesichter grimmig bei dem Gedanken daran... es war recht so, dass ihr Dorf platt gemacht worden war.

„Bist du sicher?“, murmelte die Schwarzhaarige dumpf, während sie den großen Hund ansah, der neben ihr in der Sonne lag und faulenzte. Sie war erschöpft... das viele Gehen machte ihre Füße wund, sie hatte schon Blasen. Zu ihrem Ärgernis schien Karana trotz seines Zorns nicht so ausgelaugt zu sein wie sie; dabei war er doch der reiche Schnösel, der ansonsten vermutlich nur in goldenen Kutschen herum fuhr und Laufen nicht gewohnt war. Aber was wusste sie schon über ihn? Das Dorf, in dem er gewohnt hatte, hatte keinen besonders pompösen Eindruck gemacht... es war keine Heimat für Aristokraten, sondern ein simples, einfaches Dorf gewesen. Vielleicht war er nicht so ein Bonze, wie sie zuerst vermutet hatte, vielleicht ging er viel zu Fuß. Eigentlich wusste sie gar nichts über ihn, stellte sie beklommen fest, während sie ihre Stiefel auszog und ihre wunden Füße betastete. Sie kannte seinen Namen... und nicht mehr.

Als sie wieder zu ihm sah, hustete sie verblüfft, weil er plötzlich sein Hemd auszog.

„Was machst du da bitte?“, fragte sie ihn entsetzt, und er drehte sich dumm zu ihr um.

„Alter, ich will endlich ein verdammtes Dorf, ich hab mich seit Tagen nicht richtig gewaschen, ich stinke! Deswegen wasche ich mein Hemd, solange die Sonne noch scheint, kann es hier trocknen... vielleicht solltest du das auch mal probieren, waschen, Hühnerdiebin.“

„Soll das heißen, ich stinke?!“, fauchte sie und war empört über sich selbst, weil sie den Blick nicht von seinem so makellosen, nackten Oberkörper wenden konnte. Es war nicht so, dass sie niemals einen nackten Mann gesehen hätte... aber normalerweise fürchtete sie sich vor zu viel Nacktheit und wandte dann den Blick ab. Jetzt tat sie es nicht... und sie hasste sich dafür, ihn so unverfroren anzustarren. Sie war so beschäftigt damit, ihn zu betrachten, als er sich erhob und sich bewegte, dass sie nicht registrierte, dass er zu ihr herüber kam – sie merkte es erst, als er plötzlich viel zu dicht vor ihr hockte und das Gesicht nach vorne zu ihrem Hals beugte, dabei amüsiert grinsend. „W-was machst du da, geh mir vom Leib!“, keuchte sie nicht richtig überzeugend und schauderte heftig, als sie spürte, wie seine zerzausten Haare ihren Hals und ihre Wange kitzelten. Plötzlich hatte sie das Bedürfnis, ihre Waffe zu greifen, als er so nahe war – sie fühlte sich in die Enge getrieben, als er mit einer Hand ihr Kinn packte und es zu sich herum zog, den Kopf wieder hebend – und sie war unfähig, sich zu rühren, als er gluckste:

„Na ja, so richtig stinken tust du nicht, aber vielleicht merke ich es nur nicht, weil ich selber stinke. Aber deine Haut fühlt sich schön weich an... Iana.“ Sie stieß ihn zurück und sprang japsend auf die Beine, während ihr eine verräterische Röte ins Gesicht stieg.

„Geh mir vom Leib, sagte ich!“, empörte sie sich und versuchte, kalt zu bleiben, ehe sie sich um wandte und erzitterte bei der Erinnerung seines Gesichtes so unmittelbar vor ihrem eigenen. Er lachte hinter ihr und rappelte sich auch auf, um zurück zum See zu gehen und sein Hemd zu waschen.

„Haha, du hast Angst vor mir...? Komm, ich kann dir gar nicht gefährlich werden. Ich bin unbewaffnet und kann nicht mal zaubern. Schreckhaft wie ein Reh, dabei habe ich dich am Anfang für ganz schön skrupellos gehalten.“ Sie fuhr zu ihm herum und brummte.

„Verkneif dir das, Karana! Ich habe keine Angst vor dir!“ Und ehe sie wusste, was sie sagte, addierte sie kalt: „Du würdest nicht wagen, mich zu töten.“

Sie hatte keine Ahnung, warum sie es sagte, aber sein Kopf schnellte augenblicklich wieder zu ihr herum und er sah sie verblüfft an, ohne ein Wort zu sagen. Eine Weile verharrten ihre Blicke aufeinander, dann war er es, der sich keuchend wieder abwandte und ohne ihre Worte zu kommentieren weiter sein Hemd wusch und anschließend auch seinen nackten Oberkörper mit Wasser bespritzte. Sie drehte sich zur Seite und versuchte, ihn zu ignorieren. Sie hatte kein Problem damit, dass er halb nackt war... nur er war es, der ein Problem war.

„Du siehst ihr ähnlich, Akada... ihr Mann war Windmagier. Es war sicher ein Zeichen der Geister, dass du aussiehst wie sie... ein Zeichen, auf das hin du die Schattenklinge tragen sollst, meine Tochter. Deswegen haben wir dich Akada genannt... 'Himmelskind'.“

Sie zischte, als ihre Finger flüchtig über den Griff ihres kostbaren Erbstücks glitten, ehe sie den Kopf senkte. Sie zog an dem Oberteil ihrer simplen Kleidung und roch daran; der Kerl hatte recht, sie sollte sich auch dringend waschen.
 

„Verdammt, ist das kalt...“, fluchte Karana und schauderte bei dem eisigen Wasser auf seiner Haut, ehe er das nasse Hemd aus dem See fischte, es auswrang und schließlich auf einen Stein am Ufer zum Trocknen warf. Der Herbst kam; die Sonne schien noch ziemlich stark, aber wohl nicht mehr stark genug, um Wasser in Seen zu erwärmen. Bei Lorana war auch ein See gewesen, in dem hatte er mit seinen Geschwistern als Kind oft gebadet. Und als er älter gewesen war, hatte er da manchmal in Sommernächten mit den jungen Frauen geschlafen, die er in der kleinen Kneipe von Thuran aufgesammelt hatte... er vermisste die unbeschwerten Zeiten. Nicht nur den unbekümmerten Sex mit irgendwelchen Mädchen, deren Namen er am nächsten Tag wieder vergessen hatte, weil er zu betrunken gewesen war, als sie ihn ihm gesagt hatten, er sorgte sich auch um Neisa und Simu... selbst um Tayson. Wo die wohl alle waren? Hoffentlich ging es allen gut... der Gedanke, dass seiner süßen, kleinen Schwester etwas passiert sein könnte, war furchtbar. Karana seufzte und drehte sich zur Seite, um nach dem Hund und Iana zu sehen – und was er dann sah, ließ ihn seine Familie sofort vergessen, denn es war vermutlich das Letzte, was er jetzt gerade zu sehen erwartet hatte.

Der Hund pennte – aber die junge Frau, die hübsche Hühnerdiebin, die wie Saidah aussah, hockte jetzt am Ufer des Sees und wusch sich auch. Sie hatte ihr Oberteil ausgezogen und band das Tuch von ihrem Oberkörper, das ihre Brüste abband, damit sie sie nicht in ihren Bewegungen einschränkten. Er starrte sie an und fragte sich kurz, ob sie es gewohnt war, dass andere dabei waren, wenn sie sich halbwegs auszog, oder ob es ihr allen Ernstes nichts ausmachte, vor ihm ihre Brüste zu entblößen... und das tat sie, als sie das Tuch aufgebunden hatte und zum Oberteil ins Wasser des Sees fallen ließ, um es zu waschen.

Karana zitterte – aber jetzt tat er es nicht mehr wegen des kalten Wassers. Sie war wirklich wie Saidah – ihr ganzer Körper erinnerte ihn an seine Geliebte, allein ihre Brüste, von denen er den Blick jetzt nicht mehr wenden konnte, sie mussten in etwa dieselbe Größe und Form haben... sie war wunderschön... er stand erst wie angewurzelt, dass er anfing, sich zu bewegen, merkte er erst, als er fast neben ihr war, ohne dass sie jemals von ihrer Wäsche im See aufgeblickt hätte. Er starrte sie nur an und wusste nicht, was er machen sollte – sie war nicht Saidah. Und irgendwie war sie es doch... er verfluchte die Geister innerlich, dass sie ihm nicht antworteten und ihm einen Hinweis gaben, warum er sich zu dieser Frau so hingezogen fühlte, warum sie verdammt noch mal genauso aussehen musste wie Saidah... genauso sein musste. Es war nicht nur ihr Aussehen... obwohl sie keine Magierin war, soweit er wusste, hatte sie dieselbe Aura, eine vertraute, so weit entfernte Macht, die er so lange vermisst hatte... eine Macht, die ihn mit einem Blick aus ihren Augen in die Knie zwingen würde, das wusste er. Und er würde alles für sie tun in diesem Moment, jeden noch so kleinen Wunsch würde er ihr willig erfüllen, wenn er sie nur ein einziges Mal besitzen könnte... seine stolze, mächtige Schattenkönigin.
 

Sie erschrak sich nicht wirklich, als er sich mit einem Mal packte und sie umwarf auf den sandigen Boden des Ufers, wobei sie ihre nasse Wäsche aus dem See zerrte und fallen ließ. Es verblüffte sie, dass sie sich nicht erschrak... es war, als hätte sie im Inneren geahnt, er würde kommen... und dennoch hatte sie es nicht für ihn getan, ganz sicher nicht. Es war eine Laune der Geister...

Iana schnappte verwirrt über ihre eigenen Gefühle nach Luft, als er sich mit einem heftigen Keuchen über sie rollte, ihr Kinn ergriff wie zuvor, ehe er sich herab beugte und sie heftig küsste. Sie war noch nie von einem Mann geküsst worden... es war seltsam, aber sie wollte sich nicht wehren, obwohl ein Teil ihres Geistes danach schrie, die Waffe zu packen und ihm den Kopf abzuschlagen... bevor er sie brach mit seiner verdammten Anwesenheit... und der Hitze, die sie durchfuhr wie ein Blitzschlag, als sie seine Hände spürte, die ihre Brüste streichelten und vorsichtig drückten, während er mit der Zunge über ihre bebenden Lippen glitt und den Kuss intensivierte, als sie den Mund öffnete, ohne wirklich darüber nachzudenken, was sie tat.

Sie hatte Angst – sie verabscheute ihn und sich selbst für das, was er tat und dafür, dass sie es zuließ, aber gleichzeitig war es auf eine so verbotene, grauenhafte Weise angenehm, dass sie das Gefühl hatte, sie müsste brechen. Hustend drehte sie den Kopf zur Seite und errötete, sich aus dem Kuss lösend, und sie keuchte gleich noch mal, als sie ihn über sich heftig atmen hörte und dann spürte, wie er ihren Hals zu küssen begann, während er sich unruhig zwischen ihre Beine drängelte und sich gegen ihren Unterleib presste. Zitternd riss sie die Hände empor und drückte sie gegen seine Brust, nicht wissend, ob sie ihn damit weg stoßen wollte oder nur das Bedürfnis hatte, ihn zu berühren... seine Haut fühlte sich angenehm an, genau wie das Knistern unter ihren Fingern, das ihr so vertraut und doch so fremd vorkam... wie konnte es vertraut sein? Sie hatte noch nie mit einem Mann verkehrt... und sie kannte diesen Typen erst wenige Tage. Und trotzdem fühlte es sich plötzlich an, als sie unter ihm lag und er sie verlangend küsste, als würde sie ihn schon Jahre kennen... als hätte sie auf diesen einen Moment gewartet, ihn auf diese Weise berühren zu können. Er zitterte über ihr, als sie mit den Händen unschlüssig über seine Brust und hinab wanderte, dann wieder hinauf, zu seinen Schultern und seinem Gesicht, bis sie ihre Finger bebend in seinen braunen Haaren vergrub in dem Moment, in dem er sich über ihren Busen beugte und ihre nackten Brüste mit der Zunge berührte. Keuchend lehnte sie den Kopf zurück und wollte schreien darüber, dass sie nicht wusste, was sie tun sollte – sie wollte ihn umbringen dafür, dass er sie so beschämte, sie wollte ihn zerreißen dafür, dass er sie so unwürdig da liegen ließ, und sie wollte ihm die verdammte Hose vom Leib reißen und ihm ins Gesicht schreien, er sollte sie nehmen, wie er es begehrte... ein ungehaltenes Fluchen entrann ihrer Kehle, als sie sich unter ihm wand und versuchte, ihren Geist aus dem betörenden Gefühl zu befreien, das er in ihr auslöste, bis sie keuchend seinen Namen in den Himmel schrie – in dem Moment hörte er auf und setzte sich augenblicklich aufrecht hin.

Die Frau schnappte nach Luft und errötete, als sie in sein ebenfalls erhitztes Gesicht blickte und in seinen Augen das Begehren sah, nach dem sie sich gerade noch gesehnt hatte – jetzt fürchtete sie sich plötzlich davor und keuchte heftig, ehe sie sich unter ihm wand und ihn mit einem heftigen Schlag gegen die Brust von sich herunter warf. Karana hustete und sie sprang auf die Beine, mit den Armen ihre baren Brüste verdeckend.

„Bleib mir vom Leib...“, war alles, was sie zwischen den bebenden Lippen hervor brachte, und ihre blauen Augen fixierten die seinen mit einer unausgesprochenen, aber eindeutigen Warnung. Er rieb sich die Brust an der Stelle, wo sie ihn geschlagen hatte, und zischte ebenfalls, ehe er sich aufrappelte. Er hatte seine Fassung schneller wieder als ihr lieb war, und sie keuchte, als er auf sie zu kam, dann aber seelenruhig, als wäre nie etwas geschehen, an ihr vorbei marschierte, zurück zum Hund und dem Stein, auf dem sein noch nasses Hemd lag.

„Du wolltest es...“, raunte er, als er direkt neben ihr war, in seiner Stimme ein Hauch des Triumphs, gemischt mit dem Zorn darüber, dass sie ihn weggestoßen hatte; dabei war er es gewesen, der zuerst aufgehört hatte. „Und wenn es nur für einen Moment war, du wolltest es... sonst hättest du nicht zugelassen, dass ich dich so ansehe...“ Er grinste amüsiert, als sie ihm vor die Füße spuckte.

„Du hast noch nicht gewonnen, Karana Lyra. Ich werde dich zerreißen, wenn du es wagen solltest.“ Damit zog sie sich wieder an, obwohl ihre Kleider noch nass waren, und kehrte ihm den Rücken. „Wir haben keine Zeit, länger zu rasten. Ich will dich so schnell wie möglich loswerden, also beeile dich.“

„Es ist mir doch ein Vergnügen, Euren Wünschen nachzukommen, gnädige Königin.“, feixte er mit einer übertrieben spöttischen Verneigung, und sie fauchte ihn an wie eine wütende Raubkatze. Sie konnte ihn nicht einschüchtern... das behagte ihr nicht. Sie zischte wütend, als sie beobachtete, wie er sich auch wieder anzog und dabei mit seinem Hund redete, der nicht wirklich Lust zu haben schien, sich zu regen. Plötzlich hasste sie sich... sie fühlte sich dreckig, als sie daran dachte, dass sie gerade noch unter ihm gelegen und genossen hatte, was er getan hatte. Warum eigentlich? Nur, weil er ein hübscher Mann war? Sie schauderte in den nassen Kleidern, während sie die Geister verfluchte über das grauenhaft vertraute Gefühl in ihrem Inneren... wie konnte es sich vertraut anfühlen? Etwas in ihr wollte es wieder erleben... etwas in ihr wollte ihn festhalten und dafür sorgen, dass er niemals wieder von ihrer Seite wich. Der Rest von ihr wollte ihn am liebsten eine Klippe hinunter stoßen dafür, dass er es wagte, sie so um den Finger wickeln zu wollen...
 

Als sie endlich zum ersten Mal ein Dorf erreichten, war seit dem Zwischenfall am See bereits wieder ein Tag vergangen. Karana dankte den Geistern von Himmel und Erde trotz ihrer Dreistigkeit, ihn immer noch anzuschweigen und ihm selbst die Grundzauber zu verwehren; ein Dorf würde sie retten, sie bekämen vielleicht Nahrung, Wasservorräte – die er normalerweise nicht brauchte, solange er zaubern konnte, da das aber flach fiel... - und vor allem eine Auskunft, wo sie eigentlich waren, so hoffte er... und er sollte sich irren.

„Was ist das für ein Monster, das ihr da mitbringt?!“, empörte der Wächter vor dem Eingang des Dorfes sich und Karana verdrehte die Augen, während Aar beleidigt winselte und den Schwanz einzog. Verdammt, wieso stellten sich alle so an wegen des Hundes?

„Er gehört zu mir und ich schwöre, dass er niemandem ein Haar krümmen wird.“, sagte der Schamane so also etwas genervt, „Er hört auf meinen Befehl. Wir waren viel unterwegs, könnten wir bitte ins Dorf und uns ausruhen...?“

„Könnt ihr denn bezahlen?!“, empörte der Wächter sich weiter, „Umsonst gibt es nur den Tod, Junge!“

Junge!“, zischte Karana, „Ich bin ein Mann, und wenn du weiter in diesem Ton mit mir redest, zeige ich dir, wie umsonst du hier deine Worte verschwendest! Mein Vater ist Senator in Thalurien, der wird euch entschädigen, sobald er mich wieder hat, das schwöre ich auch.“ Er sah die Hühnerdiebin neben sich skeptisch dreinschauen, ignorierte sie aber. Der Wächter lachte.

„Ach ja, genau. Und ein Sohn eines Senators rennt natürlich vor Dreck strotzend durch die Wildnis... mit einer Bestie an seiner Seite. Ich glaube dir kein Wort.“

„Irgendwie verschwören sich in letzter zeit alle Wachmänner gegen mich.“, empörte sich der Jüngere grantig, und Iana neben ihm seufzte.

„Vergebt ihm seine Grobheit.“, sagte sie erstaunlich höflich und Karana starrte sie fassungslos an, als sie sich vor dem Wächter kurz verneigte. „Dann gehen wir eben wieder. Vielleicht könnt Ihr uns aber sagen, wie wir nach Vialla kommen...“ Zu Karanas Entsetzen lachte der Mann.

„Was, Vialla? Das ist sicher meilenweit weg, ich war nie dort! Folgt einfach der Straße.“, sagte er und zeigte auf den Weg, der vom Dorf weg führte, „Alle Straßen führen nach Vialla, habe ich gelernt. Vielleicht rennen in der Reichshauptstadt ja mehr Penner mit Wölfen herum, die behaupten, ihr Vater sei Senator... ja, klar, mein Vater ist der König von Intario.“ Karana zischte und fletschte wütend seine spitzen Eckzähne, worauf der Mann zurückfuhr, ehe Iana ihren Begleiter am Arm packte.

„Reiß dich zusammen. Gehen wir, oder willst du hier länger deine Zeit verschwenden?“ Karana fluchte ungehalten in Richtung des Wächters, dann ließ er sich gehorsam von der hübschen Frau mit ziehen, den Weg hinab, bis sie außer Sichtweite des Dorfes waren.

„Wenn ich jetzt zaubern könnte, würde ich ihn mit einer Katura zerfetzen!“, wütete Karana und riss sich aus Ianas Griff los, als sie stehen blieb und wieder hinauf zum Dorf spähte.

„Sei ruhig, du Idiot! Ich habe jahrelang meine Nahrung ohne Erlaubnis aus einem Dorf geholt, das wird hier genauso funktionieren wie im Lianerdorf. Beim nächsten Dorf binden wir deinen Köter irgendwo fest und sind freundlich, vielleicht wird das dann was.“

„Schreibe mir nichts vor, Hühnerdiebin!“, grunzte er verärgert, „Ich bin der Sohn des Herrn der Geister, es ist eine Schande, wie dieser Armleuchter mit mir geredet hat!“

„Kannst du irgendwie beweisen, dass du das bist?“, fragte sie genervt, „Das kann ja jeder erzählen, du Trottel. Und du siehst wirklich nicht so aus, als wärst du besonders wohlhabend.“ Er brummte und sah an sich herunter – dummerweise hatte sie recht. Von der langen Reise waren seine Kleider trotz des Waschens im See noch immer abgenutzt und wirkten nicht sehr vornehm; sein Ärmel war an einer Stelle zerrissen und seine Hose hatte am unteren Saum auch einen Riss. Karana zwang sich grimmig, Ruhe zu bewahren, obwohl er innerlich vor Zorn kochte und am liebsten die ganzen Maden in diesem dämlichen Dorf zerfleischt hätte, dass sie es gewagt hatten, ihn dermaßen zu demütigen. Dafür war jetzt keine Zeit und die Macht hatte er jetzt nicht.

„Dann geh!“, brummte er in Ianas Richtung, während er sich in dem Gestrüpp am Wegrand, in dem sie angehalten hatten, auf den Boden fallen ließ und begann, verdrossen seinen Hund am Nacken zu kraulen. „Besorge was zu essen und komm dann wieder. Ich bin dazu ja offenbar unfähig.“

„Beleidigte Leberwurst.“, war ihr Kommentar, und mit einem letzten Blick auf ihn und den Hund verschwand sie in die heraufziehende Dunkelheit.

Der Hund beobachtete seinen Herrn mit wachsamen, blauen Augen. Karana wusste nicht, was Aar ihm damit sagen wollte. Normalerweise konnte er die Gedanken des Tieres erkennen und es wohl auch seine, so kommunizierten sie seit einigen Jahren. Aber seit er aus Lorana fort war, konnte er weder seinen Hund verstehen noch zaubern noch hatte er die leiseste Ahnung, wo sie waren.

Alle Straßen führten nach Vialla.

Das war einfach gesagt, wenn man aber die falsche Richtung einschlug, führten alle Straßen von Vialla weg...

Karana spürte seinen Kopf brennend zu schmerzen anfangen, als er versuchte, sich auf die Geister zu konzentrieren. Es war schlimmer geworden... nicht nur, dass sie schwiegen, jetzt schienen sie sich auch noch dagegen zu wehren, dass er versuchte, sie zu erreichen.

„Verdammt, dass ihr es wagt...“, stöhnte er und keuchte, als der Schmerz heftiger wurde und er hustend gänzlich zu Boden sank, wo er liegen blieb und das Winseln des besorgten Hundes ignorierte. „Dass ihr... es wagt, mich so... in die Knie zu zwingen... i-ihr gehorcht meinem Vater doch auch! Warum verwehrt ihr mir plötzlich... eure Stimmen, Geister...?! Es macht mich wahnsinnig... d-diese verdammte Ohnmacht macht... mich wahnsinnig!“ In dem Moment war es, dass er tatsächlich ein weit entferntes, dumpfes Zischen zur Antwort bekam. Er verstand die Worte nicht, sie waren zu weit weg, er hörte sie nur durch eine dicke Wand aus Schatten hindurch, die sich um seinen Geist geschlossen zu haben schien.

„Sprecht mit mir...!“, jammerte Karana und war entsetzt über sich selbst, weil er plötzlich das Bedürfnis hatte, zu heulen wie ein kleines Kind. Der Schmerz in seinem Kopf wurde so heftig, dass er ihn blendete, und die Augen zusammen kneifend stöhnte er auf und griff sich heftig keuchend an die Schläfen. Aar jaulte. „T-tut... doch was, Geister... sagt mir, was ich tun soll... damit ihr zurückkehrt! Sprecht mit mir... und ich werde... euch demütig zu Füßen liegen und um Verzeihung bitten... wenn ihr es... so wünscht! Ihr, die Schöpfer von Tharr, die Schöpfer... des ganzen Dreiweltenbündnisses Khad-Arza... Vater Himmel und Mutter Erde! Sprecht... mit mir...“ Die Finsternis fiel vor seine Augen, obwohl er sie wieder öffnete, und Karana keuchte, als er vor sich Zoras Derrans Gesicht erkannte – als er plötzlich zurückversetzt war an jene Nacht, in der Lorana gebrannt hatte, ihm gegenüber dieser Mann, mit einer so gespenstischen, grauenhaften Macht des Todes, die er beschworen hatte... mit der er Karanas Geist verwirrt hatte und die Geister aus ihm vertrieben hatte.

„Knie, Karana... so, wie du es sonst immer verlangst! Demut sollen sie dich lehren, die fürchterlichen Krähen, die nur den Großkönigen gehorchen... fürchtest du dich?“

So hatten die Schattenvögel gesprochen... Karana keuchte, als sich in ihm alles schmerzhaft zusammenzog bei dem Gedanken... oder der Erkenntnis, die ihn heftiger traf als der Schattenzauber damals.

Schattenvögel. Die Geister der Todesvögel... ich kenne ihre Macht von jemandem anderes... wie ein Schatten über... meiner Seele schweben sie, immerzu, und sie werden niemals fortgehen.

Als die Finsternis verblasste und der Schmerz in seinem Kopf ihm einen grauenhaften Stich versetzte, der ihn aufschreien ließ, sah er Ianas Gesicht vor sich – ihr hübsches, bleiches Gesicht, ihre so kaltherzigen, blauen Augen, die er so sehr begehrt hatte... die er in diesem Moment wieder begehrte. Und er wollte aufspringen, er wollte sich auf sie stürzen und sie nehmen, ihr die Kleider vom Leib reißen und sie berühren, wie ein Mann seine Frau berühren sollte. Sie war sein, dafür würde er sorgen, denn die Geister hatten sie aneinander gebunden, sodass sie nicht fortlaufen könnte. Er sah, wie sie den Mund bewegte, aber kein Laut kam aus ihrer Kehle, in seinem Kopf schwirrte nur das schmerzhafte Pochen umher, das er nicht einordnen konnte.

„Saidah!“, japste er und spürte, wie das Feuer des Schmerzes sich in Feuer der Erregung verwandelte, je länger er sie anstarrte, je länger er zurückdachte an die Zeit, in der sie willig unter ihm gelegen hatte und sein gewesen war... sie würde es wieder sein, dafür würde er sorgen, und wenn er sie töten musste, sie würde sein sein! Er erhob sich, oder zumindest dachte er, dass er es täte, um sie zu packen und sie zu Boden zu reißen, um sich mit ihr zu vereinen und sie zu seiner Frau zu machen – dann kamen die Geisterstimmen zurück durch die dicke Schattenwand, und sie lachten ihn aus.

„Demut, Karana.... werden sie dich lehren, und dann wird das Himmelskind dir folgen.“

Er konnte die Worte nicht verstehen – im nächsten Moment spürte er einen Schlag ins Gesicht und wie ihn jemand packte, zu Boden stieß und sich dann ein Gewicht auf ihm ablegte, das ihn gemeinsam mit dem Schmerz zurück in die Realität katapultierte.
 

Es tat weh; er wusste nicht genau, ob es sein Kopf oder irgendetwas anderes war, das schmerzte, und es war ihm auch egal, als er die Augen öffnete und sah, dass die Frau rittlings auf seinem Unterleib saß und ihn empört anschnaubte.

„Bist du noch am Leben?!“, murrte sie, als sich sein Blick klärte, und Karana hustete leise, sah an ihr herunter und zwang sich, die vorangegangene Erregung zu vergessen. Es war nicht leicht, als er ihr wieder ins Gesicht sah und keuchend die Luft einzog. Sie war hübsch... sie war wie seine geliebte Saidah, genauso vollkommen, in ihrem Gesicht dieselbe Anmut, dieselbe Mischung aus kalter Distanz und Begehren...

Dieselbe Macht, die Saidah ausgestrahlt hatte, als sie ihn gelehrt hatte.

Er schauderte, als Iana sich über ihn beugte und mit den Fingern sein Kinn hochzog, dabei etwas Gewalt anwendend – er spürte die Schmerzen kaum, er konnte ihr nur fassungslos über die unmögliche Ähnlichkeit ins Gesicht sehen... fassungslos darüber, dass sie die gleiche Anziehungskraft auf ihn hatte wie Saidah, die er ursprünglich für die einzige Frau auf der Welt gehalten hatte, die das vermochte. Niemals hatte er geglaubt, er würde einmal noch eine treffen, die ihn genauso zu Boden zwingen könnte.

Nur war es in diesem Fall etwas Gutes, am Boden zu sein. Es lohnte sich.

„Sieh mich an.“, verlangte die Frau über ihm grimmig, „Du scheinst ja lebendig zu sein. Ich dachte, du krepierst.“ Karana keuchte; allmählich löste er sich aus seiner Starre und hüstelte dann. Langsam linste er an ihr herunter – während sie sich so über ihn beugte, hatte er den perfekten Blick in ihr Dekolletee, was ihm ziemlich gut gefiel... sie vereitelte seinen Versuch, mehr zu sehen, indem sie sich plötzlich erhob und ihn anstieß.

„Steh auf, oder willst du hier schlafen? Ich habe uns etwas zu essen besorgen können. Sind nur ein paar Nüsse und eingelegtes Obst, aber besser als nichts.“ Karana japste und fasste nach seinem Kopf, ehe er sich vorsichtig aufrappelte. Es schmerzte immer noch...

„Wie lange warst du weg?“, murmelte er, „Wie... wie lange habe ich denn hier herum gelegen?“

„Keine Ahnung, als ich kam, lagst du da und zucktest vor dich hin. Haben die Geister etwa wieder gesprochen?“ Karana antwortete nicht. Ja, sozusagen... aber wirklich weitergeholfen hatten sie ihm auch nicht.

Demut... sollte er demütig am Boden kriechen, damit die Geister zu ihm zurückkehrten?

Vergesst es.

Für diese Gedanken wurde er mit einem stechenden Schmerz im Kopf gestraft. Zischend rappelte er sich auf die Beine und fuhr zu seiner Begleiterin herum, die ihm den Rücken kehrte und offenbar die Vorräte untersuchte, die sie gestohlen hatte.

„Wir sollten jedenfalls weg von hier, bevor die was merken und uns jagen. Wo du ja nicht zaubern kannst...“ Im selben Moment packte er sie unsanft am Oberarm, sodass sie den Sack mit den Nüssen fallen ließ, und als sie das Gesicht zu ihm drehte, stierte er sie giftig an und fletschte drohend die Zähne.

„Sprich nicht so mit mir... hüte dich, Frau.“ Dann ließ er sie unsanft wieder los und machte sich auf den Weg nach irgendwo, da ja alle Straßen nach Vialla führten. Iana zischte ebenfalls, ehe sie ihm nachsetzte und ihn am Ärmel zurück riss.

„Hör dich mal reden, du Affe!“, fuhr sie ihn an, „Gut, dass du mich daran erinnerst, dich nächstes Mal liegen zu lassen, wenn du verreckst!“ Karana sah sie groß an – und plötzlich war der Zorn aus seinem Gesicht verschwunden, als hätte man einen Hebel betätigt. Iana ließ ihn unschlüssig los, während er sich räusperte und sich nervös durch die Haare fuhr.

„Entschuldige...“
 

Iana wunderte sich über den Kerl. In einem Moment war er so ein Dreckskerl und wollte, dass die ganze Welt ihm zu Füßen lag, und dann, manchmal, war er plötzlich überhaupt nicht mehr so. Fest stand, man konnte normal mit ihm reden – sofern er nicht gerade wieder seine Ich-bin-der-Herr-der-Welt-Phase hatte. Je länger sie mit ihm unterwegs war, desto seltsamer war es... manchmal hatte sie das Gefühl, wenn sie ihn ansah, ihn ewig zu kennen. Dabei war das nicht möglich... und dennoch fühlte sie sich, solange sie mit ihm zusammen war, als wäre sie am richtigen Platz... als hätten die Geister des Schicksals nur darauf gewartet, sie an seine Seite zu führen.

Sie hasste sich für diese Instinkte und versuchte, sie zu verdrängen. Sie hasste es, sich aus einem Grund, den sie nicht kannte, zu ihm hingezogen zu fühlen, weil es nichts an ihm gab, das sie gereizt hätte... und doch schien es ja irgendetwas zu geben, das in ihr das heimliche Verlangen schürte, wie am See neulich unter ihm zu liegen und seine Frau zu sein. Sie klammerte sich nachts an ihre Schattenklinge, als wüsste das Schwert, das ihr Vater ihr vermacht hatte, irgendeine Antwort auf ihre unausgesprochenen Fragen, auf die Verwirrung, die in ihr hauste, seit sie diesem komischen Mann begegnet war, der doch ein so großer und mächtiger Magier zu sein schien und trotzdem nicht zaubern konnte, diesem Mann, der zwei Gesichter hatte, von denen sie eines abstieß und das andere sie anzog. Zu ihrem Glück war er öfter ein Arschloch als nett... so gab er ihr keine Gelegenheit, ihrer Versuchung nachzugeben.

Sie beobachtete Karana manchmal, während er schlief; sein Gesicht war unnatürlich hübsch, aber sein Körper war, soweit sie das erkennen konnte, trotz makelloser Haut noch eher von der Statur eines heranwachsenden Jungen als von der eines muskulösen Mannes. Er war dünn, obwohl er zweifelsohne genügend zu essen bekommen musste, wenn sein Vater tatsächlich Senator war. Sie hätte spätestens jetzt geglaubt, er hätte sie damit angelogen, wenn sein Verhalten nicht so typisch für einen verwöhnten Jungen aus viel zu reichem Hause war. Er war gewohnt, zu bekommen, was er wollte, und wenn er es nicht bekam, wurde er zornig. Er bildete sich ein, besser zu sein als andere, und war verwundert darüber, wenn man ihm das nach tagelanger Reise und in dreckigen Kleidern nicht mehr abkaufte. Alles an ihm war so aristokratisch, er war zweifelsohne ein verzogener, verwöhnter Prinz. Iana fragte sich, wie wohl Karanas Eltern waren; ob die noch schlimmer waren als er? Wieso war er so dürr, wenn er doch genug zu essen bekam? Verhältnismäßig hatte ja selbst sie beinahe mehr Fleisch auf den Rippen als er, dabei war sie obdachlos und musste sich ihr spärliches Essen stehlen, um leben zu können... Sie ließ ihren Blick einmal über seinen Körper schweifen, während er neben ihr an einen Baum gelehnt hockte und vermutlich schlief. Iana wusste nicht, wie lange sie schon liefen... wie lange es her war, dass sie dieses Dorf passiert hatten. Es war ungewöhnlich warm geworden, während sie nach Süden marschiert waren; zuerst waren sie der Straße gefolgt, dann hatte diese Straße sich aufgelöst und schließlich war nichts mehr davon übrig gewesen als ein Trampelpfad, der sich dann im feuchten Wald verlaufen hatte. Jetzt saßen sie hier in diesem seltsam feuchten und warmen Wald und er schlief, während sie gemeinsam mit dem schwarzen Hund wach lag und ihn beobachtete. Nein, es war nicht wirklich sein Körper, der sie anzog, stellte sie grübelnd fest, und sie runzelte die Stirn, nicht wissend, was das alles zu bedeuten hatte. Es war eine Instinktsache... ihr Geist zog sie einfach zu ihm, ohne dass sie verstand, wieso überhaupt.

Sie erschrak beinahe zu Tode, als er mit einem Mal sprach.

„Was ist mit deiner Familie passiert, Iana?“

Die Frau fuhr auf und starrte ihn an. Er hatte die Augen geöffnet, ansonsten aber nichts gerührt, jetzt sah er gen Himmel; oder mehr zu den Wipfeln der Bäumen. Die junge Frau seufzte leise, als sie ihn musterte und der Schrecken von ihr ab perlte wie Wasser an mit Fett eingeriebener Kleidung. Er sah sie nicht an... aber sie spürte, dass es tatsächlich seine höfliche Seite war, die mit ihr sprach. Die Seite, mit der zu reden sich lohnte.

„Sie sind gestorben.“ Karana rührte sich nicht, erst nach einer Weile drehte er müde den Kopf.

„Das tut mir leid... ich habe so etwas aber irgendwie geahnt.“

„Was meinst du damit?“

„Du bist so verbittert, so sind doch diese Leute, die keine schöne Kindheit hatten.“ Sie brummte.

„Na, wenn du das sagst, du kennst dich sicher prima aus. Weil du so viel Erfahrung hast, da deine Eltern ja noch leben.“

„Ich frage mich immer, was Kurzhöschen passiert sein mag, seine Eltern leben nämlich noch, und er ist trotzdem so unglaublich verbiestert.“

„Du kannst auch sehr verbiestert sein, Karana.“

„Ich?“ Er sah sie an und grinste blöd, „Nein, ich bin nicht dauerhaft schlecht gelaunt.“

„Wer ist Kurzhöschen?“, fragte sie dann und er lachte.

„Der Idiot, vor dem du mich retten musstest... echt peinlich, normalerweise stehe ich über ihm.“

„Natürlich. Hätte mich auch gewundert.“, sagte sie sarkastisch, aber er schien es zu ignorieren.

„Früher habe ich geglaubt, er ist nur neidisch auf mich, weil ich besser war als er... weil meine Familie anerkannt ist und seine in der Drecksprovinz Kamien vor sich hin vegetiert. Aber ich glaube, ihm muss was Schlimmeres passiert sein, kein Mensch wird bloß durch Neid so abgrundtief hasserfüllt wie der, das glaube ich nicht. Angeblich ist sein Vater ein ziemlicher Idiot, vielleicht verprügelt er sein Kind zu Hause ja oder so.“ Iana musste spöttisch lachen.

„Also, ich habe ihn jetzt nicht genauer angesehen, aber wie ein verprügeltes Opfer wirkte er irgendwie nicht. Eigentlich ist mir aber auch ziemlich egal, was mit dem ist.“

„Mir auch... aber ich würde gerne wissen, was mit... mir ist.“ Das machte sie stutzig und sie runzelte die Stirn, als er sich plötzlich erhob, sich die Hose abklopfte und seufzte. „Manchmal... habe ich so einen unerklärlichen Zorn in mir. Ich kann nicht kontrollieren, wann diese Momente kommen, sie sind wie Anfälle, ab und zu sind sie da. Mein Vater ist immer ziemlich ausgerastet, wenn ich so einen... Anfall hatte. Ich meine, er ist richtig, richtig ausgerastet. Und das Schlimme ist, ich weiß im ersten Moment nach diesen Augenblicken nie, was eigentlich los war... was genau ich getan habe, das ihn so wütend gemacht hat. Einmal hat er mir ins Gesicht geschlagen für Worte, die gesagt zu haben ich mich nicht mehr erinnert habe. Es macht mir Angst, nicht zu wissen, was ich gegen diese... diesen Teil meines Geistes tun kann, der so ist! Wie soll ich denn Herr der Geister werden, wenn ich nicht mal meinen eigenen Geist kontrollieren kann?“

„Kann man das nicht üben?“, fragte die Frau verwirrt und staunte darüber, dass er so ehrlich zu ihr sprach. Er fasste nach seinen Schläfen und zischte; offenbar hatte er Schmerzen.

„K-keine Ahnung! Ich... ich frage Saidah, genau. Sie wird es sicher wissen... Saidah ist klug.“ Iana stutzte. Saidah... so hatte er sie bereits zweimal genannt. Sie fragte sich, wer das war, diese Saidah. Jetzt danach zu fragen erschien ihr unpassend.

„Und wenn nicht, dann wirst du eben etwas anderes. Ist doch egal.“, meinte sie, und er drehte sich langsam zu ihr um, sie fassungslos anstarrend – sein verklärter Blick aus den grünen Augen jagte ihr einen Schauer über den Rücken.

„Egal? Ich bin der Erbe meines Clans... ich bin der einzige männliche Nachkomme. Es ist meine Verantwortung... den Clan eines Tages zu übernehmen an meines Vaters Stelle. Und ich würde Schande über meine Familie bringen, wenn ich... nicht auch in diesem Punkt in Vatis Fußstapfen treten könnte.“

„Wer sagt, dass das Schande wäre?“

„Die Geister...“, wisperte er und klang plötzlich wie ein verunsichertes Kind, als er den Kopf zu Boden senkte und sich dabei die wirr abstehenden Haare aus dem Gesicht strich. „Ich... bewundere keinen Mann auf der Welt mehr als meinen Vater, weißt du?“, fuhr er dann dumpf fort und sie hielt inne, als er wieder zur Seite blickte. „Und es... macht mich wahnsinnig... dass ich irgendetwas tue, ohne es zu wollen, das ihn wütend macht... du bist eine Frau, bei dir ist es sicher anders. Aber jeder Sohn... wünscht sich doch, von seinem Vater einmal zu hören... dass er stolz auf ihn ist. Und diesen Wunsch nicht erfüllt zu bekommen ist... irgendwie schmerzhaft.“ Iana sprach nicht. Erst, als er sich wieder neben sie gesetzt und ihr den Rücken gekehrt hatte, antwortete sie dumpf mit einem wehmütigen Lächeln.

„Nein... du irrst dich, Karana. Ich mag eine Frau sein, aber... auch ich habe mir immer gewünscht, dass mein Vater stolz auf mich ist. Mein Vater war es... ich bin sicher, deiner ist es auch, auch wenn er wütend ist. Immerhin bist du sein einziger Sohn... du bist ein Teil von ihm. Ich denke, alle Eltern sind irgendwo stolz auf ihre Kinder... vielleicht solltest du deinen Vater fragen, wenn du ihm begegnest.“
 

Manchmal kehrten die Geisterstimmen in seinen Kopf zurück. Karana verstand nicht, woran es lag, dass sie mitunter da waren und dann wieder nicht, und sein Kopf schmerzte jedes Mal heftiger, wenn er versuchte, sich auf die Kommunikation mit den Himmelsgeistern zu konzentrieren. Wenn sie sprachen, sprachen sie in Rätseln... wenn sie ihm Bilder zeigten, Bruchstücke davon, beunruhigten und verwirrten sie ihn, genau wie die Frau, die bei ihm war, die wie Saidah aussah und dennoch nicht Saidah war.

Sie war Iana. Und genauso wie es ihm immer schwerer fiel, sich auf die nicht sprechen wollenden Geister zu konzentrieren, wurde es immer anstrengender, sich in ihrer Gegenwart zu beherrschen, nicht einfach über sie herzufallen und sie zu nehmen, wie er es gerne getan hätte, wenn er sie mitunter beobachtete. Er wusste nicht, was es war, das ihn überhaupt so zurück hielt... er war zwar nie Loron gewesen, der sich Frauen mit Gewalt nahm, aber er hatte zumindest nie etwas unversucht gelassen, ein Mädchen von sich zu überzeugen, wenn ihm eines gefallen hatte. Es musste der gleiche Teil seines Geistes sein, der auch immer wieder versuchte, ihm seine Rechte auszureden... der versuchte, ihn Demut zu lehren, die er nicht kennen wollte.

Er war Karana Lyra, er war der Sohn des Herrn der Geister, der Erbe eines der mächtigsten Schamanenclans auf Tharr. Vor wem sollte er demütig am Boden liegen?

„Karana – Karana, sieh!“, schrie Iana mit einem Mal, und als Aar an seiner Seite bellte, fuhr er aus seinen Gedanken hoch und schnaubte.

„Was ist?!“ Dann folgte er ihrem Blick nach vorne und hustete vor Verblüffung.

„Da vorne ist eine Stadt, allen Ernstes!“, rief seine Begleiterin, und er erkannte genauso wie sie die Ansammlung von Häusern am Horizont, „Dann sind wir also endlich in Vialla?!“ Karana keuchte, ehe er verunsichert einen Schritt rückwärts machte; was ihn viel mehr besorgte als der Anblick einer Stadt, nach Tagen des Wanderns durch herrenlose Wildnis, war das, was er hinter der Stadt in weiter Entfernung ausmachen konnte.

„Nein... das ist nicht Vialla, Iana. Das... ist das Meer da hinten! Vialla liegt nicht am Meer.“
 

Das Meer. Karana fragte sich, wie das sein konnte – wobei sich alles logisch zusammen fügte, als die beiden gemeinsam mit dem Hund hinunter zu der entdeckten Stadt gingen, um sie tatsächlich betreten zu können. Niemand hielt sie auf oder war skeptisch wegen des Hundes; eigentlich beachtete sie keiner, denn die ganze Stadt war wegen irgendetwas Furchtbarem in heller Aufregung. An ihnen rannten Frauen mit Kindern vorbei, uniformierte Soldaten strömten in Richtung Meer, das im Süden lag. Im Süden... sie waren viel nach Süden gewandert, weil Karana geglaubt hatte, sie wären in Kadoh gelandet. Es war ungewöhnlich warm geworden, je weiter sie gegangen waren, das konnte nur heißen, dass sie weit südlicher als Thalurien waren.

„Scheiße, das ist doch ein Witz jetzt!“, stöhnte er, als die Erkenntnis ihn nicht wirklich begeisterte, „Zu großer Wahrscheinlichkeit sind wir in Dobanjan, verflucht!“

Iana schien es nicht zu interessieren, dass sie am südlichsten Zipfel des Landes Kisara gelandet zu sein schienen, in der Steppenprovinz Dobanjan; sie sah sich nur alarmiert um und griff plötzlich hektisch nach ihrem Kurzschwert.

„Merkst du das auch? Was ist hier los, die Leute drehen ja völlig am Rad! Hier stimmt doch irgendetwas nicht!“ Karana starrte sie noch an – in dem Moment, in dem ihn von der Seite schon panisch rufende, fliehende Menschen anrempelten, sprachen die Geister, was ihm einen fürchterlichen Kopfschmerz verschaffte.

„Da kommen sie, die Schatten aus dem Osten... und wenn das Reich fällt, kommt das Ende der Welt.“ Er keuchte und griff taumelnd nach seinem pochenden Schädel. Iana rief seinen Namen, aber er hörte ihn nicht wirklich – vor seinem inneren Auge tauchten seit langem wieder vollständige Bilder auf. Bilder vom Meer... von den Massen an Schiffen, mit denen die Armada über die südlichen Küsten herfallen würde. Auf ihren Segeln prangte das Emblem des Ostreiches Ela-Ri... das Zeichen des Dämonenlandes, des Schattenreiches. Es war in diesem Augenblick, in dem der Schmerz stärker wurde in seinem Kopf und er spürte, wie die drohende Finsternis sich vor ihm aufbaute wie eine Tod bringende Bestie, dass die Geister endgültig zu ihm zurückkehrten. Karana hustete, als er den Sinn für Gleichgewicht verlor und strauchelnd zu Boden stürzte. Iana schrie, während er heftig hustete und unter der Macht der Bedrohung erzitterte.

„Karana!“, schrie sie und riss an seinem Arm, „Steh auf, du Vollidiot, wir müssen hier weg! D-die Leute werden dich niedertrampeln!“ Er hörte ihr nicht zu... in dem Moment war zum ersten Mal egal, dass sie wie Saidah war.

„E-Ela-Ri!“, röchelte er stimmlos und hörte durch das Geschrei in der chaotischen Stadt, wie Iana ihm zurief, er sollte endlich aufstehen. Nein, er konnte jetzt nicht stehen... er kauerte auf allen Vieren hustend am Boden, erstaunt darüber, dass die gewaltige, unheilschwangere Macht, die da aus dem Südosten heran nahte, ihn nicht gänzlich zu Boden quetschte. „D-das Ostreich kommt... es sind... die Truppen aus Ela-Ri, die die Stadt angreifen! Die Schatten... d-die das Ende der Welt bringen!“

„Woher weißt du das?“, japste die Frau neben ihm, die ihn zur Seite stieß und ihn so vor weiteren Fliehenden rettete. Aar bellte irgendwo. „Was ist mit dir, verdammt?! - Eh...“ Er sah sie zurückfahren, als er den Kopf herum in ihre Richtung riss und sie plötzlich anzischte, mit aller Kraft versuchend, dem Unheil standzuhalten und nicht ganz zu Boden zu stürzen. Er spürte die Geister... sie waren wieder da, was immer Zoras mit ihm gemacht hatte, es war in diesem Moment gebrochen und seine eigene Macht kehrte zurück... seine eigene Macht, die verhinderte, dass der Schatten ihn erdrosselte, der über das Zentralreich fiel.

„Die Geister... sprechen jetzt wieder. Mit Feuer und Schatten... werden sie kommen. Und sie bringen das Ende der Welt... das haben die Geister gesagt.“
 


 

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öhm ja. gammel XD



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  Kimiko93
2011-06-26T18:37:56+00:00 26.06.2011 20:37
Okay, irgendwie ist das alles komisch. Ich meine, lernen Schamanen nicht die Himmelsrichtung an der Sonne abzulesen? Oder an den Sternen? Ich meine, okay, vielleicht verlassen sie sich da zu sehr auf ihre Instinkte, aber... Und was ist mit normalen Menschen? Können die sowas nicht? Wäre es in seiner begrenzten Lebensspanne nicht sinnvoll gewesen, wenn Ianas Vater ihr sowas beigebracht hätte? Hm?

PLOTHOLE!

Egal. Irgendwie musste man sie ja in die Gegend bringen, in der Karana Menschen essen kann. Ähem.

Der war in diesem Kapitel auch ansatzweise sympathisch. Ich mocht ihn, vor Allem wenn er gerade seine Tabari-Seite raushängen lässt. Me gusta.

Und wenn wir gerade dabei sind; Kadhúrem, anyone? Mir sind da so ein paar Fragen zu gekommen; und zwar, hat Kadhúrem auch so eine Entstehungsgeschichte wie die Hellebarde und das Katana? Ist es älter oder jünger? Stehen die irgendwie in Verbindung?

(Verbindung wäre cool. Und in Einstimmung mit der Prophezeihung; "Vom Wind getragene Feder im Schatten", und so. Wind und Feder haben poserige Waffen mit Geschichten. Nicht den Schatten dissen!)

Die Beziehung der beiden ist auch nett. Mag ich. Vor Allem, wie sie in anfaucht und er sie verarscht. Yay.

Oh, ja, das Yay für diese Kapitel. Das geht an Aar, der braucht auch dringend mehr Liebe. Vor Allem von Wachmännern. Yay!
Von:  Decken-Diebin
2010-10-27T15:24:49+00:00 27.10.2010 17:24
Zu alleresrst zwei Zitate aus diesem Kapitel, die mich äußerst amüsiert haben, aber nicht, weil was falsch geschrieben wurd:
"Er konnte Leute ansehen und ihre Seele genau erkennen... entweder funktionierte es nur bei ihr nicht (...)" - Haha, Twilight! XD
"Karana spürte seinen Kopf brennend zu schmerzen anfangen, (...)" - Haha, Harry Potter! xD

So, okay, genug gemobbt. Das Kapitel war toll, Karana und Iana sind sich näher gekommen. Damit meine ich jetzt natürlich nicht, dass Karana sie beinahe flachgelegt hatte, da am See - die Szene war übrigens toll xD - sondern dieses tolle Gespräch, als er erzählte, dass Vati stolz auf ihn sein soll, dass er sich das wünscht. Das war richtig schön, der letzte Absatz hat mir die Tränen in die Augen getrieben :'D
Ach ja, was ich zwischendurch cool fand, war, dass sich Karana Gedanken über Zoras gemacht hat, was mit ihm passiert sein könnte, dass er so verbiestert ist.
Und der Name Akada wurde erwähnt! *_* Wie cool. Alles so früh, man xD <3
Von:  -Izumi-
2010-10-27T15:17:40+00:00 27.10.2010 17:17
Okay, das Ende war überrumpelnd und irgendwie war es etwas komisch, dass sie innerhalb von ein paar Tagen von fast ganz im Norden bis ganz in den Süden gewandert sind, aber okay, wir haben schonmal festgestellt, Tharr ist klein XD
Wie kam es eigentlich, dass die da ewig im Wald hocken und dann sehen sie erst die Stadt? oô Na ja, egal.
Also erstmal, keine Sorge. Ich fand ihre Entwicklung total in Ordnung. Iana war auch ganz amüsant, obwohl ich sie ja eigentlich nicht mag XD
Und Karana ist so dermaßen schizo... XD Das ist so lustig, aber er mag es ja selbst nicht. Der arme Kerl, ich hatte irgendwie Mitleid mit ihm ^^'
So, jetzt bin ich gespannt, was aus ihnen wird. Herzt die Andeutungen an <3


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