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Götterhauch

Löwenherz Chroniken III
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Ha ha, ja, ich lebe. Genau wie diese Story. Ich bin bekannt für lange Pause, also, ich bitte dennoch um Entschuldigung.
Wenn das noch jemand liest: Hallo. =D
Falls jemand noch zuvor erwähnte Infos braucht, die hier wichtig werden, aber es zu lange her ist, um sich zu erinnern, hier eine Kurzfassung:
- Am ersten Urlaubstag traf Anthony Lloyd und einen braunhaarigen Mann, die ihm bekannt vorkamen und die aus demselben Waisenhaus stammen wie er.
- Leon erzählte eine Geistergeschichte über das Gemälde in der Lobby, die besagt, dass das weibliche Motiv nachts das Bild verlässt und Fremde nach seinem Namen fragt, bei Nichtgelingen dieses Unterfangens sterben die Gefragten.
- Joel traf am Strand auf eine rothaarige Frau, die ihn an seine verstorbene Jugendliebe erinnert; sie sagt, sie ist mit Kollegen hier, um einen Auftrag zu erfüllen.

Und jetzt geht es am Abend des Tages weiter. Komplett anzeigen

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Geisterstunde


 

„Ich hasse das Abendessen hier wirklich“, murrte Marc auch an diesem Tag, als sie schließlich in Renas Zimmer saßen. „Würde es jemanden töten, an einem Abend mal Steaks zu grillen?“

„Es ist nun einmal ein Hotel direkt am Meer“, erwiderte Alexander, der auf der anderen Seite von Anthony saß, die Beine übereinandergeschlagen, seitlich gegen die Armstütze gelehnt. „Es wäre seltsam, wenn sie keine Meeresfrüchte hätten.“

Marc verzog leise seufzend sein Gesicht, diskutierte aber nicht weiter. Stattdessen bediente er sich wieder an den Süßwaren, die Rena für sie aufgestellt hatte, fast schon verzweifelt, als wäre er kurz vor dem Verhungern.

Anthony war daran gelegen, das Thema zu wechseln, deswegen sah er Leon an, der vergnügt lächelnd auf einem Stuhl saß, genau wie am Tag zuvor. „Wo ist eigentlich Mr. Chandler? Er war nicht beim Abendessen.“

Seit dem Frühstück hatten sie den Lehrer nicht mehr gesehen, was ihm zu denken gab, da er immerhin extra als Aufpasser mitgeschickt worden war. Raymond wäre sicher nicht begeistert darüber, wenn er das erführe.

Leon neigte den Kopf von der einen auf die andere Seite. „Er hat mir gesagt, er sei müde und legt sich hin. Also ist er vermutlich in seinem Zimmer.“

Er schien sich keinerlei Sorgen um seinen Kollegen zu machen, der zugegeben bislang nicht sonderlich zuverlässig gewesen war, also müsste Anthony das vermutlich auch nicht. Dennoch nagte es in seinem Hinterkopf. Am Morgen hatte Joel noch normal gewirkt. War in der Zwischenzeit etwas geschehen?

Leen schnaubte leise, die Arme vor dem Körper verschränkt. „Dieser Mann … er glaubt wohl, weil unsere Eltern nicht hier sind, kann er sich gehenlassen.“

Die neben ihr sitzende Heather schmunzelte amüsiert. „Als ob Dad irgendetwas tun würde, um ihn zur Arbeit anzuhalten. Es ist Mum, die das tun muss. Und im Moment ist sie so weit weg, dass er sich vermutlich endlich frei fühlt.“

„Wenn er wirklich Lebensenergie für unseren Unterricht opfert“, schaltete Rena sich ein, „ist es doch verständlich, dass er müde ist. Lassen wir ihn einfach, dann haben wir schon ein Problem weniger.“

Leon nickte enthusiastisch, dann stutzte er. „Moment mal! Bin ich etwa ein Problem?“

Ehe sie darauf antworten konnte, wechselte Heather bereits das Thema: „Wollen Sie uns heute auch wieder eine Gruselgeschichte erzählen?“

„Vielleicht eine bessere als gestern?“, ergänzte Leen.

„Was war denn so schlimm daran?“, fragte er ratlos.

Die Anwesenden warfen sich vielsagende Blicke zu, lediglich Anthony hob die Schultern. Er wusste nach wie vor nicht, wie die eigentliche Geschichte hätte erzählt werden müssen, deswegen konnte er es nicht vergleichen.

Für Leon war die Sache aber auch ohne jede Antwort klar. „Fein. Vielleicht will ja einer von euch mal eine erzählen, wenn ihr meint, ihr könnt das besser.“

Es war eigenartig, ihn einmal beleidigt zu erleben, aber keiner der anderen störte sich daran. Er schloss daraus, dass sie dieses Verhalten bereits gewohnt waren und man es nicht beachten musste.

Nachdem mehrere Sekunden geschwiegen worden war, stieß Leen frustriert Luft aus. „Fein, dann erzähle ich eben eine Gruselgeschichte. Aber beschwert euch nachher nicht, wenn ihr zu viel Angst bekommt. Lass also besser das Licht an, Rena.“

Die Angesprochene versicherte ihr, es diesmal nicht zu löschen. Dabei wirkte sie amüsiert, fast als könne sie nicht glauben, dass die andere wirklich eine derart gruselige Geschichte erzählen könnte.

Leen ließ sich davon aber nicht beeindrucken. Sie räusperte sich, dann beugte sie sich etwas vor und senkte ihre Stimme zu einem Flüstern: „Diese Geschichte ist wirklich so passiert und zwar an unserer eigenen Schule.“

Marc schnalzte mit der Zunge. „Wir fahren so weit, um von der Schule wegzukommen und du erzählst uns jetzt etwas darüber?“

Ihr Blick genügte, um ihn seinen senken und weiter essen zu lassen. Ohne das weiter zu kommentieren, fuhr sie mit ihrer eigenen Geschichte fort: „Kaum jemand weiß es, aber unsere Schule hat tatsächlich ein zweites Kellerstockwerk.“

„Ist das wahr?“, fragte Anthony; bislang war er nur einmal im Keller gewesen, aber dort war ihm keine weitere Tür oder Treppe aufgefallen.

Alexander nickte. „Ist es. Allerdings hat nur Mr. Chandler den Schlüssel dafür, weil sein Vater der letzte Direktor war und er derjenige war, der das Stockwerk verschlossen hat.“

„Darf ich jetzt fortfahren?“ Leen sah die beiden ungeduldig an, und nachdem sie genickt hatten, sprach sie weiter: „Wie Alex bereits festgestellt hat, ist die Tür nach unten gesperrt. Und keiner will einem sagen, weswegen das so ist. Aber ich habe es herausgefunden.“

Das schien Anthony nicht überraschend, schließlich war sie die Tochter des jetzigen Direktors. Er unterbrach sie aber nicht noch einmal – und die anderen taten das auch nicht.

„Als Mr. Chandlers Vater noch die Schule führte, gab es in der Schülerschaft eine bestimmte Geschichte über diesen Keller. Es hieß, dass man nachts, um eine bestimmte Uhrzeit, ein leises Weinen von dort hören konnte. Stand man dabei vor der Tür sah man ein sanftes Leuchten darunter hervorscheinen.“

Das klang für Anthony wie eine weitere Geistergeschichte. Vielleicht sollte er diese zu Hause einmal recherchieren, damit er darüber ach mehr wusste. Wie schlimm könnte es schon werden?

„Eines Tages beschlossen einige Schüler, eine Mutprobe durchzuführen. Einer von ihnen sollte ins untere Stockwerk gehen und sich ansehen, was sich hinter der Tür befand.“

Das klang wie eine dumme Idee, erinnerte Anthony aber auch an etwas, das bei ihnen im Waisenhaus geschehen war. Dort war allerdings der Dachboden das Zentrum der Aufmerksamkeit gewesen. Er selbst war nie nach oben gegangen, andere angeblich schon. Doch er wusste nicht, was sie dort gefunden hatten.

„Das Los fiel auf ein Mädchen, das noch nicht sehr lange auf der Schule war. Sie sollte nachts in diesen Raum gehen und herausfinden, was sich darin befindet. Obwohl sie Angst hatte und am liebsten weggelaufen wäre, fand sie sich gemeinsam mit den anderen in der Nacht im Keller ein. Dabei konnten sie bestätigen, dass ein helles Licht zu sehen war, während sie das Weinen hörten.“

Inzwischen war Anthony eher neugierig, was die Frage nach dem Inhalt des Raumes anging. Die anderen dagegen schienen eher auf etwas Bestimmtes zu warten, Marc aß nicht einmal mehr.

„Entgegen der Hoffnung des Mädchens war die Tür nicht abgeschlossen, also öffnete sie diese und ging hinein. Es dauerte eine Weile, bis ihre Augen sich an das Licht gewöhnt hatten. Doch dann entdeckte sie in der Mitte des Raumes einen Kristall, von dem dieser Schein ausging.“

„Das klingt jetzt nicht mehr sehr unheimlich“, meinte Marc. „Bei so etwas denkt man doch eher an Fantasy, oder?“

Leen zog die Augenbrauen zusammen. „Warum darf Fantasy nicht gruselig sein?“

„Ich finde, das passt einfach nicht zusammen. Deswegen sind es ja normalerweise getrennte Genres.“

„Können wir uns nicht einfach erst das Ende anhören?“, fragte Alexander. „Vielleicht ist es ja doch schaurig genug für dich.“

Marc hob die Schultern und sagte nichts mehr. Leen räusperte sich noch einmal, setzte dazu an, weiterzureden – und dann wurden sie in Dunkelheit getaucht.

Jemand atmete scharf ein, während Anthony sich nur ratlos umsehen konnte. Durch die Fenster fielen wenige Strahlen des Mondlichts, jedoch nicht genug, um das Zimmer zu erleuchten. Er konnte lediglich die Umrisse von Leon ausmachen, der den Kopf geneigt hatte, sich sonst aber nichts anmerken ließ.

„Hey!“, beschwerte Leen sich. „Ich habe doch gesagt, du kannst das Licht anlassen.“

„Ich war das nicht“, erwiderte Rena. „Das sieht eher nach einem Stromausfall aus.“

„Sowas gibt es in einem solchen Hotel?“ Es war eindeutig Heathers Stimme.

„Manchmal.“ Eine Flamme erhellte plötzlich den Raum notdürftig. Sie tanzte auf Renas rechter Hand. „Die Stromversorgung kann von allem möglichen gestört werden, sogar von wilden Monstern. Irgendjemand sollte zum Empfangstresen und fragen, ob das bald gerichtet wird.“

Es klang nicht danach, als ob sie sich bereit erklären würde, was Anthony aber auch vernünftig fand; wenn die anderen hier blieben, benötigten sie das Feuer, um etwas zu sehen.

„Fragt sich nur, wer gehen wird“, ergänzte Rena noch etwas deutlicher.

Ein unangenehmes Schweigen legte sich auf die Anwesenden.

Heather und Leen sahen einander an, ohne etwas zu sagen. Er war sich unsicher, ob sie so miteinander kommunizierten oder ob sie sich einfach tapferer fühlten, wenn sie einander sahen.

Leon neigte den Kopf von der einen auf die andere Seite und tippte mit seinen Fingern auf seinen Oberschenkeln. Alexander stützte den rechten Ellenbogen auf der Armlehne und ruhte seinen Kopf auf der Hand, während er desinteressiert die Flamme beobachtete.

„Da draußen ist es dunkel“, murmelte Marc auf den Boden sehend, so dass nur Anthony es hören konnte. „Das ist wirklich gruselig.“

Ihm wurde klar, dass er selbst keinerlei Grund sah, sich zu fürchten und dass es besser wäre, sich selber zu melden, um seinem Freund die Angst zu ersparen. Also stand er auf. „Ich gehe schon. Mir macht die Dunkelheit nichts.“

Heather wandte sich ihm zu, lehnte sich vor und setzte dazu an, etwas zu sagen, aber Leen sprang bereits auf. „Ich begleite dich.“

Überrascht sah Anthony sie an. Sie fügte noch etwas hinzu: „Nur um sicherzugehen, dass du dir nicht den Hals brichst, natürlich.“

Da ihre Schwester damit zufrieden zu sein schien und sich wieder zurücklehnte, nickte Anthony ihr nur zu. Rena bedankte sich bei ihnen und warf vielsagende Blicke in die Runde – besonders in Leons Richtung –, die allerdings ignoriert wurden. Anthony selbst nahm es niemandem übel, Furcht konnte lähmend sein, wie er selbst bereits erlebt hatte.

Gemeinsam verließen er und Leen das Zimmer. Dabei hoffte er noch, dass die Zurückbleibenden bald ein neues Gesprächsthema fänden, um das Schweigen zu beenden.

Er hatte erwartet, dass es auf dem Gang finster sein würde, da es dort keine Fenster gab, doch dafür leuchteten die Fußleisten nun entlang der Wände und hüllten alles in einen grünen Schein. Das hier schien ihm unheimlich, aber er störte sich kaum daran, denn er spürte keinerlei Gefahr in den Schatten. Zusätzlich ließ Leen eine weiße Leuchtkugel entstehen, die um sie herum schwirrte und ihnen noch mehr Licht spendete.

Während sie gemeinsam in Richtung Lobby liefen, bemerkte er, dass Leen ihm immer wieder Seitenblicke zuwarf. „Willst du mir etwas sagen?“

Sie hob eine Augenbraue. „Oh, ich versuche nur, meine Schwester zu verstehen.“

„Wovon redest du?“

„Vergiss es einfach.“ Sie machte eine wegwerfende Handbewegung, wodurch die Kugel sich ein paar Meter von ihnen entfernte als wäre sie wirklich geworfen worden. „Außerdem wollte ich dich auch begleiten, weil ich dir immer noch nicht vollkommen traue.“

Abrupt blieb er stehen, was sie ihm nachmachte. Bei genauerer Betrachtung fiel ihm auf, dass Heather und Leen bei allen Ähnlichkeiten doch äußerst verschieden aussahen. Er war überzeugt, die beiden problemlos auseinanderhalten zu können, selbst wenn ihre Augen verbunden wären. Eine Erkenntnis, die derart willkürlich war, dass er selbst nicht verstand, wie er darauf kam.

„Was muss ich tun, damit du mir traust?“, hakte er nach.

„Du verstehst das nicht. Es gibt nichts, was du tun kannst, ich muss sehen, wie du dich verhältst.“

Das blieb ihm wirklich unklar. Aber solange sie ihn nur beobachten wollte, konnte er ihr das kaum abschlagen. „Na, von mir aus. Dann schau solange du willst.“

„Ich würde es auch tun, wenn du was anderes sagen würdest.“ Sie reckte ihr Kinn, was sie vermutlich entschiedener wirken lassen sollte, doch stattdessen ließ es sie niedlich wirken.

Er beherrschte sich, darüber zu lachen oder auch nur das Gesicht zu verziehen, damit sie nicht glaubte, er mache sich über sie lustig.

Plötzlich schien ihr aber noch etwas einzufallen: „Ah ja, eine Sache musst du doch tun.“

Also doch. Das hatte er bereits erwartet. „Raus damit.“

Sie hob den Zeigefinger. „Du musst immer ehrlich zu mir sein. Ich kann dir nicht vertrauen, wenn ich nicht weiß, ob du ehrlich bist.“

Das war auch überraschend süß von ihr. Nachdem sie zu Beginn derart unheimlich auf ihn gewirkt hatte, war dieses Verhalten eine angenehme neue Seite. Seine Lippen kräuselten sich zu einem Lächeln, nur ein wenig, damit sie nicht doch noch glaubte, er mache sich über sie lustig. „Verstanden. Dann werde ich das sein.“

Sie nickte zufrieden und bedeutete ihm dann, mit ihr weiterzugehen. Er folgte dieser Anweisung sofort und stellte dabei eine Frage: „Soll ich auch bei deinen Erzählkünsten ehrlich sein?“

„Klar, das zählt auch.“

„Du bist echt nicht gut darin.“

Er befürchtete, dass sie trotz ihrer Versicherung wieder kühler ihm gegenüber werden würde, aber stattdessen stieß sie ein kurzes Lachen aus. „Ja, das sagt Alex auch immer.“

Gut, dessen war sie sich also doch schon bewusst, also bekäme er dafür keinen Ärger.

„Hey“, hakte er nach, „gibt es diesen Raum eigentlich wirklich?“

„Ja, klar. Sagten wir doch vorhin. Mr. Chandler hat den Schlüssel.“

„Und was ist da drinnen?“

Sie warf ihm einen Seitenblick zu, ihre Mundwinkel hoben sich amüsiert. „Neugierig, hm? Vielleicht bin ich ja doch keine so schlechte Erzählerin.“

Mit sich selbst zufrieden summte sie einen kurzen Moment, ehe sie endlich auf seine Frage antwortete: „Jedenfalls weiß ich es nicht. Ich war noch nie drin und meine Eltern wollen es mir nicht erzählen.“

Also konnte sie nicht wissen, ob sich darin wirklich ein Kristall oder sonst etwas verbarg. „Stimmt das mit dem Weinen und dem Leuchten dann überhaupt?“

„Man sollte meinen, als Göttlicher würdest du mehr an übernatürliche Phänomene glauben.“

Das tat er auch, in einem gewissen Umfang jedenfalls. Gleichzeitig gab es aber auch einige Dinge, die er nicht einfach akzeptieren wollte – zumindest nicht, bis er die Beweise dafür gesehen hatte.

„Also“, begann er, nachdem sie ein paar Schritte lang nichts gesagt hatte, „stimmt es?“

Sie seufzte schwer. „Keine Ahnung. Ich war nachts noch nie da unten. Es ist eine Gruselgeschichte, die man sich erzählt. Aber da die Quartiere der älteren Schüler außerhalb der Schule liegen, können die es schlecht nachprüfen – und die jüngeren trauen sich so etwas nicht.“

Das eröffnete ihm die Frage, wie dann überhaupt die Geschichte zustande gekommen war. Doch ehe er das zur Sprache bringen konnte, beleuchtete die Kugel bereits die ersten Stufen nach unten. Leen wies ihn darauf hin, dass er nicht hinunterfallen sollte, deswegen hielt er sich extra am Geländer fest und achtete auf jeden Schritt, den er nach machte.

Als er den Treppenabsatz erreichte, wanderte sein Blick automatisch zu dem Gemälde, von dem die gestrige Gruselgeschichte gehandelt hatte. Etwas daran wirkte falsch, obwohl er zuerst nicht sagen konnte, was genau. Erst als Leen neben ihm stand, erinnerte er sich auch daran, was es eigentlich darstellte.

„Hey …“, sagte er so leise wie möglich, „war auf dem Bild nicht eigentlich eine Frau zu sehen?“

Sie sah ihn mit gerunzelter Stirn an. „Nur weil ich eine schlechte Geschichtenerzählerin bin, musst du nicht versuchen, mir jetzt Angst einzujagen.“

Er schüttelte mit dem Kopf und deutete mit dem Finger. „Sieh es dir selbst an.“

Deutlich skeptisch sah sie nach rechts, die Lichtkugel folgte ihrem Blick. Er glaubte zu spüren, wie sie verarbeitete, was sie da betrachtete, wie sie wieder an die gestrige Geschichte dachte, dann sog sie scharf die Luft ein. Als sie sich wieder ihm zuwandte, wirkte ihr Gesicht blasser als zuvor. „Das ist nicht wahr, oder? Das ist nur ein blöder Scherz, den die Besitzer sich erlauben.“

„Ich hoffe es.“ Aber bei der Erinnerung an die eigenartige Anwesenheit einer ihm unbekannten Person während dieser Erzählung konnte er es selbst nicht so richtig glauben. „Lass uns jemanden suchen, der uns hilft.“

Dabei war er sich nicht einmal sicher, ob er den Stromausfall oder diese Situation meinte. Leen hakte aber auch nicht nach, sondern setzte rasch ihren Weg fort. Anthony blieb bei ihr, um sicherzugehen, dass ihr nichts geschah – und weil er nicht allein zurückgelassen werden wollte.

Die Lobby war ebenfalls von dem grünen Schein der Notbeleuchtung erhellt, weswegen sie beide sofort erkannten, dass niemand hinter der Rezeption stand. Ohne zu warten betätigte Leen die auf dem Tresen bereitgestellte Klingel. Ein schriller Ton hallte durch die Halle, doch nichts geschah.

„Scheint keiner da zu sein.“ Selbst seine eigene Stimme wurde viel zu laut wiedergegeben.

Leen drückte noch ein paarmal auf die Glocke.

Nichts.

Die Lichtkugel flog umher, um ihnen mehr zu zeigen, obwohl nichts zu sehen war; der Bereich hinter der Rezeption blieb vollkommen unberührt, die Klinke der Tür zum Mitarbeiterbereich bewegte sich nicht einmal ein bisschen.

„Vielleicht sind sie bereits dabei, sich um den Stromausfall zu kümmern“, vermutete Anthony.

Leen reagierte nicht.

„Wollen wir wieder zu den anderen zurück?“

Da sie immer noch nichts sagte, drehte er sich um, damit er den Rest der Lobby betrachten könnte. Außer ihnen war niemand hier, es war bizarr, unwirklich, als blicke er schon wieder hinter den Vorhang der alltäglichen Welt und entdeckte diesmal etwas, das er nicht begreifen konnte.

Leen trommelte mit den Fingern auf dem Tresen.

Die Haare auf Anthonys Nacken stellten sich auf, als plötzlich Kälte Einzug hielt. Für einen kurzen Augenblick war es als ob etwas den Raum betreten habe, ihn langsam durchschritt und dann zu einem plötzlichen Halt kam. Ein zartes Seufzen. „Mein Name ...“

Die Stimme, klirrend wie brechendes Eis, schien direkt von hinter ihm zu kommen.

Leens Trommeln verstummte.

Für einen kurzen Moment herrschte Schweigen zwischen ihnen, eines, in dem etwas Unausgesprochenes in der Luft hing, obwohl sie wussten, dass sie darüber reden mussten.

Sie trat einen Schritt näher an ihn heran, ehe sie zu wispern begann: „Hast du das auch gehört?“

Zuerst wollte er sie fragen, was genau sie meinte, aber vermutlich wäre das Zeitverschwendung. „Habe ich, ja. Was tun wir jetzt?“

Er mochte schon einige Monster, Dämonen oder Drachen bekämpft haben, Geister waren ihm jedoch neu. Und im Grunde wollte er damit auch gar nicht erst anfangen. Schon allein weil er nach wie vor nicht wirklich glaubte, dass sie existierten, selbst wenn er nun einen gegensätzlichen Beweis in seiner Nähe hatte.

„Weglaufen funktioniert bei Geistern nicht“, meinte Leen, fast so als wäre sie eine Expertin auf diesem Gebiet. „Wir können versuchen zu kämpfen – oder wir raten ihren Namen.“

Er bezweifelte, dass das eine sinnvolle Methode wäre, aber er wusste auch sonst nichts zu sagen, also war es vielleicht zumindest einen Versuch wert. Auch wenn Leen von ihrem eigenen Vorschlag nicht sonderlich angetan schien.

Wie ist mein Name?“, fragte die Stimme mit einem Hauch Verzweiflung.

Da er sich nicht mit Namen auskannte – besonders nicht mit weiblichen – stieß er Leen mit dem Ellenbogen an, damit sie begann. Zu seiner Erleichterung reagierte sie auch sofort: „Erica?“

Wieder Schweigen.

Die Kälte schien geradezu stechend zu werden. Ein Fauchen, gefolgt von einem verzerrten „Nein“.

„Das ist so bescheuert“, murmelte Leen.

Da er nun an der Reihe war, dachte Anthony für einen kurzen Moment nach. Eine Gänsehaut prickelte auf seinen Armen, er durfte sich nicht zu viel Zeit lassen. „Eve?“

Das war einer der wenigen Frauennamen, die er kannte, noch dazu der seiner Mutter – doch der Geist knurrte wütend. „Nein“.

„Ich fühle mich wie beim Rumpelstilzchen.“ Leen schnaubte, ihre Furcht schien bereits verflogen zu sein. „Ich mache dieses dumme Spiel bestimmt nicht mehr mit!“

Im nächsten Moment explodierte die Lichtkugel. Anthony kniff die Augen zusammen, ging automatisch in die Knie und stürzte sich dann mit einem Laufsprung nach vorne, um von diesem Geist – oder was auch immer es war – wegzukommen. Erst am Fuß der Treppe wirbelte er herum. Helle Flecken tanzten vor seinen Augen, aber zumindest konnte er den Tresen ausmachen. Leen war ebenfalls ausgewichen, allerdings in Richtung des Haupteingangs, so dass sie einige Meter von Anthony entfernt war; der Ring an ihrer Hand glühte leicht.

Hinter der Rezeption entdeckte er eine rauchige Entität, die auf den ersten Blick wirklich wie eine Frau aussah – doch nur bis zu ihrer Brust. Ihre Hände endeten in krallenbewehrte Klauen, ihr Unterkörper glich einer von Wölfen zerfetzten Robe.

„Okay, kümmern wir uns darum“, sagte Leen entschlossen. „Das hier geht mir auf die Nerven.“

Sie beschrieb einen Bogen mit der Hand, spitze weiße Kristalle bildeten sich und schossen direkt auf den Geist zu – nur um durch ihn hindurch zu fliegen und wirkungslos auf der Wand aufzuschlagen.

„Unsere Kräfte sind wohl nicht dafür gedacht, gegen so etwas zu kämpfen“, meinte Anthony.

Leen warf ihm einen finsteren Blick zu. „Du meinst, wir haben göttliche Kräfte, die nicht gegen Gespenster wirken? Was soll das dann?“

Da er Ladons Kräfte in sich trug, fühlte er sich dafür verantwortlich, dass sie nun in dieser Situation waren, dementsprechend fiel auch seine Antwort aus: „Bis gerade eben habe ich ja nicht mal geglaubt, dass es so etwas gibt! Warum sollte Ladon also Kräfte dagegen entwickeln?“

Leen rollte lediglich mit den Augen.

Der Geist stieß einen wilden Schrei aus, der Anthonys Knochen vibrieren ließ. Dann stürzte sie sich auf ihn. Er wich zurück, baute einen Schild vor sich auf, der unter dem feindlichen Ansturm sofort zersplitterte. Die glühenden Augen des Gespenstes kamen ihm gefährlich nahe, die kalten Krallen streiften seine Brust – dann wurde es mit einem schrillen Kreischen plötzlich zurückgeworfen und zerplatzte in mehrere Dunstwolken.

Anthony sah zu Leen, sie hob jedoch die Schultern, offenbar genauso ratlos wie er. Plötzlich erklangen Schritte hinter ihm, gefolgt von einer Stimme: „Danke, dass ihr sie eine Weile beschäftigt habt. So konnten wir sie endlich lokalisieren.“

Er drehte sich um und entdeckte die beiden jungen Männer von seinem ersten Tag hier. Der Weißhaarige, der immer noch seine schwarze Mütze trug – Lloyd, wenn Anthony sich richtig erinnerte –, lief locker an ihm vor und stellte sich dann vor ihm in Pose, dem Geist zugewandt, eine schwarze Pistole in der Hand.

Der Braunhaarige blieb dagegen bei Anthony stehen und lächelte ihn zuversichtlich an. „Wir kümmern uns jetzt darum.“

Leen sah verwirrt zwischen ihnen hin und her, sagte aber nichts. Genau wie Anthony, der noch einen Schritt zurückwich. „Ähm, dann … viel Erfolg?“

Der Geist sammelte sich derweil und formte sich erneut zu seiner Gestalt, seine Augen loderten inzwischen wie Flammen. Das folgende Kreischen ließ Anthony in die Knie gehen. Glas knackte.

Lloyd blieb davon allerdings unbeeindruckt. Er feuerte einen Schuss auf das Wesen ab. Etwas, das ihm eigentlich nichts ausmachen dürfte, aber die Kugel traf den Geist tatsächlich mitten in die Brust. Von der Einschlagstelle ausgehend bildeten sich golden leuchtende Ketten, die sich um das Gespenst schlangen und sich anschließend mit mehreren Haken in den Boden bohrten. Die Spukgestalt wand sich mit einem verzweifelten Heulen, doch die Fesseln hielten stand.

Lloyd sah über seine Schulter. „Solaris, los.“

Solaris. Auch dieses Wort löste etwas in Anthonys Inneren aus, versuchte auf eine Erinnerung zuzugreifen, die weggesperrt war oder vielleicht nie existiert hatte. Sich darauf zu konzentrieren, es zu fassen zu bekommen, bescherte ihm lediglich ein irritierendes Pochen hinter seinem linken Auge.

Der Braunhaarige – der dann wohl Solaris sein musste – ging einen Schritt vor. Er hob seinen rechten Arm, der vom Ellenbogen bis zu den Fingerspitzen bandagiert war. Der Anblick des Verbands weckte etwas in Anthonys Inneren, es griff in seine Brust, zielte direkt auf sein Herz, drückte zu, bis es schmerzte, ihm sogar die Atmung erschwerte.

Ungeachtet seines Zustandes hob Solaris nun noch seine linke Hand, in der er einen glänzenden Gegenstand hielt. In einer fließenden Bewegung schlitzte er sich den rechten Arm auf.

Leen stieß einen erstickten Schrei aus. Der von Anthony blieb in seiner Kehle stecken – und er befreite sich auch nicht, als er sah, was weiter geschah.

Das Blut widersetzte sich nicht nur der Schwerkraft, sondern allen Naturgesetzen, die er kannte. Wie von einem unsichtbaren Pinsel geführt erhob es sich von der Wunde in die Luft, beschrieb auf seinem Weg zum Geist hinüber Bögen, die unmöglich sein müssten.

Fasziniert beobachtete Anthony dieses Schauspiel, von dem er noch nie gehört hatte und das ihm doch genauso bekannt vorkam wie schon diese beiden Männer. Wie auch immer das alles zusammen hing und welche Rolle er darin spielte, er war entschlossen, es herauszufinden – und dann diese Schmerzen endgültig auszumerzen.

Schließlich formte das Blut einen Wirbel um das noch immer festgesetzte Gespenst, füllte immer mehr Zwischenräume aus, bis es ihren Feind vollständig in eine ovale Form einkapselte. Der Teil der freigesetzten Körperflüssigkeit, der nicht gebraucht worden war, verlor augenblicklich seine magischen Eigenschaften und stürzte zu Boden, wo es eine rote Spur formte.

Aus dem Inneren dieses eigenartigen Gefängnisses klangen gedämpft die hysterischen Klagelaute des Wesens. Weder Lloyd noch Solaris machten irgendwelche Anstalten, weitere Handlungen durchzuführen.

„Was nun?“, fragte Anthony, im selben Moment, in dem Leen „Was ist das für eine Magie?“ murmelte.

Lloyd reagierte lediglich auf seine Frage: „Jetzt kommt noch unser letzter Gefährte ins Spiel.“

Er sah wieder über seine Schulter und nickte in Richtung der Treppe. Anthony folgte seinem Blick.

Mit bedachten, fast schon eleganten Schritten kam eine junge, rothaarige Frau die Stufen herab. Von ihr ging eine Kälte aus, die mit der von Ladon rivalisieren konnte. Gleichzeitig fehlte ihr aber die Boshaftigkeit, die ihm zu eigen gewesen war. Ihre desinteressierten, blauen Augen streiften ihn lediglich, dann ging sie an ihm vorbei, ohne sich weiter um ihn zu kümmern.

Neben Lloyd hielt sie wieder inne, ihre Aufmerksamkeit galt ganz allein dem ovalen Gebilde aus Blut jenseits des Tresens. „Ist es das?“

Ihre monotone Stimme spottete jeder Emotion, verhöhnte sie regelrecht und bewies, dass sie vollkommen unnötig für Kommunikation war. Worte, mehr brauchte es nicht, jeder Anflug von Gefühl war lediglich Ablenkung. In Anthony erwachte Empathie für das Gespenst, das von einer solchen Person möglicherweise besiegt werden würde, wenn er nichts unternahm. Aber der logische Teil seines Gehirns rief ihn zur Räson, erinnerte ihn daran, dass der Geist sie höchstwahrscheinlich getötet hätte, wenn diese kleine Gruppe nicht eingeschritten wäre. Es gab also keinen Grund für ihn etwas zu tun.

„Jepp“, antwortete Lloyd. „Er gehört ganz dir.“

Sie hob ihren Arm, die Handfläche nach oben gerichtet. Als Antwort darauf verkleinerte sich das Gebilde, bis es lediglich die Größe eines Hühnereis besaß, gleichzeitig wurden auch die Laute des Gespenstes immer leiser, bis sie nicht mehr zu hören waren; Anthony bezweifelte jedoch nicht, dass es nach wie vor im Inneren lautstark um seine Freiheit kämpfte.

Das geschrumpfte Gefängnis schwebte zu der jungen Frau, die ihre Hand darum schloss. Als sie diese wieder öffnete, war nichts mehr von irgendeinem Objekt zu sehen.

Sie atmete aus, nicht als wäre sie erschöpft oder nervös, sondern als wäre sie müde hiervon. Dann wandte sie sich Anthony zu, der sofort zusammenzuckte.

„Ich glaube“, begann sie, „jetzt sollten wir miteinander reden, Göttlicher.“
 


Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich bringe besser keine Versprechungen mehr an. Aber ich will noch einen Blogeintrag zum Projekt an sich schreiben. Komplett anzeigen

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