06. Dezember – Die Seele der Schneeflocken
Julianes Blick versank im hellen Schimmer der grauen Wolken über ihr. Sie konnte Flecken von Rot und von Gelb erkennen, wahrscheinlich die Reflexion der Lichter der Stadt. Die Wolken hingen ganz tief und das Mädchen redete sich immer wieder ein sie müsse nur die Hand austrecken, um nach ihnen greifen zu können. Natürlich wusste sie, dass das nicht ging, immerhin hatte sie das erst letztens im Heimat- und Sachkundeunterricht gehabt. Trotzdem, sie wünschte sich ihre Finger in die dicken Wolken stecken zu können und zu fühlen wie es sein würde.
Ihre Ellenbogen bohrten sich in das alte Holz des Fensterbrettes im Treppenhaus. Die trockene Kälte des Winters schlug ihr durch das geöffnete Fenster entgegen, doch es störte sie nicht. Sie hatte sich dick eingepackt, mit Mütze und Wollhandschuhen, mit zwei Pullovern und einer Strumpfhose unter der Jeans. Schon seit einer ganzen Weile blickte sie vom obersten Stock ihres Wohnhauses auf die anderen Dächer der Stadt. Sie beobachtete die Schneeflocken, wie sie wild durch die Luft wirbelten, tanzten und dann am Boden wieder schmolzen. Nur ganz selten blickte sie in die hell erleuchteten Fenster auf der anderen Straßenseite oder hörte der Straßenbahn zu, wie sie eine Straße weiter vorbei fuhr. Sie war vollkommen gefangen von dem Spiel der weißen Kristalle im Dunkel der Nacht.
Ihre Eltern waren nicht da, hatten gesagt sie kämen gegen Mitternacht wieder und so lange solle Juliane auf ihre sechsjährige Schwester Anna aufpassen. Dabei war sie selbst erst in der vierten Klasse. Aber sie tat es ja gerne und mit der Schokoladenverpflegung vom Nikolaus waren sie gut versorgt. Die beiden Schwestern konnte nichts auseinander bringen. Nicht einmal die Nachtruhe, wie Juliane in dem Moment feststellen musste, als die Haustür neben ihr aufsprang und ein kleines Mädchen mit verwuschelten braunen Locken herauskam.
„Juli...“ kam es zaghaft und ihre großen braunen Augen richteten sich an ihre große Schwester. „...Ich kann nicht schlafen.“
Sie seufzte, lächelte dann aber. „Soll ich dir noch ein Schlaflied singen?“
Das Mädchen schüttelte heftig den Kopf und ihre Mimik wurde noch unschuldiger. „Was machst du da?“
Juliane grinste und hauchte ihr entgegen, dass ein feiner, weißer Rauch entstand. „Ich schau mir nur den Schnee an.“
„Ohhh! Darf ich auch?“
Abermals ein Seufzen, doch Anna war schon wieder nach innen gerannt und zog sich etwas dickes drüber, damit sie nicht fror. Die große Schwester sagte darauf nichts. Sie freute sich insgeheim über diese Gesellschaft. Sie war nicht gern allein mit ihren Gedanken. Ihre Eltern kamen sowieso noch nicht, also würden sie sie nicht erwischen. Nur Momente später wackelte das kleine Mädchen mit ihrer kompletten Rodelausrüstung wieder an und zeigte beim Grinsen eine Zahnlücke. Hastig drückte sie ihre Schwester zur Seite und stellte sich auf einen kleinen Hocker, um ebenfalls aus dem Fenster zu sehen. Ein überglückliches Strahlen sengte sich dem Schnee entgegen.
„Schnee ist ja so schön!“
Juliane nickte bedächtig und schwenkte den Kopf wieder Richtung Himmel. „Und soll ich dir etwas verraten?“
„Was denn?“
Das größere Mädchen schälte sich umständlich aus ihren Stoffhandschuhen und streckte die Handfläche dann aus dem Fenster, dass sie einige der Flocken auffangen konnte. „Weißt du was Schneeflocken wirklich sind?“
Sie bekam von ihrer Schwester nur einen genervten Blick und ein posaunendes Empören. „Na gefrorenes Eis natürlich! Weiß doch jedes Kind!“
„Hahaha, da hast du Recht. Aber das meine ich gar nicht.“ Die Augenlider verengten sich etwas, als sie spürte wie eine der eisigkalten Schneeflocken auf ihre Handinnenseite fiel und schmerzhaft schmolz. Ihr Lächeln wurde sanfter, fast ehrfürchtig. „Schneeflocken... das sind die Wünsche der Menschen.“
„Ehhh?“ Anna glotzte sie an, als wäre sie ein Auto. Ihr Lieblingsvergleich. „Wie soll das denn gehen?“
„Was? Glaubst du deiner großen Schwester etwa nicht?“
Sie zog einen Schmollmund. „Du lügst doch.“
„Nein.“ beharrte sie und schloss langsam ihre Augen, als eine zweite Schneeflocke ihre Finger berührten. „Jede Schneeflocke, die hier zur Erde fällt, ist ein Wunsch eines Menschen. Irgendwo auf der Welt. Ein einziger Wunsch.“
Nun senkte das Mädchen in der Rodelausrüstung ihre Stimme und blickte mit großen, verwunderten Augen in den Himmel. Ihr Mund klappte auf, dann wieder zu und schließlich erneut auf. „Das sind dann aber viele!“
„Ja, es gibt ja auch ziemlich viele Menschen auf der Welt“, schmunzelte Juliane und zog ihre Hand wieder zurück, um die kleinen Wassertropfen auf ihrer Hand zu betrachten. „Und weißt du was? ...Wenn du eine zu fassen bekommst und sie dir auf die Hand fällt und schmilzt... dann geht dieser Wunsch in Erfüllung.“
Ehrfürchtig musterte sie die Hand ihrer Schwester und nickte schwer.
Juliane grinste ihr frech entgegen und streckte ihre Hand wieder aus. „Vielleicht ist einer deiner Wünsche auch irgendwo dort draußen.“
„Oh ja! Ein Fahrrad! Ein Fahrrad!“
Erneut kicherte ihre große Schwester. „Aber denk dran. Dein Wunsch kann sich nur erfüllen, wenn er irgendwo jemanden auf die Handfläche fällt.“
Das brachte das Mädchen ins Grübeln. Sie neigte den Kopf und juckte sich an ihrem Kinn. „Hmm... und wenn ich ganz viele Schneeflocken schmelzen lasse? Meinst du, dann könnte auch meine Schneeflocke irgendwo auf einer Hand landen?“
„Ganz bestimmt.“
Lachend zog Anna auch ihren Handschuh aus und streckte ihr kurzes Ärmchen über den Abgrund. Instinktiv kuschelte sie sich an ihre Schwester und wartete ungeduldig auf den ersten Wunsch in ihrer Hand.
„Juli, was wünscht du dir?“
Sie stockte und für einen Moment wirbelten ihre Augen ruhelos umher. Dann jedoch senkte sich ihr Blick und sie atmete tief durch. Ja, was wünschte sie sich? Sie wünschte sich, dass ihre Eltern mehr Zeit für sie hätten. Dass sie bald auf das Gymnasium gehen konnte, denn sie hoffte, dass sich ihre Eltern dadurch weniger stritten. Sie wünschte sich, dass Anna gut aufwuchs und nichts von all dem mitbekam. Sie wünschte sich, dass sie Weihnachten mit der ganzen Familie feiern konnte und nicht alles wegen der ganzen Streitereien wieder den Bach runter ging.
„...Ich wünsche mir neue Schuhe.“ kam es halbherzig, denn es erschien ihr besser den Wunsch auf etwas Realistisches zu lenken. „Und du? Was willst du für ein Fahrrad?“
„Nein!“ entgegnete sie hastig und grinste wie ein Honigkuchenpferd. „Ich will kein Fahrrad mehr. Ich wünsch mir was Neues!“
„Oh und was?“
„Dass der Schnee niemals aufhört zu fallen.“ Sie schnappte nach einer Schneeflocke, um sie zu essen, schaffte es nicht, tat aber so als hätte es geklappt. „Und dass ganz viele Menschen auch ihre Hände ausstrecken, um Schneeflocken zu fangen!“
Noch 18 Tage bis Weihnachten.